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A. Rubel: Stadt in Angst Rubel, Alexander: Stadt in Angst. Religion ...

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A. <strong>Rubel</strong>: <strong>Stadt</strong> <strong>in</strong> <strong>Angst</strong><br />

<strong>Rubel</strong>, <strong>Alexander</strong>: <strong>Stadt</strong> <strong>in</strong> <strong>Angst</strong>. <strong>Religion</strong> und<br />

Politik <strong>in</strong> Athen während des Peloponnesischen<br />

Krieges. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft<br />

2000. ISBN: 3-534-15206-9; 413 S.<br />

Rezensiert von: Wilfried Nippel, Institut<br />

für Geschichtswissenschaften, Humboldt-<br />

Universität zu Berl<strong>in</strong><br />

Thukydides bietet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Darstellung des<br />

Peloponnesischen Kriegs nur begrenzt E<strong>in</strong>blicke<br />

<strong>in</strong> die <strong>in</strong>neren Verhaeltnisse Athens;<br />

noch weniger ist er daran <strong>in</strong>teressiert, die<br />

Rueckwirkungen der Krieges auf die religioese<br />

Mentalitaet zu thematisieren. Der Unterschaetzung<br />

dieses Faktors will <strong>Rubel</strong> mit se<strong>in</strong>er<br />

Konstanzer Dissertation entgegentreten.<br />

Im Zentrum der Arbeit stehen Prozesse, deren<br />

religioese Dimension betont wird. Weiter werden<br />

die E<strong>in</strong>fuehrung neuer Kulte sowie die<br />

Fortfuehrung der Tempelbauten, deren Umfang<br />

angesichts der F<strong>in</strong>anzprobleme der <strong>Stadt</strong><br />

beachtlich ist, behandelt; man habe sich angesichts<br />

der Krisenerfahrung des Wohlwollens<br />

sowohl neuer wie der alten Goetter versichern<br />

wollen.<br />

E<strong>in</strong>e tiefgehende Verunsicherung habe die<br />

„Pest“ des Jahres 430 v. Chr. ausgeloest, die<br />

man sich nur als von den Goettern geschickte<br />

Plage erklaeren konnte. Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund<br />

seien diverse Prozesse wegen <strong>Religion</strong>svergehen<br />

zu verstehen. E<strong>in</strong> von Diopeithes<br />

<strong>in</strong>itiierter Volksbeschluss hatte e<strong>in</strong>e<br />

strafrechtliche Verfolgung von <strong>Religion</strong>sdelikten<br />

mit e<strong>in</strong>em Verfahren (Eisangelie) moeglich<br />

gemacht, das sonst vor allem bei Hochverratsfaellen<br />

zur Anwendung kam. Plutarch<br />

(Perikles 32, 1) br<strong>in</strong>gt dies mit dem Vorgehen<br />

gegen den Naturphilosophen Anaxagoras<br />

<strong>in</strong> Zusammenhang, das politisch gegen<br />

Perikles gezielt habe. Die Datierungen dieses<br />

Vorfalls schwanken <strong>in</strong> der Forschung zwischen<br />

450 und 430 v. Chr. <strong>Rubel</strong> will ihn <strong>in</strong><br />

das Jahr 430 setzen, da dies mit dem Verfahren<br />

gegen Perikles <strong>in</strong> diesem Jahr und den Erschuetterungen<br />

durch die Pest „nahezu restlos“<br />

zusammenpasse (106). Weitere Prozesse<br />

wegen <strong>Religion</strong>sfrevel sollen u. a. gegen den<br />

Sophisten Protagoras um 420 und den Dichter<br />

Diagoras um 415/14 v. Chr. <strong>in</strong> Gang gebracht<br />

worden se<strong>in</strong>. <strong>Rubel</strong> ist sich der Problematik<br />

der Ueberlieferungslage <strong>in</strong> allen Fael-<br />

len bewusst, haelt aber daran fest, dass die<br />

spaeten, sich oft widersprechenden Quellen<br />

nicht e<strong>in</strong>fach Rueckprojektionen des Prozesses<br />

gegen Sokrates bieten, 1 sondern, jedenfalls<br />

<strong>in</strong> den drei genannten Faellen, e<strong>in</strong>en historischen<br />

Kern haben (zu dem dann auch gehoert,<br />

dass die Betroffenen jeweils die <strong>Stadt</strong><br />

verlassen mussten). 2 Es bleibt aber fraglich,<br />

ob diese Verfahren gegen Nicht-Buerger, denen<br />

man wohl verderblichen E<strong>in</strong>fluss auf die<br />

Jugend der athenischen Oberschicht unterstellte,<br />

ausreichen, um von „kollektiver Paranoia“<br />

(174) sprechen zu koennen.<br />

Prima facie koennte dies auf die Situation<br />

im Jahre 415 v. Chr. zutreffen. Die planmaessige<br />

Zerstoerung nahezu saemtlicher Standbilder<br />

des Hermes - der Schutzgottheit der Reisenden<br />

(mit moeglicherweise noch weiterreichender<br />

symbolischer Bedeutung) - <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

e<strong>in</strong>zigen Nacht kurz vor Ausfahrt der Flotte<br />

nach Sizilien loeste grosse Aufregung aus,<br />

da man dar<strong>in</strong> nicht nur e<strong>in</strong> boeses Omen fuer<br />

die Sizilienexpedition, sondern auch das<br />

Werk von Umstuerzlern sah. Die Ermittlungen<br />

fuehrten zunaechst zu ke<strong>in</strong>em Ergebnis,<br />

wohl aber zu e<strong>in</strong>er Anzeige, dass Alkibiades<br />

mit se<strong>in</strong>en Freunden die Eleus<strong>in</strong>ischen Mysterien<br />

<strong>in</strong> Privathaeusern und <strong>in</strong> der Gegenwart<br />

von Une<strong>in</strong>geweihten aufgefuehrt habe.<br />

Die Motive der beiden „Taetergruppen“ lassen<br />

sich nicht e<strong>in</strong>deutig rekonstruieren, dass<br />

hier e<strong>in</strong> gezielter Anschlag auf die Demokratie<br />

vorgelegen habe, ersche<strong>in</strong>t nicht als zw<strong>in</strong>gend,<br />

wenn man auch offenlassen muss, ob<br />

die Urheber des Hermenfrevels nicht die Wirkung<br />

auf die Oeffentlichkeit angesichts der<br />

Flottenexpedition voraussehen konnten. 3 Ru-<br />

1 So v. a. K. J. Dover, The Freedom of the Intellectual <strong>in</strong><br />

Greek Society, Talanta 7, 1976, 24-54.<br />

2 Der Fall des Diagoras ist spektakulaer, weil nach se<strong>in</strong>er<br />

Flucht e<strong>in</strong> hohes Kopfgeld ausgesetzt und von se<strong>in</strong>em<br />

Zufluchtsort die Auslieferung gefordert wurde.<br />

Se<strong>in</strong> Fall steht zwar irgendwie im Zusammenhang mit<br />

dem Mysterienskandal, er ist aber nicht als Mittaeter<br />

der Gruppe um Alkibiades verfolgt worden (<strong>Rubel</strong><br />

171); fraglich ist, ob man (wie <strong>Rubel</strong> 166ff.) ueberhaupt<br />

von e<strong>in</strong>em Prozess sprechen kann, oder ob hier<br />

nicht e<strong>in</strong> Aechtungsbeschluss der Volksversammlung<br />

vorlag, vor dessen Verabschiedung Diagoras aus der<br />

<strong>Stadt</strong> floh; vgl. M. Ostwald, From Popular Sovereignty<br />

to the Sovereignty of Law, Berkeley 1986, 276f.<br />

3 <strong>Rubel</strong>s Bemerkungen (215 und 217) zur Prognostizierbarkeit<br />

der Reaktion sche<strong>in</strong>en nicht widerspruchsfrei<br />

zu se<strong>in</strong>.<br />

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el zeigt ueberzeugend, dass die Verb<strong>in</strong>dung<br />

zwischen beiden Affaeren und ihre Deutung<br />

als Umsturzversuch von den Gegnern des Alkibiades<br />

bewerkstelligt wurde und dass die<br />

Taeter wegen <strong>Religion</strong>sfrevels (nicht Hochverrat)<br />

bestraft wurden.<br />

Die Massnahmen zur Aufdeckung der Vergehen<br />

entsprachen jedoch solchen, die im Falle<br />

e<strong>in</strong>er gefaehrlichen Verschwoerung angemessen<br />

s<strong>in</strong>d: Erteilung besonderer Vollmachten<br />

an den Rat, E<strong>in</strong>setzung e<strong>in</strong>er Untersuchungskommission,<br />

Aufforderung zu Anzeigen<br />

(ohne dass daraus die Pflicht zur Anklage<br />

erwaechst) durch Personen jeden Status<br />

(e<strong>in</strong>schliesslich Frauen, Metoeken und Sklaven)<br />

durch Aussetzung von Belohnungen (bei<br />

Sklaven: Freilassung) bzw. Zusicherung der<br />

Indemnitaet bei eigener Taeterschaft. In e<strong>in</strong>er<br />

kritischen Situation s<strong>in</strong>d sogar die <strong>in</strong> der <strong>Stadt</strong><br />

anwesenden Buerger zu den Waffen gerufen<br />

worden. Anzeigen erfolgten zunaechst nur<br />

zoegerlich, so dass die ausgelobte Geldpraemie<br />

verzehnfacht wurde. 4 Auch wenn Verhaftungen<br />

angeblich zunaechst ohne Ueberpruefung<br />

des Wahrheitsgehalts der Anzeigen<br />

vorgenommen wurden, 5 gab es doch Gelegenheit,<br />

die Beschuldigungen zu widerlegen,<br />

so dass e<strong>in</strong> Denunziant, den man zuerst oeffentlich<br />

geehrt hatte, e<strong>in</strong>em Gericht uebergeben<br />

und zum Tode verurteilt wurde, nachdem<br />

sich herausgestellt hatte, dass er bewusst<br />

falsche Angaben gemacht hatte. 6 E<strong>in</strong>e vom<br />

Rat vorgesehene Inhaftierung und Ueberstellung<br />

an e<strong>in</strong> Gericht konnte durch e<strong>in</strong>e Klage<br />

des Betroffenen aufgehoben werden. 7<br />

Die Entscheidung ueber die Belohnungen<br />

traf e<strong>in</strong> Geschworenengericht. 8 Die Identifikation<br />

der Beteiligten am Hermenfrevel erfolgte<br />

wesentlich auf Grund der Aussage des<br />

Kronzeugen Andokides, die nicht nur ihn<br />

selbst rettete, sondern auch bewirkte, dass<br />

die von ihm Entlasteten freikamen. 9 Die Aufhebung<br />

des Folterverbots gegenueber Buergern<br />

ist im Rat beantragt, aber wohl nicht beschlossen<br />

worden; jedenfalls s<strong>in</strong>d die beiden<br />

Beschuldigten, durch deren zu erzw<strong>in</strong>gende<br />

Aussage weitere Taeter identifiziert werden<br />

sollten, gegen Sicherheitsleistung bis zu<br />

e<strong>in</strong>em Prozess auf freien Fuss gesetzt worden,<br />

was sie prompt zur Flucht nutzten. 10 Die<br />

Prozesse haben wahrsche<strong>in</strong>lich vor ordentlichen<br />

Geschworenengerichten (nicht vor dem<br />

Rat) stattgefunden, 11 beide Tatkomplexe s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> getrennten Verfahren geahndet worden. 12<br />

Von urspruenglich mehr als 300 Beschuldigten<br />

s<strong>in</strong>d wohl 50-60 uebrig geblieben; 13 viele<br />

waren aber geflohen, so dass e<strong>in</strong> erheblicher<br />

Teil der Urteile <strong>in</strong> absentia, jedoch auf der Basis<br />

foermlicher Anklagen 14 ergangen ist (mit<br />

der Folge der Vermoegenskonfiskation). Wir<br />

wissen nicht, zu wie vielen H<strong>in</strong>richtungen es<br />

tatsaechlich gekommen ist (und ob man ueberhaupt<br />

die wirklich Schuldigen verurteilt<br />

hat). Wie man ungeachtet des Beduerfnisses<br />

nach Bestrafung vorg<strong>in</strong>g, macht aber deutlich,<br />

dass eben nicht e<strong>in</strong>e „Pogromstimmung“<br />

geherrscht hat, wie <strong>Rubel</strong> (190 und 230) behauptet.<br />

Alkibiades liess man mit der Flotte<br />

ausfahren und rief ihn dann zum Prozess zurueck<br />

(dem er sich durch Flucht nach Sparta<br />

entzog). Der Beschluss, nicht sofort gegen<br />

ihn vorzugehen, ist gegen den Antrag des Alkibidades<br />

von dessen Gegnern <strong>in</strong> der Volksversammlung<br />

herbeigefuehrt worden; Thukydides<br />

15 unterstellt, dass sie sich so groessere<br />

Chancen ausrechneten; gegenueber der<br />

Volksversammlung muessen sie aber mit der<br />

Notwendigkeit e<strong>in</strong>er gruendlichen Untersuchung<br />

argumentiert haben; dass sie damit Erfolg<br />

hatten, zeigt, dass ke<strong>in</strong>e Neigung zum<br />

„kurzen Prozess“ bestand. Es steht auf e<strong>in</strong>em<br />

anderen Blatt, dass dieser Ablauf im H<strong>in</strong>blick<br />

4 Andokides 1, 27.<br />

5 Andokides 1, 36. 45; Thukydides 6, 53, 2.<br />

6 Andokides 1, 45. 65f. - Mit Bezug auf diesen Vorgang<br />

schreibt <strong>Rubel</strong> (215), dass „Unbeteiligte aufgrund<br />

falscher Anschuldigungen“ auf „dem Schlachtfeld <strong>in</strong>nenpolitischer<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzungen“ geblieben seien.<br />

7 Andokides 1, 17 - die erste datierbare „graphe paranomon“,<br />

bei der saemtliche 6000 Geschworene als Gericht<br />

fungierten und ihre Entscheidung mit ueberwaeltigender<br />

Mehrheit trafen.<br />

8 Andokides 1, 28.<br />

9 Andokides 1, 47-53. 67f.; 2, 7f.; Lysias 6, 23f.; Thukydides<br />

6, 60, 2ff.<br />

10 Andokides 1, 43f.<br />

11 Vgl. P. J. Rhodes, The Athenian Boule, Oxford 1972,<br />

186-188.<br />

12 Vgl. F. Graf, Der Mysterienprozess, <strong>in</strong>: L. Burckhardt /<br />

J. v. Ungern-Sternberg (Hgg.), Grosse Prozesse im antiken<br />

Athen, Muenchen 2000, 114-127; 270-273, hier 117<br />

und 119.<br />

13 Vgl. Ostwald, 537ff.<br />

14 Plutarch, Alkibiades 22, 3f.<br />

15 Thukydides 6, 29.<br />

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A. <strong>Rubel</strong>: <strong>Stadt</strong> <strong>in</strong> <strong>Angst</strong><br />

auf den Angriff auf Sizilien fatale Folgen hatte.<br />

Auf spektakulaere Weise haben sich die<br />

Athener auch im Jahre 406 geschadet, als acht<br />

Flottenkommandeuren, die e<strong>in</strong>en sensationellen<br />

Sieg ueber die Spartaner bei den Arg<strong>in</strong>usen<br />

errungen, ihre Schiffbruechigen und Toten<br />

aber wegen der widrigen Witterung nicht<br />

geborgen hatten, e<strong>in</strong> Prozess - <strong>in</strong> der Volksversammlung<br />

- gemacht wurde, der mit e<strong>in</strong>em<br />

kollektiven Todesurteil endete (gegen<br />

zwei Strategen <strong>in</strong> absentia). <strong>Rubel</strong> plaediert<br />

dafuer, den eigentlichen Grund der Verurteilung<br />

nicht <strong>in</strong> der ausgebliebenen Rettung der<br />

Schiffbruechigen, sondern <strong>in</strong> der versaeumten<br />

Bergung der Gefallenen zu sehen, e<strong>in</strong>e<br />

gravierende Verletzung der religioesen Pflicht<br />

zur Bestattung. 16 Allerd<strong>in</strong>gs wird dieser zweite<br />

Punkt nur <strong>in</strong> dem kurzen Bericht bei Diodor<br />

(13, 101f.) genannt, waehrend die ausfuehrliche<br />

Darstellung Xenophons (Hellenika<br />

1, 7) nur den Vorwurf bezueglich der<br />

Schiffbruechigen wiedergibt. <strong>Rubel</strong> will beide<br />

Berichte komb<strong>in</strong>ieren: der zweite Anklagepunkt<br />

sei nachgeschoben worden, nachdem<br />

<strong>in</strong> der ersten Verhandlung die Feldherrn geltend<br />

machen konnten, e<strong>in</strong>e Rettungsaktion<br />

sei wegen des schweren Sturms voellig ausgeschlossen<br />

gewesen, e<strong>in</strong> Argument, das bezueglich<br />

e<strong>in</strong>er spaeter noch moeglichen Bergung<br />

der Leichen nicht durchschlagend war.<br />

Fuer <strong>Rubel</strong> zeigt sich hier „erneut, wie ernst<br />

es die Athener mit religioesen Traditionen<br />

nahmen und wie unnachgiebig sie Verstoesse<br />

gegen diese ahndeten [...]. Das harte Urteil<br />

hat Schuldige getroffen, wenn auch die<br />

von der Volksversammlung verhaengte Todesstrafe<br />

e<strong>in</strong>en Exzess darstellen mag“ (340f.).<br />

Nimmt man e<strong>in</strong>mal an, der vom Rat fuer die<br />

zweite Versammlung vorgelegte Antrag habe<br />

sich auf die unterbliebene E<strong>in</strong>sammlung<br />

der Leichen bezogen, 17 dann waere dies e<strong>in</strong><br />

noch schlagenderes Argument - als es bei<br />

unveraenderter Anklage schon ist - 18 dafuer,<br />

dass von e<strong>in</strong>em fairen Prozess ke<strong>in</strong>e Rede<br />

se<strong>in</strong> kann; der gleiche Antrag stellte naemlich<br />

fest, e<strong>in</strong>e weitere Verteidigung der Angeklagten<br />

sei nicht erforderlich, da sie schon zuvor<br />

Gelegenheit gehabt haetten, sich zur Sache<br />

zu aeussern. H<strong>in</strong>zu kamen im Gang der Verhandlung<br />

massive Pressionen gegen Antragsteller<br />

und die Versammlungsleitung. Selbst<br />

wenn die Ueberlieferungs- bzw. Rechtslage<br />

nicht zulaesst, weitere Verfahrensfehler e<strong>in</strong>deutig<br />

festzustellen, 19 rechtfertigt dies nicht,<br />

mit <strong>Rubel</strong> (311. 313. 335f.) diese Frage fuer<br />

nebensaechlich zu halten, denn im Umgang<br />

mit ihnen liegt gerade die Besonderheit dieses<br />

Prozesses.<br />

Damit unterscheidet er sich deutlich vom<br />

Fall Sokrates (im Jahre 399), mit dem er immer<br />

wieder unter dem Schlagwort „Justizmord“<br />

parallelisiert worden ist. <strong>Rubel</strong> stellt<br />

zu Recht heraus, dass hier e<strong>in</strong> ordnungsgemaesses<br />

Gerichtsverfahren stattgefunden hat<br />

und fuer die Mehrheit der Geschworenen (280<br />

oder 281 gegen 220) plausibel gewesen se<strong>in</strong><br />

kann, dass Sokrates die Goetter der Polis nicht<br />

ehre, unautorisiert neue Gottheiten e<strong>in</strong>fuehren<br />

wolle und dies unter den Tatbestand der<br />

Asebie falle (der trotz se<strong>in</strong>er Unbestimmtheit<br />

wohl nicht auf die „Bestrafung Andersdenkender“<br />

- 363 - zielt). Das schliesst gewiss<br />

nicht aus, dass fuer die Anklaeger 20 wie die<br />

Geschworenen <strong>in</strong> der nach dem Buergerkrieg<br />

von 403 v. Chr. noch nicht gefestigten Situation<br />

Sokrates‘ Kritik an der Demokratie und<br />

se<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dungen zu Fe<strong>in</strong>den dieser Ordnung<br />

(wie Mitgliedern des Terrorregimes von<br />

404/3) e<strong>in</strong>e Rolle gespielt haben.<br />

Es mag se<strong>in</strong>, dass sich <strong>in</strong> dieser Konstellation<br />

e<strong>in</strong> „wachsendes Streben nach religioeser<br />

Konformitaet“ (363) gezeigt hat, dem e<strong>in</strong><br />

16 Vgl. A. Mehl, Fuer e<strong>in</strong>e neue Bewertung e<strong>in</strong>es Justizskandals.<br />

Der Arg<strong>in</strong>usenprozess und se<strong>in</strong>e Ueberlieferung<br />

vor dem H<strong>in</strong>tergrund von Recht und Weltanschauung<br />

im Athen des ausgehenden 5. Jh. v. Chr., Zeitschrift<br />

fuer Rechtsgeschichte. Rom. Abt. 99, 1982, 32-80.<br />

17 Der Ratsbeschluss ist bei Xenophon, Hellenika 1, 7, 9-11<br />

wiedergegeben. <strong>Rubel</strong> (338f.) me<strong>in</strong>t, die Formulierung<br />

ueber die versaeumte Bergung der Sieger koenne sich<br />

auch auf das E<strong>in</strong>sammeln der Leichen beziehen.<br />

18 Vgl. Ostwald, 439.<br />

19 Nicht e<strong>in</strong>deutig zu klaeren ist, ob die kollektive Abstimmung<br />

ueber die Angeklagten zulaessig war. - Die<br />

unterlassene Rettung von Schiffbruechigen liess sich<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich unter den Vorwurf des Verrats br<strong>in</strong>gen,<br />

ob dies auch bezueglich der unterbliebenen Bergung<br />

der Leichen galt, duerfte - gegen <strong>Rubel</strong> 334, A. 94 - fraglich<br />

se<strong>in</strong>.<br />

20 Dies koennte <strong>in</strong> den Reden der weiteren Anklaeger geschehen<br />

se<strong>in</strong>, die fuer den Ausgang des Prozesses entscheidend<br />

gewesen se<strong>in</strong> sollen; Platon, Apologie 36a;<br />

vgl. M. H. Hansen, The Trial of Sokrates - from the<br />

Athenian po<strong>in</strong>t of view, Kopenhagen 1995, und allgeme<strong>in</strong><br />

zur Rolle dieser Prozessbeteiligten L. Rub<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>,<br />

Litigation and Cooperation. Support<strong>in</strong>g Speakers <strong>in</strong> the<br />

Courts of Classical Athens, Stuttgart 2000.<br />

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Mann zum Opfer fiel, dessen unorthodoxe<br />

Positionen seit Jahrzehnten der Oeffentlichkeit<br />

bekannt waren. Nur stellt sich nicht die<br />

Frage, warum „die Athener so lange [gewartet<br />

haben], um den Philosophen vor Gericht<br />

zu br<strong>in</strong>gen“ (360), da die Eroeffnung<br />

von Strafverfahren von der Initiative von Buergern<br />

abh<strong>in</strong>g, nur 415 e<strong>in</strong>e Untersuchung<br />

von Amts wegen e<strong>in</strong>geleitet worden ist. In<br />

den hier diskutierten frueheren Faellen hat<br />

man allerd<strong>in</strong>gs das Eisangelieverfahren gewaehlt;<br />

Rat und Volksversammlung wurden<br />

zuvor mit der Angelegenheit befasst, gegebenenfalls<br />

konnte (wie beim Arg<strong>in</strong>usenprozess)<br />

die Volksversammlung selbst als Gericht<br />

fungieren; wurde der Fall an e<strong>in</strong> Geschworenengericht<br />

abgegeben, galt nicht die<br />

Regel, dass e<strong>in</strong> Anklaeger bestraft wurde, der<br />

nicht m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Fuenftel der Geschworenen<br />

fuer sich gewann. Von dieser Verfahrensform,<br />

<strong>in</strong> der sich e<strong>in</strong> besonderes oeffentliches<br />

Interesse an e<strong>in</strong>er Strafverfolgung manifestiert,<br />

ist gegen Sokrates ke<strong>in</strong> Gebrauch gemacht<br />

worden, 21 wahrsche<strong>in</strong>lich bestand sie<br />

fuer das Delikt des <strong>Religion</strong>sfrevels gar nicht<br />

mehr, wie <strong>Rubel</strong> selbst feststellt (345, A. 9).<br />

Von e<strong>in</strong>er „strukturellen Aehnlichkeit“ (363)<br />

des Sokrates-Prozesses mit frueheren Verfahren<br />

kann nur sehr e<strong>in</strong>geschraenkt die Rede<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Die von <strong>Rubel</strong> eroerterten Sachverhalte lassen<br />

sich gewiss gegen e<strong>in</strong>e Interpretation des<br />

athenischen politischen Systems vorbr<strong>in</strong>gen,<br />

die aus Gruenden politischer Paedagogik die<br />

Vorbildlichkeit fuer die Gegenwart betonen<br />

will (47f. 369-371). Was materiell als Verbrechen<br />

verfolgt werden konnte, ist die e<strong>in</strong>e Seite<br />

der Medaille, wie man aber (auch wenn<br />

der Arg<strong>in</strong>usenprozess e<strong>in</strong> „Suendenfall“ war)<br />

formaler Rechtsstaatlichkeit besondere Beachtung<br />

geschenkt hat, die andere. Mit der Formel,<br />

„die Buerger waren fuer den Staat da,<br />

nicht der Staat fuer die Buerger“ (370), wird<br />

man diesem Sachverhalt nicht gerecht. Es ist<br />

schade, dass e<strong>in</strong>e Arbeit, die ueberzeugend<br />

darlegt, dass angesichts der Untrennbarkeit<br />

von Kult und Politik (25ff.) nicht e<strong>in</strong>seitig die<br />

„politischen“ Faktoren zu Lasten der „religioesen“<br />

betont werden duerfen, dem Umschlag<br />

<strong>in</strong> das andere Extrem nicht entgeht. Es<br />

sche<strong>in</strong>t, als sei <strong>Rubel</strong> trotz se<strong>in</strong>er Beteuerung,<br />

ke<strong>in</strong> Bild e<strong>in</strong>er durchgaengigen Krisenstim-<br />

mung zeichnen zu wollen (45f.), zu oft der<br />

Suggestion erlegen, die vom plakativen Titel<br />

se<strong>in</strong>es Buches ausgeht.<br />

Wilfried Nippel über <strong>Rubel</strong>, <strong>Alexander</strong>: <strong>Stadt</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>Angst</strong>. <strong>Religion</strong> und Politik <strong>in</strong> Athen während<br />

des Peloponnesischen Krieges. Darmstadt 2000,<br />

<strong>in</strong>: H-Soz-u-Kult 10.10.2001.<br />

21 Vgl. Platon, Apologie 36a-b zum entsprechenden Risiko<br />

des Anklaegers gegen Sokrates.<br />

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