Gerhard Schoof - Stadtmission Kiel
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10 Jahre Tako - Rede<br />
„Ich sing für die Verrückten, die seitlich umgeknickten, die eines Tags nach vorne fallen und<br />
unbemerkt von allen an ihrem Tisch in Küchen sitzen und keiner Weltanschauung nützen, die<br />
tagelang durch Städte streifen und die Geschichte nicht begreifen …“<br />
So beginnt ein Lied oder ein Gedicht von Hanns-Dieter Hüsch, überschrieben „Für wen ich<br />
singe“<br />
Ich erinnere mich – verehrte Anwesende - in einer schon länger zurückliegenden<br />
Supervisions-Team-Sitzung hatten wir zu Beginn die Aufgabe, jeder möge doch für sich<br />
einmal schriftlich festhalten, mit wem wir es in unserer Einrichtung eigentlich zu tun haben,<br />
welche Menschen wir mit unserer Arbeit ansprechen und erreichen wollen. Am Schluss<br />
meiner reichlich umfangreich ausgefallen Zusammenstellung war ich doch halbwegs<br />
erschrocken über das Ergebnis. Da war das ganze Spektrum menschlicher Existenz<br />
zusammen von A wie armes Würstchen bis Z wie Zauberkünstler, aber eben auch diese Verrückten,<br />
aus der Spur Geratenen, Grenzgänger, Vergessenen, Übriggebliebenen.<br />
Da haben wir doch tatsächlich was geschafft. Und zwar innerhalb kürzester Zeit von einem<br />
Stadtteil- und Szenetreff der sogenannten Armutsbevölkerung in den 90er Jahren in der<br />
alten Tageswohnung zu einem omnipotenten Anlaufpunkt der ganzen sozialen Vielfalt,<br />
Buntheit, aber auch des sozialen Elends zu mutieren. Haupteinflugschneisen Innenstadt,<br />
Hauptbahnhof und Schützenpark und Umgebung.<br />
Dabei haben wir in einem ersten Statement im November 2001 doch noch nüchtern, fachlich<br />
korrekt und bescheiden formuliert: (ich zitiere) „unsere Einrichtung versteht sich als<br />
christliches Bündnis gegen Wohnungslosigkeit und ist als solche nach wie vor Lobby für<br />
Menschen (Männer und Frauen), die sich in besonderen sozialen Schwierigkeiten befinden<br />
und von sozialer Not und Ausgrenzung betroffen sind.“<br />
Und in einem unser allerersten Konzepte findet sich tatsächlich der Arbeitsauftrag:<br />
Stabilisierung von Lebenslagen. Will heißen – eine unserer karitativen und pädagogischen<br />
Aufgaben besteht darin, der rapiden Verschlechterung von Lebenslagen unserer<br />
Besucherinnen und Besucher entgegenzuwirken. Hört sich gut an, oder? Können wir,<br />
konnten wir so etwas tatsächlich leisten?<br />
Längst haben wir es nicht nur mehr mit sich verschlechternden Lebenslagen zu tun, mit<br />
Menschen, die sich im Sinkflug befinden.<br />
Was oder wer uns heute vielmehr beschäftigt, das sind die bereits unten Angekommenen,<br />
die Ganz Fertigen, die Durchgereichten, die Ausgeschlossenen, die die moderne Soziologie<br />
Exkludierte nennt. Für sie gilt der Grundsatz Leistung gegen Teilhabe nicht mehr. Was sie<br />
können braucht keiner mehr, was sie denken, schätzt keiner und was sie fühlen, kümmert<br />
kaum jemanden. Und diese Gruppe der Ausgeschlossenen und Abgeschobenen, auch der aus<br />
den osteuropäischen Nachbarländern wächst unaufhörlich, das erleben wir hier tagtäglich.
Sie wächst im Gefolge einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der es keine sogenannten<br />
einfachen Arbeitsplätze mehr gibt, weil andere, dienstleistungsorientierte Facharbeit gefragt<br />
ist und zwar als Normalfall. Was für die Ausgeschlossenen als Arbeit übrigbleibt, kann dann<br />
auch noch fremd vergeben werden, neudeutsch outgesourct , ausgelagert werden.<br />
Und dann sind da noch die völlig unglückseligen Existenzen, die Therapieresistenten,<br />
Verwirrten, Irrläufer, die es in keine Psychiatrie hält und die Vielfachabhängigen, die aus<br />
dem geschlossenen Kreislauf von Prekariatskarrieren nicht mehr herauskommen.<br />
Können wir unter diesen sozialen Umständen überhaupt etwas Sinnvolles, Sinnstiftendes<br />
tun? Ist es nicht völlige Sysyphus-Arbeit, an, wie wir es früher nannten, Symptomen herum<br />
zu kurieren. Meine Generation Sozialpädagogen der 80er Jahre war mit aller Ernsthaftigkeit<br />
angetreten, die Gesellschaft zu verändern, d.h. Strukturen zu verändern, kaputtmachende<br />
Strukturen, wie wir es nannten, soziale Strukturen.<br />
Was können wir z.B. den Dauerkunden der Bundesagentur für Arbeit sagen und bieten, die<br />
in einer Maßnahmenkarriere verloren gegangen sind? Sie haben das Meiste an Mut und<br />
Selbstsicherheit verloren und müssen vielleicht registrieren – auf mich kommt es nicht mehr<br />
an. Was sagen wir den alten Leuten, die sich verschämt in ihre 1 ½-Zimmerwohnung<br />
zurückgezogen haben und unseren Mittagstisch irgendwann als kommunikativen<br />
Tageshöhepunkt entdeckt haben?<br />
Um es gleich klar zu stellen: wir werden die Welt nicht verändern. Wir werden und können<br />
die soziale Arbeit nicht neu erfinden. Unser Helfersyndrom, wenn es dann je eins gab, haben<br />
wir längst erkannt und abgearbeitet. Wir können in den seltensten Fällen wirklich retten.<br />
Unsere Mittel, Möglichkeiten und Ressourcen sind bescheiden. Das ist, das muss auch ganz<br />
bitter festgestellt werden, teilweise politisch so gewollt.<br />
Aber: Wir haben etwas zu bieten. Und das ist nicht wenig. Wir bieten uns an. Wir sind offen.<br />
Wir sind ein offenes Angebot. Im Namenszug unserer Einrichtung finden sich daher nicht<br />
ohne Grund die Worte Treff und Kontakt wieder. Im Vordergrund unseres Angebotes steht<br />
die Bemühung um Herstellung von wechselseitiger menschlicher Begegnung inmitten von<br />
Verarmung, in mitten prekärer Verhältnisse.<br />
Nicht das kontrollierbare zielgerichtete Tun ist zunächst unsere Aufgabe, sondern vielmehr<br />
das Sein, das Da-Sein für die Menschen, die uns aufsuchen. Der Kontakt im Hier und Jetzt.<br />
Der vermittelnde Kontakt. Der wertschätzende Kontakt. Dabei fragen wir möglichst nicht,<br />
was ist aus dir geworden und was soll bloß aus dir noch werden, sondern nehmen uns<br />
zunächst zurück und lassen sein. Dazu gehört auch, dass wir lernen müssen, zu erkennen, wo<br />
wir zu aufdringlich mit unserem Anerbieten von Hilfe sind und vielleicht die Würde des<br />
Gegenübers verletzen. Es gilt ständig, Interventionsgrenzen auszuloten und immer wieder<br />
neu zu justieren. Manches ist da schon mal schwer auszuhalten, nicht wirklich helfen zu<br />
können z.B. denn es gibt sie, die absolute Therapieresistenz. Und wohlgemerkt: jeder<br />
Mensch hat letztlich das Recht auf individuelle Verwahrlosung.
Dann gibt es auch Verblüffendes. Ich erinnere mich an Erich, ein Hardcore-Plattemacher,<br />
der, überhaupt schon ziemlich hinfällig, eines Tages für mehrere Tage völlig wegblieb, von<br />
uns vergebens gesucht und eigentlich schon aufgegeben wurde. Der stand dann plötzlich<br />
wieder recht munter vor mir und meinte, „och, ich habe mir mal Urlaub genommen“.<br />
Und es gibt sie, die Erfolgsgeschichten. Die Geschichte von M., der sich selbst fast<br />
aufgegeben hatte und jetzt schon seit Jahren fast konstituierender Bestandteil des Haus am<br />
Park ist. Den haben wir sozusagen im letzten Moment von der Platte gekratzt, im wahrsten<br />
Sinne des Wortes aus der Sch … geholt, mit Hilfe von Manuela Avevor, unserer damaligen<br />
Ärztin mit Lebensnotwendigem versorgt und in einer konzertierten Aktion alles<br />
Weiterführende geregelt, wobei die schwierigste Hürde, man höre und staune, die<br />
Besorgung eines neuen Personalausweises war. Behördenangst war hier das Hemmnis.<br />
Überhaupt Behördenangst: das steht bei vielen Besucherinnen als Synonym für „alles über<br />
sich hereinbrechen lassen“. Am Anfang stehen, wenn überhaupt vorhanden, der volle<br />
Briefkasten, die nicht geöffneten und gestapelten Briefe der Inkassofirmen, der Arge und<br />
und … Und irgendwann ist es dann fast zu spät. Wir kennen diese Geschichten nur zu gut.<br />
Wir kennen die Erfolgsgeschichte der Zusammenarbeit mit unserem Berufsbetreuer Thomas<br />
May-Rötschke, der uns sehr zugetan ist und in unserer Einrichtung sozusagen die<br />
querulantesten und aussichtslosesten Fälle an Ort und Stelle rekrutiert und in die Spur<br />
bringt. Er darf mit Fug und Recht behaupten, dass er bereits mehrere Menschen von der<br />
Straße geholt hat.<br />
Wir kennen die Erfolgsgeschichten der Arbeit unseres überaus engagierten Zahnarztes<br />
Lindemann, der seit letztem Jahr einmal die Woche seine Dienste unentgeltlich bei uns<br />
anbietet. Wir haben es mit eigenen Augen gesehen: aus unhaltbaren Ruinen und<br />
Trümmergrundstücken wurden blühende Landschaften, im Munde einiger Besucher.<br />
Überhaupt die ärztliche Grundversorgung für, sagen wir mal nicht allgemeinarztpraxiskompatible<br />
Menschen ist eine der Erfolgsgeschichten, so alt wie die Einrichtung selbst.<br />
Das Engagement unseres Arztes Jürgen Lund geht weit über die medizinische Versorgung<br />
hinaus. Es gibt nicht wenige Stammpatienten, die die wöchentliche Sprechstunde nutzen, ein<br />
offenes Ohr für alle möglichen und unmöglichen Probleme zu finden. Und es vergeht kein<br />
Dienstag, ohne dass die Sprechstundenzeiten überzogen werden.<br />
Allen zuletzt Genannten an dieser Stelle schon einmal unsern allerherzlichsten Dank für ihre<br />
wunderbare und bewundernswerte Arbeit.<br />
Wir kennen auch die weniger spektakulären und stillen Erfolgsgeschichten, die uns dann<br />
sehr anrühren und auch schon mal sprachlos machen. Es gibt viele aufzuzählen und sie<br />
erschließen sich meistens dann, wenn man genau hinhört. So die z.B. fast lapidar<br />
hingeworfene Bemerkung eines eher jungen, seit geraumer Zeit um berufliche Perspektiven<br />
ringenden Mannes. „das Einzige, was mich in <strong>Kiel</strong> noch hält, ist … und das seid Ihr“ ich muss<br />
gestehen, das hat mich ein wenig stolz gemacht.
Stolz sind wir auch auf unsere Urnen-Gemeinschaftsgrabstelle. Die haben wir auf dem<br />
Südfriedhof eingerichtet, weil wir es nicht mehr ertragen konnten, dass Verstorbene ohne<br />
Angehörige, die wir ein letztes Stück ihres Lebens begleitet haben quasi zwischen<br />
Pausenbrot und nächster ordentlicher Beisetzung anonym verbuddelt wurden. Jeder<br />
Mensch hat das Recht auf einen würdigen Abschied. Und ich habe bei den nunmehr schon<br />
zahlreichen Begräbnissen gelernt, das Wort Würde mit anderen Augen zu sehen. So z.B. bei<br />
der wohl wildesten miterlebten Beisetzung, als der vermeintlich hartgesottenste Bagalut<br />
unserer Pastorin Schulze-Spiekermann das Wort aus dem Munde nahm: „Ich möchte das<br />
Vaterunser sprechen“ Er tat es dann auch, eindringlich, ohne den geringsten Aussetzer.<br />
Ich glaube, die 10 Jahre unseres Hierseins, die 10 Jahre Kompaktangebot Schaßstr. im<br />
solidarischen Verbund mit Hempels und Mittagstisch Manna haben uns unverwechselbar<br />
gemacht. Was unser Selbstverständnis, unsere Ausstrahlung angeht, sind wir von anfangs<br />
wilden Fahrwassern in ruhiger fließende Gewässer geraten. Das war ein langer, manchmal<br />
aufreibender Prozess, der auch viel Kraft gekostet hat und nicht ohne Blessuren vonstatten<br />
ging. Das jetzt im Einzelnen auszuführen, würde jetzt den Rahmen dieser Veranstaltung<br />
sprengen.<br />
Herzlich danken möchte ich den Menschen, ich werde sie jetzt nicht alle aufzählen, die mit<br />
uns und bei uns gearbeitet haben und jetzt arbeiten, angefangen bei A wie Amos über F wie<br />
Fachstelle, G wie Geschäftsstelle bis Z wie ZBS.<br />
Ebenso herzlich danke ich denen, die uns die ganzen Jahre unterstützt und solidarischkritisch<br />
begleitet haben, mit denen uns fachlich ausgetauscht und kooperiert haben. Ich<br />
danke auch denjenigen in unserer Umgebung, die uns gewissermaßen ertragen mussten. Ich<br />
denke hier ganz besonders an unsere Hauswirte Herrn Zubke und Frau Friebe, mit denen wir<br />
unter einem Dach leben und die uns in bewundernswerter Weise gewogen sind. Das kann<br />
nicht genug gewürdigt werden.<br />
Denken möchte ich an dieser Stelle auch ganz besonders an unseren 2005 viel zu früh<br />
verstorbenen lieben Kollegen Jürgen Knutzen.<br />
Nach-Denken, Nachzudenken gibt es noch so Einiges. Gerade jetzt, in Zeiten, wo Diakonie<br />
aus ihrem alt-ehrwürdigen Dienst-Ethos schlüpft und scheinbar zu schlanken und streitbaren<br />
Service-Unternehmen … soll ich sagen verkommt!? Auf jeden Fall müssen wir uns so oder so<br />
dieser Entwicklung stellen, den kompetenten Finger heben uns mit unseren Fähigkeiten und<br />
– ich betone es mit Nachdruck - christlichen Qualitäten bemerkbar machen und definieren,<br />
was wir außer betriebswirtschaftlichem Denken pur noch zu bieten haben. Oder etwa nicht?<br />
Über unserer Konzeption steht ein Wort des Theologen Helmut Gollwitzer:<br />
„Das Evangelium weist mich an, die Gesellschaft von ihrem untersten Ort her, von daher, wo<br />
die Benachteiligten aller Art stehen, zu sehen und deshalb zu verändern“<br />
So soll es sein … <strong>Gerhard</strong> <strong>Schoof</strong>