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Pharmazie und Pharmagie gehören zusammen - SpringerMedizin 1

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Placeboeffekte in der Praxis nutzen!<br />

<strong>Pharmazie</strong> <strong>und</strong> <strong>Pharmagie</strong> gehören <strong>zusammen</strong><br />

Quelle: MMW - Fortschritte der Medizin<br />

© Robert Kneschke/Fotolia<br />

Lange galt für den Placeboeffekt: „Nur<br />

wer daran glaubt, wird eine Wirkung<br />

spüren.” Inzwischen weiß man, dass<br />

Placebo viel mehr ist als Glaube oder<br />

Suggestion. Und dieses „Mehr” lässt<br />

sich in der Praxis nutzen. Von<br />

erstaunlichen Placebowirkungen <strong>und</strong><br />

praktischen Konsequenzen handelt der<br />

folgende Report.<br />

Quellendetails<br />

Wenn wir über Placeboeffekte sprechen, unterscheiden wir zwei Hauptmechanismen: Das, was der Patient von der<br />

Behandlung erwartet, sowie Konditionierungsprozesse, erläuterte Prof. Dr. Manfred Schedlowski, Universität Duisburg-Essen.<br />

Hinzu kommt die Kommunikation <strong>und</strong> Interaktion zwischen Arzt <strong>und</strong> Patient, die ebenfalls Placeboeffekte auslösen kann.<br />

Placeboanalgesie ist „dosisabhängig”<br />

Effektive Placeboanalgesie funktioniert dosisabhängig, erläuterte Schedlowski. Weiß der Patient, dass er ein Placebo<br />

bekommt, ist die Wirkung gleich null. Beträgt die Chance, ein wirksames Medikament zu erhalten, 50%, ist ein deutlicher<br />

Placeboeffekt messbar, der unterschiedlich hoch ausfällt. Induziert der Arzt in diesem Design zusätzlich „100%<br />

Wirk-Erwartung”, indem er zum Beispiel sagt, „ich gebe Ihnen hier ein sehr wirksames Schmerzmittel”, fällt der Placeboeffekt<br />

noch deutlich größer aus.<br />

Sind Placebos ethisch gerechtfertigt?<br />

Sollte der Arzt diese Wirkung nicht nutzen? Aktuelle Studien aus den USA <strong>und</strong> Umfragen aus der Schweiz <strong>und</strong> aus<br />

Deutschland zeigen, dass viele Ärzte dies bereits tun. Sie setzen Placebos oder Pseudoplacebos ein. Pseudoplacebos sind<br />

Medikamente oder Verfahren, deren Wirksamkeit nur unzureichend geprüft ist.<br />

Eine anonyme Querschnittserhebung an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) ergab, dass etwa zwei Drittel der<br />

Ärzte <strong>und</strong> Pflegekräfte bisweilen Placebos geben, vor allem bei Schmerzen <strong>und</strong> Schlaflosigkeit (M. Bernateck et al.). Auch<br />

niedergelassene Haus- <strong>und</strong> Kinderärzte geben ihren Patienten immer wieder Placebos <strong>und</strong> Pseudoplacebos (Fässler M et<br />

al.).<br />

Ethisch rechtfertigen sie den Placeboeinsatz: „Placebos können eingesetzt werden, wenn Arzt <strong>und</strong> Patient partnerschaftlich<br />

<strong>zusammen</strong>arbeiten.” Die erfolgreiche Verwendung medikamentöser Placebos ist offensichtlich fester Bestandteil sowohl in<br />

Krankenhäusern als auch bei niedergelassenen Ärzten. Die Autoren schlussfolgern auch, dass ein stärkerer Einsatz von<br />

Placebos hohe Potenziale aufweist. Das sieht auch Schedlowski so. Er betont jedoch auch, dass Patienten aus ethischen<br />

Gründen kein Placebo erhalten dürfen, ohne dass sie darüber aufgeklärt werden. Leider schwindet mit der Aufklärung ein<br />

Großteil der Wirkung. Doch es gibt Auswege aus diesem Dilemma. Der Placeboeffekt lässt sich auch nutzen, ohne ethische<br />

Grenzen zu überschreiten: Eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt <strong>und</strong> Patient trägt zur Heilung bei.<br />

Auch der Arzt ist ein Placebo<br />

Dies hat die Studie von Ted Kaptchuk detailliert gezeigt. Er teilte 262 Patienten mit Reizdarm-Syndrom in drei Gruppen ein.<br />

Die Patienten der ersten Gruppe kamen auf eine Warteliste, Gruppe 2 erhielt eine Schein-Akupunktur <strong>und</strong> Gruppe 3<br />

zusätzlich zur Scheinakupunktur besondere Zuwendung durch den Arzt. Die Therapieeffekte nach drei Wochen waren in<br />

Gruppe 3 am größten. 62% der Patienten zeigten eine Verbesserung ihrer Symptome auf der Symptomen-Schweregrad-<br />

Skala. In der Scheinakupunkturgruppe war eine Besserung bei 44% der Patienten zu verzeichnen, bei den Warteliste-<br />

Patienten bei 2%.<br />

Systemfehler: Ärzte verschenken Wirksamkeit der Therapie<br />

Diese Arbeit zeigt, dass die Faktoren „Erwartung” <strong>und</strong> „Arzt-Patienten-Beziehung” dem Placeboeffekt zugeschrieben werden<br />

können, wobei das Arzt-Patienten-Verhältnis daran den stärksten Anteil hat. Fazit: Investiert der Arzt die Zeit, im Gespräch<br />

mit dem Patienten ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, erhöht dies die Wirksamkeit seiner pharmakologischen Intervention.<br />

Dies wissen die meisten Ärzte, meint Schedlowski. Auch gebe es hier keinerlei ethische Bedenken, leider jedoch<br />

ökonomische. Denn im momentanen kassenärztlichen Vergütungssystem sei ärztliches Handeln, das über eine 3-Minuten-<br />

Medizin hinausgeht, schlichtweg unwirtschaftlich.<br />

Anders gesagt: Nimmt man diese aktuellen Erkenntnisse der Placebowirkung ernst, verschenken die Ärzte einen erheblichen<br />

Teil der Therapieeffekte. Lebensgefährlich wirksam Diesen bezifferte Schedlowski mit 20–50%! Konsequent weitergedacht<br />

müsste das Honorierungssystem neu gestaltet werden.<br />

Dabei sollte man auch berücksichtigen, dass die Patienten bereits mit den Füßen abgestimmt haben. Viele lassen sich vom<br />

niedergelassenen Arzt oder in der Klinik diagnostizieren, gehen dann jedoch zu einem Heilpraktiker oder Homöopathen, der<br />

sich viel Zeit für die Behandlung nimmt. Diese ist häufig erfolgreich, sagte Schedlowski, obwohl zum Beispiel die<br />

Homöopathie in Studien nie besser abschneidet als die Placebobehandlung.<br />

Nixdrin-forte: Wenn Pavlov klingelt<br />

Eine weitere Möglichkeit, den Placeboeffekt ohne ethische Bedenken im klinischen Alltag zu nutzen, bietet die<br />

Konditionierung, erläuterte Schwedlowski. Wir wissen, dass wir Hormonsysteme <strong>und</strong> Immunsystem mit Lernprozessen<br />

beeinflussen können. Diese sind ebenfalls Teil der Placeboantwort. Im Prinzip handelt es sich um eine klassische<br />

Konditionierung, wie sie Iwan Pawlow mit dem H<strong>und</strong> gezeigt hat: Der H<strong>und</strong> bekommt Futter, kurz nachdem eine Glocke<br />

geläutet wurde. Nach wenigen Tagen genügt das Glockenklingeln, um den H<strong>und</strong> in Erwartung des Fressens zum Speicheln<br />

zu bringen.<br />

Um beispielsweise das Immunsystem zu konditionieren (Goebel MU) schluckten 30 Patienten mit einer Hausstaubmilben-<br />

Allergie fünf Tage lang ein grünes Getränk, das „neu” nach Erdbeeren schmeckte, <strong>und</strong> ein Antihistaminikum. Nach<br />

neuntägiger Auswaschphase erhielten die Patienten entweder Wasser plus Placebo oder Erdbeer-Drink <strong>und</strong> Placebo oder<br />

Wasser <strong>und</strong> Antihistaminikum. In allen drei Gruppen besserten sich die Symptome <strong>und</strong> auch die Hautreaktion im Prick-Test


war weniger stark. Eine Wirkung auf das Immunsystem — gemessen als geringere Aktivierung der Basophilen — zeigte sich<br />

jedoch nur in der auf den Erdbeer-Drink konditionierten Gruppe <strong>und</strong> im Verumarm. Der Effekt auf das Immunsystem war<br />

vergleichbar groß. Konditionierte Effekte können nicht nur subjektive Rhinitissymptome <strong>und</strong> allergische Hautreaktionen<br />

lindern, sie induzieren auch Veränderungen im Immunsystem.<br />

Konditionierung: Placeboeffekt als supportive Therapie<br />

Schedlowski kann sich vorstellen, solche Konditionierungen im klinischen Alltag einzusetzen, da sie die pharmakologische<br />

Therapie unterstützen. Die Konditionierungsprozesse müssen jedoch an unterschiedliche Erkrankungen <strong>und</strong> die dabei<br />

eingesetzten Medikamente abgestimmt werden — ethische Bedenken gibt es keine.<br />

Lebensgefährlich wirksam<br />

Nocebo: Suizidversuch eines Studenten<br />

Das Nocebophänomen ist bei Weitem nicht so gut untersucht wie die<br />

Placeboeffekte. Es scheint jedoch über die gleichen Wirkmechanismen<br />

„Erwartung” <strong>und</strong> „Konditionierung” ausgelöst zu werden.<br />

Aufsehenerregend ist ein Fallbericht eines Studenten (Roy R. Reeves, General<br />

Hospital Psychiatry 2007;29:275-277), der einen Suizidversuch unternahm. Der<br />

26-Jährige, nennen wir ihn Tom, hatte Liebeskummer, seine Fre<strong>und</strong>in hatte ihn<br />

verlassen.<br />

Tom war deprimiert, deshalb nahm er unmittelbar nach der Trennung von seiner<br />

Fre<strong>und</strong>in an einer Medikamentenstudie teil, die placebokontrolliert <strong>und</strong><br />

doppelblind ein neues Antidepressivum untersuchte. Nach zweiwöchiger<br />

Studiendauer fühlte er sich schon deutlich besser. Vier Wochen nach der<br />

Trennung kam es jedoch zu einem heftigen Streit zwischen Tom <strong>und</strong> seiner Ex.<br />

Er war am Ende <strong>und</strong> warf den kompletten Monatsvorrat (29 Kapseln) der<br />

©sagasan/shutterstock<br />

Studienmedikamente ein.<br />

Dann bekam er Angst <strong>und</strong> ließ sich in die Notaufnahme eines Krankenhauses<br />

fahren. Dort kollabierte er. Sein Blutdruck fiel auf 80/40 mmHg, der Puls lag bei 110. Er war zittrig, die Atmung<br />

beschleunigt, sonst unauffällig. Die Ärzte hingen ihn sofort an eine Kochsalzinfusion. Zunächst stieg der Blutdruck an. Mit<br />

dem Verlangsamen der Infusion fiel er jedoch wieder ab. Tom erhielt in über vier St<strong>und</strong>en etwa sechs Liter Kochsalzlösung,<br />

blieb jedoch lethargisch. Der Blutdruck lag weiterhin niedrig bei 100/62 mmHg, Puls 106. Alle anderen Untersuchungen<br />

waren unauffällig.<br />

Eine Besserung trat erst ein, als ein Studienarzt in die Klinik kam <strong>und</strong> zur Überraschung aller erklärte, dass Tom im<br />

Placeboarm war. Tom weinte Tränen der Erleichterung <strong>und</strong> erholte sich innerhalb von 15 Minuten, Blutdruck <strong>und</strong> Puls<br />

normalisierten sich.<br />

Placebo im OP<br />

Erfolgreiche Scheinoperationen<br />

Die Vertebroplastie ist eine minimal-invasive Behandlung osteoporotischer<br />

Wirbelfrakturen. Die Injektion von „Knochenzement” in den gesinterten<br />

Wirbelkörper wurde im vergangenen Jahr in zwei Studien mit einer<br />

Scheinoperation verglichen (Kallmes D et al. NEJM 2009;361:557–579,<br />

Buchbinder R et al. Med J Aust. 2009;191(9):476–7).<br />

Beide Studien überraschten mit dem Ergebnis, dass die Scheinoperation — es<br />

wurde ein kurz wirksames Analgetikum injiziert — auch bis zu sechs Monate © smartmediadesign/Fotolia<br />

nach dem Eingriff die Schmerzen genauso gut gelindert hatte wie die echte<br />

Vertebroplastie. Das zeigt: Auch heftigste Rückenschmerzen bei<br />

osteoporotischen Frakturen reagieren auf Placebo.<br />

Ein anderes Beispiel einer erfolgreichen Placebooperation betrifft Patienten mit Kniearthrose (Moseley JB et al. NEJM 2002;<br />

347:81–88). Der Orthopäde behandelte 180 Patienten mit Kniegelenksarthrose. Bei zwei Dritteln wurde in einer Arthroskopie<br />

der Knorpel geglättet bzw. eine Lavage vorgenommen. Die anderen Patienten erhielten als „Placebo” oberflächliche<br />

Hautschnitte am Knie. Die Patienten wussten nicht, ob sie operiert worden waren oder nicht. Das Ergebnis: Nach zwei<br />

Jahren waren 90% der Patienten beider Gruppen mit ihrer Operation zufrieden.<br />

Literatur<br />

M. Bernateck et al. Der Schmerz, 2009;23(1):47–53<br />

Fässler M et al., BMC Health Services Research 2009,9:144<br />

Ted Kaptchuk (BMJ 2008;336(7651): 999–1003<br />

Goebel MU et al. Psychother Psychosom. 2008;77(4):227–34<br />

Zeitschrift: MMW - Fortschritte der Medizin 2010/7<br />

publiziert am: 28.9.2010 17:02 Autor: Dr. Carola Göring Quelle: MMW - Fortschritte der Medizin 2010;2 (7):12-14 basierend<br />

auf: Gespräch mit Prof. Dr. M. Schedlowski, Duisburg-Essen

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