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Verlagsbeilage Juni 2012<br />
<strong>Jubiläum</strong><br />
40 Jahre <strong>Berlin</strong><br />
Geschichten aus tausendundneunundsechzig Heften
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
seit vierzig Jahren denken wir nur an Sie. Tag und Nacht. Ganz ehrlich:<br />
Sie sind unser liebstes Phantom. Wenn wir uns vorstellen, für wen<br />
wir schreiben, haben wir ausgehfreudige, bewegliche, aufs Neue gespannte,<br />
spontane und witzige Menschen vor Augen. Sie interessieren<br />
sich für ein Kulturfeld besonders, vielleicht Musik, vielleicht Film<br />
oder Theater, und Sie sind derjenige oder diejenige, an die sich<br />
Freunde und Bekannte wenden, wenn sie einen Ausgehtipp wollen.<br />
Wahrscheinlich sehen Sie auch gut aus, egal ob sie Mitte zwanzig<br />
sind oder Mitte fünfzig, schließlich macht Neugier immer schön. Und<br />
Sie mögen es, ernst genommen zu werden, von jemandem, der über<br />
die Stadt schreibt und ihre Kultur liebt wie Sie. Für Sie war der tip<br />
wahrscheinlich immer schon da, alle zwei Wochen neu am Kiosk,<br />
eine verlässliche Größe, egal ob man die Stadt für ein paar Urlaubstage<br />
verlassen hat oder sogar für ein paar Jahre. Vielleicht sind Sie<br />
aber auch Neuberliner und halten Ihre erste tip-Ausgabe in den<br />
Händen. Kein schlechter Einstieg in unsere Never-ending Story über<br />
<strong>Berlin</strong>, deren erste Folge 1972 geschrieben wurde.<br />
Seit vierzig Jahren denken wir nur an Sie – und an die Stadt, deren<br />
Geschichten wir alle vierzehn Tage neu erzählen. Anlässlich des 40.<br />
Geburtstags des tip haben wir nun das Gedächtnis des Magazins<br />
selbst aktiviert: nicht als nostalgische Übung, sondern um 40 Jahre<br />
<strong>Berlin</strong> gegenwärtig zu machen.<br />
Volker Gunske, viele Jahre als tip-Filmredakteur mit dem Heft eng<br />
verbunden, hat für dieses Special die 1 069 Ausgaben des tip durchstöbert,<br />
die seit 1972 erschienen sind. Er hat sie aus den Ordnern<br />
des Archivs geholt, entstaubt und viele Storys herausgesucht, die<br />
gemeinsam einen neuen Stadtroman bilden. Seine Arbeit wurde zu<br />
einer Reise durch die Zeit, in der APO und Punk-Avantgarde, Discomode<br />
und Mauerfall, Eduscho-Studium und Mückenmangel auftauchen<br />
— spannend, komisch und immer wieder auch berührend.<br />
Die Autoren dieser Texte (siehe Seite 46) stehen für die vielen Redakteure<br />
und festen und freien Mitarbeiter, die den tip ausmachen.<br />
Man könnte hunderte Geschichten über <strong>Berlin</strong> aus den tip-Heften<br />
montieren, dies hier ist eine. Gemeinsam schreiben wir mit Ihnen<br />
seit vierzig Jahren einen Fortsetzungsroman, von dem alle vierzehn<br />
Tage eine neue Folge erscheint.<br />
Wir freuen uns auf die nächsten 40 Jahre mit Ihnen und dem tip!<br />
Stefanie Dörre & Robert Weixlbaumer<br />
Impressum Verlagssonderbeilage<br />
tip Verlag GmbH & Co. KG Karl-Liebknecht-Straße 29,<br />
10178 <strong>Berlin</strong><br />
Redaktion Stefanie Dörre, Robert Weixlbaumer (V.i.S.d.P.),<br />
Volker Gunske<br />
Produktion & Layout Raufeld Medien GmbH,<br />
Paul-Lincke-Ufer 42/43, 10999 <strong>Berlin</strong><br />
Grafik Anna Trautmann, Friedrich Schmidgall, Christine Seibold<br />
Anzeigenleitung Martin Stedler<br />
Anzeigenverkauf Alexander Falk, Melanie Gartzke, Klaus<br />
Gennrich, Konstanze Köhler, Michael Lüdicke, Kristina Lorenz,<br />
Johannes Nielsen, Susann Rack, Michelle Thiede<br />
Geschäftsführung Robert Rischke, Michael Braun, Stefan Hilscher<br />
Druck Frank Druck GmbH & Co. KG<br />
Titelgestaltung Friedrich Schmidgall<br />
Im <strong>Tip</strong> lesen Sie,<br />
Wie Sie bei<br />
uns hören.<br />
Vielen Dank<br />
und herzlichen<br />
Glückwunsch!<br />
The Artof Listening<br />
Ein Festival des Musikhörens<br />
12. 13. 14. Juli 2012<br />
Symposium, Radiale Nacht-<br />
Experimente des Musikhörens<br />
Neither, Nachtmusik,<br />
Podiumsdiskussion<br />
Holzmarktstr.33<br />
10243 <strong>Berlin</strong><br />
Spreeufer am Ostbahnhof<br />
Tickets www.radialsystem.de<br />
030 288 788 588<br />
Foto: Sebastian Bolesch
4 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 70eR JAHRe<br />
DIe sIebzIGeR<br />
Fassbinder, Lindenberg, Deep purple, Manfred Salzgeber, Lok Kreuzberg, Sex pistols, Disco,<br />
tunix-Kongress, SO36, Beuys, Frauenbuchläden, Günter Grass, Nina Hagen, rosa von praunheim<br />
tip 13·12
Die 70eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
Nummer eins<br />
Sechs Seiten, mit denen alles begann<br />
Rückblickend ist es ganz einfach. Als 1972 die<br />
ersten Programmkinos entstanden, wusste kaum<br />
jemand, was da so lief. Die <strong>Berlin</strong>er Medien ignorierten<br />
die neue Kulturszene nach Kräften. Das<br />
merkte auch Klaus Stemmler, der gerade mit einem<br />
Freund das Notausgang-Kino ins Leben gerufen<br />
hatte. Was tun? Na klar, einfach das Programm<br />
selbst drucken. Dazu ein, zwei ArtikeI,<br />
Infos von befreundeten Kinos, das Fernsehprogramm<br />
und Kleinanzeigen. Tausend Stück gedruckt<br />
und kostenlos in Kneipen und Unis verteilt.<br />
So ging’s los, und es ging immer besser. Der<br />
tip wurde aus dem Stand zu einem Cultural und<br />
Social Network. Hier fand man die richtigen Filme<br />
und die zukünftige WG. Richtige Idee, richtige<br />
Zeit, richtige Leute, richtige Stadt.<br />
13·12 tip 40 JaHre tip 5
6 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 70eR JAHRe<br />
1972 • Juli • tip 27<br />
peinliche <strong>Berlin</strong>ale<br />
„alles vorbei tom Dooley“ – das Festival bedröhnt das<br />
publikum mit Schlagermusik<br />
Beim Rummel der Preisverleihung<br />
hätte der Zoo-Palast gewiß<br />
einen Sonderpreis verdient. Sein<br />
Bemühen, alte Schlager aus den<br />
Jahren 1955–1958 einem breiten<br />
Publikum zugänglich zu machen,<br />
war unermüdlich. Doch leider<br />
besitzt man im Zoo-Palast nur<br />
eine Schallplatte. Der Wettbewerb<br />
im Zoo-Palast bestand aus<br />
25 verschiedenen Filmen, zu allen<br />
Filmen wurde dieselbe Platte<br />
1972 • September • tip 34<br />
the Who<br />
Die rockstars floppen in der Deutschlandhalle<br />
11.000 Fans füllten die Deutschlandhalle.<br />
„My Generation“ war<br />
zuhauf gekommen und wollte ihre<br />
Idole, die Who, feiern. Doch als<br />
Hollands „Golden Earing“ vier Minuten<br />
nach acht die Bühne betraten,<br />
kam es anders: Sie bewiesen,<br />
daß sie mehr als nur eine Anheizergruppe<br />
sind. Als die Who mit<br />
einer superlauten Rock-Explosion<br />
nach der Pause begannen, reagierte<br />
das Publikum nur flau. Die<br />
Show der Who vor einigen Jahren<br />
im <strong>Berlin</strong>er Sportpalast ist unvergessen<br />
geblieben – heute ist man<br />
wohl zu verwöhnt. Daß auch<br />
Weltstars wie die Who sich etwas<br />
Neues einfallen lassen müßten,<br />
sei auch diesen wohl hiermit ins<br />
Stammbuch geschrieben.<br />
1973 • Januar • tip 1<br />
Manfred Salzgeber<br />
in Zehlendorf öffnet Deutschlands bestes polit-Kino –<br />
Manfred Salzgebers Bali<br />
Es tut sich was in Zehlendorf.<br />
Nach jahrelanger einseitiger<br />
Programmgestaltung wird sich<br />
im Bali in Zehlendorf einiges<br />
ändern. Manfred Salzgeber, einer<br />
der Mitbegründer des Arsenal<br />
und engagierter Buchhändler<br />
bei Marga Schöller, eröffnet<br />
am 5. Januar unter völlig neuer<br />
Konzeption das Bali. Als erster<br />
Film läuft Peter Handkes „Die<br />
Angst des Tormanns beim Elfmeter“<br />
unter der Regie von Wim<br />
Wenders.<br />
Der größte „Heuler“ des Programms<br />
wird aber zweifellos der<br />
Film „Der Weg des Hans Monn“<br />
gedudelt. Hörte man irgendwo<br />
jemanden einen alten Schlager<br />
vor sich hin summen, so konnte<br />
man sicher sein: auch ein Zoo-<br />
Palast-Besucher. Selbst „Fillmore“<br />
wurde nicht verschont. „Santana“,<br />
„The Greatful Dead“ und<br />
als Vormusik „Alles vorbei Tom<br />
Dooly“. Das ist nicht mehr komisch,<br />
das ist peinlich, schließt<br />
aber den Kreis der Eindrücke, die<br />
vom Festival zurückbleiben.<br />
sein. Ein Film über Wittenau, wie<br />
man in die Nervenklinik kommt<br />
und wie man darin behandelt<br />
wird. Die Gestaltung des Spielplanes<br />
ist vom Tagesprogramm<br />
über die Spätvorstellung bis hin<br />
zur „Kindervorstellung“ kompromißlos,<br />
eigenwillig, engagiert<br />
und konsequent – neben dem<br />
Arsenal mit keinem anderen Kino<br />
zu vergleichen.<br />
2 Nach dem Bali-Kino leitete<br />
Manfred Salzgeber ab 1980<br />
die <strong>Berlin</strong>ale-Sektionen<br />
info-Schau und panorama.<br />
er starb 1994 an aids.<br />
1973 • April • tip 8<br />
Der letzte<br />
Tango in Paris<br />
Das Kinospektakel des<br />
Jahres zieht die Massen an<br />
Nicht endende Schlangen vor<br />
den Vorverkaufskassen (City und<br />
Kuli) beweisen es trotz überhöhter<br />
Eintrittspreise: Man will<br />
sich das Kinospektakel des Jahres<br />
nicht entgehen lassen! Denn<br />
schließlich prophezeien Kinoplakate<br />
und Publikationen eine<br />
Sex orgie zwischen der jungen<br />
Maria Schneider (Jeanne) und<br />
dem alternden Hollywood-Star<br />
Marlon Brando (Paul). Aber<br />
nicht scharfe Pornographie, sondern<br />
eher das Psychogramm<br />
einer kaputten Welt erwartet<br />
den sexhungrigen Zuschauer.<br />
1973 • Januar • tip 1<br />
Deep Purple<br />
Das letzte Konzert<br />
im legendären Sportpalast<br />
Nach langem Hin und Her wird<br />
der bei den <strong>Berlin</strong>ern ach so beliebte<br />
Sportpalast, mit dem sich<br />
ja auch so nette Erinnerungen<br />
verbinden („Wollt ihr den totalen<br />
Krieg?“), doch abgerissen!<br />
Damit ist der Auftritt der Deep<br />
Purple sozusagen der „Popabschied“<br />
vom Sportpalast.<br />
(16. Januar, Sportpalast, 20 Uhr)<br />
tip 13·12
1972 • Juli • tip 28<br />
Loretta im<br />
Garten<br />
eine der ersten Kneipen-<br />
Kritiken im tip<br />
Über diese Kneipe kann man eigentlich<br />
nur sagen, daß man<br />
über sie nichts sagen kann. Hier<br />
ist nichts los, außer ständigem<br />
Verkehr (Publikumsverkehr natürlich),<br />
besonders im Sommer.<br />
»Würstchen gibt es<br />
auch. Und das ist<br />
schon alles, was man<br />
zu essen bekommt«<br />
Loretta im Garten ist dem Wetter<br />
ausgesetzt, was Gärten so an<br />
sich haben. Loretta, die frühere<br />
Mitbesitzerin, ist nicht mehr da,<br />
dafür aber der Garten. Er besteht<br />
aus Tischen, an denen man<br />
sitzen kann, und Bäumen, deren<br />
Äste einem ständig im Gesicht<br />
herumhängen, wenn man etwas<br />
lustwandeln will. Romantische<br />
Typen verziehen sich hinter die<br />
Hecke und sind fast ungestört,<br />
bis auf den Lärm. In einer Ecke<br />
steht eine Theke, an der man nur<br />
etwas bekommt, wenn es voll<br />
ist. Hier werden auch Würste<br />
gebraten, und das ist schon alles,<br />
was man zu essen bekommt.<br />
2 Loretta im Garten wurde<br />
dann doch zu einer West-<br />
<strong>Berlin</strong>er institution.<br />
2007 musste der Biergarten<br />
an der Lietzenburger Straße<br />
schließen.<br />
13·12 tip<br />
Die 70eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
1973 • Januar • tip 2<br />
elefanten press Galerie<br />
eine neue art Galerie öffnet in Kreuzberg<br />
Eine neue Galerie besteht seit<br />
November 72 in Kreuzberg, und<br />
schon ihr Name sollte die Vorstellung<br />
von einer üblichen Galerie<br />
erst gar nicht aufkommen<br />
lassen. Obwohl keine neue Stätte<br />
der stillen Andacht beabsichtigt<br />
war, denn die Räume sind,<br />
über den Rahmen von ständigen<br />
1974 • Januar • tip 1<br />
Was ist an<br />
Fassbinder so toll?<br />
rainer Werner Fassbinder geht an der Freien Volksbühne<br />
die puste aus<br />
Warum zerbrechen sich intelligente<br />
Menschen über diesen vielgerühmten<br />
Tausendsassa des bundesdeutschen<br />
Films den Kopf? Sprachen<br />
einige Leute geradezu euphorisiert<br />
über seine schnell hininszensierten<br />
Filme, so drangen seine Theaterarbeiten<br />
nicht so stark ins Bewußtsein,<br />
blieben bis auf vielleicht „Bremer<br />
Freiheit“ nicht haften.<br />
1974 • März • tip 5<br />
Udo Lindenberg<br />
Lindenberg gastiert zum ersten Mal in <strong>Berlin</strong><br />
Nachdem sich in der deutschen<br />
Rock- und Popszene mit Joy Fleming<br />
schon eine Bluessängerin<br />
mit vornehmlich deutschen Texten<br />
mit Erfolg durchgesetzt hat,<br />
zeigt sich nun ein zweiter Vertreter<br />
dieser Deutsch-Rock-Art: Udo<br />
Lindenberg, der vielen erst durch<br />
seinen Fernsehauftritt in Reinhard<br />
Mays Show bekannt wurde.<br />
Mit seinen zum großen Teil autobiographischen<br />
Texten, fernab<br />
der sonst in Deutschlands Schlagerwelt<br />
üblichen, abgedroschenen<br />
Klischees und Leerformeln,<br />
beweist Udo Lindenberg die<br />
Hoffähigkeit der deutschen<br />
Sprache auch für die Rockmusik. Quartier Latin, 8. bis 10. März<br />
Ausstellungen hinaus, für die<br />
vielfältigsten Aktivitäten und<br />
Veranstaltungen geplant worden,<br />
hat man am 13.1. eine Ausstellung<br />
von Lars Pranger eröffnet.<br />
Weil seine Bilder und Collagen,<br />
die ästhetisch sehr beeindruckend<br />
sind, die Frage nach dem<br />
Sinn und Zweck solcher Kunst<br />
Nun wagt er sich an Ibsens „Hedda<br />
Gabler“, ein interessantes, wenn<br />
auch nicht das wichtigste in Ibsens<br />
psychologischen Frauendramen.<br />
Liest man die Fragmente der Probengespräche<br />
im Programmheft<br />
nach, so entdeckt man mit Erstaunen,<br />
so toll ist das ja gar nicht.<br />
Dem Fassbinder geht ja auch mal<br />
die Puste aus.<br />
nicht beantworten können, muß<br />
dieser Künstler während der gesamten<br />
Dauer der Ausstellung,<br />
die hoffentlich nicht verlängert<br />
wird, ständig in den Räumen der<br />
Galerie anwesend sein, um sich<br />
den Fragen der Besucher zu stellen.<br />
Die Galerie befindet sich in<br />
der Dresdener Straße 10.<br />
40 JaHre tip 7
8 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 70eR JAHRe<br />
1975 • Januar • tip 2<br />
Kluge und reitz<br />
Die allererste Frage im allerersten tip-interview ging<br />
an die regisseure alexander Kluge und edgar reitz<br />
Zunächst einmal die Gretchenfrage<br />
nach dem Zielpublikum<br />
eures Films „In Gefahr und<br />
höchster Not bringt der Mittelweg<br />
den Tod“. Habt ihr nicht die<br />
Befürchtung, daß einmal mehr<br />
nur Intellektuelle die Hauptbesucherschicht<br />
eures Films sein<br />
werden?<br />
KLUGE/REITZ Wir wissen, daß<br />
der Film nicht nur von Studenten<br />
gesehen wird, sondern auch<br />
gerade von Arbeitern, Ange-<br />
1974 • Juni • tip 12<br />
<strong>Berlin</strong>ale und WM<br />
als die Filmfestspiele noch im Sommer waren –<br />
und gleichzeitig die Fußball-WM im eigenen Land stattfand<br />
Vor ein paar Jahren wünschte<br />
man sich nichts sehnlicher, als<br />
daß der Wettbewerb um Goldene<br />
und Silberne Bären recht bald<br />
eingehen möge. Nachdem man in<br />
den ersten Jahren der „Spaltung“<br />
(zwischen Wettbewerb und Forum)<br />
immer mehr zu der Überzeugung<br />
gelangte, daß das eigentliche<br />
Festival sich doch im<br />
Arsenal und im Atelier am Zoo<br />
abspielte, scheint es in diesem<br />
Jahr wieder sinnvoller, sich in die<br />
Wettbewerbsfilme zu wagen.<br />
Zum äußeren Ablauf der Filmfestspiele:<br />
Im Festspielzentrum<br />
(Europa-Center) stehen Fernsehgeräte,<br />
damit die Fußballfans<br />
nicht zu kurz kommen. Ursprünglich<br />
hatte man auf eine Projekti-<br />
stellten und berufstätigen Frauen.<br />
Dies hat uns auch nicht<br />
überrascht. Der Film ist in Kinos<br />
vorgeführt worden, in denen<br />
diese nicht spezifisch intellektuellen<br />
Kreise in der Überzahl waren.<br />
Vor diesem gemischten<br />
Publikum haben wir uns in der<br />
Diskussion überzeugen können,<br />
daß der Film gerade bei dem<br />
Publikum ankam, das keine besonderen<br />
Bildungswege durchlaufen<br />
hat.<br />
on an die große Leinwand im<br />
Zoo-Palast spekuliert, doch die<br />
Fifa war dagegen.<br />
»Möge der Wettbewerb<br />
um Silberne und Goldene<br />
Bären recht bald<br />
eingehen«<br />
Nun, Fernsehen ist ja auch ganz<br />
nett. Eine Verlegung der Filmfestspiele<br />
war übrigens nicht möglich,<br />
da die internationale Reihenfolge<br />
Cannes, <strong>Berlin</strong>, Moskau, Venedig<br />
eingehalten werden muß. Sei’s<br />
drum, Film- und Fußballfreunde,<br />
schlaft schon mal auf Vorrat, es<br />
erwarten euch lange Tage!<br />
1974 • Dezember • tip 25<br />
Ost-berliner<br />
szene<br />
Kneipentipp: Historische<br />
Weinstuben am alex<br />
<strong>Berlin</strong>s Stadtplaner lassen ab<br />
und zu auch ein paar historische<br />
Häuser stehen: In unmittelbarer<br />
Alexumgebung, in der Poststr.<br />
23, befinden sich die „Historischen<br />
Weinstuben“. In mondlosen<br />
Nächten ist eine Taschenlampe<br />
angebracht, um den verfallenen<br />
Eingang zu finden. Der<br />
Name ist etwas überholt, die<br />
Weinstuben bestehen seit vier<br />
Jahren nur noch aus einer einzigen<br />
Stube mit gut dreißig Plätzen.<br />
Der Raum erinnert irgendwie<br />
an eine Laube, das Mobiliar<br />
wirkt ein bißchen zusammengesammelt<br />
und vergammelt. Trotzdem<br />
ist es hier gemütlich, wie in<br />
einer badischen Weinstube. Auf<br />
der Speisekarte: verschiedene<br />
Schweinesteaks auf Toast, Gewürzfleisch<br />
und Wurst- oder<br />
Fleischsalat. Der hungrige Gast<br />
braucht dafür nur 2,90 bis 5,20<br />
Mark zu bezahlen. Hauptsächlich<br />
gibt es natürlich Weine: ungarische<br />
Weißweine, Tokaji (1961!),<br />
Muskateller, rumänische Rot-<br />
und Weißweine und einen sehr<br />
guten 67er aus der DDR,<br />
„Schlosskeller“. Die 0,2-Liter-<br />
Schoppen liegen zwischen 2,–<br />
und 4,– Mark, die Flaschen zwischen<br />
6,– und 24,– Mark.<br />
2 Die Historischen Weinstuben<br />
überlebten den Mauerfall.<br />
Die adresse ist geblieben,<br />
preise und ausstattung<br />
haben sich geändert.<br />
tip 13·12
Foto: Frank Roland-Beeneken<br />
1976 • Januar • tip 2<br />
13·12 tip<br />
Die 70eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
Lok Kreuzberg<br />
Neue Wege zur Vermittlung politischer Songs<br />
Es ist noch gar nicht so lange her,<br />
da präsentierte die Lok im Quartier<br />
Latin das letzte Mal ihre musikalische<br />
Vielfältigkeit. Zusammen<br />
mit Volker Kriegels Mild<br />
Mania Orchestra versuchte sie, im<br />
Konzerteinerlei neue Wege zu<br />
gehen. Ende Januar zeigt die Lokomotive<br />
Kreuzberg an gleichem<br />
Ort ihr neues Programm: „Countdown!“<br />
Grundlage und ausschlaggebend<br />
für dieses Stück<br />
war nicht nur die Suche nach<br />
neuen Wegen zur Vermittlung<br />
politischer Songs, sondern vor<br />
1976 • Juni • tip 13<br />
Frauenbuchladen<br />
Zweiter <strong>Berlin</strong>er Frauenbuchladen öffnet in Charlottenburg<br />
Männer brauchen nicht zu befürchten,<br />
dass sie Lilith verfallen,<br />
sie haben sowieso keinen<br />
Zutritt zum neuen Frauenbuchladen,<br />
der am 29. Mai in der<br />
Kantstraße 125 unter diesem<br />
Namen eröffnet wurde. Was für<br />
den Frauenbuchladen in der<br />
Yorckstraße gilt, gilt auch für<br />
den im Off-Ku’damm-Bereich.<br />
Gründe für diese Regelung liefern<br />
neben der Theorie der Frauenbewegung<br />
auch die Praxis: Wo<br />
allen Dingen die Auseinandersetzung<br />
mit Problemen Jugendlicher.<br />
Die Arbeit an diesem Stück<br />
(es handelt sich um ein Rock-<br />
Musical) zeigt, wie stark sich diese<br />
Musikgruppe bemüht, eine<br />
Kommunikationsebene zum jugendlichen<br />
Publikum zu finden.<br />
2 Die Lok-Mitglieder Herwig<br />
Mitteregger, Bernhard<br />
potschka und Manfred<br />
praeker spielten später in<br />
der Nina Hagen Band.<br />
1980 gründeten sie Spliff.<br />
Männer auftauchen, haben die<br />
Frauen häufig nicht mehr viel zu<br />
melden oder trauen sich nicht<br />
mehr ihre Meinung zu vertreten,<br />
wenn sie von der ihrer männlichen<br />
Begleiter abweicht. Damit<br />
Frauen in Ruhe in Büchern<br />
schmökern können, sich zwanglos<br />
unterhalten können und<br />
selbst entscheiden, ob und was<br />
sie kaufen, gilt für Männer wie<br />
andernorts für Hunde: „Wir müssen<br />
draußen bleiben.“<br />
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tip 13·12
Foto: ingo Harney<br />
1978 • Februar • tip 3<br />
Was war los<br />
mit den sex<br />
Pistols?<br />
ein geplatztes Konzertinterview<br />
mit Veranstalter<br />
Conny Konzack<br />
Weshalb ist das Konzert mit den<br />
Sex Pistols geplatzt?<br />
KONZACK Wir haben die Pistols<br />
acht Tage vor dem Konzert, das<br />
für den 22. Januar geplant war,<br />
bei der Frankfurter Agentur Mama<br />
Concerts gebucht. Die Truppe<br />
sollte erst im Kant-Kino auftreten,<br />
als die Nachfrage aber immer<br />
stärker wuchs, haben wir uns für<br />
die Neue Welt entschieden.<br />
»Die Pistols hätten<br />
etwas über 4 500 Mark<br />
gekostet«<br />
Wann habt Ihr erfahren, dass<br />
das Ding platzt?<br />
Am Mittwoch vor dem Konzert<br />
kursierten die ersten Gerüchte,<br />
die Pistols hätten sich aufgelöst.<br />
Nachts wurde das noch mal<br />
durch den BBC bestätigt. Am<br />
Donnerstag erfuhren wir das offiziell<br />
von Mama Concerts.<br />
Ist euch ein Schaden entstanden?<br />
Ja, obwohl sich der in Grenzen<br />
hält. Wir zahlen an die Neue Welt<br />
300 Mark Ausfallmiete, für die<br />
Werbung haben wir natürlich<br />
auch Geld locker gemacht, so daß<br />
sich alles insgesamt auf etwa<br />
1 500 Mark Schaden beläuft.<br />
Wieviel hätten die Sex Pistols<br />
gekostet?<br />
Etwas über 4 500 Mark.<br />
Das Konzert in der Neuen Welt<br />
wäre das erste der Pistols in<br />
Deutschland gewesen?<br />
Richtig. Am 23. Januar wollte die<br />
Truppe in <strong>Berlin</strong> eine Platte einspielen,<br />
am 24. sollte sie in Hamburg<br />
auftreten.<br />
Zur Zeit kursieren Gerüchte, die<br />
Auflösung der Band sei unwahr,<br />
ein Werbegag.<br />
Ich bin nicht besser informiert<br />
als Ihr.<br />
2 Conny Konzack leitete später<br />
die Konzertagentur albatros<br />
und managte extrabreit,<br />
ideal und Die Ärzte.<br />
13·12 tip<br />
Die 70eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
1978 • September • tip 18<br />
Das SO36 legt los<br />
punk-Mekka, insider-Laden, provo-treff<br />
SO36: Buntes Neon, Wände zum<br />
Bemalen, Bühne, Bier, der kontrollierende<br />
Blick in den Spiegel<br />
auf den Toiletten oder sonstwo<br />
fällt aus – es gibt keine Spiegel.<br />
Am Heinrichplatz in Kreuzberg<br />
ist ein „Punk-Mekka“ entstanden,<br />
das sich als Alternative zum<br />
traditionellen Unterhaltungsbetrieb<br />
versteht: Die, die sonst<br />
kein Podium finden, erhalten es<br />
hier. Eine Bedingung: Es muss<br />
dreist genug sein.<br />
So startete der Insider-Laden<br />
mit einem Musikfestival unter<br />
dem Motto: „Zwei schräge deutsche<br />
Nächte in Süd-Ost“ mit<br />
zahlreichen Punkrockbands.<br />
1978 • Januar • tip 2<br />
tunix-Kongress<br />
aufruf zum legendären rebellen-treffen in West-<strong>Berlin</strong><br />
Zu einer dreitägigen Massenveranstaltung<br />
ruft der <strong>Berlin</strong> Koordinationsausschuß<br />
„Reise nach<br />
Tunix“ auf.<br />
»Sie haben uns genug<br />
kommandiert, die<br />
Gedanken kontrolliert«<br />
An diesem Ausschuss sind beteiligt<br />
unter anderem: Verband des<br />
linken Buchhandels, Erich Fried,<br />
Jean-Luc Godard mit seiner Mediengruppe,<br />
Rote Hilfe Westberlin,<br />
Daniel Cohn-Bendit, Alexander<br />
Kluge, Schwulenzentrum<br />
<strong>Berlin</strong>, die italienische Gruppe<br />
Den Höhepunkt bildete in der<br />
Nacht zum 13. August ein Geburtstagsständchen<br />
der Wall-<br />
City-Rock-Bands (PVC, FFURS,<br />
WALL) für die Mauer. Hierzu<br />
wurde den Musikern und den<br />
Besuchern ein Kuchen in der<br />
Form der Mauer mit Stacheldraht<br />
aus Schokolade und der<br />
Aufschrift „Anstiftung“ gereicht.<br />
Provokation?!<br />
Der Veranstaltungsbereich im<br />
SO36 wird in den nächsten Wochen<br />
intensiviert, es sind Undergroundfilme<br />
zu erwarten, viel<br />
Musik und Multi-Media. Der Laden<br />
hat mittwochs, freitags und samstags<br />
von 21 bis 5 Uhr geöffnet.<br />
Lotta Continua, die französische<br />
Zeitung „Liberation“ und alternative<br />
Blätter in der Bundesrepublik.<br />
Wo liegt Tunix? Die Veranstalter:<br />
„... zum Strand von Tunix, der<br />
weit weg liegen kann, oder vielleicht<br />
auch unter dem Pflaster<br />
von diesem Land“. Weiter: „Sie<br />
haben uns genug kommandiert,<br />
die Gedanken kontrolliert, die<br />
Ideen, die Wohnungen, die Pässe,<br />
die Fresse poliert. Am 27., 28.<br />
und 29. Januar wird deshalb in<br />
West-<strong>Berlin</strong> ein Treffen aller<br />
Freaks, Freunde und Genossen<br />
stattfinden, denen es stinkt in<br />
diesem Land.“<br />
40 JaHre tip 11
12 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 70eR JAHRe<br />
1977 • September • tip 19<br />
Günter Grass über Kritiker:<br />
Wadenbeißer und pisser<br />
Wie Grass einmal prominente deutsche Literaturkritiker in den Boden rammte<br />
Seine Telefonnummer, weil geheim<br />
und in keinem <strong>Berlin</strong>er<br />
Fernsprechbuch abgedruckt,<br />
wird unter Insidern nur mit Bedenken<br />
weitergegeben. Sein<br />
Domizil, idyllisch im Schöneberger<br />
Stadtteil Friedenau gelegen,<br />
knapp zwanzig Meter entfernt<br />
von der unfallträchtigen Handjery-/Niedstraße,<br />
wird abgeschirmt<br />
von seinem Sekretariat.<br />
Im roten Backsteinhaus, das<br />
durch einen verwilderten Vorgarten<br />
getarnt wird, residiert<br />
der Schriftsteller und Grafiker<br />
Günter Grass im ersten Stock,<br />
hinter einem überbreiten Monstrum<br />
von Tisch und dreht Zigaretten<br />
(„Schwarzer Krauser“).<br />
Seit dem 10. August wird sein<br />
700-Seiten-Buch „Der Butt“ (tip<br />
17/77) verkauft, das in der<br />
„Spiegel“-Bestseller-Liste den<br />
Sprung von Null auf den ersten<br />
Platz schaffte. Im tip-Interview<br />
rechnet Günter Grass ungewohnt<br />
scharf und wütend mit<br />
der deutschen Literaturkritik ab.<br />
Wie steht der Autor Grass zur<br />
bundesdeutschen Literaturkritik?<br />
Marcel Reich-Ranicki beispielsweise<br />
will den „Butt“ in<br />
der Tradition eines bestimmten<br />
Realismus wissen ...<br />
GRASS Ranicki (Marcel Reich-<br />
Ranicki ist Literaturkritiker der<br />
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“<br />
– Anm. d. Red.) ist im<br />
Grunde in seiner Einstellung zur<br />
erzählenden Prosa beim geläuterten<br />
sozialistischen Realismus<br />
stehengeblieben. Deswegen wird<br />
er auch immer enttäuscht sein,<br />
wenn ein Autor diese Formen<br />
nicht mehr für tragfähig hält.<br />
Joachim Kaiser von der „Süddeutschen<br />
Zeitung“ spricht von<br />
der „Zusammenlesewut und<br />
Zitierseligkeit des geborenen<br />
Autodidakten“. Was sagt Grass<br />
zu Kaiser?<br />
Er stellt seine Besprechung unter<br />
die Überschrift „Gelang Grass<br />
ein Danziger ‚Zauberberg‘?“<br />
Dann beantwortet er sich seine<br />
selbst gestellte Frage, ohne aber<br />
auch nur eine Sekunde darauf<br />
Rücksicht zu nehmen, ob ich jemals<br />
vorgehabt hätte, einen<br />
neuen „Zauberberg“ zu schreiben.<br />
Er hätte mich nur anrufen<br />
müssen, ich hätte es ihm verneinen<br />
können. (...)<br />
Nochmal: Wie steht der Autor<br />
Grass zur Literaturkritik?<br />
Ich habe das Gefühl, daß die Literaturkritik<br />
in der Bundesrepublik<br />
auf eine beschämende Art<br />
maßstabslos ist. Man hört im<br />
günstigsten Fall, wenn es ein<br />
belesener, ein gut aufgelegter<br />
Kritiker ist, seine persönliche<br />
Lesermeinung, mehr oder weniger<br />
witzig formuliert, und auch<br />
in erster Linie darum bemüht,<br />
mit Witz zu demonstrieren:<br />
Design fe st.<br />
Eiermann Tischgestell<br />
Schaut, wie geschickt ich das<br />
Buch reflektiere. (...) Es gibt eine<br />
Legion von heruntergekommenen<br />
Literaturkritikern, ich nenne<br />
mal den Karasek (Hellmuth Karasek<br />
ist Feuilleton-Chef des<br />
„Spiegel“ – Anm. d. Red.) als<br />
Beispiel, der hat auch mal in der<br />
„Stuttgarter Zeitung“ gut und<br />
groß angefangen, das ist runtergekommen<br />
zu einer Legion von<br />
Wadenbeißern und Wadenpissern,<br />
die nur noch von der<br />
„Spiegel“-Häme, das heißt: von<br />
der Hand in den Mund leben,<br />
ihren Aufhänger suchen und ihren<br />
Text runterschreiben und<br />
genau wissen: Das kommt dem<br />
deutschen Bedürfnis nach Häme<br />
entgegen. Hier wird rasch befriedigt,<br />
das ist „Bildzeitung“ auf<br />
mittlerem Niveau.<br />
Freischwinger »Weimar«<br />
1977 • Mai • tip 11<br />
buh, bravo,<br />
Theatertreffen<br />
Wenn Schauspieler zurückbuhen<br />
und Studenten sich<br />
um Karten prügeln<br />
„Bemerkenswertes Theater“ haben<br />
uns die zehn Jury-Mitglieder<br />
des Theatertreffens ’77 versprochen,<br />
und bemerkenswertes<br />
Theater haben wir bekommen.<br />
„Kontrovers“ war das Stichwort<br />
des diesjährigen Treffens. Bei<br />
fast allen Aufführungen spaltete<br />
sich das Publikum in Buh- und<br />
Bravorufer, was am ersten Abend<br />
von „Othello“ die Schauspieler<br />
dazu veranlasste, ihrerseits das<br />
Publikum auszubuhen. Leicht<br />
war es für die Schauspieler und<br />
Regisseure nicht; viel Arges<br />
mussten aber auch die Zuschauer<br />
über sich ergehen lassen.<br />
Für die Veranstalter, die <strong>Berlin</strong>er<br />
Filmfestspiele GmbH unter der<br />
Leitung von Dr. Ulrich Eckhardt,<br />
war es ein voller, fast stets ausverkaufter<br />
Erfolg. Dass regelrechte<br />
Kartenschlachten, angeleitet<br />
von Studenten des Theaterwissenschaftlichen<br />
Instituts, die sich<br />
um versprochene Eintrittskarten<br />
betrogen fühlten, ausgefochten<br />
wurden, schien in den Augen der<br />
erschreckten Zuschauer zum<br />
Glanze des Theatertreffens beigetragen<br />
zu haben.<br />
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tip 13·12
Fotos: Klaus Hemme (links), Beatrice Kunz / Christoph Maas<br />
1978 • März • tip 5<br />
Nina Hagen<br />
Nina Hagen erobert <strong>Berlin</strong><br />
Die Nina Hagen Band, deren erstes<br />
Konzert am 25. Februar das<br />
Quartier Latin aus allen Nähten<br />
platzen ließ, hat zweifellos Lob<br />
verdient. Exzellenter, dynamischer<br />
Rock, Ninas phantastische<br />
Stimme und die locker über die<br />
Bühne gebrachte Show machen<br />
die Gruppe zum (Geheim-)<strong>Tip</strong>.<br />
1977 • November • tip 24<br />
extrem-Theater<br />
Winterliches Freilufttheater<br />
im Olympiastadion<br />
Unter dem Titel „Winterreise“<br />
zeigt die Schaubühne am Halleschen<br />
Ufer an acht Abenden zwischen<br />
dem 1. und 13. Dezember im<br />
<strong>Berlin</strong>er Olympiastadion eine Produktion<br />
von Klaus Michael Grüber,<br />
die auf Hölderlins Roman „Hyperion“<br />
basiert. Jeweils 800 Zuschauer<br />
werden auf der überdachten<br />
Haupttribühne Platz finden.<br />
1979 • Mai • tip 11<br />
Die 70eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
rosas abrechnung<br />
rosa von praunheim über deutsche Schwule und Heteros<br />
Rosa von Praunheim (36),<br />
schwuler Filmemacher („Die<br />
Bettwurst“) und Schriftsteller<br />
(„Sex und Karriere“), dokumentiert<br />
in seinem neuen Film „ Die<br />
Armee der Liebenden oder Aufstand<br />
der Perversen“ die Aktivitäten<br />
der amerikanischen<br />
Schwulen-Bewegung. Im tip-Interview<br />
grenzt sich Praunheim<br />
hart gegen alle heterosexuellen<br />
Männer ab, bezeichnet seine<br />
Kollegen Werner Herzog, Wim<br />
Wenders und Rainer Werner<br />
Faßbinder als „Scheißer“ und<br />
kritisiert scharf die „Umarmungen“<br />
der heterosexuellen Linken:<br />
„Weil da nämlich ihre eigene<br />
verklemmte Sexualität aufbricht“<br />
(Praunheim). Der Regisseur<br />
geht auch mit Deutschlands<br />
Schwulen nicht grade zimperlich<br />
um: „Die kiffen sich tot und fi-<br />
cken, bis sie die Gelbsucht kriegen.“<br />
Dennoch sieht er Chancen<br />
einer Veränderung ...<br />
Rosa, du hast jetzt, nach sieben<br />
Jahren Arbeit, einen Film über<br />
die amerikanische Schwulen-<br />
Bewegung abgeliefert. Interessiert<br />
dich die deutsche Bewegung<br />
nicht mehr?<br />
PRAUNHEIM Ich hätte ganz gern<br />
einen Film über die deutsche<br />
Schwulen-Bewegung gemacht.<br />
Aber das wäre sicherlich frustrierend<br />
gewesen, denn das, was<br />
sich so in Deutschland abspielt,<br />
dieses Hickhack von akademischen<br />
kleinen linken Studenten-<br />
Zirkeln, die es jetzt Gott sei<br />
Dank nicht mehr gibt, ist nicht<br />
sehr erfreulich. Ich finde es besser,<br />
dann was zu machen, was<br />
halt Mut macht, was anregt, was<br />
konstruktiv ist.<br />
1979 • April • tip 9<br />
Neue Kinos<br />
für berlin<br />
engagierte Kinomacher<br />
starten die programmkinos<br />
Broadway, Yorck und Off<br />
Nachdem die dreiköpfige Truppe<br />
des Broadway am Tauentzien<br />
wieder aufgemacht hat, haben<br />
sich dieselben Leute ein weiteres<br />
Kino vorgenommen: Das<br />
ehemalige Porno-Kino Rixi in der<br />
Hermannstraße 20 heißt von Anfang<br />
des nächsten Monats an Off<br />
und eröffnet das Filmprogramm<br />
mit Rüdiger Nüchterns letztem<br />
Streifen „Schluchtenflitzer“ am<br />
5. Mai (Vorführungen 16.30,<br />
18.30 Uhr). Die 20-Uhr-Vorstellung<br />
wurde mit „Assault – Anschlag<br />
bei Nacht“ programmiert.<br />
Das Spätvorstellungs-Repertoire<br />
stand bei Redaktionsschluß noch<br />
nicht fest.<br />
Die Motivation der Kinomacher<br />
ist eine ähnliche wie im Yorck in<br />
Kreuzberg, wo sie ihre Erfahrungen<br />
mit einem Konzept von<br />
stadtteilbezogener Kino-Arbeit<br />
gemacht haben. Das Programm<br />
soll möglichst breit gefächert<br />
werden und kann in Neukölln,<br />
wo es außer dem Ili kein nennenswertes<br />
Angebot gibt, eine<br />
große Lücke füllen.<br />
2 Georg Kloster entwickelte<br />
aus diesen anfängen die<br />
heutige Yorck-Kinogruppe<br />
13·12 tip 40 JaHre tip 13
14 40 JaHre tip<br />
1978 • Juli • tip 15<br />
40 JAHRe TIP • Die 70eR JAHRe<br />
Wutrede 1<br />
<strong>Berlin</strong>ale-Chef Wolf Donner<br />
über die Filmstadt <strong>Berlin</strong><br />
Warum ist Ihnen neulich im SFB<br />
der Kragen geplatzt?<br />
DONNER Gemotzt habe ich, weil<br />
hier in <strong>Berlin</strong> sehr vollmundig<br />
aus allen Kanonen orakelt, spektakelt<br />
und herumgedoktert wird<br />
an der allzeit reduzierten Filmstadt<br />
<strong>Berlin</strong>, und das geschieht<br />
auf so eine sehr seltsame Weise,<br />
nämlich in Form von Statements<br />
aus der Isolierstation. Jeder<br />
setzt so auf sein kleines Häufchen<br />
(...), meistens mit aufgehaltener<br />
Hand, und vertritt nur<br />
seinen eigenen Standpunkt.<br />
Aber so entsteht keine Filmstadt.<br />
Was hier völlig fehlt, ist<br />
das Bewusstsein, dass Filmstadt<br />
zunächst einmal Frage eines Klimas<br />
wäre, eines Filmklimas, eines<br />
Filmbewusstseins, einer<br />
Filmkultur.<br />
1979 • März • tip 6<br />
Wutrede 2<br />
<strong>Berlin</strong>ale-Chef Wolf Donner<br />
über die <strong>Berlin</strong>er presse<br />
Haben Sie ein gestörtes Verhältnis<br />
zur <strong>Berlin</strong>er Presse?<br />
DONNER Ja, Sie können das sicher<br />
so nennen. Das ist ein sehr prekäres<br />
Thema. Es gibt ein paar Indizien,<br />
die kann ich ruhig nennen,<br />
machen Sie damit, was Sie wollen.<br />
Die <strong>Berlin</strong>er Presselandschaft<br />
insgesamt leidet unter einem<br />
ziemlich mickrigen Niveau. Das ist<br />
bekannt, darüber wird immer<br />
wieder geklagt. Und das wird außerhalb<br />
<strong>Berlin</strong>s mit leichtem Erstaunen<br />
und auch etwas Ratlosigkeit<br />
zur Kenntnis genommen.<br />
Aber es ist so. Und ich habe von<br />
Anfang an sehr wenig Lust gezeigt,<br />
mich darauf übermäßig intensiv<br />
einzulassen, was sicher ein<br />
Fehler ist. Es gehört zu solch einem<br />
Job dazu, die Lokalmatadore<br />
bei Laune zu halten. Ich habe<br />
meinem Nachfolger empfohlen,<br />
es so zu machen, wie einst Dr.<br />
Bauer, mit zwei, drei dieser Herrschaften<br />
jede Woche mindestens<br />
eine Stunde zu telefonieren, damit<br />
da für gut Wetter gesorgt ist.<br />
1978 • Juli • tip 15<br />
ice Palace, Joachimstaler Straße, eintritt: 5 Mark<br />
Die ersten Discos<br />
Neue tanztempel ziehen die Massen an<br />
Disco etabliert sich nun auch in<br />
Europa als zentrales Freizeit-<br />
Phänomen, gerade rechtzeitig im<br />
Zeitalter der „neuen Einsamkeit“<br />
mit dem freiwillig gewählten<br />
„Single“-Dasein im Zeichen des<br />
Gottes Narcissus. Also wohin mit<br />
diesem neuen Feeling im ersten<br />
Sommer unseres Disco-Vergnügens?<br />
Die deutschen Diskotheken<br />
der Post-Psychedelic-Ära<br />
wirkten bislang so gräßlich anheimelnd<br />
wie Thingstätten bündischer<br />
Jugend.<br />
Doch nun gibt es „Bowie“, die<br />
Summe unserer Hard-Rock-Gymnastik-Erfahrung<br />
aus den frühen<br />
Siebzigern und unserer neoschicken<br />
Disco-Deca-Trance à la<br />
Kraftwerk. „Bowie“ ist all das,<br />
wofür der Namensgeber David in<br />
seinem neueren musikalischen<br />
Œuvre einsteht: Glamour, der auf<br />
dem proletarischen Teppich<br />
bleibt, Futurismus, der die Gegenwart<br />
nicht ignoriert. Die Bowie-Besitzer<br />
haben vom ehemaligen<br />
„Tolstefanz“-Publikum die<br />
Creme abgeschöpft: Drogen-<br />
Flippies fehlen, Schickeria-Gecken<br />
lassen sich nicht blicken,<br />
linke Langweiler gaffen nicht<br />
bewusstseinsverändert herein.<br />
Dafür beinahe jeden Abend Platz<br />
für 500 ungemein attraktive jüngere<br />
Mittelklasse-Leute dreierlei<br />
Geschlechts und zivile Preise zur<br />
Musik von Graham Parker, Elvis<br />
Cos tello und Jonathan Richman.<br />
Orientalisch aussehende Besucher<br />
müssen mit Einlass-Schwierigkeiten<br />
rechnen; gelegentlichem<br />
Ärger reagieren die Bowie-Bewacher<br />
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tip 13·12
1979 • August • tip 18<br />
Beuys bricht den<br />
Scheiß hier ab<br />
Die berühmte Galerie Block schließt mit einer letzten<br />
großen Beuys-ausstellung<br />
In schwere Säcke verstaut und<br />
zum Abtransport nach Amerika<br />
bereit liegt die <strong>Berlin</strong>er Galerie<br />
Block im Vorgarten der Wilmersdorfer<br />
Schaperstraße 11. Was da<br />
beerdigt wird, ist nicht weniger<br />
als eine der bedeutendsten Galerien<br />
im Nachkriegs-<strong>Berlin</strong>. Joseph<br />
Beuys, Plastiker für eine<br />
menschlichere Gesellschaft, und<br />
der Galerist René Block zelebrieren<br />
den Abbruch gemeinsam,<br />
denn sie haben nach 15jähriger<br />
Zusammenarbeit auch heute<br />
noch eine wesentliche Gemeinsamkeit:<br />
Sie sind nicht interessiert<br />
am Leerlauf des modernen<br />
Kunstbetriebs, „diesem kleinen<br />
Hans Magnus Enzensberger fiel’s nicht schwer<br />
für Zadek einzudeutschen den Molière.<br />
Des „Volkes Bühne“ führt das Stück nun auf –<br />
zum „Menschenfeind“ strömt man herbei zuhauf.<br />
Man jubelt und klatscht sich die Hände wund,<br />
die Schaperstraße hat ’nen dicken Hund.<br />
Das Publikum berauscht sich an den Reimen,<br />
die aus der neuen Übersetzung keimen.<br />
Des Enzensberger Jamben – wohl gehegt,<br />
da fühlt die tip-Kritik sich angeregt.<br />
Fünfmal gehoben ist genau die Zeile<br />
und auch gereimt – wenngleich in Hast und Eile.<br />
Die 70eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
pseudokulturellen Getue“<br />
(Beuys). Der abgeschlagene Putz<br />
der Galerie macht den Entschluß<br />
plastisch, und diese Konsequenz<br />
hat Geschichte. „Ja, jetzt brechen<br />
wir hier den Scheiß ab“ ist<br />
nicht nur der Titel der letzten<br />
Ausstellung und das Ende der<br />
Galerie Block, ein Experimentierfeld<br />
für die Entgrenzung der<br />
Kunst, es ist auch ein Zitat. Joseph<br />
Beuys beantwortete damit<br />
eine leidige Pressefrage nach<br />
seinem ersten sechsstündigen<br />
Happening in <strong>Berlin</strong>. Heute tönt<br />
der Satz in einminütiger Folge<br />
über den Lautsprecher in die<br />
Abbruchgalerie.<br />
1979 • Dezember • tip 26<br />
Der Menschenfeind<br />
enzensberger reimt für Zadek den Molière neu –<br />
der tip reimt zurück<br />
13·12 tip 40 JaHre tip 15<br />
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16 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 80eR JAHRe<br />
DIe ACHTzIGeR<br />
Hausbesetzer, Lummer, geniale Dilettanten, Ost-<strong>Berlin</strong>er punker, Heiner Müller, 750 Jahre <strong>Berlin</strong>,<br />
einstürzende Neubauten, Heller Wahn, Linie 1, Wolfgang Neuss, die 3 tornados, Mauerfall<br />
1980 • März • tip 6<br />
Pleiten-<br />
berlinale<br />
Die erste <strong>Berlin</strong>ale unter<br />
der neuen Leitung von<br />
Moritz de Hadeln und<br />
Ulrich Gregor<br />
Was man in den abschließenden<br />
Pressestimmen zu den Internationalen<br />
Filmfestspielen <strong>Berlin</strong><br />
1980 liest, hat man schon während<br />
des Festivals kommen sehen:<br />
Enttäuschung über den<br />
Mangel an wirklich erstklassigen<br />
Filmen, Empörung über die Stillosigkeit<br />
der neuen Leitung Moritz<br />
de Hadeln/Ulrich Gregor im<br />
Umgang mit Gästen, Presse und<br />
Publikum, noch dazu fehlendes<br />
Einverständnis mit mehreren<br />
Entscheidungen der Jury.<br />
»Hoffentlich ist diese<br />
<strong>Berlin</strong>ale nicht für den<br />
gegenwärtigen Stand<br />
des Filmschaffens<br />
repräsentativ«<br />
Als Kinogänger wünsche ich mir,<br />
daß die <strong>Berlin</strong>ale 80 nicht für<br />
den gegenwärtigen Stand des<br />
Filmschaffens in der Welt repräsentativ<br />
ist. Ich hoffe vielmehr,<br />
daß die Gründe für die allgemein<br />
beklagte Pleite des diesjährigen<br />
Filmfests nur in den Kinderkrankheiten<br />
der neuen Leitung,<br />
in den veränderten Auswahlprinzipien<br />
der Auswahlkommission<br />
oder etwa in der Zurückhaltung<br />
der großen Filmindustrie<br />
gegenüber <strong>Berlin</strong> zugunsten von<br />
Cannes zu suchen sind, und<br />
nicht darin, daß gute Filme einfach<br />
nicht mehr produziert werden.<br />
Dies wäre das größere Übel.<br />
2 Moritz de Hadeln leitete die<br />
<strong>Berlin</strong>ale bis 2001.<br />
1980 • Oktober • tip 23<br />
theater-Spektakel<br />
Zehn Stunden „Orestie von aischylos“ an der Schaubühne<br />
Peter Steins neueste Inszenierung<br />
an der Schaubühne am Halleschen<br />
Ufer stellt sich als ein<br />
gigantisches Theaterspektakel<br />
dar. Zehn Stunden lang müssen<br />
die Zuschauer ausharren, um der<br />
„Orestie von Aischylos“ von Anfang<br />
bis Ende zu folgen. Ein Racheakt<br />
löst den nächsten ab, und<br />
das Blut der Opfer ergießt sich<br />
in Strömen übers Parkett.<br />
Neuneinhalb Stunden – inklusive<br />
zweier Pausen à eine Stunde –<br />
auf dem Boden zu hocken und<br />
Ur-Zeit-Dramatik zu erleben, das<br />
schreckte mich und wird manche<br />
Überlegung beeinflussen, ob<br />
man sich das neue Antiken-Projekt<br />
der „Schaubühne“ zur Brust<br />
nimmt oder nicht. Im Gegensatz<br />
zu anderen Rezensenten hatte<br />
ich es versäumt, den Text der<br />
Trilogie vorher gründlich durchzuarbeiten<br />
– auch darin fühle ich<br />
mich den nicht professionellen<br />
Theatergängern verwandt. So<br />
begab ich mich mit der Eintrittskarte<br />
und einem schlechten Gewissen<br />
ans Hallesche Ufer, gewärtig,<br />
im inszenierten Herrschaftswissen<br />
der Kulturprofis<br />
zu versanden.<br />
In der Pause gibt es eine warme<br />
Suppe und Zeit, die Beine zu<br />
vertreten. Das Publikum flaniert<br />
diskutierend und argumentiert<br />
Pro und Kontra aus dem verblaßten<br />
Informationsvorrat eigenerhumanistisch-klassisch-antiker<br />
Schulbildung. Aber es geht<br />
auch ohne. Auch den Ungebildeten<br />
drückt Hauptdarsteller Udo<br />
Samel am Ende artig die Hand:<br />
„Leben Sie wohl. Vielen Dank,<br />
daß Sie zugeschaut haben!“<br />
Gern geschehen! Mein Kopf hat<br />
auf Kosten meines Hinterns etwas<br />
gelernt.<br />
1980 • Januar • tip 2<br />
Joy Division<br />
eine einstimmung auf ihr<br />
einziges <strong>Berlin</strong>-Konzert<br />
Das gefürchtete Jahrzehnt, in<br />
dem alles anders und schlechter<br />
zu werden droht, ist da. Wenn<br />
wir diese ungemütliche Dekade<br />
überleben wollen, wird uns das<br />
einige Anstrengungen kosten.<br />
Joy Division kann mithelfen,<br />
nicht nur, weil wir Musik noch<br />
brauchen werden, sondern gerade<br />
diese Musik: Sie spiegelt Realitäten,<br />
entlarvt die zunehmende<br />
Unbewohnbarkeit der Vororte<br />
und zerstört Illusionen. „The<br />
Sound Of The City“ – 1980!<br />
Manchester ist keine so schöne<br />
Stadt. Joy Division kommen da<br />
her. Ihre Musik ist ein Spiegel der<br />
Wirklichkeit, ihrer Wirklichkeit.<br />
„Wir haben keine eigentliche<br />
Botschaft“, sagt Sänger Ian Curtis.<br />
„Die Texte sind offen, interpretierbar,<br />
sozusagen multidimensional.<br />
Du kannst ihnen entnehmen,<br />
was du willst.“<br />
Die Texte sind aber nur die eine<br />
Hälfte. Noch viel wichtiger ist die<br />
Musik: Überaus bedrohliche<br />
Klanggebilde, die sehr, sehr erregend<br />
sind. Musik, die an leergefegte,<br />
nasse Straßen bei Nacht,<br />
verlassene Parkhäuser und Kneipen,<br />
in denen die Stühle schon<br />
hochgestellt sind, erinnern.<br />
Wer ihr erstes im vorigen Jahr auf<br />
dem Factory Label erschienenes<br />
Album „Unknown Pleasure“ noch<br />
nicht kennt, sollte dies schleunigst<br />
nachholen. Eine bessere<br />
Platte ist 79 nicht erschienen,<br />
und sie ist eine ideale Einstimmung<br />
fürs Konzert. (21. Januar,<br />
Kant-Kino.)<br />
2 Sänger ian Curtis erhängte<br />
sich im Mai 1980. Die drei<br />
verbliebenen Bandmitglieder<br />
gründeten die New-Wave-<br />
Band New Order.<br />
tip 13·12
Die 80eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
1981 • Januar • tip 1 1981 • Oktober • tip 21<br />
Leerstand<br />
Spekulanten setzen auf den Verfall von Häusern und<br />
vernichten günstigen Mietraum<br />
Tatsächlich sind bis heute<br />
höchstens zwei Dutzend Häuser<br />
mit rund 100 Wohnungen in<br />
<strong>Berlin</strong> besetzt – nach offiziellem<br />
Eingeständnis stehen etwa 7.000<br />
Wohnungen leer. In Wirklichkeit<br />
dürfte die Zahl etwa doppelt so<br />
hoch liegen: „Eine Leerstandsgenehmigung“<br />
muß vom Hausbesitzer<br />
erst nach drei Monaten<br />
beantragt werden, eine wirksame<br />
Kontrolle gibt es praktisch<br />
nicht. Dagegen ist es „jahrzehntelange<br />
Praxis“, daß die staatlich<br />
bestellten Sanierungsträger, die<br />
ganze Quartiere in <strong>Berlin</strong> verwalten,<br />
„automatisch“ Leerstandsgenehmigungenausgestellt<br />
bekommen – auch bei<br />
„unklarer Planungslage“ über<br />
die Zukunft der Altbauten.<br />
Die Folge dieses Skandals kann<br />
jeder bei einem Spaziergang<br />
durch den Südosten Kreuzbergs,<br />
den Norden Schönebergs oder<br />
durch den alten Wedding besichtigen:<br />
„Entmietete“ Straßenzüge,<br />
schwarze Fensterhöhlen,<br />
verrottende Fassaden. Die<br />
Häuser der Gründerzeit – schon<br />
zur Zeit ihres Baus als „Mißstand<br />
mit drei Hinterhäusern“<br />
bezeichnet – haben ihre Schuldigkeit<br />
getan. Knapp 100 Jahre<br />
alte Ruinen des Spekulantentums<br />
dämmern dem einzig profitablen<br />
Abriß und Neubau entgegen.<br />
Wenn selbst die türkische<br />
Bevölkerung die alten<br />
Häuser nicht mehr „kaputtwohnen“<br />
kann, ist dieses Schicksal<br />
unvermeidlich: Trotz aller Beteuerungen<br />
von Politikern und<br />
Planern ist damit zu rechnen,<br />
daß bis Mitte der 80er Jahre etwa<br />
50.000 billige Wohnungen<br />
aus dem Altbau-Bestand <strong>Berlin</strong>s<br />
verschwinden.<br />
Lummer und<br />
der tote Rattay<br />
Der radikale innensenator<br />
räumt Häuser und ein<br />
Demonstrant stirbt<br />
Am 22. September läßt <strong>Berlin</strong>s<br />
CDU-Innensenator Heinrich Lummer<br />
acht von insgesamt 157 besetzten<br />
Häusern räumen. An<br />
diesem Tag stirbt auch der 18jährige<br />
Demonstrant Klaus-Jürgen<br />
Rattay, als Polizeieinheiten eine<br />
Straßenkreuzung räumen.<br />
»Lummer inspizierte<br />
die besetzten Gebiete.<br />
Draußen kochte es«<br />
Das Manöver war abgeschlossen,<br />
die feindlichen Stellungen waren<br />
gestürmt, ohne nennenswerten<br />
Widerstand übrigens, denn die<br />
militärische Überlegenheit war<br />
eindeutig. Der Oberkommandierende<br />
inspizierte die besetzten<br />
Gebiete. Draußen kochte es.<br />
Doch er kostete den Triumph wie<br />
einer, der jahrelang davon nur<br />
träumen durfte. „Wenn schon,<br />
denn schon“, resümierte er vor<br />
der versammelten Presse, „alles<br />
in einem Aufwasch“. Wenige Minuten<br />
später wurde das Blut eines<br />
Opfers von der Straße gewaschen.<br />
Ein „Verkehrsunfall“ –<br />
aber nicht der BVG, sondern des<br />
Innensenators.<br />
Heinrich Lummer, fast einziger<br />
<strong>Berlin</strong>er in den Reihen des neuen<br />
Senats – nicht nur die Radikalen<br />
der Hausbesetzerszene erhalten<br />
Zulauf aus Westdeutschland –<br />
wußte, was er tat. Schon bei den<br />
Auseinandersetzungen um das<br />
Rathaus Schöneberg forderten<br />
nicht nur wir: „Lummer muß zurücktreten!“<br />
Im tip-Gespräch<br />
offenbarte Lummer ein eigentümliches<br />
Verantwortungsgefühl.<br />
Auf die Frage: „Wann brennt <strong>Berlin</strong>“,<br />
antwortete der Mandatsträger<br />
in zynischer Ohnmacht: „<strong>Berlin</strong><br />
brennt dann, wenn die das<br />
wollen!“ Heißt im Klartext: Daran<br />
kann ich, der dafür Beauftragte,<br />
nichts ändern. (Andere nähmen<br />
schon hier ihren Hut.)++ Heißt<br />
weiter: Dafür schlagen wir aber<br />
zurück! „Wenn schon, denn<br />
schon. Alles in einem Aufwasch.“<br />
13·12 tip 40 JaHre tip 17
18 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 80eR JAHRe<br />
1981 • September • tip 20<br />
Festival genialer Dilettanten<br />
West-<strong>Berlin</strong>s wichtigstes Konzert der 80er. Mit dabei: Sprung aus den Wolken, Malaria!,<br />
Mania D., Die tödliche Doris, Sentimentale Jugend und einstürzende Neubauten<br />
„Das ist Folklore, <strong>Berlin</strong>er Folklore.<br />
Einfach authentische Musik,<br />
authentische Musik aus<br />
West-<strong>Berlin</strong>“, sagt Blixa Bargeld,<br />
Sänger und Gitarrist der Gruppe<br />
„Einstürzende Neubauten“. Was<br />
er da als <strong>Berlin</strong>er Folklore bezeichnet,<br />
war Anfang September<br />
im Tempodrom-Zelt am Potsdamer<br />
Platz, vis-à-vis von der Mauer,<br />
zu hören: Rund vierzig Musiker<br />
traten in diversen Gruppen<br />
zu einem „Festival genialer Dilettanten“<br />
an, das Bargeld zusammen<br />
mit dem Schauspieler,<br />
Musiker und Veranstalter Mabel<br />
und dem Schauspieler und Filmemacher<br />
Wieland Speck organsiert<br />
hatte. Diese „Große Untergangsshow“<br />
bot rund 1500 zum<br />
größeren Teil ungläubig staunenden<br />
Besuchern eine Musik<br />
als Volksmusik an, die mit Wanderliedern<br />
zur Gitarre oder dem<br />
martialischen Singsang der<br />
Schöneberger Sängerknaben<br />
nichts mehr gemein hat. Wohl<br />
aber mit dem Ursprung von Folklore<br />
als einer Musik, die so einfach<br />
ist, daß sie jeder spielen<br />
kann und die eben nicht von<br />
wenigen für viele gemacht wird.<br />
In maximal zwanzig Minuten langen<br />
Auftritten pro Band waren<br />
an diesem Abend mehr an bisher<br />
nicht gehörten Rhythmen<br />
und Klängen zu hören als den<br />
Neuerern der Rockmusik, den<br />
Neue-Welle-Fabrikanten, zugesprochen<br />
werden. Und in ihren<br />
Texten, zumeist kurzen, zynischen<br />
Statements, ist mehr von<br />
der Realität in <strong>Berlin</strong> zwischen<br />
Kreuzberg und Wedding zu erfahren<br />
als in den lapidaren und<br />
aufgepeppten „Ich steh auf<br />
<strong>Berlin</strong>“-Hymnen der kommerziell<br />
erfolgreichen Wellen-Reiter.<br />
Auch hier und auch so läßt sich<br />
der Anspruch, Volksmusik zu<br />
spielen, festmachen.<br />
1982 • Juli • tip 15<br />
punker vom prenzlauer Berg<br />
Der West-<strong>Berlin</strong>er rockmusiker Dimitri Leningrad über die Ost-<strong>Berlin</strong>er punk-Szene und<br />
ihr Leben am rand der sozialistischen Gesellschaft<br />
Ich traute meinen Augen nicht,<br />
als ich ihnen das erste Mal begegnete.<br />
Sie standen draußen, in einer<br />
geschlossenen Traube zusammen<br />
und gehörten zu denen, die<br />
den schon seit Wochen ausverkauften<br />
Konzertsaal nicht betreten<br />
würden. Das war vor wenigen<br />
Tagen vor einem Gig der Gruppe<br />
Pankow in der „Hauptstadt“. Vielleicht,<br />
dachte ich, ist an der alten<br />
Römerweisheit „nomen est<br />
omen“ doch etwas Wahres dran?<br />
Leider, dem war nicht so. Die<br />
Band langweilte. Zwar klappten<br />
einige Blockrockfans von den<br />
Stühlen, forderten euphorisch<br />
Zugaben, aber mit Punk hatte die<br />
Kapelle Pankow wirklich nichts zu<br />
tun. Egal, immerhin lernte ich an<br />
diesem Abend sieben Punks ken-<br />
nen. Als wäre ich ihnen gestern in<br />
der Musichall oder im SO36 begegnet,<br />
so markant setzten sie<br />
sich von der wartenden Menge<br />
ab. Sie fallen auf. Fashion? Oder<br />
gilt es als der letzte Schrei, ein<br />
Punk zu sein in Ost-<strong>Berlin</strong>? Weder<br />
noch, denn „modisches Nachahmen<br />
führt zu nichts“, meint Reporter<br />
Martin Linzer zur unklaren<br />
Situation: ein klares Wort aus der<br />
kulturpolitischen Wochenzeitung,<br />
die der Kulturbund der DDR regelmäßig<br />
vorlegt. Herr Linzer hat<br />
Recht. Die Punks in der DDR sind<br />
keine Mode-Punks. Vielmehr bewegen<br />
sie sich riskant am Rand<br />
der sozialistischen Gesellschaft.<br />
Die SED staunt. Die Volkspolizei<br />
ist noch ratlos. Was tun? Aus allen<br />
Lagern der Society schließen<br />
sich ständig neue Anhänger dieser<br />
aufregenden Außenseitergruppe<br />
an, teilweise erst gerade<br />
14, 15 Jahre alt. Es bilden sich<br />
Treffs, die meistens privat und<br />
geheim gehalten werden.<br />
tip 13·12
Foto: Jochen Clauss / story press<br />
1983 • März • tip 6<br />
Heller Wahn<br />
ein Verriss im tip sorgt für eine empörungswelle<br />
auf der <strong>Berlin</strong>ale und beschmierte Wände im Verlag<br />
Wie langweilig muß eigentlich ein<br />
Filmfestival sein, damit ein Verriß<br />
tagelang für Gesprächsstoff sorgen<br />
kann? Als vorletzten Donnerstag<br />
– an diesem Tag lief erstmals<br />
„Heller Wahn“ – der tip in<br />
<strong>Berlin</strong> ausgeliefert wurde, standen<br />
die Cineasten kopf. Die Kritik,<br />
die tip-Redakteur Werner Mathes<br />
unter dem Titel „Von Dackeln und<br />
Doggen“ über Margarethe von<br />
Trottas Film verfaßt hatte, bewegte<br />
die Gemüter, männliche<br />
wie weibliche.<br />
Auf der Pressekonferenz nach der<br />
Vorführung des Trotta-Werks verlas<br />
Margit Eschenbach eine Erklärung<br />
des Verbandes der Filmarbeiterinnen<br />
gegen die Mathes-<br />
Kritik. Derselbe Text kursierte an<br />
diesem Tag auch als Flugblatt auf<br />
der <strong>Berlin</strong>ale. Abends gegen 19<br />
1981 • September • tip 20<br />
Heiner Müller<br />
Da er alle bisherigen Aufführungen<br />
seiner Stücke für falsch hielt<br />
(„zu penetrant-aufklärerisch“)<br />
inszenierte der DDR-Dramatiker<br />
Heiner Müller nun selbst. In Bochum<br />
brachte er spektakulär seinen<br />
„Auftrag“ zur Aufführung.<br />
Zentrales Thema des Stückes ist<br />
der Verrat an der Revolution<br />
Die 80eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
Uhr kreuzten mehrere Frauen im<br />
Haus der tip-Redaktion in der<br />
Potsdamer Straße auf und beschmierten<br />
die Wände des Hausflures<br />
bis hinauf in den zweiten<br />
Stock: „Mathes Schwanz-Bonus“.<br />
Auch ein Stil, immerhin.<br />
Schelte bezogen wir auch von<br />
Vertretern der Filmindustrie, die<br />
uns vorhielten, der tip sei als<br />
„Pilot-Blatt“ zu mehr Zurückhaltung<br />
verpflichtet. Deren Befürchtungen<br />
erwiesen sich als richtig:<br />
Fast in der gesamten deutschen<br />
Tagespresse wurde der Trotta-<br />
Film verrissen. Selbst nach den<br />
Filmfestspielen geisterte der Tenor<br />
der tip-Kritik noch durch die<br />
öffentlich-rechtlichen Nachbereitungen.<br />
Dabei ist der Film wirklich<br />
nicht gut – was sogar Kritikerinnen<br />
bestätigen.<br />
Betroffene Pressekonferenz: Ula Stöckl, Margarethe von Trotta, Hanna Schygulla<br />
Der DDr-Dramatiker Heiner Müller inszeniert im Westen<br />
und erzählt die ganze Wahrheit über Bochum<br />
Kann man in Bochum arbeiten?<br />
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Kann man in Bochum leben?<br />
Nein.<br />
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13·12 tip 40 JaHre tip 19
20 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 80eR JAHRe<br />
1985 • Januar • tip 2 1984 • September • tip 19<br />
Blixa Bargeld<br />
Nick Cave über Blixa Bargeld und die Neubauten<br />
Das erste Mal sah ich Einstürzende<br />
Neubauten im holländischen<br />
Fernsehen. Es war im Jahr des<br />
Herrn 1982. Meine damalige<br />
Gruppe The Birthday Party machte<br />
eine Serie von Konzerten in<br />
den Niederlanden, und es war<br />
gegen Ende der Tournee in Den<br />
Haag. Also ich war gerade bemüht,<br />
die Treppe unseres bescheidenen<br />
Hotels herunterzulaufen,<br />
als ein merkwürdiger<br />
hypnotischer Ton aus dem Fernsehraum<br />
geblasen kam und meine<br />
Ohren auf eine unwiderstehliche<br />
Art verführte – wie ein<br />
Wurm oder eine Zunge. Nicht<br />
unähnlich Odysseus, der Gestalt<br />
der griechischen Mythologie,<br />
wurde ich an die Quelle dieses<br />
geisterhaften, sirenischen<br />
Sounds gezogen, und als ich den<br />
Fernsehraum betrat, wurden<br />
meine musikalischen Vorstellungen<br />
mit einem Schlag weggewischt<br />
– zerschlagen auf dem<br />
Felsen der Musik von Einstürzende<br />
Neubauten.<br />
(...) Schließlich fand die Kamera<br />
den dritten Mann. Er stand da im<br />
schwarzen Leoparden-Imitat,<br />
schwarzen Gummi-Hosen,<br />
schwarzen Gummi-Stiefeln. Um<br />
seinen Nacken baumelte eine<br />
völlig ruinierte Gitarre. Seine<br />
Haut klebte an seinen hervorstechenden<br />
Knochen, sein Schädel<br />
war ein völliges Desaster – und<br />
1983 • Juli • tip 14<br />
Neues Deutsches Feuilleton<br />
Jörg Fauser in seiner Kolumne „Wie es euch gefällt“ über die neuen Kulturkritiker<br />
Zu den bedenklichen Erbstücken,<br />
die uns der Narzißmus der<br />
siebziger Jahre hinterlassen hat,<br />
gehört ein Trend im Neuen<br />
Deutschen Feuilletonismus – jene<br />
Kulturkritik, deren Autoren<br />
sich selbst wichtiger nehmen als<br />
den Gegenstand ihrer Betrachtung.<br />
Sich selbst, damit meine<br />
ich: ihr Spiegelbild im lauen Bad<br />
ihrer Sätze. Daß sie auch Haarausfall<br />
oder Hämorrhoiden ha-<br />
die Augen quollen ihm aus dem<br />
Kopf wie einem blinden Mann.<br />
Und trotzdem: Die Augen starrten<br />
uns an, als würden sie einen<br />
himmlischen Besuch signalisieren.<br />
Hier stand ein Mann an der<br />
Schwelle zur Großartigkeit, hier<br />
stand ein Napoleon vor den Feuern<br />
des Sieges, ein Cäsar, der zu<br />
wissen schien, wer die Messer<br />
bereithielt. Für sechzig Sekunden<br />
stand dieser Mann wie erstarrt.<br />
Dann öffnete er seinen Mund und<br />
stieß einen Schrei hervor, der<br />
klang, als ob man ihm eine Distel<br />
aus der Seele gezogen hätte. Dieser<br />
Mann war Blixa Bargeld.<br />
2 Blixa Bargeld war von 1984<br />
bis 2003 Gitarrist der Band<br />
Nick Cave and the Bad<br />
Seeds.<br />
ben wie andere Menschen, Fickprobleme<br />
oder Schwierigkeiten<br />
mit dem Hausmeister, nein, das<br />
haben sie nicht zum Gegenstand<br />
ihrer Diskurse gemacht, sondern<br />
die schwarzen Stiefel, die Yamaha<br />
oder Harley Davidson, ihr<br />
geiles Fußballfeeling, den Fluß<br />
ihrer wichtigen Wörter, ihr Styling,<br />
ihre Gefühle, ihren eigenen<br />
Stil. Nicht etwa rasende Reporter<br />
und politische Paranoiker<br />
Was für eine<br />
Arschlochfrage!<br />
interview mit Queen-Sänger<br />
Freddie Mercury<br />
Was macht die Frische dieser<br />
Tournee aus?<br />
MERCURY Ich und meine herrlichen<br />
Kostüme natürlich! (lacht)<br />
Das spannende Element dieser<br />
Tour ist, daß wir wirklich von allen<br />
Queen-Alben Songs spielen<br />
werden. Wir haben in den letzten<br />
Wochen auch viele alte Songs<br />
wieder einstudiert. Das hat mich<br />
nachdenklich gemacht. Vor 13 Jahren<br />
haben wir das gespielt. Damals<br />
hatte ich noch lange Haare,<br />
schwarze Fingernägel, Make-up<br />
im Gesicht – so wie das Boy George<br />
heute macht – das Gefühl, diese<br />
alten Lieder heute noch zu<br />
singen, ist seltsam – hört sich an,<br />
als wäre ich ein alter Mann, nicht<br />
wahr? Na ja, für 37 schaue ich gar<br />
nicht so schlecht aus, das sag ich<br />
dir, Darling! (lacht)<br />
Würdest du dich als Künstler<br />
beschreiben? Bist du eher ein<br />
ordentlicher, organisierter<br />
Mensch oder ein chaotischer,<br />
spontaner?<br />
Ich bin bloß eine musikalische<br />
Hure, mein Lieber.<br />
Eine ordentliche?<br />
Chaotisch, ordentlich und unordentlich.<br />
Manchmal so und<br />
manchmal so. Was für eine<br />
Arschlochfrage! Ich bin ich. Ich<br />
bin wie ich bin, das reicht doch,<br />
oder?<br />
bestimmen den „new journalism“<br />
bei uns, sondern durchgestylte<br />
Narzisse aus dem Dunstkreis<br />
der Adorno-Seminare und<br />
des Kulturbolschewismus der<br />
68er-Bewegung, eine Deinhard-<br />
Lila-Fraktion der deutschen<br />
Spätlinken.<br />
2 Der Schriftsteller Jörg Fauser<br />
schrieb ab 1979 für den tip.<br />
1987 verunglückte er tödlich.<br />
tip 13·12
Foto: Jochen Clauss / story press<br />
1986 • Mai • tip 11<br />
Linie 1<br />
Die premierenkritik zum größten erfolg und evergreen des Grips-theaters<br />
So ein <strong>Berlin</strong>-Stück, so ein Stück<br />
<strong>Berlin</strong> schafft keine andere Bühne.<br />
Denn die Grips-Spieler sind<br />
auf dem Quivive, singen und<br />
agieren haarscharf zur U-Musik<br />
von Birger Heymann, die No-Ticket-Band<br />
macht Dampf. Der Zug<br />
geht ab, durch die Mythen des<br />
<strong>Berlin</strong>er Alltags. Es wird ein<br />
Festzug: sich selbst anerkennend<br />
auf die Schulter zu klopfen, ist<br />
ein existenzielles Grundbedürfnis<br />
der <strong>Berlin</strong>er. Jenseits von<br />
Sommernachtsträumen und<br />
750-Jahrfeiern hat man auch im<br />
Die 80eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
Grips-Theater ein Wir-<strong>Berlin</strong>er-<br />
Gefühl gern; das wird hier nicht<br />
von offiziellen Stellen verordnet,<br />
»Volker Ludwig hat<br />
wieder einen Hit<br />
geschrieben fürs Grips.<br />
Einen Hit für <strong>Berlin</strong>«<br />
das will erst einmal erarbeitet<br />
sein. Es ist viel drin in dieser<br />
Untergrund-Revue, wie in der<br />
Currywurst; viel Fleisch, aber<br />
nicht nur. Und auch viel Ketchup<br />
wird drübergegossen, dicke Soße<br />
des Gefühls beim Happy-End<br />
im Bahnhof Zoo.<br />
Volker Ludwig hat wieder einen<br />
großen Hit fürs Grips geschrieben.<br />
Einen Hit für <strong>Berlin</strong>. Das<br />
Lebensgefühl für diese Stadt, die<br />
Grundstimmung ist positiv. Woher<br />
der Grips-Chef seinen Optimismus<br />
nimmt, das wird uns auf<br />
der langen Reise vom Zoo zum<br />
Schlesischen Tor und zurück<br />
nicht verraten.<br />
workout<br />
Viel mehr als Sport und Spa.<br />
Achten Sie auf unsere Sommerspecials<br />
1985 • Juni • tip 14<br />
botho strauß<br />
ein frühes Bashing des<br />
Schwurbelmeisters<br />
Der Windmacher verdichtet in seinem<br />
Buch „Diese Erinnerung an<br />
einen, der nur einen Tag zu Gast<br />
war“ den bösen Zeitgeist wieder<br />
einmal unnachahmlich. In den<br />
Sand möchte er stecken seinen<br />
Kopf. Klagt Strauß: „Ah, nicht wissen<br />
möchte’ ich, sondern / erklingen.<br />
Versaitet bis unter die Milz“,<br />
und das im Zeitalter des Kabel.<br />
Seine Prosa- und Theaterstücke<br />
»Wir überflogen<br />
uns nur / wie in<br />
einem viel zu langen<br />
Zeitungsbericht«<br />
waren ja schon immer kalauerverdächtig.<br />
Das elegische Gedicht<br />
(bei Hanser) vom Leben, Lieben<br />
und Sterben in unheiliger Zeit<br />
zeigt jetzt den Meister des unfreiwilligen<br />
Humors in Höchstform. In<br />
der tip-Redaktion macht vor allem<br />
der unsterbliche Epitaph: „Wir<br />
überflogen uns nur / wie einen<br />
viel zu langen Zeitungsbericht …“<br />
die fröhliche Runde.<br />
2 Botho Strauß lebt heute in<br />
<strong>Berlin</strong> und in der Uckermark<br />
und steht weiterhin unter<br />
Kalauerverdacht.<br />
www.aspria-berlin.de<br />
13·12 tip A unique members’ club for culture, business, sport and well-being 40 JaHre tip 21<br />
Be More
22 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 80eR JAHRe<br />
1987 • August • tip 16<br />
750 Jahre <strong>Berlin</strong><br />
<strong>Jubiläum</strong>, japanisches Großfeuerwerk, tour de France,<br />
Queen, reagan, turnfest: eine Sause jagt die nächste<br />
Die 750-Jahrfeier nähert sich dem<br />
Höhepunkt. <strong>Berlin</strong> (West) soll an<br />
den August-Wochenenden seine<br />
„SternStunden“ erleben. Die<br />
Sieges-Else im Tiergarten strahlt<br />
schon in frischem Gold.<br />
»Das Amüsement ist<br />
kalkuliert bis zum<br />
Klosettgroschen“<br />
Jetzt nur nicht schlappmachen.<br />
Nach Deutschem Turnfest und<br />
Tour de France, nach Mythos und<br />
Reise nach <strong>Berlin</strong>, <strong>Berlin</strong>er Lektionen<br />
und <strong>Berlin</strong>er Gästebuch,<br />
nach Reagan, Mitterand und<br />
Queen Elizabeth, nach Bauausstellung,Oberbürgermeistertreffen<br />
und Transit 87 geht die Geburtstagsparty<br />
erst richtig los.<br />
Seit 15. Juli wird das „Stadtfest“<br />
gefeiert, nonstop bis zum 30. August.<br />
Mit einem historischen<br />
Jahrmarkt und „Sternschnuppen“<br />
auf der – seit Wochen schon abgesperrten<br />
– Straße des 17. Juni,<br />
„Nachtlandschaften“ im Tiergarten,<br />
Wasserkorso über Landwehrkanal,<br />
Spree und Havel,<br />
Westhafenfest und, zum Abschluß<br />
und -schuß, einem japa-<br />
nischen Großfeuerwerk auf dem<br />
Flughafen Tempelhof.<br />
Vom Sommerloch und Sommerpause<br />
keine Rede. Auch wenn es<br />
längst zum guten Ton gehört, sich<br />
über die Gigantomanie der<br />
750-Jahrfeier zu mokieren, möchte<br />
man sich dem Urteil des Herrn<br />
Alfons Goldschmidt anschließen<br />
– „Wie kaum eine andere Großstadt<br />
der Welt verkauft <strong>Berlin</strong><br />
seine Vergnügungen. Das Amüsement<br />
ist kalkuliert bis zum Klosettgroschen.“<br />
Dies wurde den<br />
<strong>Berlin</strong>ern allerdings schon 1928<br />
ins Stammbuch geschrieben.<br />
1986 • Juli • tip 16<br />
Zu-rück-blei-ben!<br />
Die BVG zwischen Samtträumen und Sturmbannführerin<br />
„Ei-se-na-cher Straaaahse“, wispert<br />
die Stimme aus dem Lautsprecher,<br />
als werde dem ahnungslosen<br />
Fahrgast die Endstation<br />
Sehnsucht annonciert. Eigentlich<br />
wollten wir ja nur zum<br />
Video-Shop fahr’n; sind wir nun<br />
unversehens in Shangri-La eingelaufen,<br />
wo Märchenprinzen<br />
und Glücksnymphen auf uns<br />
warten? „Zurück-bleiben-bitte“,<br />
säuselt die Stimme beinahe flehentlich,<br />
mit einem dicken Seufzer<br />
hintendran.<br />
Die Türen knallen zu – aus, der<br />
kurze Traum! Eine ganz ordinäre<br />
U-Bahn-Fahrt. Aber diese Stimme<br />
... Für die Gemeinde der regelmäßigen<br />
Fahrgäste auf der U7<br />
ist der Stopp in der Eisenacher<br />
Straße ein Kulturerlebnis – natürlich<br />
nur, wenn jener Zugabfertiger<br />
mit der Samtstimme das<br />
Mikro ableckt.<br />
„KLEISTPARK!!!“, kreischt uns<br />
dagegen die Sturmbannführerin<br />
vom nächsten Bahnhof die Ohren<br />
voll. „Einsteigen, bitte! Zurückbleiben!!<br />
ZURÜCKBLEI-<br />
BEN!!!“ Wir stehen auf im Waggon,<br />
legen die Hände an die<br />
Jeans-Naht und salutieren.<br />
1986 • April • tip 9<br />
Das Risiko<br />
Zum ende von <strong>Berlin</strong>s<br />
schwärzestem Lokal<br />
Die Untergrund-Spelunke „Risiko“<br />
hat am Ostersonntag dichtgemacht.<br />
Nach fünf Jahren<br />
nächtlicher Exzesse in <strong>Berlin</strong>s<br />
schwärzestem Lokal ging nun<br />
das gnädige Rotlicht dort endgültig<br />
aus.<br />
Mit diesem „Laden“ an den<br />
Yorckbrücken wurde Stadtgeschichte<br />
gemacht; hier traf sich<br />
die Creme der sogenannten<br />
Rock-Subkultur. Vor allem in der<br />
Blütezeit zwischen 1981 und<br />
1983 entpuppte sich das Risiko<br />
als Wohnzimmer der <strong>Berlin</strong>er<br />
Untergrund-Kulturschaffenden.<br />
In aufsehenerregenden Spektakeln<br />
wurde der Grundstein für<br />
manche Karriere gelegt. Unter<br />
anderem wurde hier die Bewegung<br />
der „genialen Dilettanten“<br />
ausgetüftelt.<br />
Der Laden wurde am 4. April<br />
1981 von einem Kollektiv eröffnet.<br />
Zuvor beherbergten die<br />
Räume Deutschlands erste Frauenkneipe<br />
„Blocksberg“. Als jene<br />
das Handtuch warf, begann dort<br />
eine neue Epoche. Die Nächte, in<br />
denen es meist bis in die Morgenstunden<br />
ging, waren jeweils<br />
sehr unterschiedlich. Man konnte<br />
dort ein schwebendes Glücksgefühl<br />
erleben, aber auch finsterstes<br />
Chaos und Depression.<br />
»Das Wohnzimmer der<br />
<strong>Berlin</strong>er Untergrund-<br />
Kulturschaffenden«<br />
Ebenfalls bemerkenswert war<br />
die Bandbreite der Musik, die<br />
aufgelegt wurde. Alles wurde<br />
gespielt und nicht selten brachten<br />
die Gäste eigene Produktionen<br />
mit. Aber auch Blut, fliegende<br />
Barhocker, zerbrochene Fenster<br />
gehörten zu diesem einzigartigen<br />
Ambiente. Mit der Schließung<br />
an Ostern ist es nun endgültig<br />
vorbei. Das komplizierte<br />
Miet- und Pachtverhältnis hat<br />
zum Ende geführt. Schade um<br />
diesen herrlichen „Schandfleck“,<br />
der nach der Räumung der Ruine<br />
am Winterfeldtplatz eine der<br />
letzten Bastionen des alten <strong>Berlin</strong>er<br />
Underground war.<br />
tip 13·12
1988 • April • tip 9<br />
NEUSS Ich rede hier nicht als<br />
tip-Mitarbeiter, ich mache kein<br />
Interview, ich mache kein Gespräch<br />
mit euch, ich schlage<br />
vor, wir machen ’ne Diskussion.<br />
Jeder sagt, was ihm einfällt,<br />
weil, erstmal die Leser zum Lesen<br />
zu kriegen, das ist ’n Kunststück.<br />
Für mich ist in <strong>Berlin</strong> tip<br />
immer noch tip-top, verstehste?<br />
Ich les’ das immer noch lieber<br />
(lacht) als den „Stern“, wo ich<br />
doch „Stern“-Mitarbeiter bin.<br />
Ihr kommt gar nicht zu Wort,<br />
das merkt ihr, ja, ja?<br />
HOLGER Weil wir nicht im<br />
„Stern“ kommen?<br />
»Der Alkohol-<br />
Rock‘n‘Roll ist stehengeblieben.<br />
Kannste<br />
hören überall«<br />
NEUSS Weil sie erstens nicht im<br />
„Stern“ kommen. Zweitens: Im<br />
RIAS sind se nicht zu hören.<br />
Mach doch mal SFB 2 an. Da<br />
hörst du alles, nur nicht die Tornados.<br />
Und? Bei Radio Schamoni,<br />
ja, 100,6, Pornosender in<br />
<strong>Berlin</strong>, dieser eingewanderte<br />
Die 80eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
DDR-Sender, Schamoni, dieser<br />
Wichsgriffel aus Münster, der<br />
beschäftigt die Tornados und<br />
den Wolfgang nicht. Neiiin,<br />
nichts Angetörntes will der haben,<br />
und schon gar nicht,<br />
wenn’s jetzt im tip steht. Also:<br />
Der Arnulf Rating aus Wuppertal<br />
ist einer von den Tornados,<br />
der Holger Klotzbach aus Hannover<br />
ist der zweite von den<br />
Tornados …<br />
HOLGER Aus Düsseldorf.<br />
NEUSS Aus Düsseldorf. Ich hab’<br />
extra Hannover gesagt, und aus<br />
Celle, der Willi Günter Thews<br />
ist der dritte Tornado. Und der<br />
vierte Tornado diskutiert mit<br />
denen, Wolfi Neuss. (...) Wenn<br />
ihr nicht soviel auswendig lernen<br />
müßtet, sondern Stegreif<br />
machen würdet, dann würdet<br />
ihr am liebsten toben – die ganze<br />
Nacht. Ihr würdet gar nicht<br />
mehr aufhören. Und wenn es<br />
nicht so ist, red’ ich es euch ein.<br />
ARNULF: Aber Wolfgang, die<br />
Leute bleiben nicht, wenn ich<br />
zwei Stunden schweige.<br />
NEUSS Nee, aber icke. Das war<br />
ja ’ne persönliche Sache zwischen<br />
uns beiden. Nee, so’n Typ<br />
wie du darf nicht zwei Stunden<br />
schweigen. Du bist ja schon mit<br />
Reden langweilig. Aber ich hab<br />
das doch mit dem Schweigen<br />
nur gemeint, weil du doch jetzt<br />
auf der Bühne den Günter mit<br />
der Ekstase übertriffst. Der<br />
Günter, der trinkt ja nun keinen<br />
Alkohol, das ist ja der Unterschied<br />
zwischen euch beiden,<br />
also drück ich’s mal elegant<br />
aus.<br />
HOLGER Zum Rock’n’Roll gehört<br />
aber Alkohol …<br />
NEUSS Früher. Der Rock’n’Roll<br />
hat auch ’ne Entwicklung. Und<br />
der Alkohol-Rock’n’Roll ist stehengeblieben.<br />
Kannste hören<br />
überall. Ach übrigens: Wenn<br />
wir im Rock’n’Roll- Jargon sprechen<br />
würden: Klar gehört ihr<br />
dann zu den Leuten, die Hardrock<br />
machen. Totalen Hardrock.<br />
2 Kurz nach Mauerfall lösten<br />
sich die 3 tornados auf. Holger<br />
Klotzbach gründete die<br />
Bar jeder Vernunft und leitet<br />
heute das tipi. arnulf rating<br />
arbeitet als Solo-Kabarettist.<br />
Günter thews erlag 1993 seinem<br />
aidsleiden. Wolfgang<br />
Neuss starb 1989. Man kann<br />
ihn auf dem Waldfriedhof<br />
Zehlendorf besuchen.<br />
13·12 tip 40 JaHre tip 23<br />
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1988 • Juli • tip 15<br />
Besetzer flüchten über die Mauer<br />
Die Besetzung des Lenné-Dreiecks endet in einem großen Gelächter<br />
Bombige Aufnahme in Ost-<strong>Berlin</strong>: Frühstück und Zigaretten für 220 Mauerspringer<br />
In der Nacht zum 1. Juli, um 5.01<br />
Uhr, räumte die Polizei das Lenné-Dreieck<br />
und machte Schluß<br />
mit fünf Wochen „Freie Republik“.<br />
Damit nahm die längste Besetzung,<br />
die es seit Jahren gegeben<br />
hat, ein Ende. Trotzdem war<br />
wohl die Staatsmacht überrascht,<br />
mit welchem Ideenreichtum<br />
die Besetzer ihr entgegen-<br />
24 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 80eR JAHRe<br />
traten. Nur 52 von ihnen nahmen<br />
das Angebot an, durch eine<br />
Schleuse, eskortiert von Polizei,<br />
den Platz zu verlassen. Die große<br />
Mehrheit ging einen anderen<br />
Weg: über die Mauer. Laut Polizeiangaben<br />
waren es 182 Personen,<br />
nach Ansicht von Ex-Besetzern<br />
sollen es allerdings mindestens<br />
220 gewesen sein, die bei<br />
der Mauerspring-Aktion mitmachten.<br />
Ein Augenzeuge: „Die<br />
Leute haben sich den Bauch gehalten<br />
vor lachen.“ „Drüben, in<br />
Ost-<strong>Berlin</strong>, wurden sie, so ein<br />
Beteiligter, „bombig behandelt“.<br />
Mit LKWs wurden sie aus dem<br />
Sperrbereich gefahren; der<br />
Staatssicherheitsdienst nahm<br />
ihre Personalien auf.<br />
Doch, noch einmal ein Beteiligter,<br />
„denen war es egal, ob wir<br />
unseren Ausweis zeigten oder<br />
nicht“. Danach gab es erst einmal<br />
ein opulentes Frühstück mit<br />
Gratiszigaretten. Schließlich<br />
wurden sie gefragt, welchen<br />
Übergang sie denn bevorzugen<br />
würden. Ihre Wünsche wurden<br />
samt und sonders erfüllt. In<br />
Sechsergruppen wurden sie zum<br />
Übergang ihrer Wahl gebracht.<br />
Der größte Teil der Ex-Besetzer<br />
stieg Friedrichstraße in die U-<br />
Bahn ein. Kaum ein Dutzend von<br />
ihnen wurde von Polizeikräften<br />
bei Spontanüberprüfungen identifiziert.<br />
Ein Novum des deutschdeutschen<br />
Tourismus: Kein Mauerspringer<br />
wurde zum Zwangsumtausch<br />
verdonnert. Keiner<br />
allerdings bekam nachher, wieder<br />
zurück im Westen, das obligatorische<br />
Begrüßungsgeld.<br />
»Kein Mauerspringer<br />
wurde zum Zwangsumtausch<br />
verdonnert«<br />
Und die Moral von der Geschicht:<br />
Die Drohung „Geht doch rüber in<br />
den Osten, wenn es euch hier im<br />
Westen nicht mehr paßt“ werden<br />
jetzt wohl immer mehr Leute<br />
beherzigen.<br />
Immer einen tip voraus.<br />
Danke für 40 Jahre <strong>Berlin</strong>er Kulturinfo.<br />
Auch über gewöhnliche und besondere Ereignisse.<br />
tip 13·12
Fotos: aus dem Buch „<strong>Berlin</strong> im November“, erschienen in der Nicolaischen Volksbuchhandlung<br />
1989 • Dezember • tip 26<br />
revolution und Mauerfall<br />
Ost-<strong>Berlin</strong>er Notizen aus den tagen der revolution – von Wolfgang Gersch<br />
Wir trauen unseren Augen nicht:<br />
Es ist Revolution! Tag für Tag. Und<br />
immer ein Stück mehr. Wir protestieren<br />
und unterschreiben,<br />
diskutieren und demonstrieren –<br />
und lesen am Morgen, und sehen<br />
am Abend, daß wir viele sind.<br />
Das sei keine echte Revolution,<br />
meinte ein Schriftsteller, weil es<br />
nicht um die Besitzverhältnisse<br />
ginge. Um was denn sonst? Es<br />
geht um das Besitzrecht, das die<br />
SED sich über das Volk angemaßt<br />
hat. Die Massen enteignen die<br />
sozialistischen Expropriateure.<br />
Neunter November, 18.57 Uhr,<br />
Fernsehen DDR. Ich verstehe<br />
wohl, daß die Grenze aufgehen<br />
wird, als Schabowski einen Zettel<br />
hervorfingert und am Schluß<br />
der Pressekonferenz so tut, als<br />
habe er noch den Wetterbericht<br />
zu verlesen. Aber die Phantasie<br />
Die 80eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
reicht nicht aus, sich die Zukunft<br />
vorzustellen und daß sie noch<br />
am gleichen Abend beginnt.<br />
Auch ich möchte zur Bornholmer,<br />
als das Fernsehen die ersten<br />
Bilder vom Freudentaumel<br />
der <strong>Berlin</strong>er bringt. Aber ich vermag<br />
es nicht. Ich rede mich auf<br />
das Referat heraus, an dem zu<br />
arbeiten mir in diesen Tagen unglaubliche<br />
Schwierigkeiten<br />
macht. In Wahrheit bin ich blockiert.<br />
Oft zu Vorträgen oder<br />
Lesungen eingeladen in die<br />
westliche Welt, war die Mauer<br />
für mich durchlässig geworden.<br />
Und ich wäre mir absurd erschienen<br />
zwischen jene, die nach 28<br />
Jahren oder überhaupt zum ersten<br />
Mal im Leben ins andere Halberstadt<br />
zogen, wo ich eben erst,<br />
im Hanseatenweg geredet hatte.<br />
Ich schaue den Trabis nach, die<br />
durch die Nacht flitzen, wie ich<br />
noch nie Trabis flitzen sah.<br />
Früh um drei klingelt das Telephon.<br />
Der Sohn: „… Ich bin drüben.<br />
Hier sieht’s ja genauso aus<br />
wie bei uns!“ Hatte er gedacht,<br />
nach Phantasien zu kommen?<br />
Aber er hat nur erst den Wedding<br />
gesehen. Jetzt kann ich mit<br />
den anderen schluchzen. Noch<br />
nie ist in Deutschland auf einen<br />
Schlag soviel geweint worden.<br />
CineStar gratuliert herzlich!<br />
Wir sagen Danke für 40 Jahre filmreife Haupstadt-<br />
Infos und das volle Kinoprogramm im tip <strong>Berlin</strong>!<br />
Karten dazu gibt’s unter CineStar.de<br />
13·12 tip 40 JaHre tip 25
1990 • Januar • tip 1<br />
Ost-Kino<br />
eine einführung in den<br />
sozialistischen Kinoalltag<br />
Die Ost-<strong>Berlin</strong>er Kinolandschaft<br />
ist recht überschaubar: 22 Filmtheater<br />
gibt es dort. Keine in<br />
Wohnzimmergröße aufgeschachtelten<br />
Kinosäle oder sonstiger<br />
Schnickschnack, aber leider auch<br />
kein übermäßig moderner Komfort.<br />
Eben Kino, wie es mal war.<br />
Die Preise sind einheitlich und<br />
liegen, zumindest noch, auf dem<br />
sagenhaften Tiefstand von 2,05<br />
bis 3,05 Mark, die fünf Pfennige<br />
sind die „Kulturabgabe“. Für Filme<br />
mit Überlänge wird 50%<br />
Aufschlag verlangt.<br />
Die großen modernen Uraufführungskinos<br />
befinden sich vorzugsweise<br />
in City-Nähe: Das International<br />
und das Kosmos in<br />
der Karl-Marx-Allee, und das<br />
altehrwürdige Colosseum in der<br />
Schönhauser Allee. Hier gibt es<br />
auch Spätvorstellungen. Eins<br />
der neuen Vorzeigeobjekte mit<br />
dem bezeichnenden Namen Sojus<br />
liegt im Neubaubezirk Marzahn.<br />
Gelegentlich finden Filmpremieren<br />
aber auch in kleineren,<br />
weniger zentralen Kinos<br />
wie dem Pankower Tivoli oder<br />
im Johannisthaler Astra statt.<br />
Hervorzuheben ist das Babylon<br />
am Rosa-Luxemburg-Platz. In<br />
diesem Kino laufen auch ältere<br />
Filme, Wiederaufführungen und<br />
Fundstücke für filmgeschichtlich<br />
Interessierte.<br />
Übrigens – Naschkatzen sollten<br />
ihre Verpflegung lieber mitbringen,<br />
die Süßwarenstände, sofern<br />
es sie gibt, sind häufig geschlossen.<br />
26 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 90eR JAHRe<br />
DIe NeuNzIGeR<br />
Hauptstadt, rechtsradikale Jugend, east Side Gallery, Skandalfilme, paul Van Dyk, auguststraße,<br />
Loveparade, Volksbühne, Christos reichstag, Mitte-Clubs, Hertha-aufstieg, Holocaust-Denkmal<br />
»Die Preise liegen auf<br />
dem sagenhaften Tiefstand<br />
von 2,05 Mark«<br />
1990 • Juli • tip 14<br />
east Side Gallery<br />
Malerinnen und Maler für ein letztes Mauerstück<br />
Von der Oberbaumbrücke bis<br />
<strong>Berlin</strong> Hauptbahnhof in der<br />
Mühlenstraße in <strong>Berlin</strong>-Friedrichshain<br />
entsteht auf dem ehemaligen<br />
Antifaschistischen<br />
Schutzwall die längste Bildersammlung<br />
der Welt unter freiem<br />
Himmel: „East Side Gallery<br />
GDR, The Largest Open Air Gallery<br />
in the World“. Wer kann<br />
und will, darf sich noch bis zum<br />
13. August daran beteiligen.<br />
Die sogenannte Hinterlandmauer<br />
an der sechsspurigen Ausfallstraße<br />
ist mit ihrem festgefügten<br />
Beton eine logische Ergänzung<br />
zu der asphaltierten Autorennstrecke.<br />
Ein paar „verunfallte“<br />
Schrottwagen zeugen<br />
stets von der ungebrochenen<br />
menschlichen Sehnsucht nach<br />
überhöhter Geschwindigkeit.<br />
Im absoluten Gegensatz dazu<br />
befindet sich die Malerei von<br />
inzwischen 27 Künstlern, die<br />
aus aller Damen und Herren<br />
Länder ihre Vorstellungen zu<br />
der thematischen Vorgabe „Umwelt,<br />
Toleranz und Frieden“ an<br />
die ehemals Unberührbare gepinselt,<br />
gespachtelt und ge-<br />
sprüht haben. Gemanagt wird<br />
die ungewöhnliche Galerie im<br />
Westen der Stadt von Christine<br />
MacLean. Die „wuva GmbH“, die<br />
„Werbe- und Veranstaltungs-<br />
Agentur“, im östlichen Teil der<br />
Stadt hat vom Friedrichshainer<br />
Bezirk die Nutzungsrechte erworben<br />
und sich für die Idee<br />
begeistert, die Mauer als Mauer<br />
zum real existierenden Kunstwerk<br />
zu verändern: „Die Mauer,<br />
ehemals ein Symbol für Abgrenzung,<br />
Angst und Unterdrückung,<br />
wird durch diese Galerie in ein<br />
Kunstwerk umgewandelt, welches<br />
Menschen, Völker und Gedanken<br />
vereinigt.“<br />
Wenn sich Malerinnen und Maler<br />
angesprochen fühlen, zu den<br />
vorgegebenen Themen ihre Umsetzung<br />
zu verwirklichen, sollten<br />
sie sich mit Christine Mac-<br />
Lean in Verbindung setzen. Wie<br />
lange allerdings diese Kunstprodukte<br />
Bestand haben werden,<br />
weiß noch niemand. Und<br />
sicher ist es von Interesse, dann<br />
auch zu erfahren, was werden<br />
wird, wenn diese Mauer doch<br />
noch einmal abgebaut wird.<br />
1990 • Januar • tip 1<br />
Ost-Musik<br />
Geht doch: in der DDr tönt<br />
mehr als puhdys und Silly<br />
Wer seine Ohren liebt, der hielt<br />
sie bisher beim Stichwort „Rock<br />
aus der DDR“ meist ganz schnell<br />
zu. Er musste schließlich befürchten,<br />
dass sie durch den real<br />
existierenden Schleim solcher<br />
Rock-Zombies wie City, Karat<br />
oder Puhdys sofort verklebten.<br />
Die gleiche Gefahr bestand auch<br />
bei den pseudoaufklärerischen<br />
Ost-<strong>Berlin</strong>er Soft-Rockern Pankow<br />
oder Silly. Das, was sich<br />
bereits vor der Öffnung der Mauer<br />
privilegiert auf westlichen<br />
Bühnen tummeln durfte, war<br />
jedoch nur der offizielle, der<br />
SED-kompatible Teil der DDR-<br />
Musikszene. Seit dem 9. November<br />
drängt nun eine Flut neuer,<br />
bisher unbekannter Bands in<br />
den Westen, speziell in den<br />
Westteil dieser Stadt.<br />
»Eine Flut neuer Bands<br />
drängt in den Westteil<br />
dieser Stadt«<br />
Gruppen mit so kuriosen Namen<br />
wie Die Ich-Funktion, Big Savod,<br />
Herbst in Peking, Die Firma, Freigang,<br />
Feeling B, Die Skeptiker<br />
oder Die Vision gehören zu einer<br />
DDR-Musikszene jenseits der<br />
staatlichen Plattenfirma AMIGA.<br />
Allerdings war bisher keine<br />
DDR-Band in der Lage, den Staat<br />
völlig zu ignorieren. Um öffentlich<br />
auftreten zu dürfen, musste<br />
sich jede Band einer sogenannten<br />
„Einstufung“ vor Mitgliedern<br />
des Kulturministeriums unterziehen.<br />
Diese „Einstufungskommission“<br />
überzeugte sich bei<br />
einem Live-Auftritt von den<br />
künstlerischen Qualitäten jeder<br />
Gruppe und vergab dann eine<br />
Spiellizenz.<br />
tip 13·12
Foto: Birgit Hoffmann / tip<br />
1991 • November • tip 24<br />
rechtsradikale<br />
Scheißwesten, Scheißausländer: ein Besuch bei Skinheads<br />
in Hohenschönhausen<br />
In der Vergangenheit war die pädagogische<br />
Betreuung rechter<br />
Schmuddelkinder in West-<strong>Berlin</strong><br />
tabu. Tauchten rechtsradikale<br />
Cliquen auf, wurde mit Dokumentarfilmen<br />
über den Nationalsozialismus<br />
geantwortet.<br />
„Nazis raus!“ Mit unmissverständlichen<br />
Worten setzten die<br />
empörten Eltern Peter nach einem<br />
längeren Knastaufenthalt an<br />
die Luft. Seitdem ist der Achtzehnjährige,<br />
Skinhead aus Hohenschönhausen,<br />
obdachlos.<br />
Noch muss er sich die Nächte<br />
nicht in irgendwelchen Abbruchhäusern<br />
oder Parkanlagen um<br />
die Ohren schlagen. Ein Freund<br />
überließ ihm vorübergehend seine<br />
Bude – inzwischen Treffpunkt<br />
einer Skinclique aus Hohenschönhausen.<br />
„Die Alten sind für<br />
mich gestorben“, erklärt Peter<br />
mit stockender Stimme und<br />
feuchten Augen, die einer halb<br />
geleerten Brandyflasche geschuldet<br />
sind.<br />
„Ausländer kriegen die Sozialhilfe<br />
in den Arsch geschoben, und<br />
Peter kriegt nichts“, empört sich<br />
Freundin Susi (16). Wenig später<br />
gesteht Peter ein, dass er nicht<br />
weiß, wie er „den ganzen Stress<br />
auf dem Sozial- und Arbeitsamt<br />
Die 90eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
bewältigen soll“. Seine Hilflosigkeit<br />
im Ämterdickicht steht im<br />
krassen Widerspruch zu seinem<br />
Machogehabe. Weder Straßenkampferfahrungen<br />
noch sein<br />
durchtrainierter Körper helfen<br />
ihm weiter. Während einer<br />
Schimpfkanonade auf den<br />
„Scheißwesten“ und die „Scheißausländer“<br />
betreten zwei Kumpels<br />
die Wohnung, knallen Sixpacks<br />
auf den Couchtisch, legen<br />
umständlich ihre Bomberjacken<br />
ab. Linkisch ziehen sie ihre Gasknarren<br />
aus Schulterhalftern,<br />
deponieren sie demonstrativ<br />
neben einer Baseballkeule und<br />
einem Springmesser im ansonsten<br />
leeren Bücherregal.<br />
1992 • März • tip 6<br />
Gorgonzola-Club<br />
als Service in Kreuzberg noch besonders klein geschrieben wurde<br />
Nur lästige Hektiker verlassen<br />
den Gorgonzola-Club in der<br />
Dresdener Straße, wenn nach<br />
einer Viertelstunde noch keine<br />
Karte auf dem Holztisch liegt.<br />
Schließlich ist das Restaurant<br />
halb gefüllt. Da können drei<br />
Kellner schon mal ins Schleudern<br />
kommen. Sie erklären dennoch<br />
geduldig, warum das gewünschte<br />
Gericht nicht bestellt<br />
werden kann („Ist aus“). Die<br />
zweite Wahl ist keine gute Idee<br />
(„Auch aus“). Die Gnocchi in<br />
Salbeibutter sind auf Zimmer-<br />
1990 • Dezember • tip 25<br />
Kann berlin<br />
Hauptstadt?<br />
Man darf ja mal fragen<br />
So hart es klingt: <strong>Berlin</strong> fehlt die<br />
Reife für die Rolle der statisch<br />
empfindlichsten Hauptstadt im<br />
vielgerühmten europäischen<br />
Haus. Der <strong>Berlin</strong>er eignet sich<br />
gerade noch für das kleinstädtische<br />
Personal einer Posse über<br />
ein europäisches Desaster unter<br />
deutscher Federführung.<br />
»Der <strong>Berlin</strong>er leidet an<br />
zerebraler Muffigkeit«<br />
Er ist selbstgefällig, provinziell,<br />
lokalpatriotisch, zutiefst fremdenfeindlich,<br />
großmäulig und<br />
autistisch zugleich. Jeder Bewohner<br />
einer westdeutschen<br />
Mittelstadt weiß mehr über die<br />
Welt außerhalb seiner Stadtgrenzen<br />
als der <strong>Berlin</strong>er. Der<br />
<strong>Berlin</strong>er leidet an einer zerebralen<br />
Muffigkeit: Jeder Auffahrunfall<br />
in seinem Kiez erscheint<br />
weltpolitisch erheblicher als ein<br />
Volksaufstand in einem Nachbarland.<br />
Mit dem <strong>Berlin</strong>er ist<br />
keine Hauptstadt zu machen.<br />
2 am 20. Juni 1990 hatte sich<br />
der Bundestag für <strong>Berlin</strong> als<br />
regierungssitz entschieden –<br />
mit 338 zu 320 Stimmen.<br />
temperatur gehalten. Hohes<br />
Niveau auch bei den Desserts.<br />
Die Panna cotta, erst wenige<br />
Tage alt, ziert nicht etwa Beerenfruchtmark,<br />
sondern Apfelmus.<br />
Darüber hinaus stimmt die<br />
Atmosphäre. Hier räumen sogar<br />
manche Gäste nach dem Essen<br />
selbst das Geschirr ab, wenn<br />
sich gerade niemand darum<br />
kümmern kann. Viele leere Gläser<br />
und volle Aschenbecher sorgen<br />
zusätzlich für Gemütlichkeit.<br />
Und dafür zahlen Kreuzberger<br />
gern ein bisschen mehr.<br />
13·12 tip 40 JaHre tip 27
28 40 JaHre tip<br />
1993 • Januar • tip 1<br />
40 JAHRe TIP • Die 90eR JAHRe<br />
Skandalfilme<br />
Christoph Schlingensief, philip Gröning, thomas Heise und<br />
romuald Karmakar stören den politischen Betrieb<br />
Die spinnen, die Deutschen. Erst<br />
rufen sie laut nach Filmen, die<br />
sich mit den aktuellen Themen<br />
und Problemen auseinandersetzen.<br />
Und wenn sie da sind,<br />
macht man es ihnen schon wieder<br />
schwer. Kanzler Kohl beschwert<br />
sich höchstpersönlich<br />
über Philip Grönings „Die Terroristen“,<br />
Heiner Müller traut sich<br />
nicht, Thomas Heises „Stau“ in<br />
seinem Theater zu zeigen, die<br />
Filmbewertungsstelle verweigert<br />
Romuald Karmakars Söldner-<br />
Dokumentation „Warheads“ ein<br />
Prädikat, und das Fernsehen<br />
wäre den von ihm koproduzierten<br />
Film „Terror 2000“ von<br />
Christoph Schlingensief gerne<br />
wieder los. Skandalfilme in skandalösen<br />
Zeiten.<br />
Ein Land hat sich radikal verändert.<br />
Eberswalde, Rostock, Hoyerswerda,<br />
Mölln. Das Vierte<br />
Reich. 76 registrierte rechtsextreme<br />
Organisationen, 4.000<br />
straff organisierte Ultras, 6 bis<br />
7.000 randalierende Neonazis<br />
und Skins. Ein Viertel aller Deutschen<br />
will die Ausländer rausschmeißen.<br />
Hass, dumpfe, dumme<br />
Vorurteile, Fremdenangst,<br />
Aggressionen gegen Türken, Vietnamesen,<br />
Asylbewerber, Juden,<br />
Linke, Schwule, Behinderte.<br />
Allein 1992 1.600 Gewalttaten,<br />
800 Verletzte, 18 Tote.<br />
Jahrelang werden Neonazis und<br />
der rechte Straßenterror das beherrschende<br />
deutsche Thema<br />
sein. Die ganze Welt weiß das,<br />
sagt es, sorgt sich. Nur die Her-<br />
ren in Bonn betreiben business<br />
as usual und reagieren mehr verärgert<br />
als entsetzt, seit das Geschäft<br />
gestört ist, seit der Industriestandort<br />
und Handelspartner<br />
Deutschland in Verruf gerät.<br />
Dauernd muss er sich entschuldigen,<br />
klagt Herr Kinkel. Währenddessen<br />
zündeln CDU und<br />
CSU weiter, schüren das Klima<br />
militanten Fremdenhasses, hetzen<br />
subtil die Rechten auf und<br />
laufen den Reps nach.<br />
Immer schon haben sie alles Linke<br />
verteufelt und alles Rechte<br />
toleriert. Nicht die ersten Morde<br />
in Deutschland, sondern die stille<br />
Duldung durch Politik, Polizei<br />
und Justiz hat die Welt aufge-<br />
»Bundeskanzler Kohl<br />
beschwerte sich<br />
höchstpersönlich über<br />
Philip Grönigs Film<br />
›Die Terroristen‹«<br />
schreckt. Nicht die unselige Asyldebatte<br />
hat die Neonazis heimlich<br />
bestätigt, sondern unglaubliche<br />
antisemitische, fremdenfeindliche,<br />
nazifreundliche Bemerkungen<br />
seit Jahrzehnten aus<br />
dem Mund von CDU- und CSU-<br />
Chargen, Ministern, Bürgermeistern,<br />
Staatssekretären, die in<br />
anderen Demokratien sofort<br />
entlassen worden wären. Nicht<br />
hier, wo der braune Urschlamm<br />
nie ausgetrocknet wurde. Und<br />
nun geht die Saat auf.<br />
1992 • Juli • tip 14<br />
Paul van Dyk<br />
Der junge paul van Dyk<br />
träumt von eigenen partys<br />
Wo wäre die House Music in<br />
<strong>Berlin</strong> ohne den ehemals von<br />
der Stasi beherrschten Teil des<br />
Volkes? Sicherlich stellte die<br />
jetzt vielbejubelte Szene einen<br />
ziemlich lächerlichen Haufen<br />
dar, denn gerade das Engagement<br />
von im Osten geborenen<br />
Techno-Trabanten sorgte oftmals<br />
für den entscheidenden,<br />
ekstaseverbreitenden Kick. So<br />
wurden die wichtigen Tekknozid-Partys<br />
vom ehemaligen Arbeiter-<br />
und Bauern-Staatsbürger<br />
Wolle Neugebauer organisiert,<br />
der Tresor von seinem Landsmann<br />
Johnny Keller zu einem<br />
der spektakulärsten Clubs in<br />
Europa hochgemanagt. Und die<br />
tollsten Partyorte befinden sich<br />
sowieso im alten Ost-<strong>Berlin</strong>.<br />
»Er mixt perfekt und<br />
saugt die Stimmung<br />
der Tänzer auf«<br />
Zum Beispiel mit Paul van Dyk,<br />
bekannt als DJ der „Brain“- und<br />
„Dubmission“-Partys. Der 20jährige<br />
ist in Eisenhüttenstadt bei<br />
Frankfurt/Oder geboren und aufgewachsen,<br />
ehe er kurz vor dem<br />
Mauerfall per Ausreiseantrag<br />
nach <strong>Berlin</strong> kam. Seine unverbrauchte<br />
Begeisterung brachte<br />
ihn dann später an die Plattenspieler,<br />
um die sich alles dreht.<br />
Er mixt perfekt, wirbelt hinter<br />
seinen Turntables, schwenkt die<br />
Arme und versucht, die Stimmung<br />
der Tänzer in sich aufzusaugen<br />
und zu steigern.<br />
„Was sind das nur für DJs, die<br />
pünktlich um 5 Uhr den Saphir<br />
über die Platte kratzen lassen,<br />
einpacken und nach Hause gehen,<br />
weil sie nicht länger bezahlt<br />
werden?“, fragt Paul verständnislos<br />
und fügt hinzu: „Ich kann<br />
mir nicht vorstellen, dass diese<br />
Menschen überhaupt noch etwas<br />
für die Musik empfinden. Sie zerstören<br />
mit solchen Aktionen die<br />
ganze Atmosphäre und sorgen<br />
bei den Leuten für ein schlechtes<br />
Gefühl. Wenn ich irgendwann<br />
meine eigenen Partys mache,<br />
kommt das nicht vor.“<br />
tip 13·12
Foto: Birgit Hoffmann / tip<br />
1992 • Juni • tip 12<br />
Wem gehört die Auguststraße? Die Ausstellung „37 Räume“ hatte die entscheidende Antwort<br />
auguststraße<br />
Die 90eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
Noch ist die auguststraße in Mitte eine verrottete Gegend. Doch ein ausstellungsprojekt<br />
macht sie zum Kunst- und Galerie-Zentrum<br />
Einst gehörte die Auguststraße in<br />
der Spandauer Vorstadt zu den<br />
Flecken dichtester Besiedlung Europas;<br />
heute droht das Gespenst<br />
des Abrisses der alten Bebauung.<br />
Die Klärung der Besitzverhältnisse<br />
lähmt jede Entwicklung. Für<br />
eine Woche (14. bis 21. Juni) wollen<br />
Kunstjournalisten und Ausstellungsmacher<br />
das soziale und<br />
kulturelle Potential des Ortes in<br />
„37 Räumen“ erschließen.<br />
Wem die Auguststraße im alten<br />
<strong>Berlin</strong>er Scheunenviertel gehört,<br />
ist seit der Wende zur die Geschicke<br />
der Bewohner entscheidenden<br />
Frage im <strong>Berlin</strong>er Monopoly<br />
MEIN Mii.<br />
geworden. Viele Wohnungen stehen<br />
zwangsweise leer und Häuser<br />
verfallen, während die Behörden<br />
nach alten Akten graben. Nahe<br />
des zukünftigen Regierungsviertels<br />
droht das Quartier als begehrter<br />
Standort verplant zu werden.<br />
Doch bevor in der brisanten<br />
baupolitischen Situation die Karten<br />
offen auf den Tisch gelegt<br />
werden, verteilen sich 37 Spieler<br />
über die Felder der Straße. Nicht<br />
in Besitz wollen sie die Räume<br />
nehmen, sondern sich für kurze<br />
sieben Tage in dem Zeitloch einnisten,<br />
das die ungewisse Zukunft<br />
als Spekulationsobjekt von der<br />
NULL Anzahlung<br />
NULL Zinsen<br />
ab 85 ¤/Monat<br />
1<br />
Vergangenheit trennt; schon einmal<br />
regierte hier die Politik der<br />
Vertreibung, nämlich der jüdischen<br />
Gemeinde. In kurzfristigen<br />
Mietverträgen hat der Kunstwerke<br />
e.V. die Möglichkeit der Zwischennutzung<br />
gesichert, die zur<br />
produktiven Keimzelle eines anderen<br />
Umgangs mit dem Stadtraum<br />
werden will.<br />
„Ich kannte die Auguststraße vorher<br />
nicht“, berichtet die junge<br />
Kuratorin Melitta Kliege. „Zunächst<br />
war ich erstaunt, erschüttert über<br />
die Baufälligkeit. Erst dachte ich:<br />
das ist Anmaßung, eine Farce, hier<br />
mit Kunst einzugreifen.“<br />
DER NEUE SEAT Mii. AB 8.890 ¤. 2<br />
Einmalige Überführungskosten von 610,00 ¤.<br />
1992 • März • tip 6<br />
berlinale dreist<br />
Die Filmfestspiele versinken<br />
in der Bedeutungslosigkeit<br />
Moritz de Hadeln sitzt fest im<br />
Sattel. Je tiefer das Festival in<br />
der Bedeutungslosigkeit versinkt,<br />
umso dreister dichtet der<br />
Festivalleiter Misserfolge in Erfolge<br />
um. „Es herrschte die beste<br />
Stimmung seit Jahren“, gab Festivalleiter<br />
Moritz de Hadeln seine<br />
Einschätzung zur <strong>Berlin</strong>ale 1992<br />
im offiziellen „berlinale journal“<br />
zu Papier. Mochten regelmäßige<br />
Festivalbesucher auch an einen<br />
Druckfehler glauben – den Funktionären<br />
in Gremien und Kuratorien<br />
und ihrer greisen Kamarilla<br />
aus der deutschen Filmwirtschaft,<br />
der abhängigen Fachpresse<br />
und den Filmpolitikern wider<br />
Willen kam de Hadelns Notlüge<br />
gut zupass.<br />
Das Branchenblatt „Filmecho“,<br />
offizielles Organ des Hauptverbandes<br />
Deutscher Filmtheater,<br />
wo noch immer kräftig Fünfziger-Jahre-Luft<br />
geatmet wird,<br />
schloss sich dem Eigenlob des<br />
Festivalchefs an.<br />
„Eine erfreuliche Bilanz“ zog<br />
auch <strong>Berlin</strong>s an der <strong>Berlin</strong>er<br />
Filmkultur nachweislich desinteressierte<br />
Kultursenator Ulrich<br />
Momin. Der Schulterschluss der<br />
alten Garde und der jungen hedonistischen<br />
Lohnschreiber<br />
schafft ein Klima, in dem dem<br />
Kritiker die Rolle des Hofnarren<br />
zukommt. Die <strong>Berlin</strong>ale ist auf<br />
dem besten Wege in eine Epoche,<br />
nach der sich das deutsche<br />
Kino seit Langem sehnt: geradewegs<br />
in die fünfziger Jahre.<br />
Beispielrechnung für den SEAT Mii 1.0, 44 kW (60 PS): Fahrzeugpreis: 8.890,00 ¤, Anzahlung: 0,00 ¤,<br />
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40 JAHRe TIP • Die 90eR JAHRe<br />
1993 • Februar • tip 5<br />
Frank Castorf<br />
ein Krawallmacher, der begeistert<br />
Frank Castorfs Volksbühne am<br />
Rosa-Luxemburg-Platz ist ein erstaunliches<br />
Phänomen. Ganz egal,<br />
wie die Inszenierungen (Klassiker,<br />
aber auch viele neue Stücke) im<br />
Einzelnen beurteilt werden – dieses<br />
zu DDR-Zeiten heruntergespielte<br />
Haus lebt. Es gibt Bewegung,<br />
Aufregung, Diskussion. Von<br />
welchem anderen Theater könnte<br />
man das behaupten! Nicht zu vergessen<br />
– die einmalig günstigen<br />
Eintrittspreise. So bekommt man<br />
junges Publikum ins Theater.<br />
Es zeigt sich jetzt auch, dass der<br />
Regisseur Castorf das Zeug zum<br />
Intendanten hat. Er lässt das<br />
ganze Haus bespielen, holt<br />
Rockmusiker, Videokünstler, Literaten<br />
in den Roten Salon. Und<br />
er macht eben nicht alles allein,<br />
sondern umgibt sich mit Theatermachern,<br />
deren Arbeit man<br />
sonst gar nicht zu sehen bekommt<br />
– den Schweizer Christoph<br />
Marthaler, den Filmregisseur<br />
Christoph Schlingensief<br />
(sein Polit-Horror-Film „Terror<br />
2000“ wurde von der <strong>Berlin</strong>ale-<br />
Leitung ausgesperrt), den Choreographen<br />
Johann Kresnik. Allesamt,<br />
wie Castorf selbst, Provokateure,<br />
Krawallmacher im<br />
eingeschlafenen Theaterbetrieb.<br />
Und Regisseure, die ohne falsche<br />
Sentimentalität den ostwestdeutschen<br />
Konflikt angehen.<br />
Castorf sucht sich gezielt Verstärkung.<br />
Er braucht verwandte<br />
Seelen, doch will er zugleich das<br />
Spielangebot erweitern. Seine<br />
eigenen Inszenierungen objektivieren<br />
sich in solchen Zusammenhängen.<br />
Er weiß wohl<br />
selbst, dass sich das große Haus<br />
auf Dauer mit Castorfiaden allein<br />
nicht füllen lässt.<br />
2 Frank Castorf hat gerade<br />
seinen intendantenvertrag<br />
bis 2016 verlängert.<br />
1995 • Juni • tip 12<br />
Holocaust-Denkmal<br />
Wie Lea rosh die Mauer beinahe mal zum Denkmal für die<br />
ermordeten Juden gemacht hätte<br />
Ohne sie gäbe es das geplante<br />
Holocaust-Denkmal wahrscheinlich<br />
nicht. Unbeirrt zog sie das<br />
Projekt durch: Lea Rosh, eine<br />
führende Kraft der deutschen<br />
Bewältigungsbranche.<br />
Hätte man gleich auf Lea Rosh<br />
gehört, dann wäre uns der ganze<br />
Rummel um das Holocaust-<br />
Denkmal, das eine 20.000 Quadratmeter<br />
große Fläche zwischen<br />
Brandenburger Tor und<br />
Potsdamer Platz füllen soll, erspart<br />
geblieben. Keiner der über<br />
500 größenwahnsinnigen Ent-<br />
würfe hätte je das Licht der Welt<br />
erblickt. Aber es wollte ja keiner<br />
hören. Lea Rosh’ Vorschlag im<br />
Bildband „<strong>Berlin</strong> 13. August<br />
1990“ war ebenso einleuchtend<br />
wie genial, und vor allem billig.<br />
Einfach den ehemals antifaschistischen<br />
Schutzwall stehen lassen<br />
und zum „Denkmal für die Juden“<br />
umdeklarieren.<br />
2 1997 wurde ein zweiter<br />
Wettbewerb ausgeschrieben.<br />
Das heutige Stelenfeld<br />
wurde 2004 eröffnet.<br />
1994 • Juli • tip 15<br />
Betriebsurlaub vom Planeten Ork<br />
Loveparade<br />
Die rave-Nation kam und<br />
spaltete die Stadt<br />
Wie ein aus dem Ruder gelaufener<br />
Betriebsausflug vom Planeten<br />
Ork brach am 2. Juli die Rave-<br />
Nation über <strong>Berlin</strong> herein. Die<br />
Loveparade hinterließ neben<br />
dem verwüsteten Ku’damm eine<br />
geteilte Hauptstadt. Die Urteile<br />
der halbnackten, durchgedrehten<br />
Raver und die der hüftsteifen<br />
Chronisten am Rande des Umzugs<br />
könnten nicht unterschiedlicher<br />
sein: „Love, Peace & Happiness<br />
funktioniert noch immer“,<br />
jubeln die einen; „Weltkongress<br />
der Autisten in Trance“, nörgeln<br />
die anderen.<br />
Die Sozialpädagogen sichteten in<br />
diesem Jahr Massen an Proleten<br />
und Kindsköpfen mit Spritzpistolen.<br />
Permanent blickten diese in<br />
das Antlitz des Bösen, ohne es<br />
zu erkennen: Adidas und Puma<br />
waren präsent, und Camel versuchte<br />
sich mit schnödem Mammon<br />
und Kugelschreibern street<br />
credibility zu erschleichen. Die<br />
blasierten kleinen Rave-Arschlöcher<br />
ließen sich jedoch – unbeeindruckt<br />
vom Vorwurf der Hohlköpfigkeit<br />
– gutgelaunt die Hirnrelais<br />
von den mächtigen Beats<br />
auf „Party“ umschalten.<br />
Will wirklich noch jemand den<br />
Begriff „Underground“ in den<br />
Diskurs über den Massenkarneval<br />
Loveparade einführen, dessen<br />
Donnerhall selbst in der<br />
„Dithmarscher Landeszeitung“ (unten)<br />
zu vernehmen war, und sich da- tip /<br />
mit nicht lächerlich machen? Ja?<br />
Dann einfach weiter beim Schrei-<br />
Hoffmann<br />
ben den Autopiloten anlassen:<br />
Die Klischees kommen so ganz<br />
Birgit<br />
von selbst. Foto:<br />
tip 13·12
Foto: tip<br />
1995 • Juni • tip 14<br />
reichstag verhüllt<br />
Allen Unkenrufen und Wetterunbilden<br />
zum Trotz, der Reichstag<br />
ist verhüllt. Und es ist großartig.<br />
Bei Sonnenschein, bei Regen,<br />
bei Dunkelheit und in der Dämmerung.<br />
Und bis auf die Nörgler,<br />
die immer die Haare in der Suppe<br />
suchen, die Mäkler, die es<br />
nicht leiden können, wenn anderen<br />
etwas ziemlich Tolles ge-<br />
1995 • Mai • tip 11<br />
Prater<br />
Der traditionell herunter–<br />
gekommene prater wird<br />
eine neue Spielstätte der<br />
Volksbühne<br />
Proletarier aller Stadtteile –<br />
amüsiert euch! Wo sich vor hundert<br />
Jahren die Dienstmädchen<br />
und Ladengehilfen mit Polka,<br />
einem Schießstand und einer<br />
Würfelbude vergnügten, wo der<br />
Gesangsverein „Immerfroh“ und<br />
der Raucherklub „Maryland“ rauschende<br />
Sommerfeste feierten,<br />
hat die Volksbühne eine neue<br />
Spielstätte eröffnet: Im alten<br />
<strong>Berlin</strong>er Ballhaus und Vergnügungslokal<br />
„Prater“, mitten im<br />
Prenzlauer Berg an der Kastanienallee<br />
gelegen, wollen Castorfs<br />
Mannen eine Mischung aus Varieté<br />
und Experimentierbühne<br />
etablieren: Entertainment auf<br />
der Höhe der Zeit.<br />
Die 90eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
So lässig war <strong>Berlin</strong> noch nie – dank Christo und Jeanne-Claude<br />
lingt, sind alle zufrieden. Sie<br />
gehen und staunen, reden und<br />
zeigen, machen Picknick und<br />
umkreisen den ehemaligen<br />
Reichstag wie Motten das Licht.<br />
Sie unterhalten sich über Kunst,<br />
über das Für und das Wider. Sie<br />
sind begeistert und merken<br />
meist gar nicht, wie sehr dieses<br />
Ereignis nicht nur den Reichstag,<br />
1997 • April • tip 9<br />
Hertha BSC<br />
sondern die ganze Stadt verändert.<br />
Das Brandenburger Tor ist<br />
auf, die Linden sind die Straße,<br />
auf der man flaniert, und die<br />
Mauer ist nur noch eine Fußnote<br />
der Geschichte. Und alle bleiben<br />
dabei normal, sind freundlich<br />
wie nie. Christo und Jeanne-<br />
Claude haben ein Kunststück<br />
fertiggebracht.<br />
am tag, als alle über die Zahl 75.000 sprachen<br />
Liebe Hertha,<br />
zugegeben, wir haben dir immer<br />
wieder die rote Karte gezeigt –<br />
Jahr für Jahr, Saison für Saison.<br />
Wer interessierte sich schon für<br />
dich? Kein Schwein, höchstens<br />
ein paar verlorene Froschseelen<br />
im riesigen Olympiastadion. Du<br />
hast es uns auch nicht leicht gemacht:<br />
Skandale über Skandale,<br />
Dummheiten über Dummheiten,<br />
Grabenkämpfe noch und nöcher.<br />
Fußball fand nur nebenbei statt.<br />
Doch plötzlich ist alles ganz anders.<br />
Du hast eine zurechnungsfähige<br />
Geschäftsführung, einen<br />
erstklassigen Trainer und eine<br />
sympathische Mannschaft.<br />
Am Tag nach dem Spiel gegen<br />
Kaiserslautern machte eine Zahl<br />
in der Stadt die Runde: 75.000.<br />
Ob beim Bäcker oder Blumenhändler,<br />
in der U-Bahn oder am<br />
Tresen. Alle sprachen diese Zahl<br />
fast ehrfürchtig aus und bekamen<br />
dabei leuchtende Augen.<br />
Wir natürlich auch. Ist doch klar.<br />
»Fußball fand bei dir<br />
nur nebenbei statt.<br />
Doch plötzlich ist alles<br />
ganz anders«<br />
75.000. Eine so schöne Zahl kriegen<br />
die Bayern in ihrem Olympiastadion<br />
ihren Lebtag nicht<br />
zustande. Nie mehr zweite Liga!<br />
Und vor allem: immer wieder ins<br />
Olympiastadion!<br />
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13·12 tip 40 JaHre tip 31
32 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 90eR JAHRe<br />
1994 • Dezember • tip 26<br />
Clubszene Mitte<br />
Gut für Mitte: Die Bonner bleiben lieber zu Hause.<br />
Der Club-Wildwuchs kann ungestört weitergehen<br />
Für die Clubszene im Stadtbezirk<br />
Mitte sah es noch vor ein<br />
oder zwei Jahren eher schlecht<br />
aus, schwebte doch über jeder<br />
kleinen Spelunke die Vision eines<br />
topsanierten Bürokomplexes<br />
mit Erlebnisgastronomie,<br />
wenn nicht sogar hauptstädtische<br />
Raumordnung. Doch das<br />
Ausbleiben der Bonner Ministerialkolonnen<br />
führt jetzt wieder<br />
zum Wachstum der subkulturellen<br />
Mauerblümchen. Es vergeht<br />
kein Monat, in dem nicht irgendwo<br />
ein neuer Laden die<br />
<strong>Berlin</strong>er Nachtschattengewächse<br />
bereichert.<br />
Aber das Clubbing hat in Mitte<br />
einen anderen Charakter als<br />
sonst in <strong>Berlin</strong>. Clubtouren müssen<br />
nicht von MTV erschaffen<br />
werden, sie finden jedes Wochenende<br />
statt. Hier ist mehr<br />
Raum zum Experimentieren,<br />
denn genau das, was andere urbane<br />
Bereiche eher behindert<br />
und abschreckt, bildet den Nährboden<br />
für die WMFs, Toasters,<br />
Delicious Doughnuts, Moskaus,<br />
E-Werke, Tresore, Bunker, Ex-<br />
Kreuz-Clubs, Lime-Clubs und<br />
Friseure. Es gibt kaum jemanden,<br />
der die genaue Anzahl von<br />
Örtlichkeiten aufzuzählen vermag,<br />
die in Mitte einen festen<br />
1998 • Mai • tip 12<br />
George tabori<br />
Platz gefunden haben. Das Ausblieben<br />
der hauptstädtischen<br />
Flugbegradigung hat die notwendige<br />
Intimität geschaffen,<br />
die im Westteil der Stadt für die<br />
Clubszene immer hart erkämpft<br />
werden musste. Dazu kommt<br />
noch, dass es dort auch immer<br />
schwerer wird, sich zu platzieren.<br />
Seitdem selbst die Gegend<br />
um das Schlesische Tor den<br />
Charme Charlottenburger Prunkimmobilien<br />
versprüht, gibt es<br />
offenbar für die Clubszene kein<br />
Halten mehr. Das fällt umso<br />
leichter, da in Mitte „ja sowieso<br />
schon alle herumhängen“.<br />
Ein Interview mit der Theaterlegende zum 84. Geburtstag<br />
George Tabori, wie geht es Ihnen?<br />
Sie haben gerade Ihren 84.<br />
Geburtstag gefeiert.<br />
TABORI Ich sehe und ich höre<br />
fast nichts mehr.<br />
Wie kann man Regie führen,<br />
ohne etwas zu sehen und zu<br />
hören?<br />
Sagen Sie das bitte noch mal …<br />
Es ist doch sicher ein Problem,<br />
Regie zu führen, wenn man<br />
nicht mehr viel hören und sehen<br />
kann …<br />
1996 • Mai • tip 10<br />
Karneval der<br />
Kulturen<br />
Der Karneval tanzt zum<br />
ersten Mal durch Kreuzberg<br />
Der „Karneval der Kulturen“<br />
geht in die Arena und feiert mit<br />
einem Straßenumzug. Eigentlich<br />
ist es ja schade, dass keiner rufen<br />
wird: „Kamellekes, de Prinz<br />
kütt.“ Aber dafür ist dieses neu<br />
ins Leben gerufene Fest weniger<br />
vom Lokalkolorit, dafür umso<br />
mehr international geprägt. All<br />
die Kulturen, die in <strong>Berlin</strong> zu<br />
Hause sind, seien sie nun afrikanisch,<br />
südamerikanisch oder<br />
auch türkisch geprägt, haben<br />
den Deutschen ein Rhythmusgefühl<br />
beigebracht.<br />
Die Selbstdarstellung der Kulturen,<br />
deren Spektrum von traditioneller<br />
Musik bis zu Ethno-<br />
Pop, von Jungle bis Soul, von<br />
Walzer bis zur Samba reicht,<br />
dürfte schon am Vorabend des<br />
Himmelfahrtstages auf der Party<br />
in der Arena reichen, um das<br />
tanzwütige Publikum in Laune<br />
zu bringen. An dem Erfolg der<br />
Parade vom Hermannplatz zum<br />
Mariannenplatz, mit 30 Sattelschleppern<br />
und 2000 Akteuren,<br />
dürfte kaum ein Zweifel bestehen,<br />
schließlich haben die Erfahrungen<br />
mit der „Love Parade“<br />
gezeigt, dass das Potenzial<br />
der Amüsierwilligen unerschöpflich<br />
ist.<br />
Ja, aber ich sehe hier genug und<br />
ich höre genug.<br />
„Der nackte Michelangelo“ ist<br />
ein Stück mit wenig Text.<br />
Sehr schöne Songs.<br />
Nach Gedichten von Michelangelo.<br />
Sehr, sehr schöne Songs von<br />
Schostakowitsch, die er geschrieben<br />
hat, bevor er starb.<br />
Zenit<br />
/<br />
Spielte der Stalinismus eine<br />
Rolle in diesem Werk?<br />
Baltzer<br />
Wer?<br />
Der Stalinismus.<br />
David<br />
Nein. Foto:<br />
tip 13·12
1998 • April • tip 9<br />
Modern talking<br />
Oh doch, sie sind wieder da! Und größer als Gott<br />
Dieter Bohlen und Thomas Anders<br />
sind als Modern Talking vereint<br />
zurück. Und tip-Autor Knud<br />
Kohr erklärt uns, warum man<br />
davon auch begeistert sein kann.<br />
Das Comeback von Modern Talking<br />
nimmt Ausmaße an, von<br />
denen die Protagonisten selbst<br />
überrascht sein dürften. Dass<br />
sie eine Menge CDs verkaufen<br />
werden – das Album stieg von<br />
null auf eins in die deutschen<br />
Charts ein, das Remix-Album<br />
„Back For Good“ hatte 200.000<br />
Vorbestellungen – damit war zu<br />
rechnen. Schließlich setzte die<br />
Band von 1984 bis ’87 weltweit<br />
über 60 Millionen Platten ab.<br />
Wirklich verwunderlich aber ist,<br />
wie triumphal die Rückkehr der<br />
peinlichen Zwei vonstatten<br />
geht: Während ihres ersten Auftritts<br />
bei „Wetten, dass …?“ waren<br />
über 17 Millionen Fernsehzuschauer<br />
dabei. Nahezu jedes<br />
seriöse Feuilleton berichtete<br />
1999 • November • tip 25<br />
Mein <strong>Berlin</strong><br />
Die 90eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
über sie. Mädchen, die beim<br />
Split des Duos gerade erst ihre<br />
Milchzähne bekamen, drängeln<br />
sich nun vor ihren Hotels. Auch<br />
ich mache da übrigens keine<br />
Ausnahme: Ich fuhr an einem<br />
Tag die 600 Kilometer von <strong>Berlin</strong><br />
nach Frankfurt am Main und<br />
zurück, um ihrer Pressekonferenz<br />
beizuwohnen. Für die Rolling<br />
Stones täte ich das nicht.<br />
Und nicht für Gott persönlich.<br />
Wladimir Kaminer über das insektenarme <strong>Berlin</strong><br />
Auf mich wirkt <strong>Berlin</strong> wie ein<br />
Kurort. In erster Linie wegen des<br />
milden Wetters. Im Sommer ist<br />
es selten heiß, im Winter nie<br />
richtig kalt. Und es gibt ganz<br />
wenig Mücken, hier im Prenzlauer<br />
Berg eigentlich gar keine. In<br />
New York gefährden die Moskitos<br />
den Straßenverkehr, sie<br />
übertragen Krankheiten und<br />
sorgen dort ständig für Epidemien.<br />
In Moskau ist die Mückenproblematik<br />
auch aktuell. Überall<br />
auf der Welt gibt es Mücken.<br />
Nur hier nicht. Das ist selbstverständlich<br />
nicht der einzige<br />
Grund, warum mir <strong>Berlin</strong> so<br />
gefällt. Die Menschen finde ich<br />
auch cool. Die meisten Bewohner<br />
der Hauptstadt sind ruhig,<br />
gelassen und nachdenklich.<br />
Wenn man überlegt, was so alles<br />
passiert ist in den letzten<br />
Jahren, der Mauerfall, die Wie-<br />
dervereinigung, die Schließung<br />
des Kasinos im Europa-Center …<br />
Trotzdem drehen nur wenige<br />
durch. Die <strong>Berlin</strong>er tun stets,<br />
was sie für richtig halten, und<br />
haben am Leben Spaß.<br />
»Trotz Mauerfall und<br />
Kasino-Ende drehen<br />
nur wenige durch«<br />
In Moskau dagegen, als die Tagesschau<br />
einmal 20 Minuten<br />
später gesendet wurde, kam es<br />
zu einer Serie von Selbstmorden,<br />
und viele flohen aus der<br />
Stadt, weil sie dachten, die Welt<br />
geht unter. Laut Statistik haben<br />
in Russland nur 17,8 Prozent der<br />
Bevölkerung an ihrem Leben<br />
Spaß. Zu viele Mücken wahrscheinlich.<br />
Deswegen ziehe ich<br />
<strong>Berlin</strong> vor.<br />
Wirgratulieren herzlich zum<br />
<strong>Jubiläum</strong> undfreuenuns<br />
auf eineweiterhin erfolgreiche<br />
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13·12 tip 40 JaHre tip 33
Am 17. Juni wird der letzte deutsche<br />
Filmpreis dieses Jahrhunderts<br />
verliehen. Da kann man die<br />
Nominierungen nicht einfach nur<br />
vermelden. Michael Naumann<br />
lud zum Nomination-Event ins<br />
Adlon Hotel.<br />
Was macht den Event zum<br />
Event? Und was unterscheidet<br />
den Nomination-Event zum<br />
deutschen Filmpreis von den<br />
dpa-Meldungen der letzten Jahre?<br />
Vielleicht die typischen<br />
Event-Insignien: windschnittige<br />
Empfangsdamen, Corporate Design,<br />
neurotische Entertainment-<br />
Einlagen und die Hummerhäppchen<br />
von der Hypo-Bank. Nomination,<br />
natürlich, wo wir doch<br />
sowieso schon keine Ortsgespräche,<br />
sondern Citycalls führen,<br />
aber komischerweise immer<br />
noch altmodisch von Oscar-No-<br />
34 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 90eR JAHRe<br />
1999 • April • tip 8<br />
Deutscher Filmpreis<br />
Sektglashumanist Michael Naumann lädt zum Nomination-event<br />
minierungen reden. Mit dem<br />
neudeutschen Filmtitel „The<br />
Marriage of Eva Braun“ hat unser<br />
Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten<br />
bereits auf den<br />
Filmfestspielen den richtigen<br />
Impuls gegeben.<br />
Der Adlon-Abend der Filmpreisnominierungen<br />
war Event qua<br />
seiner Präsenz, ein Naumann-<br />
Event eben, mit der Mischung<br />
aus platonischem Staatsphilosophentum<br />
und Bad Godesberger<br />
Wir-sind-wieder-wer. Naumann,<br />
der immer ein wenig den Sektglashumanisten<br />
gibt, wenn er<br />
ganz nietzscheanisch vom<br />
„Kunstwillen“ des deutschen<br />
Films spricht, Naumann, der zart<br />
den Zeitgeist geißelt und nach<br />
einem kleinen spontanen Aperçu<br />
stolz wie Oskar bemerkt: „Das<br />
stand nicht im Manuskript.“<br />
Michael Naumann ohne Hummerhäppchen,<br />
dafür mit Lola-Statue<br />
Der von hier<br />
tip 13·12<br />
Foto: Svea Pietschmann / tip<br />
Echt mittendrin.<br />
Echt unterwegs.<br />
Echt schon 40?<br />
Der <strong>Berlin</strong>er Kurier gratuliert dem<br />
jüngsten 40-Jährigen der Hauptstadt<br />
zu mehr als 1000 Ausgaben tip.
Die 90eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
1999 • Dezember • tip 26<br />
Schaubühne am Lehniner platz<br />
Neue Bewirtschaftung: Sasha Waltz und thomas Ostermeier übernehmen die berühmteste Bühne Deutschlands<br />
Einerseits ist es ein ganz normaler<br />
Intendantenwechsel, neue<br />
Leute übernehmen ein großes<br />
Theater. Andererseits ist es ein<br />
Einschnitt, der wie kein anderer<br />
in den letzten Jahren einen Generationswechsel<br />
markiert:<br />
Thomas Ostermeier (Ex-DT-Baracke)<br />
und die Choreografin Sasha<br />
Waltz (Ex-Sophiensäle)<br />
übernehmen gemeinsam die<br />
seit der Stein-Zeit berühmteste<br />
Bühne Deutschlands.<br />
Ostermeiers Theater lässt sich<br />
in Stoffwahl und theatralischen<br />
Mitteln radikal auf die Gegenwart<br />
ein – dem schicken Stil der<br />
alten Schaubühne setzt er neue<br />
Stücke entgegen, die von einer<br />
heruntergekommenen, kaputten,<br />
verfallenden Gesellschaft<br />
erzählen. Sasha Waltz hat mit<br />
ihren Tanztheaterstücken („Al-<br />
lee der Kosmonauten“) dem<br />
Tanz ein neues, jugendliches<br />
Publikum erschlossen und mit<br />
ihren komisch melancholischen<br />
Stücken absurde, traurige, temporeiche<br />
Geschichten erzählt.<br />
Mit dem Neubeginn an der<br />
Schaubühne übernehmen zum<br />
ersten Mal ein Regisseur und<br />
eine Choreografin gemeinsam<br />
ein Theater. Einen Bruch mit<br />
schlechten Konventionen des<br />
Kulturbetriebs markiert die<br />
neue Schaubühne durch Mitbestimmung<br />
des Ensembles und<br />
finanzielle Selbstbeschränkung<br />
der Künstler.<br />
2 2005 verließ Sasha Waltz<br />
die Schaubühne. thomas<br />
Ostermeier gehört weiterhin<br />
zur künstlerischen Leitung<br />
der Schaubühne.<br />
Haben Sie schon<br />
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13·12 tip 40 JaHre tip 35
36 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 2000eR JAHRe<br />
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Die peinlichsten <strong>Berlin</strong>er, Generation Wodka, Hebbel am Ufer, Göttinnen der Volksbühne,<br />
Neukölln, Baader Meinhof Komplex, Neues Museum, Bonaparte, Lars von trier, Schlingensief<br />
2001 • Januar • tip 2<br />
Cookie<br />
ein Mann und seine Bars<br />
In einer wüsten Kellerbar hat<br />
alles angefangen. Hier sind wir<br />
versunken, nachts, wie in einem<br />
Traum, mit hart gemixten Cocktails<br />
für fünf Mark. Wir haben die<br />
Winternächte im Keller geliebt,<br />
berauscht und glücklich, dass es<br />
einen Ort wie diesen gab: die<br />
erste Cookies Bar, Auguststraße,<br />
<strong>Berlin</strong>-Mitte, 1994.<br />
Cookie, alias Heinz, betreibt<br />
seit sechs Jahren die Cookies<br />
Bar. Er war blutjung, als er 1992<br />
von London nach <strong>Berlin</strong> ging.<br />
„Ich wollte in <strong>Berlin</strong> leben und<br />
Spaß haben“, sagt der 26-Jährige.<br />
Inzwischen hat sich ein<br />
Traum für ihn erfüllt, den er gar<br />
nicht hatte. Innerhalb von<br />
sechs Jahren hat er die Kellerbar<br />
zum kommerziellen Club<br />
etabliert, ist Mitinhaber der<br />
Greenwich Bar und Besitzer des<br />
Café Bravo geworden.<br />
Die Zeiten haben sich geändert,<br />
mit ihnen Cookie und sein Publikum.<br />
„Ich bin ein Mitte-Boy,<br />
und das find ich gut“, sagt der<br />
unnahbare Cookie. „<strong>Berlin</strong>-Mitte<br />
hat sich sehr verändert. Und ich<br />
bin froh darüber. Gäbe es keine<br />
Veränderung, wären wir noch<br />
beim klassischen Haustanz.“<br />
2001 • Dezember • tip 24<br />
Miss Sexyland<br />
Sie war jung und brauchte das Geld. So wurde Marion S.<br />
für 500 Mark zum bekanntesten Busen <strong>Berlin</strong>s<br />
Marion S. ist von Natur aus eher<br />
schüchtern. Verhandeln war<br />
noch nie ihre starke Seite. Und<br />
außerdem: Woher sollte sie ahnen,<br />
was aus diesem Bild einmal<br />
werden würde? 500 Mark klang<br />
gut, Anfang der 80er. Und stolz<br />
war sie natürlich auch ein wenig,<br />
sagt sie heute.<br />
Vorher hatte eine Farbige für Big<br />
Sexyland geworben und davor<br />
eine Brünette und vor der Brünetten<br />
noch eine andere. Nach<br />
Marion kam gar keine Frau mehr,<br />
ganze 18 Jahre lang, bis heute.<br />
Und so ist sie die „Miss Sexyland“<br />
von <strong>Berlin</strong> geworden, erst im<br />
Westen und dann – nach dem Fall<br />
der Mauer – auch im Osten.<br />
Irgendwann, vielleicht Mitte der<br />
90er, hat sich das Bild von seinem<br />
ursprünglichen Inhalt gelöst,<br />
hat sich befreit von den<br />
sexuellen Konnotationen und<br />
Anspielungen, wurde zu etwas<br />
anderem, zum Markenzeichen<br />
des alten <strong>Berlin</strong>, zum verbliche-<br />
nen Logo einer Stadt, die unter<br />
Tonnen von Betonplatten, Baukränen<br />
und Partner-für-<strong>Berlin</strong>-<br />
Broschüren begraben wurde. Wer<br />
heute das Plakat sieht, denkt an<br />
David Bowie und das Sound, an<br />
den Dschungel und Christiane F.,<br />
an Peepshow-Baracken zwischen<br />
Ku’damm und Kant-Dreieck.<br />
Wenn Marion ihr eigenes Bild<br />
sieht, denkt sie immer nur, wie<br />
blöd sie war – damals, als sie den<br />
Fetzen Papier unterschrieb, der<br />
sie für 500 Mark zum Lockvogel<br />
für einen Sexbetrieb machte, zur<br />
Masturbationsvorlage im öffentlichen<br />
Raum. Mehrmals hat sie<br />
versucht, das Plakat zu beseitigen,<br />
hat mit den Sexyland-Betreibern<br />
gesprochen, hat Anwälte<br />
eingeschaltet, irgendwann<br />
resigniert. Das war Mitte der<br />
80er und für Marion S. Zeit, einen<br />
Schlussstrich zu ziehen.<br />
Schlussstrich unter ein Leben,<br />
das ihr nur wenig Geld und viele<br />
2000 • Januar • tip 1<br />
Die Peinlichen<br />
Zum Millenniumbeginn<br />
kürte der tip das erste<br />
Mal die 100 peinlichsten<br />
<strong>Berlin</strong>er<br />
platz Nr. 1: Dr. Motte<br />
Magier für Millionen möchte er<br />
sein, doch in Wahrheit ist er<br />
kaum mehr als ein Pausenclown<br />
für Provinzraver: Motte alias Matthias<br />
Roeingh, „größter Partyveranstalter<br />
aller Zeiten“. Mit<br />
dümmlichen Mottos („Music is<br />
the Key“) und noch dümmlicheren<br />
Teilnehmern (Junge Union)<br />
hat er aus der Love Parade eine<br />
pubertäre Trallala-Veranstaltung<br />
für Sparkassen-Azubis und Marken-Junkies<br />
gemacht. Will man<br />
ihm sein Riesenspielzeug wegnehmen,<br />
stampft er mit den Füßen<br />
und droht mit Liebesentzug.<br />
Für seine anhaltenden Verdienste<br />
um den schlechten Geschmack<br />
bekam er im letzten Jahr den<br />
Bambi verliehen. Das qualifiziert<br />
ihn für einen Spitzenplatz in unserer<br />
Liste. Ab in die Kiste, Motte!<br />
falsche Freunde einbrachte. Foto: Harry Schnitger / tip (links)<br />
tip 13·12
2001 • September • tip 20<br />
Bastarde<br />
Qpferdachs editorial nach dem 11. September 2001<br />
„Bastarde“ – so titelte in der vergangenen<br />
Woche unmittelbar<br />
nach dem Anschlag die New Yorker<br />
„Village Voice“. Bastarde sind<br />
Menschen, die Dinge tun, die<br />
man unter keinen Umständen<br />
tut. Bastarde sind die Terroristen,<br />
die das La Belle in die Luft<br />
sprengten und in diesen Tagen<br />
nach 15 Jahren ihr Urteil erwarten.<br />
Der Bombe damals bin ich<br />
als regelmäßiger Besucher dieser<br />
Disco nur knapp entgangen, weil<br />
ich nicht dort war, sondern zufällig<br />
an dem Wochenende in<br />
Westdeutschland weilte.<br />
Ich kenne die Wut und den Hass,<br />
die so ein Anschlag erzeugt. Und<br />
trotzdem war es damals wie<br />
Die 2000eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
heute klar, dass man sich so etwas<br />
nicht gefallen lassen kann.<br />
Die Auftraggeber für den Massenmord<br />
zu finden und vor ein<br />
Gericht zu stellen, wird unvergleichlich<br />
schwieriger, doch nicht<br />
unmöglich. Unsere westliche<br />
Lebensart aber werden die Islamisten<br />
nicht aushebeln. Und<br />
wenn sich das Koordinatensystem<br />
unserer Wahrnehmung tatsächlich<br />
verschoben hat, betrifft<br />
es sicher nur die Relation von<br />
wichtig und unwichtig. Die Bastarde<br />
aber, die meinen, sie könnten<br />
sich in Gottes Namen zu<br />
Herren über Leben und Tod machen,<br />
sie soll der Teufel holen,<br />
wenn es ihn denn geben sollte.<br />
2002 • Februar • tip 5<br />
Kosslicks einstand<br />
Fettnäpfe ohne ende: Dieter Kosslicks erste <strong>Berlin</strong>ale<br />
Lieber Dieter Kosslick,<br />
Zugegeben, Ihr Deutsch ist besser<br />
als das von Moritz de Hadeln,<br />
doch damit hat es sich denn<br />
auch. Mit dem seismografischen<br />
Gespür eines Minensuchgeräts<br />
orteten Sie jeden Fettnapf im<br />
Umkreis von zehn Meilen zum<br />
<strong>Berlin</strong>ale-Palast, outeten sich<br />
auf der Verleihung des Teddy im<br />
Tempodrom als Nicht-Gay,<br />
klampften im Kant-Kino zur musikalischen<br />
Todesstrafe BAP<br />
oder ließen sich auf dem Marle-<br />
ne-Dietrich-Platz im Bademantel<br />
ablichten. Jeder einzelne<br />
Fauxpas hätte anderen Festspieldirektoren<br />
längst den Ruf<br />
ruiniert, doch Sie leben damit<br />
gänzlich ungeniert.<br />
So spontan wird keine <strong>Berlin</strong>ale<br />
mehr sein. Und so viel Stimmung<br />
wird der Stadt in den nächsten<br />
Monaten fehlen. Vielleicht auch<br />
ein Signal an den Senat: Don’t<br />
worry! Be peinlich! Wowereit,<br />
übernehmen Sie.<br />
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Nicht quadratisch,<br />
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BIRTHDAY<br />
TIP!<br />
13·12 tip 40 JaHre tip 37
38 40 JaHre tip<br />
2002 • April • tip 8<br />
40 JAHRe TIP • Die 2000eR JAHRe<br />
Kaminers<br />
Kaffee burger<br />
party bis zum abwinken<br />
mit polka, punk und Ska<br />
Was kann schon toll sein, ein<br />
paar Russen beim Feiern zuzuschauen?<br />
Eine ganze Menge. Zu<br />
den Polka-Partys im Burger oder<br />
im Mudd Club kommen vor allem<br />
Deutsche.<br />
Ab 23 Uhr ist das Kaffee Burger,<br />
wo die Veranstaltung zweiwöchentlich<br />
samstags stattfindet,<br />
voll. Vor dem Eingang bilden sich<br />
lange Schlangen. Aber nur jeder<br />
fünfte Gast sei tatsächlich ein<br />
Russe. „Meine Frau überprüft die<br />
Quote regelmäßig, indem sie an<br />
der Kasse sitzt und jeden Besucher<br />
auf Russisch anspricht“,<br />
erzählt Wladimir Kaminer. Er<br />
lacht. „Sie hat damit nicht viel<br />
Erfolg. An einem Abend konnten<br />
sogar nur vier Leute auf ihre Fragen<br />
richtig antworten.“ Kaminer<br />
denkt nach, sagt, er wisse nicht,<br />
weshalb fast nur Deutsche kommen.<br />
Er wendet sich wieder seinem<br />
Turntable zu und sucht die<br />
nächsten Platten aus. Ska, Punk<br />
und Independent-Rock.<br />
»Wenn die Moskau-<br />
Tussis tanzen, fliegt<br />
der Goldschmuck«<br />
Viele Deutsche kommen nur<br />
deshalb, weil er der DJ ist: Wladimir<br />
Kaminer ist hierzulande<br />
der beliebteste Russe seit Gorbatschow.<br />
Mit seinen Erzählungen<br />
über die <strong>Berlin</strong>er Russen<br />
erreicht der 34-Jährige eine immer<br />
größer werdende Anhängerschaft.<br />
Auch im Burger ist er der<br />
Star: Auf dem Podest an der<br />
Tanzfläche stehen immer ein<br />
paar Russinnen direkt in seiner<br />
Nähe. Doch Kaminer, ein Familienvater<br />
mit gemütlicher Ausstrahlung,<br />
beachtet sie kaum.<br />
Mehr als in allen anderen Szeneläden<br />
aber erfüllen die Burger-<br />
Russinnen auch hier das Klischee:<br />
Sie sind stark geschminkt,<br />
die Haare tragen sie vorn mit<br />
kurzem Pony, an den Seiten wallend<br />
und hoch toupiert. Wenn<br />
sie tanzen, fliegt der Goldschmuck:<br />
Moskau-Tussis.<br />
2004 • Januar • tip 2<br />
Hebbel am Ufer<br />
Matthias Lilienthals ausschweifendes HaU-rein-theater<br />
Seit dem Neubeginn unter Matthias<br />
Lilienthal vor zwei Monaten<br />
hat sich das Hebbel-Theater<br />
in ein Versuchslabor verwandelt:<br />
Das Hebbel am Ufer, kurz HAU,<br />
testet die Grenzen des Theaters<br />
aus – und sorgt für spannende<br />
Kollisionen zwischen Kunst und<br />
Wirklichkeit.<br />
Das Jahr hat gut angefangen für<br />
Matthias Lilienthal, den Mann,<br />
der seit November an den drei<br />
HAU-Bühnen das Theater neu<br />
erfindet. Auf der Silvesterparty<br />
im HAU2, dem früheren Theater<br />
am Halleschen Ufer, tobte eine<br />
„Porno-Karaoke“, bei der Performer<br />
live für den passenden<br />
Soundtrack zu Filmen der Sparten<br />
Blümchensex, Oswald Kolle<br />
und Hardcore sorgten. Kein<br />
Wunder, dass die HAU-Partys<br />
inzwischen auch bei Leuten, die<br />
nie freiwillig ins Theater gehen<br />
würden, Kultstatus genießen.<br />
Ein paar Stunden später, morgens<br />
um kurz nach sieben am<br />
ersten Tag des neuen Jahres,<br />
hängt Lilienthal nicht wie jeder<br />
normale Mensch verkatert im<br />
Bett, sondern im Flugzeug nach<br />
New York, er will einige Regisseure<br />
treffen, mit denen das<br />
HAU zusammenarbeitet. Der<br />
Mann schont sich nicht.<br />
Allein in den ersten beiden Monaten<br />
fanden auf den drei HAU-<br />
Bühnen gut 70 Premieren statt,<br />
dazu noch Minifestivals, HipHop-<br />
Konzerte, ein Themenwochenende<br />
zur Wirtschaftskrise in<br />
Argentinien, Besuche streiken-<br />
der Studenten, Diskussionen mit<br />
Diedrich Diederichsen und<br />
Guillaume Paoli, dem Philosophen<br />
der Glücklichen Arbeitslosen,<br />
und jede Menge ausschweifende<br />
Partys. Ein gewisser Overkill<br />
scheint zum Stil des Hauses<br />
zu gehören.<br />
Das Prinzip Überforderung funktioniert.<br />
Das HAU hat in wenigen<br />
Wochen eine enorme Ausstrahlungskraft<br />
entwickelt. Die Werbeplakate<br />
mit den lädierten<br />
Boxern sind in Kreuzberg, Mitte<br />
und Schöneberg kaum zu übersehen,<br />
auch Theater-Ignoranten<br />
haben von dem neuen Theater<br />
zumindest mitgekriegt, dass es<br />
irgendwie hip ist, und im Zuschauerraum<br />
tauchen immer<br />
öfter lauter junge Gesichter auf.<br />
Sieht so aus, als hätte das HAU<br />
in Rekordzeit ein neues Publikum<br />
gefunden.<br />
2006 • Februar • tip 3<br />
arctic Monkeys<br />
ein waschechtes punkalbum und das nächste große Ding<br />
„I Predict A Riot“ – mit diesem<br />
Schlachtruf mischten die Kaiser<br />
Chiefs aus Leeds vor einem Jahr<br />
die Szene auf. Doch der wahre<br />
Krawall findet woanders statt.<br />
Vier Jungs um den 19-jährigen<br />
Sänger Alex Turner ist das gelungen,<br />
was andere Bands in den<br />
letzten Jahren versprachen, aber<br />
nie ganz einlösten: ein waschechtes<br />
Punkalbum. „Never mind<br />
the bollocks, here’s the Arctic<br />
Monkeys!“<br />
Doch der Hype ist berechtigt.<br />
Die klasse Kracher auf „Whatever Aurin<br />
People Say I Am, That’s What I’m<br />
Not“ werden diese Band zum<br />
Thomas<br />
großen Ding machen. Foto:<br />
tip 13·12
2004 • August • tip 18<br />
Unsere Göttinnen<br />
Die Schauspielerinnen der Volksbühne sind scharf und<br />
gefährlich wie rasiermesser. eine Begeisterung<br />
Bald ist es so weit: Die Sommerpause<br />
ist vorbei, die Spielzeit<br />
beginnt. Und wenn es endlich<br />
wieder in die Volksbühne geht,<br />
dürfen wir ihnen wieder begegnen,<br />
den Dostojewski-Nihilisten,<br />
Koks-Gräfinnen und Hysterikern<br />
der New Economy, all den<br />
Exzesskünstlern aus Frank Castorfs<br />
und René Polleschs Theaternächten.<br />
Lauter Heroen der<br />
Schauspielkunst. Und vor allem:<br />
lauter unglaubliche Schauspielerinnen.<br />
Nirgends sind Frauen auf der<br />
Bühne so sexy und so unkalkulierbar,<br />
nirgends werden Radikalfeminismus,<br />
der offene Sexismus<br />
des Intendanten und die<br />
2006 • Oktober • tip 21<br />
Helge Schneider<br />
Helge Schneider übers Sterben und sein eduscho-Studium<br />
SCHNEIDER Das Interview ist<br />
doch für den Film „Das kleine<br />
Arschloch und der alte Sack –<br />
Sterben ist schön“, oder?<br />
„Sterben ist scheiße.“<br />
Sterben ist scheiße? Ach ja, ist<br />
ja scheiße.<br />
Obwohl im Film das Sterben<br />
letztlich doch ganz schön ist.<br />
Ich habe den Film ja noch nicht<br />
ganz gesehen. Nimmst du schon<br />
auf?<br />
Ja. Ich habe gelesen, dass Sie als<br />
junger Mann in Ihrer Freizeit ein<br />
Eduscho-Studium betrieben haben<br />
– also alte Männer in Stehcafés<br />
beobachten. Haben Sie für<br />
13·12 tip<br />
Die 2000eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
Lust am großen männermordenden<br />
Auftritt so rasant kurzgeschlossen.<br />
Die Volksbühne, das<br />
bedeutet Astrid Meyerfeldts<br />
heisere Tobsuchtsanfälle. Susanne<br />
Düllmanns fein nuanciertes<br />
Parlando. Jeanette Spassovas<br />
unterkühlte Melancholie.<br />
Kathrin Angerers wimpernklimpernder<br />
Lolita-Sex. Die hysterische<br />
Intelligenz und damenhafte<br />
Grandezza von Sophie Rois.<br />
Lauter Ex–tremisten.<br />
Ein Darstellerkollektiv, wie es<br />
seit Fassbinders Tagen keines in<br />
Deutschland mehr gegeben hat.<br />
Und ein Ensemble aus lauter<br />
Stars, wie sie lange kein Theater<br />
hervorgebracht hat.<br />
die Synchronisation des alten<br />
Sacks noch auf diese Erfahrungen<br />
zurückgegriffen?<br />
Der alte Sack ist ja jetzt schon in<br />
einem Stadium, wo er alle Facetten<br />
des Menschseins durchgemacht<br />
hat. Da kommt dann das<br />
Sich-Ergeben-im-Leben, das<br />
einfache Dasein, und in meiner<br />
Synchronstimme ist das alles<br />
erhalten. Ich versetze mich dann<br />
in diese Figur und bin das dann.<br />
Da habe ich bei den alten Opas<br />
im Eduscho einiges gelernt.<br />
Vielen Dank für das Gespräch.<br />
Was war das jetzt? „taz“?<br />
Nein, tip.<br />
40 JaHre tip 39
40 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 2000eR JAHRe<br />
2006 • April • tip 9 2007 • April • tip 9<br />
Nord-Neukölln<br />
Nach dem rütli-Skandal und vor der Gentrifizierung:<br />
in Neukölln lebt die berühmte <strong>Berlin</strong>er Mischung<br />
Nord-Neukölln gilt seit dem<br />
Rütli-Skandal als die <strong>Berlin</strong>er<br />
Bronx. Das ist Unsinn, denn die<br />
robuste <strong>Berlin</strong>er Mischung aus<br />
Bürgerlichen und Freaks, Kreativen<br />
und Migranten verhält sich<br />
gegen alle Einheitsprinzipien<br />
extrem resistent, auch gegen das<br />
Ghetto-Label.<br />
Wenn ich aus meinem Wohnzimmerfenster<br />
schaue, sehe ich auf<br />
den Hof der Rütli-Schule. Seit<br />
die ersten Meldungen vom Hilferuf<br />
der Rütli-Lehrer kamen<br />
und sich die Pressemeute vor<br />
dem Schultor sammelte, lebe ich<br />
laut „Spiegel“ in der deutschen<br />
Bronx. Manche sprechen gar von<br />
Slum. Doch wenn ich vor die<br />
Haustür trete, stolpere ich über<br />
die Auslagen eines Bio-Ladens,<br />
der Trödler an der Ecke winkt,<br />
und die Glocken der St. Christophorus-Kirche<br />
läuten. Der Kiez<br />
hat es schwer, seinem Ghetto-<br />
Image gerecht zu werden, denn<br />
seine neuen Seiten werden immer<br />
sichtbarer.<br />
Die Veränderung kommt mit<br />
leuchtenden Schaufenstern<br />
nach Nord-Neukölln, das<br />
manchmal ganz schön dunkel<br />
ist, weil so viele Geschäfte leer<br />
stehen. In einem ehemaligen<br />
Döner-Laden jedoch lehnen seit<br />
Kurzem großformatige Bilder an<br />
den Wänden.<br />
Der Ausländeranteil im Reuter-<br />
Kiez liegt bei 30 Prozent, und<br />
damit weit über dem Neuköllner<br />
Durchschnitt. Doch gerade deswegen<br />
ist die Gegend heiß begehrt,<br />
vor allem bei jungen Leuten<br />
und solchen, die Wert auf<br />
die berühmte <strong>Berlin</strong>er Mischung<br />
legen – Bürgerliche und Proleten,<br />
Kreative und Migranten,<br />
Spießer und Freaks, alle auf einem<br />
mehr oder minder harmonischen<br />
Haufen. Prächtige Gründerzeitbauten<br />
prägen das Straßenbild.<br />
Die Wohnungen sind<br />
toll, aber oft unsaniert, und so<br />
bleiben die Mieten billig.<br />
Vor Kurzem hat das Café Ringo<br />
»Der Kiez hat es<br />
schwer, seinem<br />
Ghetto-Image gerecht<br />
zu werden«<br />
in der Sanderstraße eröffnet und<br />
ist schon ein Magnet. Betreiberin<br />
Christina Hohmann, deren<br />
Teilhaber auch das Café Mathilda<br />
in der Kreuzberger Graefestraße<br />
gehört, schätzt das ruppige Flair<br />
in Neukölln.<br />
Die berliner<br />
ein überfälliges Loblied<br />
Dem <strong>Berlin</strong>er wird, und daran ist<br />
er möglicherweise nicht ganz<br />
unschuldig, eine recht grobschlächtige<br />
Beurteilung zuteil.<br />
Unfreundlich soll er sein, ruppig<br />
und ausgestattet mit großer<br />
Schnauze. Mag alles stimmen,<br />
greift aber viel zu kurz. Daher<br />
folgt hier ein Loblied.<br />
Zunächst mal ist gar nicht einzusehen,<br />
was so unfreundlich da -<br />
ran ist, wenn jemand einen<br />
Großteil der Stadt von Zugezogenen<br />
besiedeln lässt – ja, ihnen<br />
ganze Stadtteile überlässt, ohne<br />
zu mucken. Der <strong>Berlin</strong>er erzeugt<br />
keinen Assimilationsdruck auf<br />
die neuen Bürger. Er lässt sie in<br />
ihren Ghettos wursteln, er zeigt<br />
jedem eine Ecke, in der er sich<br />
einrichten kann, und schreit<br />
nicht ständig nach Anpassung<br />
wie die Schwaben, die schon<br />
schief gucken, wenn der Bürgersteig<br />
schlecht gefegt ist.<br />
»Der <strong>Berlin</strong>er schreit<br />
nicht ständig nach<br />
Anpassung«<br />
Er ist tolerant. Man kann mit<br />
Krawatte in eine Kreuzberger<br />
Kneipe gehen oder mit kurzen<br />
Hosen ins Borchardt, ohne dass<br />
es jemanden juckt. Der <strong>Berlin</strong>er<br />
hat einen großen Langmut. Mit<br />
besonders nervigen Neu-<strong>Berlin</strong>ern<br />
geht er nach dem Motto<br />
um: nicht mal ignorieren. Überhaupt<br />
ist der <strong>Berlin</strong>er nicht vordergründig<br />
freundlich, nur weil<br />
das nach außen besser wirkt.<br />
Seine Schroffheit ist Ehrlichkeit<br />
auch Fremden gegenüber, die er<br />
immer wissen lässt, woran sie<br />
sind. Er kennt keine Klassenunterschiede<br />
– jeder kann sein<br />
Freund werden, das hat er z.B.<br />
den Hamburgern voraus.<br />
Auch den Unfug überlässt er den<br />
Auswärtigen: Das Stadtschloss<br />
will ein Baumarktbesitzer aus<br />
Norddeutschland wieder errichten,<br />
und den rbb, einen der<br />
schlechtesten Sender der ARD,<br />
führt eine Frau aus Heidelberg.<br />
Im Grunde genommen ist und<br />
bleibt er der einzige Weltbürger<br />
der Stadt.<br />
tip 13·12
Foto: Harry Schnitger / tip<br />
2008 • September • tip 21<br />
raF im Kino<br />
Der Ballerfilm „Baader Meinhof Komplex“ versetzt die<br />
Nation in ein schweres trauma. Viele müssen jetzt reden<br />
Die RAF ist immer noch in der<br />
Lage, Schaden anzurichten. Eines<br />
der prominentesten Opfer<br />
im aktuellen deutschen Herbst<br />
ist Frank Schirrmacher. Nach<br />
Sichtung des RAF-Films veröffentlichte<br />
der „FAZ“-Herausgeber<br />
einen Text, der zwischen<br />
Größenwahn und Heulsusigkeit<br />
pendelte. Schirrmacher betrachtete<br />
den Film nämlich als „eine<br />
Befreiung von der Erziehungsdiktatur“,<br />
und man würde schon<br />
gerne wissen, welche Erziehungsdiktatur<br />
gemeint ist und<br />
was sie unterrichtet. Aber<br />
Schirrmacher redet in Zungen.<br />
Überhaupt entwickelte sich in<br />
den Tagen vor dem Kinostart<br />
2008 • September • tip 21<br />
Bonaparte<br />
13·12 tip<br />
Die 2000eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
eine anschwellende Gespensterdebatte.<br />
Reihum fuhren viele<br />
Medien Augenzeugen, Betroffene<br />
und Leibhaftige auf. Der Ex-<br />
Bundesjustizminister Hans-Jochen<br />
Vogel talkte bei „Anne<br />
Will“, der Ex-Innenminister Gerhart<br />
Baum schrieb für die „Zeit“,<br />
der Ex-Terrorist Peter-Jürgen<br />
Boock parlierte mit dem<br />
Deutschlandfunk. Es war wie ein<br />
riesiges Ehemaligentreffen. „Der<br />
Baader Meinhof Komplex“ ist da<br />
lange kein Film mehr, sondern<br />
eine öffentliche Gruppentherapie<br />
mit Millionen von Teilnehmern.<br />
Halb Deutschland ist im<br />
RAF-Trauma, Schirrmacher nur<br />
einer von vielen.<br />
ein kleines Wunder: kritische Musik zum Glücklichsein<br />
Durchatmen, hinsetzen. Noch mal<br />
drüber nachdenken. Nein, wirklich,<br />
Bonaparte sind das nächste<br />
große Ding. Das, worauf die Welt<br />
gewartet hat. Kritische Musik zum<br />
Glücklichsein. Anspruch und Party.<br />
Nicht brav, nicht doof, nicht<br />
hässlich. Dabei macht die „Hedonist<br />
Army“ – wie sie sich auch<br />
bezeichnen – nicht unbedingt<br />
neue Musik, nur bringen sie sie<br />
verdammt glaubwürdig rüber. In<br />
<strong>Berlin</strong>, Europa oder Neuseeland<br />
hat Bonaparte seine Zirkustruppe<br />
überzeugend präsentiert. Wo sie<br />
waren, stand hinterher eine verschwitzte<br />
und weich gerockte<br />
Menge mit Zeilen im Ohr wie „You<br />
know Tolstoi, I know Playboy. You<br />
know too much too much too<br />
much!“, immer noch freudig auf<br />
und ab springend.<br />
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40 JaHre tip 41
42 40 JaHre tip<br />
40 JAHRe TIP • Die 2000eR JAHRe<br />
2009 • September • tip 21<br />
Shalom, <strong>Berlin</strong>!<br />
<strong>Berlin</strong> wird zum Magneten für junge israelis<br />
Junge Israelis erobern das <strong>Berlin</strong>er<br />
Nachtleben. Sie eröffnen<br />
Clubs in alten Lagerhallen, veranstalten<br />
Disco-Nächte in Kellergewölben<br />
und legen Platten<br />
von Grandmaster Flash und<br />
Dschingis Khan auf. Ihre Herkunft<br />
ist dabei zwar stets präsent,<br />
spielt aber oft nur eine<br />
untergeordnete Rolle.<br />
„Ganz ehrlich“, sagt Natalie, als<br />
ihr Romina den Flyer zeigt. „Das<br />
Ganze ist schon ein bisschen<br />
meschugge.“ Rabbinerköpfe fliegen<br />
darauf herum, siebenarmige<br />
Leuchter und Davidsterne – und<br />
das in einer Optik, die man<br />
sonst nur von Werbezetteln für<br />
Großraumdiscos kennt. Der Flyer<br />
kündigt die schwul-jüdische<br />
„Meschugge“-Party an, die ein<br />
wilder Israeli einmal im Monat<br />
im Ackerkeller in Mitte veranstaltet.<br />
Über dem Dancefloor<br />
hängen israelische Flaggen. Aus<br />
den Lautsprechern kommen<br />
Oriental-Sounds, hebräische<br />
Schlager, Electropop und die<br />
größten Grand-Prix-Hits aller<br />
Zeiten. „‚Dschingis Khan‘ ist einer<br />
meiner absoluten Lieblingssongs“,<br />
sagt DJ Jonathan, die<br />
gleichnamige Band sei damit<br />
1979 beim Grand Prix in Jerusalem<br />
angetreten. Auch Modern<br />
Talking gehört zu seinem Repertoire,<br />
„Maria Magdalena“ von<br />
Sandra und „Personal Jesus“ von<br />
Depeche Mode. Der Top-Hit der<br />
Party heißt „Messiah“, eine Klezmerpop-Hymne,<br />
die von der Ankunft<br />
des Erlösers handelt und<br />
alle mitreißt. Etwa ein Drittel<br />
der tanzenden Menge versteht<br />
den hebräischen Text und singt:<br />
„Messiah, Oioioioioi!“ Auch Natalie<br />
und Romina sind nicht<br />
mehr zu bremsen.<br />
Hinter dem DJ hüpft Aviv Netter<br />
auf und ab, der den „Meschugge“-<br />
Abend veranstaltet und heute<br />
Hasenohren trägt. Das Energiebündel<br />
aus Israel freut sich, dass<br />
die Stimmung mal wieder super<br />
ist. „Ich möchte mit meiner Party<br />
die unkoschere Seite Israels<br />
zeigen“, sagt er und erzählt, dass<br />
schon bei seiner ersten Veranstaltung<br />
vor zwei Jahren der Andrang<br />
so groß gewesen sei, dass<br />
die Polizei kommen musste, weil<br />
sich Nachbarn über das Tohuwabohu<br />
vor der Tür beschwert hatten.<br />
Als er vor vier Jahren zum<br />
ersten Mal nach <strong>Berlin</strong> kam, hat<br />
er sich gleich in die Stadt verliebt.<br />
„Kein Vergleich zum Nachtleben<br />
in New York“, sagt der<br />
24-Jährige. Dort lebt seine Familie<br />
heute. Avivs Affinität für die<br />
deutsche Hauptstadt war für sie<br />
ein Skandal. Seine verstorbene<br />
Großmutter, die vor dem Krieg<br />
nach Palästina ausgewandert<br />
war, stammte aus einer Intellektuellenfamilie<br />
in <strong>Berlin</strong>-Mitte, die<br />
fast komplett dem Holocaust<br />
zum Opfer fiel. Für Familie Netter<br />
war Deutschland tabu. „Mein<br />
Vater hat mich für verrückt erklärt,<br />
als ich ihm sagte, dass ich<br />
nach <strong>Berlin</strong> gehen werde“, erzählt<br />
er. Meschugge eben, genau<br />
wie seine Party.<br />
2010 • Juni • tip 13<br />
Neue Mitte<br />
Wird die King Size Bar zum<br />
partykeller der <strong>Berlin</strong>er<br />
republik?<br />
King Size – der Name ist natürlich<br />
ein Witz. Ein Tresen, ein paar<br />
Barhocker, eine Wand, ein<br />
Durchgangsbereich zu den Toiletten,<br />
der sich zu vorgerückter<br />
Stunde in eine Tanzfläche verwandelt.<br />
Der Laden in der Friedrichstraße<br />
112b ist winzig, hinter<br />
den verspiegelten Scheiben verbirgt<br />
sich kaum mehr als ein<br />
Loch in der Wand, und das ist<br />
auch der Grund, warum hier<br />
nicht jeder reinkommt.<br />
Die besten Kontakte helfen nicht<br />
weiter, wenn es drinnen so voll<br />
ist wie in der U-Bahn von Tokio<br />
zur Rush Hour. Und das war seit<br />
der Eröffnung der Bar im Mai<br />
bisher an jedem Wochenende<br />
der Fall.<br />
King Size, so heißt die neue Bar,<br />
für die sich die Grill-Royal-Betreiber<br />
Boris Radczun und Stephan<br />
Landwehr mit dem überaus<br />
umtriebigen Partyveranstalter<br />
Conny Opper zusammengetan<br />
haben. Wenn der Grill Royal<br />
das Wohnzimmer der <strong>Berlin</strong>er<br />
Republik ist, hat die King Size<br />
Bar das Zeug dazu, ihr Partykeller<br />
zu werden.<br />
Auch der Hype um das King Size<br />
wird irgendwann abklingen, und<br />
dann wird eine kleine, tolle Bar<br />
übrig bleiben, in der sich wohl<br />
noch öfter solche Szenen abspielen<br />
werden wie neulich auf<br />
dem Nachhauseweg.<br />
Ein Paar stolpert aus der Bar. Er<br />
stützt sich bei ihr ab. Bleibt stehen,<br />
wankt, kramt in seinen Taschen.<br />
„Scheiße, ich hab mein<br />
ganzes Geld verloren.“ Sie: „Das<br />
hast du nicht verloren, das hast<br />
du da drin versoffen.“<br />
Dass das Geld der beiden nicht<br />
mehr fürs Taxi reicht, ist aber<br />
nicht so schlimm. Die Straßenbahn<br />
hält direkt gegenüber.<br />
Auch nachts.<br />
tip 13·12
2011 • September • tip 21<br />
Lars von trier<br />
Das Filmfestival von Cannes hat Lars von trier wegen<br />
eines Nazi-Scherzes verbannt. im tip-interview spricht er<br />
nun über die Nazi-Franzosen. Scherzhaft natürlich<br />
Sind Sie denn mit zukünftigen<br />
Filmen aus Cannes verbannt?<br />
VON TRIER Ich bin mir nicht sicher.<br />
Ich habe nichts gehört. Das<br />
Problem ist ja auch: Was, wenn<br />
ich mich plötzlich für Schuhe zu<br />
interessieren beginne? Die veranstalten<br />
ja auch andere Messen<br />
im Festivalpalais, eine Schuhmesse<br />
etwa – darf ich mich dann<br />
dort aufhalten?<br />
Niemand will jenseits des Filmfestivals<br />
freiwillig nach Cannes.<br />
Vielleicht. Aber die Theorie interessiert<br />
mich. Die Franzosen. Die<br />
Franzosen sind die echten Nazis.<br />
2011 • März • tip 8<br />
til Schweiger<br />
13·12 tip<br />
Die 2000eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
Nein, das soll ich nicht sagen.<br />
Schneiden Sie das raus. (lacht)<br />
Das habe ich auf Band.<br />
„Die Franzosen sind die echten<br />
Nazis.“ Das ist ein gutes Zitat.<br />
Ja, das ist ein gutes Zitat.<br />
Ja, das finde ich auch.<br />
Autorisieren Sie das ganze Interview?<br />
Oh ja.<br />
Haben Sie etwas gesagt, das Sie<br />
zurücknehmen möchten?<br />
Nein, nein. Bitte.<br />
Danke.<br />
Ich bin sicher, Sie beschützen<br />
mich so gut Sie können.<br />
til Schweiger über die peinlichen-Liste und gute Komödien<br />
In „Zweiohrküken“ gibt es eine<br />
Szene, in der Sie den tip ausführlich<br />
würdigen: Sie überfahren<br />
einen Kiosk, der exklusiv mit<br />
tip-Heften mit dem fiktiven Titel<br />
„Die 40 nervigsten Kritiker“<br />
ausgestattet ist. Im Audiokommentar<br />
auf der DVD sprechen<br />
Sie über das Jahr, in dem Sie<br />
prominent die ganze Stadt geziert<br />
haben, weil wir Sie in unserer<br />
Liste der 100 peinlichsten<br />
<strong>Berlin</strong>er aufgenommen hatten.<br />
Sie machen das mit viel Humor.<br />
SCHWEIGER Das hat mir auch<br />
einen wahnsinnigen Spaß ge-<br />
macht, die Szene zu drehen.<br />
Aber ich würde es nicht noch<br />
mal machen.<br />
Aber nicht, weil Sie uns schonen<br />
wollen?<br />
Nein, weil das ein Insider-Gag<br />
war, der für viele Zuschauer<br />
nicht nachvollziehbar war, die<br />
dann die Szene als unrealistisch<br />
empfanden.<br />
Was ist für Sie der Maßstab für<br />
eine gelungene Komödie?<br />
Wenn ich lache.<br />
Zum Beispiel?<br />
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2011 • Juli • tip 15<br />
Klaus Lemke<br />
„ein Splitter vom paradies“ – der Münchener regisseur<br />
Klaus Lemke hat sich hemmungslos in <strong>Berlin</strong> verliebt<br />
Auf seine alten Tage hat der<br />
Münchener Guerilla-Filmemacher<br />
Klaus Lemke seine Liebe zu<br />
<strong>Berlin</strong> entdeckt. Er sagt, dass<br />
ihm die Stadt so gut gefällt, weil<br />
man hier lernen kann, glücklich<br />
von einer Katastrophe des Lebens<br />
in die nächste zu schreiten.<br />
»Die Bauarbeiter in<br />
den Cafés sehen hier<br />
aus wie Rockstars«<br />
Lassen Sie uns über <strong>Berlin</strong> sprechen.<br />
Vor ein paar Jahren sagten<br />
Sie in einem Interview, <strong>Berlin</strong><br />
sei gar nichts. Neowilhelminischer<br />
Unsinn. Eine Steinwüste.<br />
Was für verwirrte Söhne,<br />
verspannte Töchter. Warum<br />
drehen Sie nun trotzdem hier?<br />
LEMKE Erst mal glaube ich, dass<br />
der Satz mit den Söhnen und<br />
Töchtern immer noch stimmt.<br />
Aber der ist egal. <strong>Berlin</strong> ist die<br />
einzige Stadt, die tatsächlich<br />
ideologiefrei ist. Weder katholisch<br />
wie München noch in der<br />
calvinistischen Ideologie der<br />
Dinge gefangen wie Hamburg.<br />
Jeder hier, der nicht ganz doof<br />
ist, versucht sich ein Stück Boheme<br />
zu erhalten. (...) Für die<br />
meisten Leute sind die 14 Tage,<br />
die sie hier verbringen, die freiesten<br />
ihres Lebens. In dieser<br />
Stadt, die nur aus Lücken besteht.<br />
Man kann in <strong>Berlin</strong> lernen,<br />
glücklich von einer Katastrophe<br />
des Lebens in die nächste zu<br />
schreiten.<br />
Ist es trotzdem nicht etwas seltsam,<br />
dass Sie ausgerechnet<br />
vorm Oberholz gedreht haben,<br />
der <strong>Berlin</strong>er Zentrale der Webkreativen?<br />
Das ist ganz fantastisch mit denen.<br />
Ich kann dort alles machen.<br />
Wir haben davor schon mit Stühlen<br />
geschmissen. Alle, die da<br />
sitzen, wollen zum Film, deswegen<br />
sagen sie nichts.<br />
Gibt es noch andere Gründe,<br />
warum Sie <strong>Berlin</strong> auf einmal ins<br />
Herz geschlossen haben?<br />
Die Straße des 17. Juni mit dem<br />
Sowjetischen Ehrenmal, mit den<br />
Panzern, das ist eindrucksvoll.<br />
Wir sind nächtelang durch die<br />
Stadt gefahren. Du fährst eine<br />
Stunde lang und es ist immer<br />
noch Stadt. Das ist für uns ungewöhnlich.<br />
Oder wenn ich hier<br />
die Bauarbeiter in den süßen,<br />
kleinen billigen Cafés sehe – die<br />
sehen hier aus wie Rockstars.<br />
Was hier alles in der U-Bahn<br />
fährt, in dem Karton, also in dem<br />
Waggon, das ist hier so bunt.<br />
Oder die Wohnungen, die hundertmal<br />
größer sind als das, was<br />
ich mir in München leisten könnte.<br />
Mit dieser Notbeleuchtung,<br />
da hat man fast Angst, vergewaltigt<br />
zu werden in der Ecke.<br />
Das klingt ja wie eine Liebeserklärung.<br />
<strong>Berlin</strong> ist für mich wie ein Splitter<br />
vom Paradies. Ich gehe<br />
manchmal weinend durch die<br />
Straßen, weil ich so viel Glück<br />
habe, das in meinem Alter noch<br />
kennenlernen zu dürfen.<br />
44 40 JaHre tip tip 13·12
Die 2000eR JAHRe • 40 JAHRe TIP<br />
2010 • August • tip 19<br />
Christoph Schlingensief<br />
Christoph Schlingensief starb im august 2010. ein Nachruf<br />
„Es ist so schön, Blödsinn zu machen,<br />
dass einfach nur das Leben<br />
da ist. Ich will, dass diese Krankheit<br />
abhaut, dass sie von der<br />
Erde verschwindet“, hat Christoph<br />
Schlingensief, schon schwer<br />
krank, vor gut einem Jahr in seinem<br />
letzten tip-Interview gesagt,<br />
wütend, verletzt und lebensbejahend,<br />
auch wenn das<br />
Eure<br />
Leben wehtut. Die Ehrlichkeit,<br />
mit der er sich in seinen letzten<br />
Inszenierungen und dem Buch<br />
über seine Krebserkrankung mit<br />
seinem drohenden Sterben auseinandergesetzt<br />
hat, hat vielen<br />
Menschen in ähnlichen Situationen<br />
geholfen. Und vermutlich<br />
jeden, der sich da rauf eingelassen<br />
hat, tief berührt. Christoph<br />
Schlingensief war ein sehr besonderer<br />
Mensch. Sein Mut, seine<br />
Warmherzigkeit, seine ziemlich<br />
radikale Kunst, sein guter<br />
Humor, eine menschliche und<br />
künstlerische Integrität und<br />
Nicht-Korrumpierbarkeit, die<br />
weder durch Erfolg noch durch<br />
Karrierekrisen gefährdet war, die<br />
scheinbar kindliche unverstellte<br />
Unschuld, mit der er sich in seine<br />
Theater-, Kino- und Kunstabenteuer<br />
gestürzt hat, machen ihn<br />
zu einer Ausnahme in einem Kulturbetrieb,<br />
der fast nur aus Profis,<br />
kaum aus Leuten, die aufs<br />
Ganze gehen, zu bestehen<br />
scheint. Deshalb gibt es auch<br />
keinen Widerspruch zwischen<br />
seinen harten Schock-Kunstwerken<br />
und dem letzten Projekt, ein<br />
Festspielhaus für Afrika zu bauen:<br />
Immer ist das Kunstwerk, mit<br />
einem von Beuys geliehenen<br />
Lieblingsausdruck Schlingensiefs,<br />
eine „soziale Plastik“.<br />
Kunst war für Christoph Schlingensief<br />
kein Beruf, sondern eine<br />
Lebensform, die einzig mögliche<br />
Weise, sich in der Welt zu bewegen.<br />
Christoph Schlingensief war<br />
für das Theater, für die Aktionskunst<br />
und erst recht für viele<br />
Menschen, die ihn kannten, das,<br />
was Fassbinder, neben Beuys<br />
wahrscheinlich sein zweites großes<br />
Vorbild, für das deutsche<br />
Kino sein wollte: jemand, nach<br />
dem nichts mehr ist wie davor.<br />
13·12 tip 40 JaHre tip 45
»Die<br />
Rechtschreibreform<br />
ist alternativlos!«<br />
Schöne Grüße andas „<strong>Tip</strong>p“<br />
Direktam<br />
Bahnhof Friedrichstraße<br />
www.distel-berlin.de<br />
Kasse: 2044704<br />
Hoch die Tassen!<br />
Die taz gratuliert zum<br />
40. Geburtstag.<br />
www.taz.de<br />
40 JAHRe TIP • Die 2000eR JAHRe<br />
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HERZLICHEN<br />
GLÜCKWUNSCH<br />
TIP BERLIN!<br />
Wir sagen DANKE und<br />
freuen uns auf die<br />
weitere Zusammenarbeit.<br />
Sie zahlen das teurere u. erhalten ein weiteres<br />
Hauptgericht bis max. 8 gratis dazu.<br />
ü<br />
abspann<br />
Wir danken herzlich den autoren, aus deren texte wir auf<br />
den vorangegangenen Seiten zitiert haben ...<br />
Bernd Albrecht (7), Wolfgang Altmann (42), Joel Amaretto (28), Helmut Blecher (6),<br />
Michael Böhm (17), Nick Cave (20), Rudolph Dolezal (20), Wolf Donner (28), Ottavio<br />
endrizzi (7), eraserhead (22), Laura ewert (41), Jörg Fauser (20), Monika Frey (8), Oliver<br />
Gehrs (40), Wolfgang Gersch (25), Fiesta Gitana (6), Barry Graves (14, 22), Hans Jürgen<br />
Günther (16), iris Hahnemann (7), Brigitte Herdlitschke (26), Karl Hermann (36, 37),<br />
Alfred Holighaus (27), Bärbel Jäschke (9), Julia Johannsen (36), Wladimir Kaminer (33),<br />
Knud Kohr (33), Peter Lauderbach (31, 32, 35, 38, 39, 45), Olaf Leitner (15, 16), Dimitri<br />
Leningrad (18), Stephen Locke (12), Lutz Manthe (9), Werner Mathes (11, 12, 13, 17),<br />
Rebecca Menzel (40), Katrin Bettina Müller (29), Wolfgang Neuss (23), Sassan Niasseri<br />
(38), Katja Nicodemus (34), Beate Ostermann (26), Hans-Ulrich Pönack (14, 16), Qpferdach<br />
(26, 32, 37), Carola Rönneburg (27), Hans-Georg Sausse (18), Rüdiger Schaper (21,<br />
22, 30, 32), Michaela Schlagenwerth (35), Barbara Schnurle (15), eberhard Seidel-Pielen<br />
(27), Andre Simonoviescz (8), Stief (6), Johnnie Stieler (32), Kaus Stemmler (4), Nicolas<br />
Sustr (44), Christoph Terhechte (29), Sascha Rettig (39), Klaus Vogt (30), Thomas<br />
Weiland (38), Heiko Zwirner (42, 43)<br />
... und den Kolleginnen und Kollegen aus 40 Jahren:<br />
Jackie A.<br />
Stefan Abtmeyer<br />
Karin Aderholt<br />
Bernd Albrecht<br />
Betty Amrhein<br />
eva Apraku<br />
Bettina Baumgartl<br />
Jens Berger<br />
Thomas Behrendt<br />
Anna Blancke<br />
Helmut Blecher<br />
Robert Bleyl<br />
Karim Bouchouchi<br />
Bernhard Braith<br />
iris Braun<br />
Wolfgang Brenner<br />
Christian Bug<br />
Dietmar Bührer<br />
Oliver Burghard<br />
Heiner Deja<br />
Wolfgang Doebeling<br />
Olga-Louise Dommel<br />
Wolf Donner<br />
Joachim Düring<br />
Johannes Duringer<br />
eugen egner<br />
Friedrich eckelt<br />
Laura ewert<br />
Katrin Falkenberg<br />
Jörg Fauser<br />
Sandra Feldt<br />
Michael Z. Fischer<br />
Monika Frey<br />
Uwe Gaschler<br />
Oliver Gehrs<br />
Fred & Günther<br />
Britta Geithe<br />
Smetty Gensch<br />
Petra Grimm<br />
Constanze Groß<br />
Dirk Grünheit<br />
Volker Gunske<br />
Hans-Jürgen Günther<br />
Doja Hacker<br />
iris Hahnemann<br />
Claudia Harder<br />
erik Heier<br />
Christine Heise<br />
elke Hemmen<br />
André C. Hercher<br />
Karl Hermann<br />
eva-Maria Hilker<br />
Birgit Hoffmann<br />
Bodo Hoffmann<br />
Alfred Holighaus<br />
Amelie Holtfreter-Glienke<br />
Peter W. Jansen<br />
Axel Jacobi<br />
ilka Jänicke<br />
Bärbel Jäschke<br />
Silke „Jenny“ Jentzsch<br />
Renate Junge<br />
Sebastian Kasper<br />
Heike Keil<br />
Stefan Klaasen<br />
Andrea Kloidt<br />
Brigitta Kock<br />
Konstanze Köhler<br />
Gabriele König<br />
Heike Korge<br />
Ulrike Kowalski<br />
Christiane Lang<br />
Martin Lang<br />
Michael Langenstein<br />
Peter Laudenbach<br />
Stephan Lehmann<br />
Martina Leykamm<br />
Olaf Leitner<br />
Hagen Liebing<br />
Marcus Liesenfeld<br />
Stephen Locke<br />
Dorit Loock<br />
Reszö Markovicz<br />
Julia Martineck<br />
Werner Mathes<br />
Matthias Matussek<br />
Bernd Maywald<br />
Jürgen Meurer<br />
Norbert Michalke<br />
Wiebke Mieder<br />
Cristina Moles Kaupp<br />
Natalie Moritz<br />
Lillian Mousli<br />
Svjetlana Mur<br />
Werner „Hase“ Müsch<br />
Betty Myller<br />
erik Neumann<br />
Sönke Lars Neuwöhner<br />
Sassan Niasseri<br />
Katja Nicodemus<br />
Ruth Nicolay<br />
Thomas Nöske<br />
Roland Oelfke<br />
OL<br />
Beate Ostermann<br />
Michael Ostermann<br />
Jürgen Otte<br />
Roland Owsnitzki<br />
Daniel Papra<br />
Winfried Passilewicz<br />
Lars Penning<br />
Gert Pflüger<br />
Angelika Philipp<br />
Svea Pietschmann<br />
Bernd Pohlenz<br />
Hans-Ulrich Pönack<br />
Sven Poser<br />
Benjamin Pritzkuleit<br />
Alfons Puke<br />
Qpferdach<br />
Jim Rakete<br />
Rattelschneck<br />
Babette Rautenberg<br />
Bert Rebhandl<br />
Regina Reddig<br />
Petra Reiche<br />
Gertraud Richter<br />
Riesenmaschine<br />
Carola Rönneburg<br />
Andreas Rost<br />
Thea Sahm<br />
Bernd Sauer-Diete<br />
Hans-Georg Sausse<br />
Rüdiger Schaper<br />
Christian Scharff<br />
Susan Schiedlofsky<br />
Heike Schmidbauer<br />
edeltraud Schmidt<br />
Kai Schmidt<br />
Sandra Schmidt<br />
Harry Schnitger<br />
Denise Schöwig<br />
Rainer Schulz<br />
Anne Schuster<br />
ingo Schütte<br />
Mike Schüttler<br />
Kornelia Schwarz<br />
Christine Seibold<br />
Guido Sieber<br />
Andre Simonoviescz<br />
elena Skobalj<br />
Thomas Skorloff<br />
Jacek Slaski<br />
Dana Sohrmann<br />
Frank Sperling<br />
Anita Staud<br />
Klaus Stemmler<br />
Carola Stoiber<br />
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Holger Stück<br />
Christoph Terhechte<br />
Astrid Tetzel<br />
Dirk Teuber<br />
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Sylvia Troschke<br />
Susanne Vahl<br />
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