03.04.2013 Aufrufe

werden Sie sich eines Tages allein im Rollstuhl fortbewegen können

werden Sie sich eines Tages allein im Rollstuhl fortbewegen können

werden Sie sich eines Tages allein im Rollstuhl fortbewegen können

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

44<br />

SPORT<br />

„… vielleicht<br />

<strong>werden</strong> <strong>Sie</strong> <strong>sich</strong> <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> <strong>allein</strong> <strong>im</strong> <strong>Rollstuhl</strong><br />

<strong>fortbewegen</strong> <strong>können</strong> …!“<br />

Es dauerte nur den Bruchteil<br />

einer Sekunde – und aus einer<br />

unbeschwerten Skifahrt wurde<br />

der Kampf ums Überleben. Es<br />

geschah am 4. November 1979.<br />

An einem wunderschönen, sonnigen<br />

Wintertag.<br />

4. November 1979 in den Schweizer Alpen Erstversorgung nach dem Unfall<br />

Am Corvatsch in den Schweizer Alpen trainierte<br />

ich eine Gruppe von Ski-Übungsleitern.<br />

Ich befuhr gerade eine schmale Passage,<br />

als ein Skipisten-Rüpel in hohem Tempo von<br />

hinten gegen mich prallte. Ich rutschte ab und<br />

stürzte. In freiem Fall fi el ich endlose 14 Meter in<br />

die Tiefe. Mit dem Rücken schlug ich auf einem<br />

harten Schneefeld auf. Ich war bei vollem Bewusstsein.<br />

Ich lebe, war mein erster Gedanke. Aber würde<br />

ich überleben? Ich konnte nicht aufstehen, meine<br />

Beine nicht bewegen. Meine Gedanken begannen<br />

zu rasen. Ich musste ins Krankenhaus. Schnell!<br />

Barrierefrei – das Magazin<br />

Sofort! Eine Operation würde mich retten! Alles<br />

würde wieder gut <strong>werden</strong>. Ganz <strong>sich</strong>er? Vielleicht!<br />

Aber ich lebte!<br />

Zwölf Stunden später erwachte ich <strong>im</strong> Krankenhaus<br />

in Basel aus der Narkose. Ein Neurologe stand<br />

an meinem Bett und testete meine Sensibilität am<br />

ganzen Körper. Alles würde wieder gut <strong>werden</strong>!<br />

Oder nicht? Er schaute mich nachdenklich an und<br />

schwieg. Nach einer Ewigkeit sagte er: „<strong>Sie</strong> haben<br />

<strong>sich</strong> bei Ihrem Sturz drei Brustwirbel zerschmettert<br />

und das Rückenmark verletzt. <strong>Sie</strong> <strong>werden</strong> künft ig<br />

nicht mehr …“ ▶


Er redete und redete. Von Dingen, die ich nicht<br />

mehr würde tun <strong>können</strong>. Das alles machte doch<br />

keinen Sinn. Das, worüber er redete, war doch nicht<br />

mein Leben. Ich war 41 und das Leben, das vor mir<br />

lag, sah ganz anders aus.<br />

„… aber so sportlich wie <strong>Sie</strong> sind, <strong>werden</strong> <strong>Sie</strong><br />

<strong>sich</strong> vielleicht <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> <strong>allein</strong> in einem <strong>Rollstuhl</strong><br />

<strong>fortbewegen</strong> <strong>können</strong>. Haben <strong>Sie</strong> noch eine<br />

Frage?“<br />

Fragen? Mir schossen die Tränen ins Ge<strong>sich</strong>t.<br />

Meine Gedanken überschlugen <strong>sich</strong>. Wollte ich so<br />

weiterleben? Ständig auf fremde Hilfe angewiesen<br />

sein? Nie wieder <strong>im</strong> eigenen Segelboot den Kampf<br />

gegen Wind und Wellen aufnehmen? Kinder in der<br />

Segler-Jugendgruppe betreuen? Übermütig durch<br />

Pulverschnee pfl ügen? Tennis spielen? Auto fahren?<br />

Nie mehr? Nie wieder?<br />

War es das, was ich von meinem Leben noch zu<br />

erwarten hatte: … <strong>sich</strong> vielleicht <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> <strong>allein</strong><br />

in einem <strong>Rollstuhl</strong> <strong>fortbewegen</strong> <strong>können</strong> …?<br />

Nein! So wollte und konnte ich nicht weiterleben.<br />

Verzweifelt riss ich alle Schläuche und Kabel<br />

von mir ab. In der diff usen Traumwelt, in die ich<br />

danach – von Medikamenten benebelt – tagelang<br />

abtauchte, wechselten <strong>sich</strong> schöne und qualvolle<br />

Träume ab. Irgendwann drang die St<strong>im</strong>me m<strong>eines</strong><br />

Zwillingsbruders Roderich zu mir vor: „Komm<br />

Junge, Du darfst uns jetzt nicht <strong>im</strong> Stich lassen! Du<br />

musst stark sein, Du musst kämpfen! Dina, Th ese<br />

und ich brauchen Dich …!“<br />

Wovon redete mein Bruder? Dass er, meine<br />

Tochter und meine Frau mich brauchten? Ausgerechnet<br />

mich? Den Paraplegiker, der <strong>sich</strong> mit viel<br />

Glück vielleicht <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong> <strong>allein</strong> in einem <strong>Rollstuhl</strong><br />

würde <strong>fortbewegen</strong> <strong>können</strong> …?<br />

Das Einzige, was ich damals <strong>im</strong> Überfl uss hatte, war<br />

Zeit. Endlos viel Zeit. Um mich mit mir und meinem<br />

neuen Leben auseinanderzusetzen. Irgendwann<br />

war er wieder da – der alte Kampfgeist! Er<br />

sagte mir, dass ich nicht überlebt hatte, um aufzugeben.<br />

Ich hatte überlebt, um zu leben. Um mir mein<br />

neues Leben zu erkämpfen. Stück für Stück.<br />

Wenige Wochen nach meinem Unfall begann<br />

ich in der Reha <strong>im</strong> Unfallkrankenhaus Boberg mit<br />

Physiotherapie und Sport. Ich trainierte systematisch<br />

und intensiv. Oft bis zur totalen Erschöpfung.<br />

Irgendwann war er<br />

wieder da – der alte<br />

Kampfgeist! Er sagte mir,<br />

dass ich nicht überlebt<br />

hatte, um aufzugeben.<br />

Ich hatte überlebt,<br />

um zu leben.<br />

SPORT<br />

Denn ich würde das „Vielleicht“ des Arztes zur<br />

Gewissheit <strong>werden</strong> lassen. Ich war von der Hüft e an<br />

abwärts gelähmt. Und: Ich würde mich <strong>eines</strong> <strong>Tages</strong><br />

<strong>allein</strong> in einem <strong>Rollstuhl</strong> <strong>fortbewegen</strong>!<br />

Der Erfolg kam in kleinen, oft klitzekleinen<br />

Schritten. In meinem früheren Leben hätte ich sie<br />

wahrscheinlich gar nicht zu würdigen gewusst. Jetzt<br />

waren es hart erkämpft e <strong>Sie</strong>ge. Die mich auf eine<br />

ganz neue Art stolz und glücklich machten. Wie ein<br />

kl<strong>eines</strong> Kind lernte ich alles neu. Mich anzuziehen.<br />

Mich zu waschen. ▶<br />

Barrierefrei – das Magazin<br />

45


46<br />

SPORT<br />

Nach Jahren ging<br />

schließlich sogar mein<br />

ganz großer Traum,<br />

mit dem eigenen Boot<br />

wieder auf dem Wasser<br />

zu sein, in Erfüllung.<br />

Mein Ehrgeiz war grenzenlos! Schon bald stand<br />

„Vielleicht“ nicht mehr zur Diskussion. Ich spielte<br />

wieder Tischtennis, Tennis und Basketball. Nach<br />

den Sommerferien nahm ich meine Arbeit als Studienrat<br />

an meiner alten Schule wieder auf. Ich fuhr<br />

<strong>allein</strong> <strong>im</strong> Auto, trainierte Kinder und jugendliche<br />

Segler und nahm als Sportschütze an vier Paralympics<br />

teil. Allein! Mit dem <strong>Rollstuhl</strong>!<br />

Nach Jahren ging schließlich sogar mein ganz<br />

großer Traum, mit dem eigenen Boot wieder auf<br />

dem Wasser zu sein, in Erfüllung. Seit knapp zehn<br />

Jahren segeln meine zweite Frau Petra und ich<br />

gemeinsam durch die wunderschöne Inselwelt der<br />

dänischen Südsee.<br />

Seit meinem Unfall sind viele, viele Jahre vergangen.<br />

Jahre, in denen ich mehr erleben durft e als<br />

viele meiner nicht behinderten Freunde. Ich habe<br />

Barrierefrei – das Magazin<br />

nie bereut, dass ich vor mehr als 30 Jahren mein<br />

neues Leben als Herausforderung angenommen<br />

habe.<br />

Seit sieben Jahren muss ich mich durch eine<br />

Krebserkrankung einer noch härteren Herausforderung<br />

stellen. Ich freue mich auf jeden neuen Tag<br />

und auf jeden neuen Segelsommer. Und darauf,<br />

dass ich mich auch in Zukunft <strong>allein</strong> in einem <strong>Rollstuhl</strong><br />

fortbewege! Solange ich es erleben darf.<br />

Dipl.-Ing. Leonhard Felsberg,<br />

Oberstudienrat a. D.<br />

Fortsetzung auf der nächsten Seite


Gegen den WIND<br />

Als mein großer Traum, wieder mit einem<br />

eigenen Boot auf dem Wasser zu sein, in<br />

greifb are Nähe rückte, mussten wegen meiner<br />

Paraplegie schon bei der Auswahl des Bootes<br />

einige Voraussetzungen erfüllt sein.<br />

Die Wahl fi el auf den kleinen dänischen Motorsegler<br />

LM 24 mit einem 20 PS- Einbaudieselmotor,<br />

70 l Kraft stofft ank, Standheizung, Warmwasserboiler,<br />

70 l Frischwassertank, Kühlbox und einer kompletten<br />

Pantry.<br />

Unter Deck wurde der Tisch entfernt und der<br />

Platz zwischen den beiden Längskojen mit<br />

einer Tischlerplatte ausgeglichen. Auf einer<br />

maßgenau zugeschnittenen Bettmatratze<br />

schlafe ich so komfortabel wie <strong>im</strong> he<strong>im</strong>ischen<br />

Schlafz<strong>im</strong>mer.<br />

Im Hafen sitzen wir bei gutem Wetter ohnehin am<br />

Esstisch <strong>im</strong> Cockpit, bei schlechtem Wetter wird die<br />

„Kuchenbude“ (Cockpit-Persenning) heruntergeklappt.<br />

So genieße ich trocken und warm den guten<br />

Überblick auf mein privates „Hafenkino“.<br />

Für den Transfer vom Cockpit unter Deck<br />

benutze ich den <strong>Rollstuhl</strong>. Bei den zwei Stufen, die<br />

hierbei zu überwinden sind, ist meine Ehefrau Petra<br />

– wie eigentlich überall an Bord und <strong>im</strong> Hafen –<br />

mein helfender Engel.<br />

SPORT<br />

Hier noch einige Tipps für „Rolli-Segler“<br />

Betreiben <strong>Sie</strong> diesen Sport nur, wenn Ihr Partner<br />

bzw. Ihre Partnerin Ihre Leidenschaft teilt und<br />

eine entsprechende Qualifi kation (Sportbootführerschein/Segelschein)<br />

besitzt.<br />

Es lohnt <strong>sich</strong>, nicht nur den sportlichen Erfolg<br />

als Regattasegler ins Visier zu nehmen, sondern<br />

auch die täglichen Freuden des Tourensegelns.<br />

Ein Hafen mit Schw<strong>im</strong>mpontons hat den Vorteil,<br />

dass der Höhenunterschied zwischen Ponton<br />

und Boot <strong>im</strong>mer gleich bleibt.<br />

Um den Transfer vom <strong>Rollstuhl</strong> ins Boot mithilfe<br />

des Großbaums zu erleichtern, sollte der Liegeplatz<br />

des Bootes längsseits am Ponton sein.<br />

Eine Strickleiter, die am Ende des Großbaumes<br />

eingepickt wird, erleichtert be<strong>im</strong> Übersetzen das<br />

Ausgleichen <strong>eines</strong> Höhenunterschieds zwischen<br />

<strong>Rollstuhl</strong> und Ponton.<br />

Der Großbaum sollte länger als das Ruderhaus<br />

bzw. die Sprayhood sein, damit man be<strong>im</strong> Absetzen<br />

weit genug ins Cockpit gelangt.<br />

Das Boot sollte vor dem Übersetzen dicht an<br />

den Schw<strong>im</strong>mponton herangezogen und fi xiert<br />

<strong>werden</strong>.<br />

Vor dem Transfer aus dem Boot sollte der Rolli<br />

so platziert <strong>werden</strong>, dass die Bettleiter direkt über<br />

der Rückenlehne des <strong>Rollstuhl</strong>s hängt.<br />

Viel Freude be<strong>im</strong> Segeln!<br />

Leo Felsberg, August 2011<br />

Barrierefrei – das Magazin<br />

47

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!