Zur Geschichte der Österreichischen Statistischen Gesellschaft 1948 ...

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FESTSCHRIFT 50 JAHRE ÖSTERREICHISCHE STATISTISCHE GESELLSCHAFT (SEITEN 71-87) Zur Geschichte der Österreichischen Statistischen Gesellschaft 1948/51-1957 Alexander Pinwinkler Universität Salzburg Zusammenfassung: Die ÖSG hatte eine Schlüsselrolle in der Formierungsphase der österreichischen Statistik nach 1945. Wilhelm Winkler, der im ersten Nachkriegsjahrzehnt die akademische Statistik in Österreich dominierte, und seine Mitarbeiter Adolf Adam und Leopold Schmetterer waren federführend innerhalb der ÖSG und der Aktivitäten, die von ihr in den 1950er Jahren ausgingen. Die Statistische Gesellschaft koordinierte die Zusammenarbeit von Statistikern, Mathematikern und Ökonomen der Wiener Universitäten und Hochschulen und stellte Verbindungen zwischen den Forschern und der statistischen Praxis her: zum ÖStZ, zur Wirtschaftskammer und zu der von dieser vertretenen österreichischen Industrie. Außerdem knüpfte sie Kontakte ins benachbarte Ausland, vor allem in den deutschsprachigen Raum, sodaß die internationale Isolierung der österreichischen Statistik langsam aufgebrochen wurde. Die ÖSG war aber auch ein Instrument, das zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses der Statistiker eingesetzt wurde. Bereits 1949 war die Statistische Arbeitsgemeinschaft an das zuständige Bundesministerium für Unterricht herangetreten, um einen „Lehrgang für Diplomstatistiker“ einzurichten. Dieser konnte 1951 am Wiener Institut für Statistik seine Tätigkeit aufnehmen. Die Teilnehmer und Absolventen dieses Kurses bildeten die erste Generation der mathematischen Statistiker in Österreich, die die weitere Geschichte der ÖSG bis in die Gegenwart maßgeblich bestimmten. Abstract: The article concentrates on the institutional development of the Austrian Statistical Society in the first decade after the Second World War. The Austrian Statistical Society played a crucial role in both the interdisciplinary cooperation of Viennese statisticians, mathematicians, and economists and the mediation of statistical methodology to the Austrian industry. In the early 1950ies Wilhelm Winkler, Leopold Schmetterer, and Adolf Adam were the leading personalities of the Statistical Society. Wilhelm Winkler played the most important role in founding the Austrian Statistical Society, and he was its first president. Winkler created, praeter legem, a graduate program for statisticians at the Institute of Statistics, which has been promoted successfully by the Austrian Statistical Society since 1951. From that program the nucleus of the junior staff of Austrian and also some German statisticians emerged in the 1950ies and 1960ies.

FESTSCHRIFT<br />

50 JAHRE ÖSTERREICHISCHE STATISTISCHE GESELLSCHAFT<br />

(SEITEN 71-87)<br />

<strong>Zur</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Österreichischen</strong> <strong>Statistischen</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

<strong>1948</strong>/51-1957<br />

Alexan<strong>der</strong> Pinwinkler<br />

Universität Salzburg<br />

Zusammenfassung: Die ÖSG hatte eine Schlüsselrolle in <strong>der</strong><br />

Formierungsphase <strong>der</strong> österreichischen Statistik nach 1945. Wilhelm<br />

Winkler, <strong>der</strong> im ersten Nachkriegsjahrzehnt die akademische Statistik in<br />

Österreich dominierte, und seine Mitarbeiter Adolf Adam und Leopold<br />

Schmetterer waren fe<strong>der</strong>führend innerhalb <strong>der</strong> ÖSG und <strong>der</strong> Aktivitäten, die<br />

von ihr in den 1950er Jahren ausgingen. Die Statistische <strong>Gesellschaft</strong><br />

koordinierte die Zusammenarbeit von Statistikern, Mathematikern und<br />

Ökonomen <strong>der</strong> Wiener Universitäten und Hochschulen und stellte<br />

Verbindungen zwischen den Forschern und <strong>der</strong> statistischen Praxis her: zum<br />

ÖStZ, zur Wirtschaftskammer und zu <strong>der</strong> von dieser vertretenen österreichischen<br />

Industrie. Außerdem knüpfte sie Kontakte ins benachbarte<br />

Ausland, vor allem in den deutschsprachigen Raum, sodaß die internationale<br />

Isolierung <strong>der</strong> österreichischen Statistik langsam aufgebrochen wurde. Die<br />

ÖSG war aber auch ein Instrument, das zur För<strong>der</strong>ung des wissenschaftlichen<br />

Nachwuchses <strong>der</strong> Statistiker eingesetzt wurde. Bereits 1949<br />

war die Statistische Arbeitsgemeinschaft an das zuständige Bundesministerium<br />

für Unterricht herangetreten, um einen „Lehrgang für Diplomstatistiker“<br />

einzurichten. Dieser konnte 1951 am Wiener Institut für Statistik<br />

seine Tätigkeit aufnehmen. Die Teilnehmer und Absolventen dieses Kurses<br />

bildeten die erste Generation <strong>der</strong> mathematischen Statistiker in Österreich,<br />

die die weitere <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> ÖSG bis in die Gegenwart maßgeblich<br />

bestimmten.<br />

Abstract: The article concentrates on the institutional development of the<br />

Austrian Statistical Society in the first decade after the Second World War.<br />

The Austrian Statistical Society played a crucial role in both the<br />

interdisciplinary cooperation of Viennese statisticians, mathematicians, and<br />

economists and the mediation of statistical methodology to the Austrian<br />

industry. In the early 1950ies Wilhelm Winkler, Leopold Schmetterer, and<br />

Adolf Adam were the leading personalities of the Statistical Society.<br />

Wilhelm Winkler played the most important role in founding the Austrian<br />

Statistical Society, and he was its first president. Winkler created, praeter<br />

legem, a graduate program for statisticians at the Institute of Statistics,<br />

which has been promoted successfully by the Austrian Statistical Society<br />

since 1951. From that program the nucleus of the junior staff of Austrian<br />

and also some German statisticians emerged in the 1950ies and 1960ies.


72 Festschrift 50 Jahre Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong><br />

Einleitung<br />

Entstehung und institutionelle Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Österreichischen</strong> <strong>Statistischen</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong> (ÖSG) sind bisher ebenso wenig umfassend untersucht worden wie die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> österreichischen Statistik als akademische Disziplin. 1 Im folgenden wird<br />

die Frühgeschichte <strong>der</strong> ÖSG von <strong>der</strong> Gründung ihrer Vorläuferin, <strong>der</strong> <strong>Statistischen</strong><br />

Arbeitsgemeinschaft (<strong>1948</strong>), bis zum Ende <strong>der</strong> Ära Wilhelm Winkler untersucht, <strong>der</strong> bis<br />

1957 Präsident <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> war.<br />

Aufsätze und Kurzberichte in <strong>der</strong> <strong>Statistischen</strong> Vierteljahresschrift sind die<br />

wichtigsten gedruckten Quellen, die für die vorliegende Studie herangezogen wurden.<br />

Protokolle von Gesprächen, die ich mit einer Reihe von Zeitzeugen durchführen konnte,<br />

sowie briefliche Mitteilungen zum Gegenstand dieses Aufsatzes tragen jedoch nicht<br />

min<strong>der</strong> dazu bei, die verstreuten Mosaiksteine zur <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> ÖSG zu einem<br />

abgerundeten Gesamtbild zusammenzufügen. 2<br />

Im Kontext <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> ÖSG wird im folgenden auch dargelegt, welche<br />

Rolle Prof. Dr. Wilhelm Winkler (1884-1984) und seine wichtigsten Mitarbeiter bei <strong>der</strong><br />

Institutionalisierung des Fachs in Österreich in <strong>der</strong> Nachkriegszeit hatten. 3 Im Jahr 1947<br />

wurde an <strong>der</strong> Universität Wien <strong>der</strong> erste systematisierte Lehrstuhl für Statistik<br />

geschaffen, <strong>der</strong> an das seit 1883 vakante und später an das Völkerrecht übertragene<br />

Ordinariat anknüpfte. Diese Lehrkanzel für „Statistik, Demographie und Ökonometrie“<br />

benannte die Forschungsschwerpunkte Winklers und war insofern ganz auf die Person<br />

des damals einzigen österreichischen Ordinarius für Statistik zugeschnitten. Winkler<br />

1 Von Wilhelm Zeller, Heinz Fassmann und Kurt Klein stammen jedoch wichtige Vorarbeiten. Sie gehen<br />

nicht o<strong>der</strong> nur am Rande auf die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> ÖSG ein: Vgl. <strong>Geschichte</strong> und Ergebnisse <strong>der</strong> zentralen<br />

amtlichen Statistik in Österreich 1829-1979. Herausgegeben vom <strong>Österreichischen</strong> <strong>Statistischen</strong><br />

Zentralamt, Wien 1979. Die von Zeller redigierte <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> amtlichen Statistik untersucht auch<br />

Strukturen und Protagonisten <strong>der</strong> akademischen Statistik, die vielfach – personell und institutionell – mit<br />

den statistischen Ämtern verflochten waren. Zwei neuere Arbeiten erschienen kürzlich von den beiden<br />

an<strong>der</strong>en genannten Autoren: H. Fassmann. Demographie und Sozialökologie. In K. Acham, Herausgeber,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 2: Lebensraum und Organismus des<br />

Menschen, 189-215. Wien 2001; K. Klein. Sozialstatistik. In K. Acham, Herausgeber, <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong><br />

österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 3.1: Menschliches Verhalten und gesellschaftliche<br />

Institutionen: Einstellung, Sozialverhalten, Verhaltensorientierung, 257-295. Wien 2001. Fassmann und<br />

Klein gehen jeweils überwiegend auf die institutionelle Entwicklung <strong>der</strong> Statistik in Österreich ein. Eine<br />

Wissenschaftsgeschichte <strong>der</strong> österreichischen Statistik, die Personen, Institutionen und Diskurse<br />

umfassend und übergreifend darstellt, bleibt jedoch ein Desi<strong>der</strong>at <strong>der</strong> Forschung.<br />

2 Frau Dr. Monika Streißler sowie den Herren Universitätsprofessoren Adolf Adam, Gerhart Bruckmann,<br />

Johann Pfanzagl, Erich Streißler, Kurt Weichselberger und Othmar W. Winkler schulde ich herzlichen<br />

Dank, daß sie sich für ein Gespräch zur Verfügung gestellt haben. Bei Herrn Prof. Adam bedanke ich<br />

mich ferner für die Übermittlung persönlicher Aufzeichnungen, die wesentlich dazu beitragen, die<br />

Frühgeschichte <strong>der</strong> ÖSG aufzuhellen. Herr Prof. Dr. Leopold Schmetterer äußerte sich brieflich über die<br />

Umstände, die zur Einrichtung des Wiener Lehrgangs für Diplomstatistiker geführt haben, wofür ich ihm<br />

beson<strong>der</strong>s dankbar bin.<br />

3 <strong>Zur</strong> Lebensgeschichte Winklers, <strong>der</strong> die Entwicklung <strong>der</strong> statistischen Disziplin im deutschsprachigen<br />

Raum schon in <strong>der</strong> Zwischenkriegszeit maßgeblich beeinflußte, vgl. A. Pinwinkler. Wilhelm Winkler<br />

(1884-1984) - eine Biographie. Ein Beitrag zur <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Statistik und Demographie in Österreich<br />

und Deutschland. Bde. 1-2. Phil. Diss., Salzburg 2001. (Die gedruckte Fassung dieser Arbeit wird im<br />

Frühjahr 2003 in <strong>der</strong> Reihe „Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ des Verlages Duncker &<br />

Humblot, Berlin, erscheinen.) Ders., Wilhelm Winkler. In C. C. Heyde and E. Seneta, editors,<br />

Statisticians of the Centuries, 369-372. New York, 2001.


A. Pinwinkler 73<br />

plante, die Statistik im Rahmen <strong>der</strong> volkswirtschaftlichen Studien <strong>der</strong> Juristen wie<strong>der</strong> zu<br />

einem Obligatfach zu machen. Sein Konzept einer Reorganisation des statistischen<br />

Unterrichts und <strong>der</strong> statistischen Wissenschaft in Österreich ging jedoch über die Sphäre<br />

<strong>der</strong> Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät <strong>der</strong> Wiener Universität hinaus:<br />

Langfristig wollte er nämlich die Statistik nicht nur durch einen Lehrstuhl innerhalb <strong>der</strong><br />

Juristischen Fakultät verankert wissen, son<strong>der</strong>n er strebte danach, sie zu einem<br />

eigenständigen Studienfach zu machen. 4<br />

Winklers spezifisches Verdienst um den Aufbau <strong>der</strong> wissenschaftlichen Statistik<br />

bestand darin, daß er – kaum unterstützt durch Regierung und Universitätsbehörden –<br />

die durch Krieg und Nationalsozialismus zerstörte Infrastruktur seines Fachs erneuerte<br />

und ausbaute. Die Errichtung des Instituts für Statistik und die Schaffung eines<br />

systematisierten Ordinariats an <strong>der</strong> Universität Wien lassen sich ebenso auf seine<br />

Initiative zurückführen wie die Gründung einer <strong>Österreichischen</strong> <strong>Statistischen</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong>, einer statistischen Fachzeitschrift und eines Lehrgangs für<br />

Diplomstatistiker.<br />

1 Vorläufer, Gründung und institutionelle Entwicklung<br />

<strong>der</strong> ÖSG<br />

Die ÖSG ging auf eine von Winkler am 7. Februar 1949 ins Leben gerufene Statistische<br />

Arbeitsgemeinschaft zurück, die ihren Sitz am Institut für Statistik hatte. Winklers Einladung<br />

zur Gründungsversammlung dieser Arbeitsgemeinschaft folgten 52 Vertreter <strong>der</strong><br />

verschiedensten Gebiete <strong>der</strong> Statistik und <strong>der</strong> Wirtschaftsforschung. Zu den Männern<br />

<strong>der</strong> ersten Stunde <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft gehörten außer dem Ordinarius für Statistik<br />

auch <strong>der</strong> Privatdozent am Institut für Mathematik <strong>der</strong> Universität Wien Dr. Leopold<br />

Schmetterer (*1919) und Adolf Adam, <strong>der</strong> Winklers wichtigster Mitarbeiter am Institut<br />

für Statistik war. Adam betreute den „statistischen Beratungsdienst“, <strong>der</strong><br />

Naturwissenschaftler und Mediziner in die Methoden <strong>der</strong> angelsächsischen Statistik<br />

(Varianzanalyse) einführte. Ferner war er damit beschäftigt, Kontakte zu Fachkollegen<br />

herzustellen, um sie zu Vorträgen im Rahmen <strong>der</strong> AG einzuladen. 5<br />

Bei den zehn Tagungen <strong>der</strong> <strong>Statistischen</strong> Arbeitsgemeinschaft, die im Rahmen von<br />

Winklers Statistischem Seminar abgehalten wurden, wurden insgesamt 23 Referate<br />

vorgetragen. Die Arbeitsgemeinschaft war als Forum für alle Disziplinen gedacht, die<br />

sich mathematischer Methoden bedienten. Diese Institution vollzog in ihren<br />

Arbeitsthemen einen Brückenschlag von den Sozialwissenschaften zu den Wirtschafts-<br />

und Naturwissenschaften. Winklers bevorzugtes Arbeitsgebiet – die Bevölkerungsstatistik<br />

– trat bei den Vortragsveranstaltungen <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft von Anfang an<br />

hinter die Erörterung von Problemen <strong>der</strong> mathematischen Volkswirtschaftslehre und <strong>der</strong><br />

Anwendungen statistischer Methoden in den Naturwissenschaften zurück. So referierte<br />

Prof. Dr. Paul Funk, <strong>der</strong> Vorstand <strong>der</strong> II. Lehrkanzel für Mathematik an <strong>der</strong> Technischen<br />

Hochschule Wien, im Jahr 1950 über „Die Bedeutung mo<strong>der</strong>ner statistischer Me-<br />

4 Vgl. dazu ebd., Bd. 2, 80-118.<br />

5 Gespräch mit A. Adam v. 21.12.2000, Protokoll; vgl. Statistische Arbeitsgemeinschaft. Statistische<br />

Vierteljahresschrift. 2:43, 1949.


74 Festschrift 50 Jahre Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong><br />

thoden in Industrie und Technik“, und Leopold Schmetterer führte den AG-Mitglie<strong>der</strong>n<br />

wie<strong>der</strong>holt die neuesten Forschungsergebnisse <strong>der</strong> theoretischen Statistik vor. – Die<br />

Referenten kamen meist von verschiedenen Wiener Universitäts- und Hochschulinstituten.<br />

Die Wissenschaftler des Instituts für Mathematik, des Anthropologischen und<br />

des Physiologischen Instituts <strong>der</strong> Universität Wien waren beson<strong>der</strong>s eng mit dem<br />

<strong>Statistischen</strong> Institut und <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft verbunden. Diese knüpfte außerdem<br />

Kontakte zu den Hochschulen für Technik, Welthandel und für Bodenkultur, den<br />

Bundesanstalten für Pflanzenschutz und für alpine Landwirtschaft, zur Kammer <strong>der</strong><br />

gewerblichen Wirtschaft und zum Institut für Wirtschaftsforschung an, sodaß zahlreiche<br />

Vortragende auch von diesen Institutionen her kamen. Im Jahr 1949 wurde unter dem<br />

Vorsitz des Leiters <strong>der</strong> Bundesanstalt für alpine Landwirtschaft Prof. Dr. Alfred Zeller<br />

ein Unterausschuß für Biometrie gegründet, <strong>der</strong> sich u. a. mit <strong>der</strong> Anwendung <strong>der</strong><br />

Varianzanalyse in <strong>der</strong> Schädlingsbekämpfung befaßte. Ein Jahr später traten mit den<br />

Unterauschüssen für Stichprobenverfahren und Qualitätskontrolle und für Normierungen<br />

in <strong>der</strong> Statistik weitere Gremien innerhalb <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft ins Leben,<br />

die u. a. auch von Vertretern des Instituts für Wirtschaftsforschung beschickt wurden. 6<br />

Für beson<strong>der</strong>es Aufsehen sorgte bei <strong>der</strong> 10. Tagung <strong>der</strong> <strong>Statistischen</strong> Arbeitsgemeinschaft<br />

am 30. Oktober 1950 die Vorführung einer elektronischen<br />

Rechenmaschine („Stochastomat“) durch die beiden Ingenieure Otto Paul Fuchs und<br />

Horst Kottas, die von Adam angeregt worden war. Eine „Stichprobenplanmaschine“,<br />

<strong>der</strong>en Entwicklung die <strong>Gesellschaft</strong> durch Subventionen und Werbemaßnahmen<br />

unterstützt hatte, wurde im November 1951 <strong>der</strong> Öffentlichkeit vorgeführt. 7<br />

Die Umwandlung <strong>der</strong> <strong>Statistischen</strong> Arbeitsgemeinschaft zu einer „<strong>Statistischen</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong>“ ging auf die Initiative jener Mathematiker zurück, die sich an den<br />

Tagungen <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft beteiligten. Prof. Dr. Edmund Hlawka und<br />

Schmetterer bestärkten Winkler dahingehend, daß die ÖSG nicht nur auf eine<br />

staatswissenschaftliche Statistik beschränkt bleiben sollte. Der Ordinarius für Statistik<br />

weigerte sich jedoch aus einem ganz bestimmten Grund lange, ihrem Umbau<br />

zuzustimmen. Dieser hätte nämlich notwendigerweise bedeutet, daß das Österreichische<br />

Statistische Zentralamt (ÖStZ) und damit auch Felix Klezl-Norberg, <strong>der</strong> Winklers<br />

langjähriger Gegner war, eingebunden hätten werden müssen. 8 Erst als Klezl Ende 1950<br />

in den Ruhestand trat, gab Winkler seinen Wi<strong>der</strong>stand auf, 9 und die <strong>Gesellschaft</strong> konnte<br />

am 13. März 1951 im Zusammenwirken mit dem ÖStZ formal aus <strong>der</strong> Taufe gehoben<br />

werden. Sie hatte ihren Sitz im statistischen Institut <strong>der</strong> Universität. Damit verfügte die<br />

österreichische Statistik erstmals nach den kurzlebigen <strong>Statistischen</strong> Sprechabenden von<br />

1930 10 über eine Plattform, die alle interessierten Fachleute, öffentlichen<br />

Körperschaften und Wirtschaftsverbände unter einem Dach versammelte. Es war das<br />

6<br />

Vgl. ebd., 3.-11. Tagung, 179-181; 3:40-41, 96, 164-166, 1950.<br />

7<br />

Ebd. (1950), 165; Statistische Vierteljahresschrift 5:32, 1952. Dieses Stichprobenplangerät hatte A.<br />

Adam entwickelt. (Vgl. A. Adam, O. P. Fuchs u. H. Kottas. Elektronik und Statistik. In Mitteilungsblatt<br />

für Mathematische Statistik 3(1), 1951).<br />

8<br />

Zum Konflikt zwischen Winkler und Klezl vgl. <strong>Geschichte</strong> und Ergebnisse (1979}, 119.<br />

9<br />

Gespräch mit A. Adam vom 21.12.2000, Protokoll; vgl. zu Klezls Übertritt in den Ruhestand <strong>Geschichte</strong><br />

und Ergebnisse (1979), 156.<br />

10<br />

Wiener statistische Sprechabende, herausgegeben v. W. Winkler u. W. Breisky, Wien 1930. W.<br />

Breisky. Die Weltlage <strong>der</strong> Statistik (H. 1, 1930), 1-13; W. Winkler. Die Statistik in Österreich (H. 1,<br />

1930), 14-22; E. Palla. Probleme <strong>der</strong> Sozialstatistik (H. 2, 1930), 1-16; R. Riemer. Die rechtlichen und<br />

methodischen Grundlagen <strong>der</strong> österreichischen Berufszählung (H. 2, 1930) [mehr nicht erschienen].


A. Pinwinkler 75<br />

Ziel <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>, alle Zweige <strong>der</strong> statistischen Wissenschaft auf den Gebieten <strong>der</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong>s- und <strong>der</strong> Naturwissenschaften zu pflegen, den statistischen Unterricht zu<br />

för<strong>der</strong>n und die Kooperation zwischen statistischen Theoretikern und Praktikern<br />

voranzutreiben. 11 Außerdem sollte „die österreichische Öffentlichkeit mit solchen<br />

Fortschritten <strong>der</strong> ausländischen statistischen Wissenschaft vertraut [gemacht werden],<br />

die infolge <strong>der</strong> langjährigen Absperrung Österreichs bei uns [sc. in Österreich] noch<br />

nicht richtig Fuß fassen konnten.“ 12<br />

Name und Zweck <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> verwiesen auf das Vorbild <strong>der</strong> Deutschen<br />

<strong>Statistischen</strong> <strong>Gesellschaft</strong> (DStG), <strong>der</strong>en Präsident Karl Wagner anläßlich <strong>der</strong><br />

Konstituierung <strong>der</strong> ÖSG „die allerherzlichsten Glückwünsche“ übermittelte und seine<br />

Hoffnung auf eine freundschaftliche Zusammenarbeit ausdrückte. 13 Diese wurde so<br />

ausgestaltet, daß einzelne Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> beiden <strong>Gesellschaft</strong>en als Gäste bzw. als<br />

Referenten bei den Jahrestagungen <strong>der</strong> jeweiligen befreundeten Institution erschienen.<br />

Die ÖSG ging jedoch vor allem ihre eigenen Wege. So bezog sie die<br />

naturwissenschaftliche Statistik und die Ergebnisse vor allem <strong>der</strong> angloamerikanischen<br />

mathematischen Statistik in ihre Tagungsveranstaltungen mit ein, wodurch sie sich in<br />

ihrer inhaltlichen Ausrichtung von ihrer deutschen Schwestergesellschaft unterschied,<br />

die damals ihr Wirkungsfeld auf die Sozial- und Wirtschaftsstatistik im weitesten Sinn<br />

beschränkte.<br />

Winkler teilte sich als Ordinarius für Statistik den Vorsitz in <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

statutengemäß mit dem Präsidenten des ÖStZ und Bundesministers für Finanzen a. D.<br />

Georg Zimmermann (1950-53). Geschäftsführen<strong>der</strong> Sekretär wurde Adolf Adam. Die<br />

Funktion des Kassiers übernahm <strong>der</strong> Mathematiker Prof. Dr. Edmund Hlawka<br />

(Universität Wien). Dem Gründungsvorstand gehörten ferner die Professoren an <strong>der</strong><br />

Technischen Hochschule Paul Funk und Josef Rybarz an. Weitere Mitglie<strong>der</strong> waren MR<br />

Doz. Dr. Heinrich Wagner (Finanzministerium, Hochschule für Welthandel), Leopold<br />

Schmetterer, Dr. Ernst John (Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung). Im<br />

Jahr 1953 wurde Dr. Johann Pfanzagl (Bundeskammer <strong>der</strong> gewerblichen Wirtschaft) in<br />

den Vorstand kooptiert. 1955 und 1956 wurde <strong>der</strong> Vorstand um Edmund Hlawka,<br />

inzwischen Leiter des mathematischen Instituts <strong>der</strong> Universität, den Rat des ÖStZ<br />

Wilhelm Zeller, den neuen Ordinarius für Statistik Slawtscho Sagoroff und Arnold<br />

Madlé ergänzt. Letzterer war 1955/56 Präsident des ÖStZ. 14 Mit dieser personellen<br />

Zusammensetzung des Proponentenkomitees und späteren Vorstands unterstrich die<br />

<strong>Gesellschaft</strong> ihre Zielsetzung, die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen<br />

akademischen Disziplinen und <strong>der</strong> praktischen Statistik för<strong>der</strong>n zu wollen.<br />

Bei ihrer ersten Generalversammlung am 29. April 1952 konnte die ÖSG, die<br />

damals 86 ordentliche und beitragende Mitglie<strong>der</strong> zählte, 15 auf ein erfolgreiches<br />

11<br />

Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong>. Statistische Vierteljahresschrift. 4:75-76, 1951.<br />

12<br />

Ebd., 75.<br />

13<br />

Neugründung [sic!] <strong>der</strong> <strong>Österreichischen</strong> <strong>Statistischen</strong> <strong>Gesellschaft</strong>. Allgemeines Statistisches Archiv.<br />

35:162, 1951.<br />

14<br />

Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong>. Statistische Vierteljahresschrift. 8:88-89, 1955; Adolf Adam.<br />

Bericht des geschäftsführenden Sekretärs. Statistische Vierteljahresschrift. 8:90, 1955; VI.<br />

Generalversammlung. Statistische Vierteljahresschrift. 9:42, 1956; zu G. Zimmermann vgl. <strong>Geschichte</strong><br />

und Ergebnisse (1979), 280.<br />

15<br />

Drei Jahre später hatte sich <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong>stand um 29 auf 115 Mitglie<strong>der</strong> leicht erhöht. Vgl. ebd.,<br />

Adam (1955).


76 Festschrift 50 Jahre Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong><br />

Vereinsjahr zurückblicken. Zu den wichtigsten Projekten, die von ihr im abgelaufenen<br />

Jahr finanziell unterstützt worden waren, gehörten die Patronanz über den Lehrgang für<br />

Diplomstatistiker und die Durchführung einer Exkursion zur Bundesanstalt für alpine<br />

Landwirtschaft in Admont. Ferner gelang es <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong>, ein <strong>der</strong><br />

„Produktivitätsstatistik“ gewidmetes Son<strong>der</strong>heft <strong>der</strong> <strong>Statistischen</strong> Vierteljahresschrift<br />

mit Hilfe einer Spende des Industriellenverbandes herauszubringen. Im folgenden Jahr<br />

wurde ein Plan verwirklicht, <strong>der</strong> seit 1949 auf <strong>der</strong> Wunschliste <strong>der</strong> Wiener Statistiker<br />

gestanden war: die Errichtung eines <strong>Österreichischen</strong> Rechenzentrums. Diese<br />

gemeinnützige Institution wurde im November 1953 ins Leben gerufen. Die Festrede<br />

bei <strong>der</strong> Eröffnungsveranstaltung hielt Prof. Dr. Eduard Stiefel (ETH Zürich), <strong>der</strong> den<br />

Relais-Computer Z 4 von Konrad Zuse wie<strong>der</strong>belebt hatte. Geschäftsführer des<br />

<strong>Österreichischen</strong> Rechenzentrums wurde Adolf Adam. Das Rechenzentrum bearbeitete<br />

vor allem Aufträge aus <strong>der</strong> Wirtschaft, wobei Fragen <strong>der</strong> statistischen Qualitätskontrolle<br />

eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung hatten. Diese Beratungseinrichtung blieb jedoch eher<br />

kurzlebig: Nachdem Adam aus Wien weggegangen war, wurden nämlich die Aufgaben<br />

dieser Einrichtung zunehmend von <strong>der</strong> Technischen Hochschule in Wien<br />

wahrgenommen, sodaß sie letztendlich aufgegeben wurde. 16<br />

In <strong>der</strong> ersten vierjährigen Funktionsperiode des Vorstands <strong>der</strong> ÖSG wurden 46<br />

Vorträge von österreichischen Statistikern und Wirtschaftsfachleuten abgehalten.<br />

Außerdem kamen fünf ausländische Referenten auf Einladung <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> nach<br />

Wien, darunter die Professoren Deming, USA, Lin<strong>der</strong> und Stiefel, Schweiz, Graf,<br />

Deutschland, und Dr. Masing, Deutschland. Beson<strong>der</strong>s mit W. Edwards Deming (1900-<br />

1993) und dem Genfer Statistiker Arthur Lin<strong>der</strong> (geb. 1904) hatte die <strong>Gesellschaft</strong> zwei<br />

international profilierte statistische Theoretiker als Referenten gewonnen. 17 Bei den<br />

Vortragsreihen im Rahmen <strong>der</strong> ÖSG dominierten jedoch wirtschaftsstatistischökonometrische<br />

Fragestellungen. Von insgesamt 62 Referaten, die bis 1957 vorgetragen<br />

wurden, galten fünfzehn Problemen <strong>der</strong> nationalökonomischen Forschung, wobei die<br />

Produktivitätsforschung und -messung den bevorzugten Diskussionsgegenstand<br />

darstellte. Im Zeichen des industriellen Wie<strong>der</strong>aufbaus und <strong>der</strong> Ausweitung <strong>der</strong><br />

Produktion nahm sich die ÖSG des Bedürfnisses <strong>der</strong> Industrie an, effizientere Methoden<br />

zur Messung, Abschätzung und Bewertung <strong>der</strong> Produktivität zu gewinnen. Referate, die<br />

aus Anlaß von Berichten über Tagungsteilnahmen und Studienreisen abgehalten<br />

wurden, bildeten einen weiteren wichtigen Schwerpunkt. Vor allem Winkler, aber auch<br />

Schmetterer, <strong>der</strong> Mitarbeiter des Wirtschaftsforschungsinstituts Richard Strigl, Pfanzagl<br />

– im Jahr 1955 Adams Nachfolger als geschäftsführen<strong>der</strong> Sekretär <strong>der</strong> ÖSG – und die<br />

beiden amtlichen Statistiker Wilhelm Zeller und Georg Zimmermann stellten ihre<br />

Erfahrungen, die sie auf internationaler Ebene gemacht hatten, <strong>der</strong> kleinen<br />

österreichischen Statistikergemeinde im Rahmen dieser Vortragsreihen zur Verfügung.<br />

16 Vgl. A. Adam. I. Generalversammlung <strong>der</strong> <strong>Österreichischen</strong> <strong>Statistischen</strong> <strong>Gesellschaft</strong> am 29. April<br />

1952. Statistische Vierteljahresschrift. 5:50-53, 1952; vgl. <strong>der</strong>s., Das Österreichische Rechenzentrum für<br />

Wirtschaft und Forschung. Der Österreichische Volkswirt 40:6, 1954; vgl. briefliche Mitteilung von A.<br />

Adam an den Vf. vom 26.02.2001, aus <strong>der</strong> jedoch nicht hervorgeht, wann genau das Rechenzentrum<br />

geschlossen wurde.<br />

17 Vgl. S. E. Fienberg and S. M. Stiegler. W. Edwards Deming. In C. C. Heyde and E. Seneta, editors,<br />

Statisticians of the Centuries, 485-489. New York, 2001; zu Lin<strong>der</strong> G. Fischer, F. Hirzebuch et al. Ein<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t Mathematik 1890-1990. Festschrift zum Jubiläum <strong>der</strong> DMV. Braunschweig-Wiesbaden,<br />

1990, 804.


A. Pinwinkler 77<br />

Auch in diesen Berichten standen die verschiedenen Zweige <strong>der</strong> Wirtschaftsstatistik im<br />

Vor<strong>der</strong>grund. Winkler war in dem Kreis von Nachwuchsforschern und habilitierten<br />

Wissenschaftlern fast <strong>der</strong> einzige, <strong>der</strong>, obgleich er selbst den Paradigmenwechsel <strong>der</strong><br />

Statistik zur Wirtschaftsforschung weitgehend mitvollzogen hatte, Berichte auch über<br />

den Stand <strong>der</strong> demographischen Forschung erstattete. Mit insgesamt drei Vorträgen zur<br />

Demographie (darunter zwei <strong>der</strong> Volkszählung von 1951 gewidmete von G.<br />

Zimmermann) rangierte dieses Fachgebiet jedoch hinter <strong>der</strong> Medizinalstatistik und <strong>der</strong><br />

reinen mathematischen Statistik (sechs bzw. vier Vorträge). Damit zählte die<br />

Demographie zu jenen Disziplinen (Biometrie, Psychologie, <strong>Geschichte</strong> u. a.), die mit<br />

einem bis drei Referate bei den Vortragsreihen <strong>der</strong> ÖSG vertreten waren. 18<br />

Winklers Rolle in <strong>der</strong> ÖSG läßt sich damit umschreiben, daß er ihr im Rahmen des<br />

von ihm geleiteten Instituts eine Heimstätte schuf und als Präsident und<br />

Vorstandsmitglied den Ablauf <strong>der</strong> Tagungsveranstaltungen koordinierte. Die inhaltliche<br />

Diskussion wurde von ihm we<strong>der</strong> beherrscht, noch wurde sie von ihm aktiv in eine<br />

bestimmte Richtung gelenkt. Zwar liefen die Einladungen <strong>der</strong> wenigen ausländischen,<br />

meist deutschen Gelehrten und Referenten, 19 welche die Tagungen <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />

besuchten, meist über seine Person, doch wurde das wissenschaftliche Profil <strong>der</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong> zunehmend von Nachwuchsforschern, z. B. von Adolf Adam, geprägt, die<br />

bestrebt waren, den Rückstand Österreichs durch Rezeption ausländischer<br />

Forschungsergebnisse aufzuholen. Somit erfüllte die ÖSG in ihrer Frühzeit vor allem<br />

den Zweck, als „Auffangbecken“ des internationalen statistischen Diskurses in<br />

Österreich zu dienen. Und nicht zuletzt stellte sie die institutionelle Voraussetzung dar,<br />

um die österreichischen Fachstatistiker mit statistisch interessierten Persönlichkeiten<br />

und Körperschaften zusammenzuführen.<br />

2 Die Statistische Vierteljahresschrift<br />

Die in <strong>der</strong> Manzschen Verlags- und Universitätsbuchhandlung erscheinende Statistische<br />

Vierteljahresschrift (StVjschr) fungierte als Publikationsorgan <strong>der</strong> ÖSG, in <strong>der</strong> die<br />

meisten während <strong>der</strong> Tagungen abgehaltenen Referate abgedruckt wurden. Im ersten<br />

Heft <strong>der</strong> Zeitschrift, das <strong>1948</strong> erscheinen konnte, hob Winkler als Herausgeber hervor,<br />

daß das neue Fachorgan „in Österreich und vielleicht auch über seine Grenzen hinaus<br />

eine Vorstellung von dem geben [sollte], was mo<strong>der</strong>ne Statistik ist, und welche<br />

ungeheuere Bedeutung für Staat und Wirtschaft ihr zukommt“. Winkler kündigte ferner<br />

an, hervorragende Fachgelehrte um die Mitarbeit an seiner Zeitschrift bitten zu wollen,<br />

und dem wissenschaftlichen Nachwuchs ein Forum zu geben, auf dem dieser seine<br />

Forschungsarbeiten zur Diskussion stellen könnte. 20 Die einzelnen Hefte <strong>der</strong> Zeitschrift<br />

bestanden aus drei Teilen: einem Aufsatz-, einem Rundschau- und einem<br />

Besprechungsteil. Im ersten Teil wurden meist Arbeiten aus Winklers Mitarbeiter- und<br />

18 Vgl. Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong>. Vorträge von 1951 bis 1957. Statistische<br />

Vierteljahresschrift. 9:182-184, 1956; zur ÖSG vgl. auch Th. Pütz. Österreichische<br />

wirtschaftswissenschaftliche <strong>Gesellschaft</strong>en. In Handwörterbuch <strong>der</strong> Sozialwissenschaften. Bd. 8.<br />

Tübingen-Göttingen 1956ff., 1964, 73.<br />

19 Gespräch mit J. Pfanzagl vom 23.08.1999, Protokoll.<br />

20 W. Winkler. Zum Geleit. Statistische Vierteljahresschrift. 1:1-3, <strong>1948</strong>.


78 Festschrift 50 Jahre Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong><br />

Schülerkreis veröffentlicht, in <strong>der</strong> „Rundschau“ fanden Tagungsberichte und<br />

Personalnachrichten ihren Platz, und <strong>der</strong> Besprechungsteil brachte einen Querschnitt <strong>der</strong><br />

neuesten statistischen Fachliteratur.<br />

Von den in seinen Geleitworten angesprochenen Zielen konnte <strong>der</strong> Wiener<br />

Ordinarius in den Jahren des Bestehens <strong>der</strong> Zeitschrift nur seine erklärte Absicht voll<br />

verwirklichen, Österreich und dem wissenschaftlichen Nachwuchs ein regelmäßig<br />

erscheinendes statistisches Organ zu geben: Die StVjschr zog die kleine Gemeinde <strong>der</strong><br />

in <strong>der</strong> ÖSG aktiven österreichischen, überwiegend Wiener Statistiker an sich. Sie blieb<br />

bis zu ihrer Einstellung 1957 innerhalb Österreichs ohne Konkurrenz. Als Herausgeber<br />

beeinflußte Winkler gemeinsam mit seinem hauptverantwortlichen Redakteur Adolf<br />

Adam maßgeblich die inhaltliche Ausrichtung <strong>der</strong> Beiträge; diejenigen seiner Schüler,<br />

die in <strong>der</strong> StVjschr die Ergebnisse ihrer Seminararbeiten und Dissertationen vorstellen<br />

durften, repräsentierten gleichzeitig einen Großteil des österreichischen statistischen<br />

Nachwuchses. Dieser stellte sich jedoch erst im Laufe <strong>der</strong> Zeit mit <strong>der</strong> schrittweisen<br />

Verbesserung des statistischen Unterrichtswesens ein, wobei die Schaffung des<br />

Lehrgangs für Diplomstatistiker im Jahr 1951 hinsichtlich <strong>der</strong> Steigerung des Anteils<br />

von Schülerarbeiten einen Durchbruch mit sich brachte. Hingegen mußte Winkler die<br />

ersten Jahrgänge wesentlich durch eigene Beiträge ergänzen. Von den elf Aufsätzen, die<br />

im ersten Band <strong>der</strong> Zeitschrift (<strong>1948</strong>) gedruckt wurden, verfaßte er selbst vier, und die<br />

„Rundschau“ gestaltete er in diesem Band in Eigenregie. In den ersten drei Jahrgängen<br />

<strong>der</strong> Zeitschrift schrieb er Artikel für die meisten Themenbereiche <strong>der</strong> Statistik, während<br />

er sich später vorwiegend bevölkerungsstatistischen Studien und Tagungsberichten<br />

zuwandte.<br />

Zu den Männern <strong>der</strong> ersten Stunde, die seit dem Gründungsjahr regelmäßig an <strong>der</strong><br />

Wiener Zeitschrift mitarbeiteten, zählten Lothar Bosse, Adolf Adam und Othmar<br />

Winkler. Letzterer lieferte jedoch, nachdem er Wien verlassen hatte, nur mehr zwei<br />

Aufsätze (1950) und einen einzigen Beitrag für die Rundschau (1953) ab. Der Anteil<br />

weiblicher Forscher an dem statistischen Publikationsorgan hielt sich in engen Grenzen.<br />

Es war bezeichnend für die äußerst geringe Vertretung von Frauen an <strong>der</strong> Universität,<br />

daß die vermutlich einzigen Beiträge (Buchbesprechungen), die von einer Forscherin in<br />

<strong>der</strong> StVjschr veröffentlicht wurden 21 , vermutlich von einer Verwandten des bekannten<br />

Wiener Anthropologen Weninger stammten. 22<br />

Der ursprünglichen Zielsetzung des Herausgebers, <strong>der</strong> Vierteljahresschrift über<br />

Österreich hinaus Bedeutung zu geben und namhafte Fachgelehrte dazu zu veranlassen,<br />

an ihr mitzuarbeiten, konnte das Blatt nicht voll gerecht werden. Der Wirkungs- und<br />

Ausstrahlungsbereich <strong>der</strong> StVjschr reichte nämlich kaum über die Wiener Universität<br />

hinaus. Fachliche Beiträge kamen außer von den Angehörigen des Instituts für Statistik<br />

in <strong>der</strong> Regel von jenen – meist Wiener – Universitäts- und Hochschulinstituten, <strong>der</strong>en<br />

Vertreter auch an den Vortragsabenden <strong>der</strong> ÖSG partizipierten. Dagegen konnte<br />

Winkler sein Vorhaben, mit <strong>der</strong> Zeitschrift auch eine Brücke zur angewandten Statistik<br />

zu schlagen, erfolgreich in die Tat umsetzen. So gelang es ihm, über die Aktivitäten <strong>der</strong><br />

ÖSG auch praktische Statistiker für die Mitarbeit an <strong>der</strong> Zeitschrift zu gewinnen. Einer<br />

21 Wenn Vornamen abgekürzt wurden, konnte nicht immer mit Sicherheit festgestellt werden, ob es sich<br />

um den Beitrag eines Mannes o<strong>der</strong> einer Frau handelte.<br />

22 Die Rezensentin Margaretha Weninger besprach im Bd. 3 (1950), 49f., 177f. <strong>der</strong> <strong>Statistischen</strong><br />

Vierteljahresschrift jeweils eine biometrische Monographie.


A. Pinwinkler 79<br />

<strong>der</strong> damals noch kaum bekannten Beiträger zur StVjschr, <strong>der</strong> später internationales<br />

Ansehen als Wirtschafts- und Finanzpolitiker erwarb, war <strong>der</strong> Mitarbeiter des Instituts<br />

für Wirtschaftsforschung Stephan Koren (1919-1988). 23 . Bekannte ausländische<br />

Fachgelehrte, die an <strong>der</strong> Wiener Zeitschrift mitarbeiteten, kamen aus dem Kreis <strong>der</strong><br />

mathematisch orientierten Schule um Oskar An<strong>der</strong>son, einem Pionier <strong>der</strong> Theorie und<br />

Anwendung <strong>der</strong> Stichprobenverfahren. 24 Der Münchner Ordinarius selbst trug 1954 –<br />

ebenso wie sein Mitarbeiter Hans Kellerer – einen Artikel für die Festschrift zu<br />

Winklers 70. Geburtstag bei. Die beiden Herausgeber des Münchner Mitteilungsblatts<br />

für mathematische Statistik fochten bei den Tagungen <strong>der</strong> DStG Seite an Seite mit dem<br />

Wiener Kollegen für ihre gemeinsamen wissenschaftlichen Ziele 25 und standen mit<br />

diesem auch auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Zeitschriftenpublikation in loser Verbindung. Inhaltlich<br />

gingen die Wiener StVjschr und das Münchner Mitteilungsblatt jedoch verschiedene<br />

Wege. Während die StVjschr neben <strong>der</strong> statistischen Theorie vor allem natur- und<br />

sozialwissenschaftlichen Anwendungsbereichen <strong>der</strong> Statistik ihr Augenmerk schenkte,<br />

befaßte sich das Mitteilungsblatt ausschließlich mit <strong>der</strong> mathematisch-statistischen<br />

Theorie. Weitere ausländische Gelehrte, die in <strong>der</strong> StVjschr zu Wort kamen, waren<br />

Arthur Lin<strong>der</strong> und einige Mitarbeiter des Gießener Universitätsinstituts für Pflanzenanbau<br />

und Pflanzenzüchtung. Letztere gestalteten im Jahr 1957 ein Son<strong>der</strong>heft über das<br />

Ertragsgesetz beim Pflanzenanbau. Die beiden einzigen Beiträge, die nicht aus dem<br />

deutschsprachigen Raum kamen, stammten aus <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> zweier Mitarbeiter des<br />

Mathematischen Zentrums in Amsterdam, die über die Arbeit ihrer Institution<br />

berichteten, und von einem Dozenten für Statistik an <strong>der</strong> Universität Bristol, England<br />

(1957). Sonst wurde die Zeitschrift außerhalb des deutschen Sprachraums kaum<br />

wahrgenommen – jedenfalls nicht an jenen US-amerikanischen und britischen<br />

Universitäten, die in den fünfziger Jahren führend an <strong>der</strong> Weiterentwicklung <strong>der</strong><br />

statistischen Theorie beteiligt waren. 26<br />

Wenn man die Verteilung <strong>der</strong> Aufsätze und <strong>der</strong> kleineren Beiträge in <strong>der</strong> StVjschr<br />

nach Themenbereichen untersucht, ergeben sich insgesamt sieben Rubriken: Statistische<br />

Theorie, Ökonometrie, Bevölkerungsstatistik, Sonstige angewandte Statistik,<br />

Tagungsberichte, Personalnachrichten und Sonstiges. Ehe im folgenden auf die<br />

Ergebnisse <strong>der</strong> Erhebung eingegangen wird, sei vorweg darauf hingewiesen, daß<br />

statistisch-theoretische und ökonometrische Themen im zeitgenössischen statistischen<br />

Diskurs eine beherrschende Stellung einnahmen. Dieser Befund spiegelt sich im<br />

Themenspektrum <strong>der</strong> StVjschr, denn in dieser Zeitschrift wurden vor allem Aufsätze<br />

veröffentlicht, die sich mit wirtschaftsstatistischen und theoretischen Problemen<br />

auseinan<strong>der</strong>setzten. Dadurch, daß die inhaltliche Verteilung <strong>der</strong> Aufsätze sich auch in<br />

den Vortragsthemen <strong>der</strong> ÖSG (s. o.) spiegelte, ist dieser Befund jedoch nicht überraschend.<br />

Es ist indes hervorzuheben, daß die beiden Rubriken Statistische Theorie und<br />

23<br />

Stephan Koren verfaßte einen Aufsatz über „Die Entwicklung von Produktion, Beschäftigung und<br />

Produktivität in <strong>der</strong> österreichischen Industrie seit 1945“. Statistische Vierteljahresschrift. 5:128-135,<br />

1952.<br />

24<br />

Vgl. H. u. R. Strecker. Oskar An<strong>der</strong>son. In C. C. Heyde and E. Seneta, editors, Statisticians of the<br />

Centuries, 377-381. New York, 2001.<br />

25<br />

Vgl. beispielsweise die Diskussionen bei <strong>der</strong> Stuttgarter <strong>Statistischen</strong> Woche. W. Dittmar. Die 22.<br />

Jahresversammlung <strong>der</strong> Deutschen <strong>Statistischen</strong> <strong>Gesellschaft</strong> am 19. und 20. September 1951 in Stuttgart.<br />

Allgemeines Statistisches Archiv. 35:328-331, 338-339, 1951.<br />

26<br />

Vgl. auch das Gespräch mit J. Pfanzagl vom 23.08.1999, Protokoll.


80 Festschrift 50 Jahre Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong><br />

Ökonometrie mit insgesamt 109 Einträgen nahezu die Hälfte (47,19%) aller 231<br />

Eintragungen belegen. Die Bevölkerungsstatistik liegt mit 27 Eintragungen hingegen<br />

abgeschlagen an dritter (bzw. vierter) Stelle hinter den Tagungsberichten, die 45mal<br />

aufscheinen. In letzterer Kategorie nimmt Winkler mit sechzehn Berichten eine relative<br />

Führungsposition ein. Diese Darstellungen vermittelten den Nachwuchsstatistikern<br />

Erfahrungen, die Winkler bei internationalen demographischen und statistischen<br />

Kongressen gewonnen hatte. Nicht zuletzt trug er den österreichischen Statistikern jene<br />

Referate vor, die er selbst bei den internationalen Versammlungen gehalten hatte. Seine<br />

Schüler reagierten nicht in <strong>der</strong> Weise auf die Anregungen ihres Lehrers, daß sie seine<br />

Arbeiten in ihren eigenen Beiträgen für die StVjschr verstärkt zitiert hätten. Nur sein<br />

„Grundriß <strong>der</strong> Statistik“ 27 findet sich wie<strong>der</strong>holt in den Fußnoten <strong>der</strong> Aufsätze, die in<br />

<strong>der</strong> StVjschr erschienen. 28<br />

Der letzte Jahrgang <strong>der</strong> StVjschr erschien 1957. Die ungeheuren organisatorischen<br />

und personellen Schwierigkeiten <strong>der</strong> unmittelbaren Nachkriegsära waren zu dieser Zeit<br />

längst überwunden, doch die inhaltliche Konzeption wie das äußere Erscheinungsbild<br />

<strong>der</strong> Zeitschrift hatten sich seit ihrem ersten Erscheinungsjahr kaum verän<strong>der</strong>t. Der<br />

Herausgeber erkannte, daß die von ihm begründete Vierteljahresschrift nicht mehr den<br />

gestiegenen Anfor<strong>der</strong>ungen des statistischen Zeitschriftenwesens entsprach. „Zum<br />

Abschied“ hob er jedoch die Bedeutung <strong>der</strong> StVjschr für die reiche Entfaltung des<br />

Nachwuchses hervor, und er stellte dankbar fest, daß „neben und mit <strong>der</strong> Zeitschrift“ die<br />

ÖSG „zu blühendem Leben gelangt“ sei. Doch jetzt, da alles auf einen weiteren Ausbau<br />

und eine Vertiefung <strong>der</strong> Fachstatistik dränge, könne „eine auf sich allein gestellte<br />

österreichische Zeitschrift“ nicht mehr genügen. 29<br />

Die neue Zeitschrift, die an die Stelle <strong>der</strong> StVjschr trat, wurde – nach einem<br />

Vorschlag von Slawtscho Sagoroff 30 – von ihren Grün<strong>der</strong>n Metrika – Zeitschrift für<br />

theoretische und angewandte Statistik genannt. Sie war das Ergebnis einer<br />

Verschmelzung <strong>der</strong> Wiener Zeitschrift mit ihrem Münchner Pendant Mitteilungsblatt<br />

für mathematische Statistik und wurde von Oskar An<strong>der</strong>son und Wilhelm Winkler<br />

gemeinsam herausgegeben. Die Schriftleitung für den Teil „Theoretische Statistik“<br />

übernahm Hans Kellerer, und für den Teil „Angewandte Statistik“ war <strong>der</strong> zweite<br />

Schriftleiter Slawtscho Sagoroff zuständig. Unterstützt wurde die Zeitschrift von den<br />

Inhabern statistischer Lehrstühle in Westdeutschland (Berlin-Charlottenburg, Berlin-<br />

Dahlem, Hamburg, München), Österreich (Wien) und <strong>der</strong> Schweiz (Bern, Genf) sowie<br />

vom <strong>Statistischen</strong> Bundesamt in Wiesbaden, das von Siegfried Koller 31 vertreten<br />

wurde. 32<br />

27 W. Winkler. Grundriß <strong>der</strong> Statistik. Bd. 1. Theoretische Statistik. Berlin, 1931. [2., umgearbeitete Aufl.<br />

Wien 1947.]. Bd. II: <strong>Gesellschaft</strong>sstatistik. Berlin, 1933. [2., umgearbeitete Aufl. Wien <strong>1948</strong>.].<br />

28 In <strong>der</strong> Rubrik „Personalnachrichten“ fanden sich achtzehn, unter „Sonstiges“ elf Eintragungen. 21<br />

Artikel befaßten sich mit „Sonstiger angewandter Statistik“, worunter Untersuchungen zur Berufs-,<br />

Kriminal-, Wahl-, Musik-, Gesundheits-, Verkehrs- und Sportstatistik sowie zur meteorologischen,<br />

biologischen und psychologischen Statistik zu verstehen sind.<br />

29 W. Winkler. Zum Abschied. Statistische Vierteljahresschrift 10:105-106, 1957.<br />

30 So A. Adam in einem Schreiben an den Vf. vom 26.02.2001.<br />

31 <strong>Zur</strong> Rolle S. Kollers, <strong>der</strong> tief in die Erbstatistik des „Dritten Reichs“ verstrickt war, im <strong>Statistischen</strong><br />

Bundesamt und unter den deutschen Statistikern vgl. G. Aly u. K. H. Roth. Die restlose Erfassung.<br />

Volkszählen, Identifizieren und Ausson<strong>der</strong>n im Nationalsozialismus. Frankfurt/Main, 2000, 127-131.<br />

32 Geleitwort. Metrika. 1:1-2, 1958; zur Urheberschaft <strong>der</strong> Bezeichnung „Metrika“ vgl. Gespräch mit A.<br />

Adam vom 21.12.2000, Protokoll.


A. Pinwinkler 81<br />

3 Der Lehrgang für Diplomstatistiker<br />

1951 richtete Winkler am Institut für Statistik einen viersemestrigen Lehrgang für Diplomstatistiker<br />

ein, <strong>der</strong> im Sommersemester des selben Jahres seinen Betrieb aufnahm.<br />

Hinter dieser Gründung stand seine Idee, die Statistik zu einem Fach zu machen, das<br />

unabhängig von je<strong>der</strong> Bindung an die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät<br />

studiert und mit einem Diplom abgeschlossen werden konnte. Seine Vorbil<strong>der</strong> waren<br />

die entsprechenden Studiengänge, welche in Italien und Frankreich schon länger<br />

bestanden. 33 Selbst Deutschland schien Österreich nach dem Krieg zu überflügeln, was<br />

den Ausbau des statistischen Unterrichts betraf. Oskar An<strong>der</strong>son informierte nach einer<br />

entsprechenden Erkundigung seines Wiener Kollegen, <strong>der</strong> bei statistischen Ämtern und<br />

Universitäten im deutschsprachigen Raum eine Umfrage über die „Lage <strong>der</strong> Statistik“<br />

durchgeführt hatte, Winkler brieflich und äußerte sich auch zur Anwendung des<br />

Stichprobenverfahrens in Deutschland. Der wesentliche Anstoß zum Einsatz des<br />

Stichprobenverfahrens gehe auf die amerikanischen Besatzungstruppen zurück, die<br />

gewohnt seien, mit <strong>der</strong> repräsentativen Methode umzugehen. Es entstehe daher eine<br />

rege Nachfrage nach theoretisch gut ausgebildeten Statistikern. Mit dem Argument des<br />

amerikanischen Bedarfs habe er in seinen Verhandlungen mit den zuständigen<br />

bayerischen Ämtern bereits erfolgreich dafür gewirkt, den statistischen Unterricht zu<br />

verbessern. 34<br />

Winkler hatte mit vergleichbaren Interventionen schon in <strong>der</strong> Zwischenkriegszeit<br />

begonnen. Damals hatte er bereits geplant, ein eigenes Studienfach Statistik schaffen zu<br />

wollen. 35 Doch nach dem Krieg erkannte er, daß dieses Ziel innerhalb <strong>der</strong> Rechts- und<br />

Staatswissenschaftlichen Fakultät <strong>der</strong> Universität Wien, die weit mehr <strong>der</strong> Ausbildung<br />

von Juristen und Verwaltungsbeamten verpflichtet war als <strong>der</strong> Heranziehung von<br />

Statistikern, kaum zu verwirklichen war. Doch auch in Österreich kamen die<br />

Erfor<strong>der</strong>nisse des Wie<strong>der</strong>aufbaus und die Bestrebungen zur „Produktivitätssteigerung“<br />

seinem schon lange gehegten Gedanken entgegen, war doch längst auch hier ein<br />

verstärkter Bedarf an fachstatistisch versierten Kräften festzustellen. 36 Schon 1949 trat<br />

die Statistische Arbeitsgemeinschaft mit einstimmiger Unterstützung des<br />

Professorenkollegiums <strong>der</strong> Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät an das<br />

Bundesministerium für Unterricht heran, um einen „Lehrgang für Diplomstatistiker“<br />

einzurichten. Von <strong>der</strong> Warte des Initiators dieses Lehrgangs war dieser nur <strong>der</strong> Anfang<br />

einer längeren Entwicklung, welche den statistischen Unterricht aus seiner geringen<br />

Bedeutung herausführen und letzten Endes Fachleute heranbilden sollte, die den Titel<br />

„Diplomstatistiker“ führen durften. Bis die Lehrveranstaltungen aufgenommen werden<br />

konnten, vergingen jedoch noch eineinhalb Jahre. Die Verzögerung entstand deshalb,<br />

weil das Parlament kein Hochschulstudiengesetz beschloß, das als Grundlage für eine<br />

33<br />

Vgl. N. L. Johnson and S. Kotz, editors, Leading Personalities in Statistical Sciences. New York 1997,<br />

294.<br />

34<br />

Vgl. Die Lage <strong>der</strong> Statistik in <strong>der</strong> Welt. Statistische Vierteljahresschrift. 1:175-180, <strong>1948</strong>, hier:<br />

Ausschnitt aus dem Brief von O. An<strong>der</strong>son an W. Winkler, 176.<br />

35<br />

Vgl. W. Winkler. Lebensgeschichte eines Statistikers. In Nikolaus Grass, Herausgeber, Österreichische<br />

Rechts- und Staatswissenschaften <strong>der</strong> Gegenwart in Selbstdarstellungen. Innsbruck 1952, 218.<br />

36<br />

Lehrgang für fachstatistische Ausbildung an <strong>der</strong> Universität Wien, in: Statistische Vierteljahresschrift.<br />

3:77, 1951.


82 Festschrift 50 Jahre Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong><br />

die rechtliche Absicherung des Lehrgangs herstellende Verordnung dienen hätte<br />

können. 37 Als auch die ersehnte Absicherung, die Winkler sich von einer Verordnung<br />

des Ministeriums erwartete, zunehmend länger auf sich warten ließ, beschloß er, den<br />

Lehrgang praeter legem und in Eigenregie einzuführen und ohne Rücksicht auf<br />

juristische Grundlagen die ersten Lehrveranstaltungen abzuhalten. Eine offizielle<br />

Genehmigung wurde auch später nie erteilt, sodaß <strong>der</strong> Lehrgang ein Dauerprovisorium<br />

blieb. Es gelang ihm jedoch, vom Ministerium Lehraufträge zu erhalten. 38<br />

Ein Nachteil eines <strong>der</strong>artig behelfsmäßigen Beginns war, daß <strong>der</strong> statistische<br />

Studiengang nicht im Vorlesungsverzeichnis <strong>der</strong> Universität Wien aufscheinen konnte.<br />

Die meisten Studenten erhielten daher von seiner Existenz keine Kenntnis.<br />

Werbeaktionen blieben wahrscheinlich auf das statistische und das mathematische<br />

Institut <strong>der</strong> Universität beschränkt. Einer <strong>der</strong> Teilnehmer des Studiengangs, Kurt<br />

Weichselberger, erinnerte sich, daß den Studierenden erklärt worden sei, die<br />

Genehmigung würde als Formalie nachgeholt sein, bis die ersten den Lehrgang<br />

abgeschlossen hätten. 39<br />

Der Lehrplan des Studiengangs sah den Besuch <strong>der</strong> statistischen<br />

Lehrveranstaltungen für Staatswissenschaftler durch zwei Semester und von<br />

Vorlesungen und Übungen über höhere Mathematik für Statistiker vor. Über jeden<br />

Gegenstand waren Einzelprüfungen, über den Gesamtstoff eine kommissionelle<br />

Gesamtprüfung abzulegen. Vor dieser war eine schriftliche Hausarbeit einzureichen. 40<br />

Die Lehrveranstaltungen waren inhaltlich kaum miteinan<strong>der</strong> verbunden. Sie wurden alle<br />

im Institut für Statistik abgehalten. Während Winklers Seminare und Vorlesungen<br />

seiner Lehrverpflichtung als o. Prof. <strong>der</strong> Rechts- und Staatswissenschaften entsprachen<br />

und sein Lehrangebot sich nicht verän<strong>der</strong>t hatte, son<strong>der</strong>n nur die (geringe) Zahl seiner<br />

Hörer um die Teilnehmer des Studiengangs vermehrt wurde, waren die Kurse für<br />

mathematische Statistik ausschließlich für die Lehrgangsteilnehmer gedacht. Diese<br />

Lehrveranstaltungen wurde von Privatdozent Leopold Schmetterer geleitet; die<br />

Vorlesung von E. Bukowicz, dem Assistenten an <strong>der</strong> III. Lehrkanzel für Mathematik <strong>der</strong><br />

Technischen Hochschule, führte künftige „Diplomstatistiker“ in die höhere Mathematik<br />

ein. 41 Wer an dem Lehrgang teilnehmen wollte, mußte nachweisen, daß er ein<br />

Hochschulstudium erfolgreich beendet hatte. Aus dieser Anfor<strong>der</strong>ungsstruktur ergab<br />

sich zwangsläufig, daß die Wirtschafts- und Staatswissenschaftler alle<br />

Lehrveranstaltungen des Kurses mit Prüfung abschließen mußten, um das<br />

Abschlußzeugnis zu erhalten, während die studierten Mathematiker den Lehrgang<br />

günstigenfalls bereits in zwei Semestern beenden konnten.<br />

37<br />

Ebd., 77-78.<br />

38<br />

Vgl. W. Winkler. Aus <strong>der</strong> Werkstatt des Forschers. Österreichische Hochschulzeitung vom 01.10.1959,<br />

3; vgl. Schreiben von L. Schmetterer an den Vf. v. 06.12.2000.<br />

39<br />

K. Weichselberger. Statistische Studiengänge im deutschsprachigen Raum. In A. Adam, Herausgeber,<br />

Festschrift für Wilhelm Winkler: anläßlich des 100. Geburtstages am 29. Juni 1984. Wien, 1984, 81<br />

(=Schriftenreihe <strong>der</strong> <strong>Österreichischen</strong> <strong>Statistischen</strong> <strong>Gesellschaft</strong>; 1).<br />

40<br />

Lehrgang für fachstatistische Ausbildung an <strong>der</strong> Universität Wien. Statistische Vierteljahresschrift.<br />

3:78, 1951.<br />

41<br />

Öffentliche Vorlesungen an <strong>der</strong> Universität zu Wien. <strong>1948</strong>-1955. Wien <strong>1948</strong>-55, siehe jeweils unter<br />

Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät „Statistik“.


A. Pinwinkler 83<br />

Von den 75 eingeschriebenen Hörern des ersten Lehrgangssemesters waren drei<br />

Fünftel Lehramtskandidaten <strong>der</strong> mathematisch-naturwissenschaftlichen Richtung. 42 Die<br />

Ursache für die hohe Frequenz des Studiengangs durch Mathematiker, die eigentlich<br />

geplant hatten, die Schullaufbahn einzuschlagen, lag in <strong>der</strong> angespannten<br />

Arbeitsmarktlage begründet. Mathematiker konnten Anfang <strong>der</strong> fünfziger Jahre fast nur<br />

den Lehrberuf ergreifen. Als Winkler jedoch seinen Kurs einrichtete, erblickten viele<br />

Mathematiker in ihm eine Möglichkeit, ihre Berufschancen zu verbessern, obwohl sie<br />

mit „Statistik“ eigentlich nicht viel anzufangen wußten. 43<br />

Die Absolventen des „Lehrgangs für Diplomstatistiker“ verfügten über gute<br />

Berufschancen. Die meisten traten in den gehobenen Dienst <strong>der</strong> Kammern, des<br />

<strong>Österreichischen</strong> Instituts für Wirtschaftsforschung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verstaatlichten Industrie<br />

ein. 44 Mag. Helmut Voak war <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> im Jahr 1955 den Lehrgang mit Erfolg<br />

abschloß. Voak wurde Betriebsleiter bei <strong>der</strong> <strong>Österreichischen</strong> Stickstoffwerke AG in<br />

Linz. 45 Hertha Firnberg (1909-1994) 46 , die spätere Abgeordnete zum Nationalrat und<br />

Wissenschaftsministerin, stieg, nachdem sie einen „Schnellsiedekurs“ (nicht den<br />

Lehrgang) am Institut absolviert hatte, zur Leiterin <strong>der</strong> <strong>Statistischen</strong> Abteilung <strong>der</strong><br />

Nie<strong>der</strong>österreichischen Arbeiterkammer auf. Nur in das ÖStZ gelangten keine<br />

Teilnehmer an dem Kurs, worin sich die unter <strong>der</strong> Präsidentschaft von Hans Fuchs<br />

eisige Atmosphäre zwischen dem Amt und dem Institut spiegelte. 47<br />

Weitere Lehrgangsteilnehmer, welche „die erste Generation <strong>der</strong> Mathematischen<br />

Statistiker in Österreich“ 48 darstellten und die, ehe sie an die Hochschule gingen,<br />

ebenfalls häufig in Kammern o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Verstaatlichten Industrie tätig waren, erhielten<br />

nach ihrer Habilitation direkte Rufe auf statistische Lehrstühle in Deutschland. Die<br />

Ursache für diesen Erfolg war, daß die Tätigkeit als Statistiker von vornherein einen<br />

„Mangelberuf“ darstellte. Zweitens füllte <strong>der</strong> Lehrgang eine Marktnische aus, weil er<br />

<strong>der</strong> einzige sui generis im deutschen Sprachraum war. – Die absolvierten<br />

„Diplomstatistiker“ erhielten von Winkler als dem zuständigen Ordinarius ein „Zeugnis<br />

für akademisch geprüfte Statistiker“ ausgehändigt, in dem dieser den/die Betreffende(n)<br />

„für eine fachstatistische Anstellung je<strong>der</strong> Art, beson<strong>der</strong>s auch in Amt o<strong>der</strong><br />

Privatwirtschaft“ empfahl. 49<br />

42<br />

Lehrgang für fachstatistische Ausbildung an <strong>der</strong> Universität Wien, in: Statistische Vierteljahresschrift.<br />

3:79, 1951.<br />

43<br />

Vgl. Weichselberger (1984}, 80.<br />

44<br />

Schreiben von L. Schmetterer an den Vf. v. 06.12.2000.<br />

45<br />

Mitteilung von A. Adam an die ÖSG, März 2001. Eine Kopie liegt dem Vf. vor.<br />

46<br />

Vgl. I. Ackerl u. F. Weissensteiner. Österreichisches Personenlexikon <strong>der</strong> Ersten und Zweiten<br />

Republik. Wien 1995, 111-112, s. v. Firnberg, Hertha.<br />

47<br />

W. Winkler. Eine Tragödie <strong>der</strong> Ahnungslosigkeit. <strong>Zur</strong> Sanierung <strong>der</strong> amtlichen Statistik Österreichs.<br />

Arbeit und Wirtschaft. 9:10, 1963; vgl. auch Gespräch mit A. Adam vom 21.12.2000, Protokoll.<br />

48<br />

Schreiben von L. Schmetterer an den Vf. v. 06.12.2000.<br />

49<br />

Für die Überlassung einer Kopie seines Zeugnisses, aus dem die Zitate stammen, danke ich Herrn Prof.<br />

Dr. Bruckmann verbindlichst.


84 Festschrift 50 Jahre Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong><br />

3.1 Der Lehrgang als Aufstiegshilfe für die mathematischen<br />

Statistiker<br />

Der erste unter den mathematischen Statistikern, <strong>der</strong> von dem Studiengang beruflichen<br />

Nutzen zog, war mit Leopold Schmetterer einer <strong>der</strong> Vortragenden des Lehrgangs selbst.<br />

Schmetterer wurde 1956 Ordinarius für Versicherungsmathematik und Mathematische<br />

Statistik an <strong>der</strong> Universität Hamburg. Wie<strong>der</strong> nach Wien zurückgekehrt, wechselte er<br />

von <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen auf die sozial- und wirtschaftswissenschaftliche<br />

Fakultät und folgte dem 1970 verstorbenen Winkler-Nachfolger Slawtscho Sagoroff auf<br />

die Lehrkanzel für Statistik. 50 Weitere Kursteilnehmer, von denen die meisten nur durch<br />

diese Einrichtung überhaupt zur Statistik gekommen waren, erklommen rasch die<br />

wichtigsten Stufen <strong>der</strong> akademischen Karriereleiter. 51 Zu den ersten, die den Lehrgang<br />

erfolgreich abschlossen, gehörte Johann Pfanzagl (*1928). Pfanzagl, <strong>der</strong> sich bei<br />

Sagoroff habilitierte, wechselte nach einer mehrjährigen Dienstzeit an <strong>der</strong><br />

Bundeswirtschaftskammer und, nachdem er 1959/60 Extraordinarius an <strong>der</strong> Universität<br />

Wien gewesen war, 1960 an die Universität Köln, wo er o. Prof. für Statistik wurde. Als<br />

Pfanzagl in Köln von den Statistikern zu den Mathematikern wechselte, wurde die<br />

Stelle frei und von Adolf Adam besetzt. Dieser – er hatte 1954 das erste Doktorat für<br />

(mathematische) Statistik in Österreich erworben – wechselte zwei Jahre später an die<br />

Hochschule Linz und baute das dortige Institut für Systemwissenschaften auf. Franz<br />

Ferschl, ein Schüler von Gerhard Tintner, Sagoroff und Schmetterer, und Kurt<br />

Weichselberger waren zwar keine Lehrgangsabsolventen, jedoch Institutsangehörige –<br />

Weichselberger noch als „Wissenschaftliche Hilfskraft“ unter Winkler. Beide machten<br />

ebenfalls in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland Karriere, als in den sechziger Jahren<br />

mehrere Statistik-Lehrkanzeln neu geschaffen wurden, jedoch kaum genügend<br />

Kandidaten zur Verfügung standen, um die Stellen zu besetzen. In dieser spezifischen<br />

Lage stieß die junge Generation <strong>der</strong> Wiener Statistiker in eine Nische des<br />

Arbeitsmarktes. Ferschl (*1929) erhielt Mitte <strong>der</strong> sechziger Jahre in Bonn einen<br />

Lehrstuhl. Weichselberger (*1929), <strong>der</strong> 1960 von Pfanzagl als Assistent nach Köln<br />

berufen worden war, verließ die dortige Universität schon 1963, um als o. Prof. an <strong>der</strong><br />

Technischen Universität Berlin zu wirken. Erich Streißler (*1933) und Gerhart<br />

Bruckmann (*1932) gingen an<strong>der</strong>e Wege, die sie nach teils mehrjährigen<br />

Auslandsaufenthalten wie<strong>der</strong> zurück an die Universität Wien führten. Streißler<br />

habilitierte sich 1959 an seiner Stammuniversität und ging 1962 als o. Prof. nach<br />

Freiburg i. Br., ehe er 1968 wie<strong>der</strong> an die Universität Wien zurückkehrte. Bruckmann,<br />

<strong>der</strong> den Lehrgang parallel zu seinem Studium <strong>der</strong> Mathematik und Physik besuchte,<br />

schloß diesen noch im Sommersemester 1955 ab. Er ging anschließend nach Rom, wo<br />

er 1956 aus Statistik und Versicherungswissenschaften promovierte. Als er nach Wien<br />

zurückkehrte, trat er zunächst in die Bundeswirtschaftskammer ein, von wo er 1967/68<br />

50 Prof. Dr. L. Schmetterer Ordinarius für Versicherungsmathematik und Mathematische Statistik an <strong>der</strong><br />

Universität Hamburg. Statistische Vierteljahresschrift 9:80, 1956; Gespräch mit G. Bruckmann vom<br />

17.06.1999, Protokoll.<br />

51 Zu den folgenden Informationen vgl. jeweils Kürschners Deutscher Gelehrtenkalen<strong>der</strong>. Berlin-New<br />

York. Jg. 1992, Bd. 2, 2750 (Pfanzagl); Jg. 1992, Bd. 3, 3986 (Weichselberger); Jg. 1992, Bd. 3, 3675<br />

(Streißler); Bd. 1 (1992), 418 (Bruckmann); Bd. 1 (1976), 1731; Mitteilung von F. Ferschl an den Vf. v.<br />

10.10.2000; Gespräch mit G. Bruckmann vom 17.06.1999, Protokoll.


A. Pinwinkler 85<br />

zuerst als o. Prof. nach Linz und dann an die Universität Wien ging. Bruckmann<br />

bezeichnet sich selbst als „den letzten Schüler von Wilhelm Winkler“. Als theoretisch<br />

und praktisch arbeiten<strong>der</strong> Statistiker habe <strong>der</strong> zweifache Zugang seines Lehrers zur<br />

Statistik seinen beruflichen Werdegang wie seine Einstellung gegenüber <strong>der</strong> Statistik als<br />

Wissenschaft maßgeblich geprägt. Zu <strong>der</strong> Reihe von Statistikern, die eine erfolgreiche<br />

akademische Laufbahn einschlugen, gehört auch Winklers Sohn Othmar (*1923).<br />

Dieser war bereits <strong>1948</strong> nach Abschluß seiner staatswissenschaftlichen Dissertation 52<br />

und <strong>der</strong> nachfolgenden Promotion aus Österreich ausgewan<strong>der</strong>t und kam daher mit dem<br />

Lehrgang nicht mehr in Berührung. In seiner beruflichen Laufbahn lehrte Othmar<br />

Winkler u. a. an <strong>der</strong> Universität von Caracas (Venezuela), an <strong>der</strong> Marquette University<br />

im US-Bundesstaat Wisconsin und zuletzt als o. Prof. an <strong>der</strong> Georgetown University in<br />

Washington, D. C. 53<br />

3.2 Ausblick: <strong>Zur</strong> weiteren Entwicklung des statistischen<br />

Lehrbetriebs an den Universitäten<br />

Die Entwicklung <strong>der</strong> Statistik in den sechziger und siebziger Jahren war durch das<br />

weitere Vordringen <strong>der</strong> mathematischen Statistik und <strong>der</strong> mathematischen Statistiker<br />

gekennzeichnet. Die meisten Lehrstuhlinhaber dieses Fachs hatten zu den<br />

sozialwissenschaftlichen o<strong>der</strong> gar staatswissenschaftlichen Wurzeln ihrer Disziplin<br />

keinen Bezug mehr, son<strong>der</strong>n sie waren mehrheitlich ausgebildete Mathematiker. Der<br />

Lehrgang für Statistiker wurde von Slawtscho Sagoroff vorerst weitergeführt – nach wie<br />

vor, ohne über eine gesetzliche Grundlage zu verfügen. Er dürfte jedoch einige Zeit,<br />

nachdem Winkler 1955 emeritiert worden war, von Sagoroff aufgegeben worden sein. 54<br />

Für die weitere Entwicklung des statistischen Unterrichts in Österreich 55 wurde das<br />

Bundesgesetz von 1966 wegweisend, da es Winklers Ansatz eines Aufbaustudiums zu<br />

einem Vollstudium weiterentwickelte. 1966 wurde in Österreich eine vollakademische<br />

achtsemestrige Studienrichtung „Sozial- und Wirtschaftsstatistik“ eingeführt, die neben<br />

mathematischen auch juristische Fächer beinhaltete. Erstmalig wurde die<br />

Studienrichtung im selben Jahr an <strong>der</strong> Hochschule für Sozial- und<br />

Wirtschaftswissenschaften in Linz eingeführt. Dieses Studium wurde von Adolf Adam<br />

als Aufbauprofessor eingerichtet. Auch in Deutschland expandierte die akademische<br />

Statistik seit den sechziger Jahren, wobei einige <strong>der</strong> oben genannten Absolventen des<br />

Wiener Lehrgangs für Statistik fe<strong>der</strong>führend mitwirkten. Dies war allein darauf<br />

zurückzuführen, daß es in Deutschland verhältnismäßig wenige mathematisch<br />

ausgebildete Statistiker gab. Die Studiengänge für Statistik, die 1974 in Dortmund bzw.<br />

1979 in München eingerichtet wurden, hatten ihr unmittelbares Vorbild in dem<br />

Aufbaustudium, das von Wilhelm Winkler 1951 eingerichtet worden war. 56<br />

52<br />

Othmar W. Winkler. Die Nachfragestruktur des Konsumgütermarktes in Abhängigkeit von <strong>der</strong> Struktur<br />

einer geschlossenen Bevölkerung. Staatswiss. Diss. masch. Wien, <strong>1948</strong>.<br />

53<br />

Gespräch mit O. W. Winkler vom 19.01.2000, Protokoll.<br />

54<br />

W. Winkler (1959), 3; Gespräch mit A. Adam vom 21.12.2000, Protokoll.<br />

55<br />

Vgl. Adam (1984), 13.<br />

56<br />

Vgl. G. Fischer, F. Hirzebuch et al. (1990), 805.


86 Festschrift 50 Jahre Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong><br />

Quellen und Literatur (in Auswahl)<br />

A. Adam. Netzwerk deskriptive Statistik. Ansätze betreffend eine systemische<br />

Architektur (Infrastruktur) <strong>der</strong> statistischen Denk- und Forschungsmethode. Ungedr.<br />

Mskr. Linz [Vorentwurf zu einer geplanten Jubliäums-Vorlesung anläßlich „50 Jahre<br />

Österreichische Statistische <strong>Gesellschaft</strong>“], 2001.<br />

H. Fassmann. Demographie und Sozialökologie. In K. Acham, Herausgeber, <strong>Geschichte</strong><br />

<strong>der</strong> österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 2: Lebensraum und Organismus des<br />

Menschen, 189-215. Passagen Verlag, Wien, 2001.<br />

<strong>Geschichte</strong> und Ergebnisse <strong>der</strong> zentralen amtlichen Statistik in Österreich 1829-1979.<br />

Bearb. im <strong>Österreichischen</strong> <strong>Statistischen</strong> Zentralamt, Wien, 1979.<br />

G. Fischer, F. Hirzebuch et al. Ein Jahrhun<strong>der</strong>t Mathematik 1890-1990. Festschrift zum<br />

Jubiläum <strong>der</strong> DMV. F. Vieweg & Sohn, Braunschweig-Wiesbaden, 1990.<br />

C.C. Heyde and E. Seneta, editors, Statisticians of the Centuries, 369-372. Springer,<br />

New York, 2001. Wilhelm Winkler, 369-372 (A. Pinwinkler). Oskar An<strong>der</strong>son, 377-<br />

381 (H. u. R. Strecker). W. Edwards Deming, 485-489 (S. E. Fienberg and S. M.<br />

Stiegler).<br />

N.L. Johnson and S. Kotz, editors, Leading Personalities in Statistical Sciences. J.<br />

Wiley & Sons, Inc., New York, 1997.<br />

K. Klein. Sozialstatistik. In K. Acham, Herausgeber, <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> österreichischen<br />

Humanwissenschaften. Bd. 3.1: Menschliches Verhalten und gesellschaftliche<br />

Institutionen: Einstellung, Sozialverhalten, Verhaltensorientierung, 257-295.<br />

Passagen Verlag, Wien, 2001.<br />

A. Pinwinkler. Wilhelm Winkler (1884-1984) - eine Biographie. Ein Beitrag zur<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Statistik und Demographie in Österreich und Deutschland. Phil.<br />

Diss., Salzburg, 2001, Duncker & Humblot, Schriften zur Wirtschafts- und<br />

Sozialgeschichte, Berlin, 2002.<br />

Th. Pütz. Österreichische wirtschaftswissenschaftliche <strong>Gesellschaft</strong>en. In Handwörterbuch<br />

<strong>der</strong> Sozialwissenschaften. Bd. 8. Tübingen-Göttingen 1956ff., 73, 1964.<br />

Statistische Vierteljahresschrift. Herausgegeben v. W. Winkler. Manzsche Verlags- und<br />

Universitätsbuchhandlung, Wien, <strong>1948</strong>-1957.<br />

K. Weichselberger. Statistische Studiengänge im deutschsprachigen Raum. In A. Adam,<br />

Herausgeber, Festschrift für Wilhelm Winkler: anläßlich des 100. Geburtstages am<br />

29. Juni 1984. Orac Verlag, Wien,, 81 (=Schriftenreihe <strong>der</strong> <strong>Österreichischen</strong><br />

<strong>Statistischen</strong> <strong>Gesellschaft</strong>; 1), 1984.<br />

W. Winkler. Aus <strong>der</strong> Werkstatt des Forschers. Österreichische Hochschulzeitung, 3,<br />

1959.


A. Pinwinkler 87<br />

W. Winkler. Eine Tragödie <strong>der</strong> Ahnungslosigkeit. <strong>Zur</strong> Sanierung <strong>der</strong> amtlichen Statistik<br />

Österreichs. Arbeit und Wirtschaft. 9:10, 1963.<br />

W. Winkler. Grundriß <strong>der</strong> Statistik. Bd. 1. Theoretische Statistik. J. Springer, Berlin,<br />

1931. [2., umgearbeitete Aufl. Manz, Wien 1947.]. Bd. II: <strong>Gesellschaft</strong>sstatistik. J.<br />

Springer, Berlin, 1933. [2., umgearbeitete Aufl. Manz, Wien <strong>1948</strong>.].<br />

W. Winkler. Lebensgeschichte eines Statistikers. In Nikolaus Grass, Herausgeber,<br />

Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften <strong>der</strong> Gegenwart in<br />

Selbstdarstellungen. Universitätsverlag Wagner, Innsbruck, 211-229, 1952.<br />

Adresse des Autors:<br />

Dr. phil. Alexan<strong>der</strong> Pinwinkler<br />

Universität Salzburg, Institut für <strong>Geschichte</strong><br />

Rudolfskai 42<br />

A-5020 Salzburg<br />

Tel. +43 662 8044 / 4736<br />

E-Mail: alexan<strong>der</strong>.pinwinkler@sbg.ac.at

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