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10 Fehlannahmen zu Menschen mit Autismus und ihre Widerlegung

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<strong>10</strong> <strong>Fehlannahmen</strong> <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Autismus</strong> <strong>und</strong> <strong>ihre</strong><br />

<strong>Widerlegung</strong><br />

© Prof. Dr. Matthias Dalferth<br />

Fakultät für Sozialwissenschaften, Regensburg<br />

In den letzten Jahrzehnten seit der Erstbeschreibung durch L. KANNER 1943 hat sich in<br />

Sachen <strong>Autismus</strong> vieles bewegt.<br />

Eine Fülle von Erkenntnissen <strong>zu</strong> autistischen Syndromen wurde gewonnen. Sie konnten da<strong>zu</strong><br />

beitragen, eine deutlich veränderte Sicht von dieser Behinderung <strong>und</strong> den Schlüssel für<br />

therapeutische Erfolge <strong>zu</strong> erhalten<br />

Und sie gaben auch Anlass, so manche hypothetische oder waghalsige Vorstellungen über<br />

autistischen Syndrome <strong>und</strong> therapeutische Interventionen über Bord <strong>zu</strong> werfen, die <strong>zu</strong>weilen<br />

heftig diskutiert wurden.<br />

Für einen besseren Bekanntheitsgrad sorgten die Aktivitäten der Elternverbände.<br />

Doch es ist auch ein Verdienst der Medien, die im Verlauf der letzten Jahre verstärkt über<br />

autistische Syndrome berichtet haben.<br />

Zweifelsohne - der Begriff <strong>Autismus</strong> heute für die meisten <strong>Menschen</strong> kein Fremdwort mehr.<br />

Allerdings birgt die breite Berichterstattung in den Medien auch die Gefahr der Verkür<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>und</strong> Simplifizierung.<br />

So konnten sich auch oberflächliche, pauschalisierende, unscharfe Vorstellungen, ja<br />

Zerrbilder von autistischen Syndromen manifestieren, die sich bei genauerer Betrachtung als<br />

obsolet erweisen.<br />

Die Mythenbildung ist hier nicht abgeschlossen. Immer wieder werden wir <strong>mit</strong> neuen<br />

spektakulären Meldungen <strong>zu</strong> Ursachen oder Heilungserfolgen konfrontiert.<br />

Wollte man hier eine Parallele zwischen <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Autismus</strong> <strong>und</strong> der sogenannten nicht-<br />

behinderten Bevölkerung <strong>zu</strong> ziehen , dann können wir gleichfalls eine gewisse Rigidität <strong>und</strong><br />

Beharrlichkeit feststellen: Nicht scheint sich im Gedächtnis schneller fest<strong>zu</strong>setzen als<br />

spektakuläre Falschmeldungen - <strong>und</strong> nichts fällt auch schwerer, als von einer einmal gefassten<br />

Vorstellung über <strong>Autismus</strong> wieder ab<strong>zu</strong>rücken.<br />

1


1. Von <strong>Autismus</strong> ist in Deutschland nur eine kleine Gruppe von <strong>Menschen</strong><br />

betroffen<br />

Über 6 Jahrzehnte ging man davon aus, dass lediglich bei 4 –5 von <strong>10</strong> 000 Kindern ein<br />

autistisches Syndrom nachgewiesen werden kann.<br />

Auf der Basis einer ganzen Reihe von aktuellen epidemiologischen Untersuchungen in den<br />

angloamerikanischen Ländern im Verlauf der letzten Jahre müssen wir allerdings <strong>zu</strong>r<br />

Kenntnis nehmen:<br />

Weitaus mehr <strong>Menschen</strong> als bislang angenommen sind von autistischen Syndromen betroffen.<br />

Mehrere systematische Untersuchungen des Franzosen FOMBONNE in Canada <strong>und</strong> die<br />

Auswertung der weltweit bekannten epidemiologischen Studien ergaben:<br />

Bis <strong>zu</strong> 65 Personen von <strong>10</strong> 000 sind dem sogenannten autistischen Spektrum <strong>zu</strong><strong>zu</strong>rechen<br />

(vgl. FOMBONNE et al. 2006, POUSTKA 2004,18, DEUTSCHES ÄRZTEBLATT<br />

v.14.7.2006, BAIRD et al. LONDON, CHAKRABARTI, FOMBONNE 2001)<br />

Autistisches Spektrum bedeutet, dass <strong>Autismus</strong> in unterschiedlichen Schweregraden <strong>und</strong><br />

Varianten in Erscheinung treten kann: Mit schweren, mehrfachen Beeinträchtigungen, als<br />

Kanner Syndrom <strong>mit</strong> oder ohne <strong>zu</strong>sätzliche geistige oder körperliche Behinderungen oder als<br />

diskrete Störung bei <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> der Diagnose High-Functioning-Autism, Asperger-<br />

Syndrom oder Teilautismus.<br />

Legt man einen engeren diagnostischen Schlüssel an, dann sind davon 21,6 dem Kanner-<br />

<strong>Autismus</strong> <strong>und</strong> <strong>10</strong>,1 von <strong>10</strong> 000 dem Aspergersyndrom <strong>zu</strong><strong>zu</strong>rechnen (FOMBONNE 2006).<br />

Bei den übrigen handelt es sich um sogenannte TE Störungen <strong>mit</strong> autistischen Merkmalen<br />

(Rett-Syndrom, Fragile- X-Syndrom, desintegrative Störungen des Jugendalters etc.).<br />

Es ist davon aus<strong>zu</strong>gehen, dass dies für alle westlichen Gesellschaften <strong>zu</strong>trifft.<br />

Leider können wir in Deutschland auf keine vergleichbaren systematischen Erhebungen<br />

<strong>zu</strong>rück greifen.<br />

Wenn wir diesen Schlüssel <strong>zu</strong> Gr<strong>und</strong>e legen, dann leben in Deutschland ca. 223 680<br />

Jugendliche <strong>und</strong> Erwachsene ab 15 Jahren <strong>mit</strong> Kernsymptomatik <strong>und</strong> bis <strong>zu</strong><br />

535 000 <strong>Menschen</strong>, die dem autistischen Formenkreis angehören (breiter diagnostischer<br />

Schlüssel, Einwohnerzahl Stand: 12/2006).<br />

Es handelt sich da<strong>mit</strong> keineswegs um eine kleine, <strong>zu</strong> vernachlässigende Gruppe .<br />

2


Die Anzahl autistischer Kinder übersteigt die Anzahl der blindgeborenen <strong>und</strong> gehörlosen<br />

Kinder bei weitem .<br />

Die hohen epidemiologischen. Zahlen überraschen jedoch:<br />

So stellt sich die Frage: Gibt es denn heute mehr <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> dieser Behinderung als vor 50<br />

Jahren – oder gibt es die schon immer?<br />

Hier stehen sich wissenschaftliche Meinungen konträr gegenüber:<br />

- Nachweisen lässt sich, dass viele <strong>Menschen</strong>, die früher als geistig behindert etikettiert<br />

wurden, heute die Diagnose ASD /AUTISMUS erhalten.<br />

So gingen in den Vereinigten Staaten die Diagnosen von G.B. von 28,8 – 19,5 /<strong>10</strong> 000<br />

(1987 – 1994) <strong>zu</strong>rück.<br />

- Nachweisen lässt sich gleichfalls, dass sie heute <strong>mit</strong> Hilfe der ausgefeilten<br />

diagnostischen Instrumentarien früher <strong>und</strong> sicherer diagnostiziert werden können.<br />

- Ob Umweltbedingungen eine Rolle spielen, <strong>und</strong> wenn ja, welche – darüber gibt es<br />

keine gesicherten Erkenntnisse.<br />

- Das verstärkte Aufmerksamwerden auf das Aspergersyndrom im Verlauf der<br />

letzten Jahre hat den Blick für diese <strong>Menschen</strong> geschärft, die früher oftmals<br />

anderen Behinderungen, u. a. ADHS oder Borderline-Störungen, <strong>zu</strong>geordnet wurden.<br />

2. <strong>Autismus</strong> ist eine Form der geistigen Behinderung<br />

Bis in die 70er Jahre hinein wurde vermutet, es handle sich bei <strong>Autismus</strong> ausschließlich um<br />

eine psychische Behinderung, weil für diese Auffälligkeiten keine augenfälligen körperlichen<br />

Besonderheiten aus<strong>zu</strong>machen waren.<br />

Schließlich konnte man seit den 80er Jahren durch bildgebende Verfahren eine ganze Reihe<br />

von morphologischen, funktionellen <strong>und</strong> auch metabolischen Abweichungen im ZNS<br />

nachweisen .Folglich ging man davon aus, dass mindestens 80 % dieser <strong>Menschen</strong> den<br />

geistigen Behinderungen <strong>zu</strong><strong>zu</strong>rechen oder <strong>zu</strong>sätzlich geistig behindert wären.<br />

Der Augenschein <strong>ihre</strong>s Verhaltens, <strong>ihre</strong> kommunikativen Beeinträchtigungen ( fehlende<br />

Verbalsprache), <strong>ihre</strong> soziale Unangepasstheit <strong>und</strong> ein vom Gleichaltrigendurchschnitt<br />

abweichend gemessener IQ führte da<strong>zu</strong>, sie in Orientierung an den Kriterien der American<br />

Association of Mental Deficiency den <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> geistigen Behinderungen <strong>zu</strong><strong>zu</strong>rechnen.<br />

3


Etliche <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD können sich jedoch <strong>mit</strong> Hilfe von FC schriftsprachlich<br />

ausdrücken. Wir sind überrascht, dass einige über einen eloquenten Wortschatz verfügen. Wir<br />

sind sprachlos, weil wir nicht wissen, wie sie das gelernt haben <strong>und</strong> müssen eingestehen, dass<br />

dies so gar nicht an eine geistige Behinderung erinnert.<br />

Wir erleben bei anderen <strong>Menschen</strong> aus dem aut. Spektrum, dass aufgr<strong>und</strong> von frühen<br />

therapeutischen Interventionen die Anpassungs- <strong>und</strong> Kommunikationsbereitschaft <strong>und</strong> die<br />

Entwicklung von sozialen Verhaltensweisen deutlich erhöht werden konnte.<br />

Und wir kennen eine keineswegs geringe Anzahl von Betroffenen <strong>mit</strong> ASD, die <strong>zu</strong><br />

ausgeprägten kognitiven (Insel-)Leistungen befähigt sind.<br />

Die Spitzenfähigkeiten der so genannten Savants führten schließlich da<strong>zu</strong>, sich von dieser<br />

Etikettierung weitgehend <strong>zu</strong> distanzieren.<br />

Andererseits werden diese Spitzenleistungen kontrastiert durch einen erheblichen Hilfebedarf<br />

in lebenspraktischen Dingen, in der Kommunikation, im Zurechtfinden <strong>mit</strong> der Umwelt.<br />

Im Übrigen gilt der Nachweis einer veränderten Funktionsweise des Gehirns, einer<br />

veränderten Ausprägung einzelner Hirnteile keinesfalls als Indikator für eine geistige<br />

Behinderung.<br />

Typisch scheint für <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD vielmehr das spezifische kognitive Profil <strong>zu</strong> sein D.<br />

h. sie verfügen nicht über ein unterdurchschnittliches Leistungsniveau, sondern <strong>ihre</strong><br />

kognitiven Kompetenzen sind durch einen Spannungsbogen, eine Disharmonie verschiedener<br />

kognitiver Fähigkeiten gekennzeichnet.<br />

Und weil hiervon <strong>Menschen</strong> in <strong>ihre</strong>r Gesamtheit betroffen sind, sollte man besser von<br />

Mehrfachbehinderung sprechen .<br />

Von einer vorschnellen Etikettierung eines geistigen Defizits sind <strong>mit</strong>tlerweile viele<br />

Wissenschaftler abgewichen. Es hat sich durchgesetzt, dass funktionelle Abweichungen vom<br />

durchschnittlichen Niveau nicht zwangsläufig eine Einbuße bedeuten, sondern auf eine<br />

Andersartigkeit in der Weltwahrnehmung, in der Verarbeitung von Reizen hinweisen<br />

Es zeigt sich, dass diese Abweichung auch eine Ressource <strong>mit</strong> oft unterschätzten Fähigkeiten<br />

bedeuten kann.<br />

So wurde in jüngeren psychiatrischen Publikationen wurde die Anzahl der <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

ASD <strong>und</strong> <strong>mit</strong> geistigen Behinderungen auf nunmehr lediglich 20 – 50 % (POUSTKA<br />

2007,46) herabdekliniert.<br />

Der englische <strong>Autismus</strong>forscher BARON-COHEN ging noch einen Schritt weiter: Er<br />

gelangte <strong>zu</strong> der weltweit diskutierten Auffassung, es handle sich bei den kognitiven<br />

4


Besonderheiten von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Autismus</strong> lediglich um eine besonders ausgeprägte<br />

Variante des männlichen Gehirns. Er führt dies auf einen Testosteronüberschuss im Verlauf<br />

einer prägenden Phase während der Schwangerschaft <strong>zu</strong>rück..<br />

3. Autistische <strong>Menschen</strong> sind beziehungsgestört <strong>und</strong> lehnen jeden Kontakt ab. Sie<br />

leben wie in einer Muschel, lassen keinen an sich heran <strong>und</strong> sie fühlen sich am<br />

wohlsten, wenn sie in Ruhe gelassen werden.<br />

Die Symptomatik von Kleinkindern <strong>mit</strong> ASD ist bekannt:<br />

Sie befassen sich gerne <strong>und</strong> ausgiebig <strong>mit</strong> bestimmten Objekten, die stereotyp bewegt werden<br />

<strong>und</strong> <strong>mit</strong> denen sie <strong>ihre</strong> Sinne stimulieren. An <strong>Menschen</strong> zeigen sie weniger Interesse.<br />

Im späteren Lebensalter sind es Spezialthemen (Dinosaurier, Seeräuber, Flugpläne,<br />

Raumschiffe, Liegestühle, Staubsauger o.ä.), die <strong>ihre</strong> Aufmerksamkeit gefangen nehmen.<br />

Gleichfalls ist bekannt, dass sie sich vorwiegend <strong>mit</strong> sich selbst beschäftigen <strong>und</strong> <strong>ihre</strong> soziale<br />

Umwelt scheinbar nicht <strong>zu</strong>r Kenntnis nehmen.<br />

Viele sträuben sich als Kleinkinder dagegen, auf den Arm genommen <strong>zu</strong> werden. Sie meiden<br />

längeren Blickkontakt, sehen eher durch einen hindurch oder über einen hinweg <strong>und</strong><br />

entziehen sich sofort bei unerwarteten Berührungen.<br />

Dies veranlasste den Erstbeschreiber des Syndroms KANNER <strong>zu</strong> der Vermutung, es handle<br />

sich bei <strong>Autismus</strong> um eine“ angeborene Störung des affektiven Kontakts“ (KANNER 1943).<br />

Sind autistische Kinder da<strong>mit</strong> an sozialem, zwischenmenschlichem Kontakt gar nicht<br />

interessiert, wollen sie am liebsten in Ruhe gelassen werden?<br />

Verstoßen wir gegen das Selbstbestimmungsrecht, wenn wir <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Autismus</strong> <strong>mit</strong><br />

einer Realität konfrontieren, der sie lieber ausweichen möchten?<br />

Forschungen in Großbritannien im Verlauf der letzten 20 Jahre konnten Zusammenhänge<br />

dieser Störung deutlich erhellen <strong>und</strong> differenzieren: (vgl. HOBSON 1986 a, b; FRITH 1992;<br />

BARON-COHEN u. BOLTON 1993).<br />

Zunächst: Art <strong>und</strong> Ausmaß der Fähigkeit <strong>zu</strong>r wechselseitigen Interaktion <strong>und</strong> die Intensität<br />

der Selbstbezogenheit kann von Fall <strong>zu</strong> Fall sehr stark variieren:<br />

<strong>Menschen</strong> aus dem autistischen Spektrum zeigen da<strong>mit</strong> ganz unterschiedliche Formen von<br />

Kontaktstörungen, die mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können.<br />

WING hat nach Beobachtungen drei typische Verhaltensformen bei Kindern diskriminiert:<br />

(WING nach FRITH 1992, 14 ff)<br />

5


Das distanzierte Kind:<br />

Hier handelt es sich um eine besonders ausgeprägte Form des Rück<strong>zu</strong>gs <strong>und</strong> der<br />

Abkapselung. Man hat das Gefühl, nicht <strong>zu</strong>r Kenntnis genommen <strong>zu</strong> werden. Blickkontakt<br />

<strong>und</strong> Körperkontakt werden vermieden oder abgewehrt. Keine Wiedersehensfreude kommt<br />

auf, wenn Familien<strong>mit</strong>glieder den Raum betreten, keine Heimwehreaktionen bei Abwesenheit<br />

der Eltern. Die Zuwendung der Be<strong>zu</strong>gspersonen wird kaum erwidert.<br />

Das passive Kind<br />

wehrt hingegen soziale Annäherungen nicht ab, sondern nimmt sie eher gleichgültig hin. Es<br />

sind Kontaktverhaltenweisen, die wir insbesondere von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Aspergersyndrom<br />

kennen: Sie sind <strong>mit</strong> dabei, ohne selbst an den Gesprächen anderer Kinder oder Jugendlicher<br />

durch Fragen Interesse <strong>zu</strong> bek<strong>und</strong>en oder teil<strong>zu</strong>haben.<br />

Sie tun, was man ihnen sagt <strong>und</strong> geraten dadurch <strong>zu</strong>r Zielscheibe des Spotts der Kameraden,<br />

weil sie die listigen Absichten nicht durchschauen können. Fragen werden direkte <strong>und</strong> ehrlich<br />

beantwortet. Versuche, soziale Kontakte auf<strong>zu</strong>nehmen, wirken <strong>zu</strong>meist recht unbeholfen.<br />

Das sonderbare Kind<br />

reagiert hingegen im Kontaktverhalten eher ungewöhnlich: In gerade<strong>zu</strong> lästiger, ja penetranter<br />

Weise wird Kontakt aufgenommen: (auf den Bauch klopfen, über die Haare streicheln, ins<br />

Gespräch platzen).<br />

Da wird jede neue Person ausführlich beschnüffelt oder abgetastet. Oder es werden an<br />

sämtliche Personen bevor<strong>zu</strong>gt immer dieselben Fragen gerichtet: („Wann hast du<br />

Geburtstag,„Wie heißt du?“), ohne dass Antworten erfahrbar <strong>zu</strong>r Kenntnis genommen<br />

werden. Einige nehmen auch intensiv Blickkontakt auf, allerdings in <strong>zu</strong> dichtem Abstand vor<br />

dem Gesichtsfeld.<br />

Das ungewöhnliche Kontaktverhalten autistischer Kinder kann übrigens bei jedem<br />

Begabungsniveau, also bei hochintelligenten wie bei schwerstbehinderten Personen in<br />

Erscheinung treten.<br />

Aufsehenerregend war allerdings die Nachuntersuchung ein paar Jahre später, die von WING<br />

<strong>und</strong> ATTWOOD vorgenommen wurde:<br />

Etliche Kinder wechselten im Laufe der Zeit die Kategorie: Von den einst distanzierten<br />

zeigten einige ein passiv-sonderbares, andere jedoch ein deutlich kontaktfreudiges Verhalten.<br />

Dies zeigt<br />

- <strong>Menschen</strong> aus dem aut. Spektrum zeigen ganz verschiedene Formen von Kontakt- <strong>und</strong><br />

Kommunikationsproblemen.<br />

6


- Sie können erhebliche Lernfortschritte machen <strong>und</strong> ihr Verhalten im Verlauf der<br />

Entwicklung deutlicher an allgemeine Verhaltenserwartungen anpassen.<br />

- Im Erwachsenenalter sind sie bemüht, auf eine ihnen gemäße Art <strong>und</strong> Weise Kontakt<br />

<strong>zu</strong> anderen <strong>Menschen</strong> auf<strong>zu</strong>nehmen.<br />

Es trifft nicht <strong>zu</strong>, dass sie an sozialem Kontakt überhaupt nicht interessiert oder gar völlig<br />

<strong>zu</strong>frieden wären, wenn sie sich <strong>mit</strong> sich selbst beschäftigen können. Sie möchten „aus <strong>ihre</strong>m<br />

autistischen Käfig heraustreten“ ( B. Sellin)., sie möchten sich an der Kommunikation<br />

beteiligen. Sie sind traurig, wenn ihnen dies nicht gelingt <strong>und</strong> glücklich darüber, wenn sie <strong>mit</strong><br />

Hilfe von Kommunikationshilfen <strong>mit</strong> uns in Verbindung treten können.<br />

4. Autistische <strong>Menschen</strong> sind gefühllos. Sie zeigen kein Einfühlungsvermögen in<br />

andere <strong>Menschen</strong>, sind unsensibel für die Empfindungen anderer <strong>Menschen</strong>,<br />

sie trösten nicht <strong>und</strong> suchen keinen Trost.<br />

Da ist der junge Mann, der bei der Beerdigung seines Großvaters plötzlich in Gelächter<br />

ausbricht, <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD, die Weinen <strong>und</strong> Schmerzensäußerungen anderer <strong>Menschen</strong><br />

scheinbar nicht <strong>zu</strong>r Kenntnis nehmen. Oder Jugendliche, die Spott <strong>und</strong> Ärger auf sich<br />

ziehen, weil sie sozial naive, aber wahrheitsentsprechende - Kommentare gegenüber<br />

Schulkameraden äußern: „Du hast krumme Zähne“, „du stinkst nach Käse“<br />

Ist doch etwas dran an dieser Gefühllosigkeit?<br />

Ausführliche transkulturelle Forschungen von EKMAN <strong>und</strong> FRIESEN haben erbracht, dass<br />

Kinder sich bereits im Alter von 6 Monaten in den verschiedensten Kulturen in der Lage<br />

zeigen, zentrale Gefühlsregungen in Mimik <strong>und</strong> Gestik <strong>zu</strong> erkennen <strong>und</strong> darauf angemessen<br />

reagieren (vgl. EKMAN 1988, 123 ff).<br />

Dies gelingt aber <strong>Menschen</strong> aus dem autistische Spektrum nicht ohne Weiteres.<br />

Es fällt ihnen schwer, Gefühlsregungen, wie Wut, Angst, Trauer, Zuneigung, Freude etc. in<br />

Mimik <strong>und</strong> Gestik richtig <strong>zu</strong> verstehen <strong>und</strong> darauf so <strong>zu</strong> reagieren, wie wir es erwarten (vgl.<br />

HOBSON 1986 a, b).<br />

D.h. dass sie zwar die Veränderungen des Gesichtsausdruckes wahrnehmen, jedoch das <strong>zu</strong><br />

Gr<strong>und</strong>e liegende Gefühl nicht richtig deuten können. Deshalb dürfen wir uns nicht darüber<br />

w<strong>und</strong>ern, wenn sie darauf indifferent oder quasi ungerührt, - oder auch für uns unverständlich<br />

<strong>mit</strong> starken Emotionen reagieren.<br />

Da sie über die Gesichtsmimik, die sprachbegleitenden expressiven Gesten oder aus dem<br />

Blickkontakt keine bedeutsamen Informationen entnehmen können, wird der Blickkontakt,<br />

7


Mimik oder die Gebärden auch nicht in der Weise, wie wir es gewohnt sind, <strong>zu</strong>r<br />

Kommunikation benutzt.<br />

Weil sie in der Regel nicht in der Lage sind, mimisch-gestisch oder lautsprachlich <strong>ihre</strong><br />

Gefühlsregungen angemessen <strong>zu</strong>m Ausdruck <strong>zu</strong> bringen, wirken sie oft wie kalt,<br />

desinteressiert, unbewegt, gefühlsmäßig unbeteiligt,<br />

U. FRITH hat in Oslo (Sept. 2007) <strong>ihre</strong> umfangreichen Forschungsarbeiten <strong>zu</strong> diesem Thema<br />

vorgestellt. Sie konnte eindrucksvoll auf der Basis von fMRI Studien nachweisen:<br />

• Mangel an Einfühlungsvermögen beruht nicht auf einer generellen Störung der<br />

emotionalen Empfindlichkeit. Es hat etwas <strong>zu</strong> tun <strong>mit</strong> der Andersartigkeit in der<br />

Verarbeitung der Hinweisreize <strong>mit</strong> emotionalem <strong>und</strong> sozialem Bedeutungsgehalt.<br />

• Aut. <strong>Menschen</strong> haben Gefühle, <strong>mit</strong>unter auch sehr starke.<br />

• Sie sind sich aber oft nicht darüber bewusst, welche Gefühle das sind.<br />

• Sie können Gefühlsäußerungen bei anderen <strong>Menschen</strong> nicht spontan erkennen.<br />

• Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie am anderen nicht interessiert sind:<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD suchen selbstverständlich nach Zuwendung <strong>und</strong> Aufmerksamkeit.<br />

Sie wollen andere <strong>Menschen</strong> verstehen <strong>und</strong> verstanden werden <strong>und</strong> entwickeln im Gr<strong>und</strong>e<br />

eine viel engere Beziehung <strong>zu</strong> den <strong>Menschen</strong> in <strong>ihre</strong>r Umgebung, als wir anhand <strong>ihre</strong>r<br />

verhaltenen Reaktionen nur vermuten können.<br />

Personen <strong>mit</strong> Asperger Syndrom (SELLIN 1993,1995; GRANDLIN 1994) werden sich<br />

spätestens in der Pubertät <strong>ihre</strong>r Schwächen bewusst <strong>und</strong> leiden darunter.<br />

Sie befürchten, etwas Falsches <strong>zu</strong> sagen, etwas fehl <strong>zu</strong> interpretieren, etwas <strong>zu</strong> übersehen, ins<br />

Fettnäpfchen <strong>zu</strong> treten oder andere <strong>zu</strong> brüskieren.<br />

Dabei haben sie aber keineswegs die Absicht, andere <strong>zu</strong> verletzen.<br />

Seit dem Forschungen von Rigolazzi <strong>und</strong> Gallese wissen wir: Dieses Defizit lässt sich<br />

vermutlich auf eine Dysfunktion der sogenannten Spiegelneuronen <strong>zu</strong>rückführen.<br />

Darunter versteht man eine Gruppe von Neuronen, die nur dann aktiv sind, wenn man<br />

relevante Bewegungen selbst durchführt oder diese bei anderen beobachtet.<br />

Sie stellen die Vorausset<strong>zu</strong>ng dar, spontan <strong>und</strong> intuitiv Gefühlsregungen oder Absichten <strong>zu</strong><br />

erkennen, die hintern den gezeigten Bewegungen stehen oder da<strong>zu</strong> Anlass gaben.<br />

Die Entwicklung des so genannten sozialen Gehirns wird dadurch beeinträchtigt. ( Brothers<br />

1990, Baron-Cohen 1999, Castelli et al 2000, Schultz 2002)<br />

8


Dieses weit reichende Defizit wurde jüngst nachhaltig erforscht. Es stellt so etwas dar wie den<br />

Schlüssel <strong>zu</strong>m Verständnis einer ganzen Reihe von Verhaltensbesonderheiten (vgl.<br />

DALFERTH 2007)<br />

Allerdings wissen wir bislang noch nicht, weshalb diese Neuronengruppe bei <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Autismus</strong> nicht richtig arbeitet.<br />

Aktuelle Untersuchungen geben jedoch auch Anlass <strong>zu</strong> Optimismus:<br />

Soziale Trainingsmaßnahmen können allen Bagatellisierungen <strong>zu</strong>m Trotz da<strong>zu</strong> beitragen, dass<br />

es <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD besser gelingt, verschiedene Ausdrucksformen eines Gefühls bei<br />

anderen <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> dem entsprechenden Bedeutungsgehalt <strong>zu</strong> verknüpfen <strong>und</strong> eigene<br />

Gefühlsäußerungen angemessen in soziale Situationen ein<strong>zu</strong>betten.<br />

Nachweisbar ist <strong>ihre</strong> Gehirn in der Lage, auch über Umwege <strong>zu</strong>m Ziel <strong>zu</strong> gelangen.<br />

5. <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Autistische Kinder sind fehlerzogen. Sie können durch das<br />

Fehlverhalten der Eltern in den <strong>Autismus</strong> getrieben werden.<br />

Allen Erkenntnissen <strong>zu</strong>m Trotz wird diese düstere Fehlannahme immer mal wieder aus der<br />

Schublade gezogen.<br />

Sie kam vor einigen Jahren noch in dem Gewande „Hättest du mich festgehalten“ daher.<br />

Diese ungerechtfertigte Stigmatisierung der Angehörigen , gewissermaßen selbst die Schuld<br />

am auffälligen Verhalten eines Kindes <strong>zu</strong> tragen, hat <strong>zu</strong> berechtigter Empörung geführt <strong>und</strong><br />

viel Schaden angerichtet.<br />

Warum wird jedoch Eltern der <strong>Autismus</strong> <strong>ihre</strong>r Kinder <strong>zu</strong>m Vorwurf gemacht?<br />

Da man den Kindern <strong>ihre</strong> Behinderung in der Regel nicht ansehen kann. Führt dies da<strong>zu</strong>, dass<br />

oft Passanten den Eltern unterstellen, das unangepasste Verhalten der Kinder sei schlicht<br />

ungezogen – unerzogen!<br />

Indes:<br />

Es gibt nach wie vor keine wissenschaftliche Erkenntnis darüber, dass das<br />

Erziehungsverhalten, die Erziehungseinstellungen einen <strong>Autismus</strong> provozieren können.<br />

Auch ungünstige Milieubedingungen oder äußere Faktoren spielen für sich genommen keine<br />

zentrale Rolle.(vgl. P.SCHATTOCK 2003)<br />

Bei <strong>Autismus</strong> handelt es sich um eine Störungen der kindlichen Entwicklung, die bereits vor<br />

dem 3 Lebensjahr in Erscheinung tritt <strong>und</strong> nicht durch erzieherisches Fehlverhalten provoziert<br />

werden kann. Jeglicher Schuldvorwurf, jegliche Bezichtigung der Angehörigen ist daher<br />

<strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>weisen.<br />

9


6. Die Ursachen dieser mysteriösen Behinderung sind noch völlig unbekannt.<br />

Allen Erkenntnissen der letzten Jahre <strong>zu</strong>m Trotz halten sich hier <strong>Fehlannahmen</strong> <strong>und</strong><br />

Vorurteile besonders hartnäckig. Dies hängt da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong>sammen, dass diese Behinderung immer<br />

wieder Anlass <strong>zu</strong>r Mystifizierung gibt:<br />

Vielleicht steht das da<strong>mit</strong> im Zusammenhang, dass diese <strong>Menschen</strong> so außergewöhnliche<br />

Inselbegabungen aufweisen, der sozialen Welt gegenüber so un<strong>zu</strong>gänglich erscheinen <strong>und</strong><br />

sich über einen längeren Zeitraum hinweg kaum organische Ursachen für das Verhalten<br />

finden ließen.<br />

Jedenfalls verfügen wir heute über eine Fülle von Erkenntnissen über die Hintergründe der<br />

Symptomatik.<br />

Beeinträchtigungen der Funktionsweise des ZNS, neurobiologische Besonderheiten <strong>und</strong><br />

auffällige biochemische Prozesse wurden in beeindruckender Vielfalt <strong>zu</strong>sammen getragen:<br />

- je nach Untersuchung zeigen zw. <strong>10</strong> – 80 % der <strong>Menschen</strong> aus dem autistischen<br />

Spektrum EEG Auffälligkeiten<br />

- <strong>mit</strong> einem Auftreten von Epilepsie im Jugendalter ist bei 20 – 35 % des<br />

Personenkreises <strong>zu</strong> rechnen.<br />

- Die Anzahl der Purkinjezellen im Kleinhirn ist häufig um bis <strong>zu</strong> 50 % verringert.<br />

- Über Hirngewebeschäden, vergrößerten Kopfumfang <strong>und</strong> sprunghafte Zunahme des<br />

Umfangs im ersten Lebensjahr, verkleinerten Facialiskern im Stammhirn, verringerten<br />

Umfang des Corpus Callosum, funktionale Auffälligkeiten im Frontal- <strong>und</strong> im<br />

Temporallappen, in der sensorischen Reizverarbeitung, Auffälligkeiten im<br />

limbokortikalen System,(vergrößerte Amygdala <strong>und</strong> vergrößerten Hippocampus) wird<br />

häufig berichtet.<br />

Ergänzt werden diese Bef<strong>und</strong>e durch biochemische Besonderheiten:<br />

- erhöhter Serotoninspiegel im Blut (bei ca. 25 % d. P.))<br />

- erhöhter Dopaminspiegel,<br />

- Abweichungen im Bereich der Endorphinproduktion<br />

- der Melatoninproduktion<br />

- des Purinstoffwechsels <strong>und</strong> vieles mehr (vgl. WALLIS 2006; POUSTKA, F.,2004, 31<br />

ff; YABKO 2003, 80 ff; REMSCHMID 2000; BARON-COHEN /BOLTON 1996, 26<br />

ff; RODIER 2000) BV Hilfe für das autistische Kind, 2001, 13; SCHMIDT 1998).<br />

- Last not least wissen wir, dass die sogenannten Spiegelneurone bei <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Autismus</strong> nicht richtig arbeiten <strong>und</strong> deshalb von klein an <strong>ihre</strong> Fähigkeiten <strong>zu</strong>r<br />

I<strong>mit</strong>ation, Intuition <strong>und</strong> Kommunikation beeinträchtigt sind.<br />

Allerdings lassen sich diese Besonderheiten nicht bei allen <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD feststellen.<br />

Sie kommen auch nicht bei allen gleichzeitig vor, sie lassen sich z. T. auch bei <strong>Menschen</strong><br />

<strong>mit</strong> anderen Behinderungen beobachten <strong>und</strong> überdies bleibt offen, ob diese Besonderheiten<br />

<strong>Autismus</strong> verursachen oder lediglich eine Auswirkung von <strong>zu</strong>gr<strong>und</strong>e liegenden Störungen<br />

sind.<br />

<strong>10</strong>


Nun liegt es in der Natur der Dinge, dass man <strong>zu</strong>nächst nach dem <strong>Autismus</strong>faktor sucht, der<br />

in der Lage wäre, diese Vielzahl von Auffälligkeiten plausibel <strong>zu</strong> erklären <strong>und</strong> eine kausale ,<br />

also auf die Ursache bezogene – Therapie <strong>zu</strong> ermöglicht.<br />

Es gibt jedoch bis heute keinen Hinweis darauf, dass sich <strong>Autismus</strong> lediglich auf eine<br />

bestimmte Ursache <strong>zu</strong>rückführen ließe.<br />

Dagegen spricht sowohl die Variationsbreite der Symptomatik als auch die – gleichfalls<br />

häufig ignorierte Tatsache – dass <strong>Autismus</strong> selten allein, häufig jedoch im Ensemble <strong>mit</strong> den<br />

verschiedensten anderen Behinderungen in Erscheinung tritt, in denen gleichfalls die<br />

Entwicklung des Gehirns in Mitleidenschaft gezogen wurde<br />

(Epilepsie, Tuberöse Sklerose, Neurofibromatose, Phenylketonurie, Rett-Syndrom,<br />

Fragile-x-Syndrom, Duchenne Muskel Dystrophie, Down Syndrom , Hydrocephalus,<br />

Gilles de la Tourette –Syndrom , Down Syndrom u.v.m. (vgl. GILLBERG 1989b;<br />

GILLBERG u. COLEMAN 1992)<br />

Dies alles spricht eher für eine heterogene Ätiologie, d.h. <strong>Autismus</strong> entsteht auf der Basis<br />

einer Mischung unspezifischer Ätiologien.<br />

Neuere bildgebende Verfahren (fMRI, PET, TMS) haben da<strong>zu</strong> beigetragen, dass sich die<br />

wissenschaftliche Aufmerksamkeit von morphologischen <strong>zu</strong> funktionellen Besonderheiten des<br />

Gehirnaufbaus verlagert hat. Die Erforschung der Funktionsweise <strong>und</strong> der Interaktion von<br />

Nervenzellen in den verschiedenen Hirnarealen wurde dadurch wesentlich erleichtert.<br />

Der aktuelle Erkenntnisgewinn besteht darin, dass „ eine eindeutige <strong>und</strong> geordnete<br />

Vernet<strong>zu</strong>ng verschiedener Hirnteile...,beim <strong>Autismus</strong> augenscheinlich fehlerhaft „ verläuft<br />

(POUSTKA, 2006, 47). D.h., so Poustka, dass Nervenzellen sich an Orten befinden, an denen<br />

sie üblicherweise nicht vor<strong>zu</strong>finden sind, dass sie kleiner, dichter verpackt sind <strong>und</strong> ein<br />

Überschuss an synaptischen Verbindungen nicht ‚<strong>zu</strong>recht gestutzt‘ wird, wenn diese nicht<br />

mehr benötigt werden.<br />

Die untypische <strong>und</strong>/oder fehlerhafte neuronale Vernet<strong>zu</strong>ng hat offensichtlich eine<br />

neurobiologische Gr<strong>und</strong>lage. Dies konnte anhand von Zwillingsuntersuchungen in den<br />

nordeuropäischen Ländern, Großbritannien <strong>und</strong> den USA /Utah (vgl. DALFERTH 1990)<br />

nachgewiesen werden. Die Konkordanzrate beträgt zwischen 82 <strong>und</strong> 96 % bei eineiigen<br />

Zwillingen <strong>und</strong> bei zweieiigen 23,5 %. .<br />

11


Mit einer Wahrscheinlichkeit von 91 –93 % kann man heute , so POUSTKA, von einer<br />

genetischen Disposition/Bereitschaft ausgehen.<br />

<strong>Autismus</strong> kann <strong>mit</strong> Ch. GILLBERG <strong>zu</strong>treffend als:<br />

„biologisch determinierte Verhaltensstörung“ (1989) definiert werden.<br />

Was hingegen vererbt wird, welcher genetische Mechanismus hier im Einzelnen <strong>zu</strong> Gr<strong>und</strong>e<br />

liegt, ist noch ungeklärt. Allerdings konnte bereits eine Beteiligung von 3 – <strong>10</strong> Genen<br />

(POUSTKA 2007) nachgewiesen werden.<br />

Hin<strong>zu</strong> kommen allerdings unspezifische Einflüsse im Verlauf von Schwangerschaft <strong>und</strong><br />

Geburt, die das, was als autistische Symptomatik bezeichnet wird, schließlich <strong>zu</strong>m Ausdruck<br />

bringen. Da<strong>mit</strong>:<br />

Auf der Basis einer genetischen Disposition, an <strong>Autismus</strong> <strong>zu</strong> erkranken <strong>und</strong> in Verbindung<br />

<strong>mit</strong> unspezifischen prä- bzw. perinatalen Risikofaktoren entwickelt sich ein autistisches<br />

Syndrom vor Beginn des 3 Lebensjahres.<br />

7. Fehlannahme: <strong>Autismus</strong> ist heilbar<br />

8. <strong>Autismus</strong> ist unheilbar<br />

Immer wieder werden Berichte von spektakulären Heilungen publiziert, die sich insbesondere<br />

auf Außenseitermethoden (medikamentöse Therapien, ABA, Festhaltetherapie(Forced<br />

Holding) usw. stützen.<br />

Diese Berichte nehmen in der Regel <strong>ihre</strong>n Ausgang von erstaunlichen Entwicklungen bei<br />

einzelnen <strong>Menschen</strong>. Selbstverständlich sind sie geeignet, gerade bei Angehörigen<br />

übertriebene Hoffungen <strong>zu</strong> speisen.<br />

Indes: Sie können die hochgesteckten Erwartungen leider nicht erfüllen.<br />

Dass Angehörige keine Mittel <strong>und</strong> Wege scheuen <strong>und</strong> große Hoffungen an wenig<br />

abgesicherte therapeutische Verfahren knüpfen, ist zwar verständlich, erbringt jedoch aller<br />

Erfahrung nach nicht den erwünschten Effekt.<br />

Da der Mechanismus des Zusammenwirkens neurologischer, biologischer <strong>und</strong> biochemischer<br />

Faktoren sehr komplex ist <strong>und</strong> wir von unterschiedlichen Schweregraden, Verlaufsformen<br />

<strong>und</strong> Behinderungskombinationen ausgehen müssen, werden wir uns von der Idee einer<br />

passenden Kausaltherapie verabschieden müssen:<br />

12


D.h. einer Kausaltherapie, die geeignet erschiene, alle Symptome, die ein <strong>Autismus</strong>syndrom<br />

kennzeichnen, auf einmal <strong>zu</strong> beseitigen <strong>und</strong> eine völlig unauffällige Entwicklung ein<strong>zu</strong>leiten.<br />

Gegenüber allen Therapien, die gegenwärtig Heilung versprechen, ist daher äußerste Skepsis<br />

geboten.<br />

Ist <strong>Autismus</strong> da<strong>mit</strong> unheilbar? Gibt es keine Hoffung?<br />

Um einem verbreiteten Fehlverständnis ab<strong>zu</strong>helfen: Die Tatsache einer genetischen<br />

Disposition - das bedeutet keineswegs einen biologischen Determinismus:<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Autismus</strong> können lernen <strong>und</strong> sich <strong>mit</strong> therapeutischer Hilfe im Leben<br />

wesentlich besser <strong>zu</strong>rechtfinden, als wir das vor Jahren noch für möglich hielten.<br />

Ein beredtes Beispiel lieferten jüngst Testuntersuchungen bei Spiegelneuronen:<br />

Jacoboni <strong>und</strong> Dapretto (2006) konnten feststellen, dass eine Gruppe von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Autismus</strong> in der Tat erhebliche Probleme da<strong>mit</strong> hatten, Gefühlsausdrücke in Gesichter <strong>zu</strong><br />

erkennen, weil eben <strong>ihre</strong> Spiegelneurone nicht richtig arbeiten.<br />

Nun wurden sie aufgefordert, lediglich den Gesichtsausdruck nach<strong>zu</strong>ahmen:<br />

Überraschenderweise gelang dies den autistischen <strong>Menschen</strong> genauso gut wie der<br />

Vergleichsgruppe – <strong>und</strong> das ohne die Beteiligung von Spiegelneuronen! Und denen wird ja<br />

für die I<strong>mit</strong>ation eine f<strong>und</strong>amentale Bedeutung <strong>zu</strong>gesprochen<br />

Die Forscher konnten da<strong>mit</strong> nachweisen:<br />

Von <strong>Autismus</strong> Betroffene entwickeln offensichtlich alternative Strategien, um diese<br />

mimischen Ausdrücke nach<strong>zu</strong>ahmen. Einigen gelingt es also, neuronale Umwege<br />

ein<strong>zu</strong>schlagen <strong>und</strong> diese Defizite <strong>mit</strong> Hilfe <strong>ihre</strong>r kognitiven Kompetenzen <strong>zu</strong> kompensieren.<br />

Schon seit Ende der 90er Jahre weiß man ja, dass beim Betrachten von Gesichtern <strong>und</strong> beim<br />

Wieder- Erkennen von <strong>Menschen</strong> bei autistischen <strong>Menschen</strong> Hirnbereiche aktiv werden –<br />

die wir lediglich beim Erkennen von Gegenständen benötigen:<br />

.<br />

Eine Fülle von therapeutischen Verfahren konnte in der Vergangenheit den Nachweis<br />

erbringen: Eine erhebliche symptomatische Verbesserung ist möglich, es besteht kein Gr<strong>und</strong><br />

<strong>zu</strong> Defätismus:<br />

Autistische Symptome bleiben zwar lebenslang erhalten, aber therapeutische Hilfen können<br />

wesentlich <strong>zu</strong> einer Normalisierung des Verhaltens <strong>und</strong> <strong>zu</strong> einem besseren Zurechtfinden in<br />

der Gesellschaft beitragen.<br />

13


9. Autistische Mensche sind nicht in der Lage, einer beruflichen Tätigkeit<br />

nachgehen <strong>zu</strong> können<br />

Die Konzentration auf autistische Kinder über Jahrzehnte hinweg war in der Tat irreführend<br />

<strong>und</strong> ist äußerst problematisch. Sie hat da<strong>zu</strong> geführt, dass die Lebenssituation erwachsener<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD demgegenüber lange Zeit ignoriert wurde.<br />

<strong>Autismus</strong> ist jedoch keine ‚Kinderkrankheit’. Aus autistischen Kindern werden Erwachsene,<br />

die ein Recht auf Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen haben.<br />

Die Kategorisierung <strong>Autismus</strong> = geistige Behinderung führte da<strong>zu</strong>, die geistigen Potentiale<br />

dieser <strong>Menschen</strong> <strong>zu</strong> unterschätzen. An eine Berufsausbildung war nicht <strong>zu</strong> denken. Betroffene<br />

<strong>und</strong> Angehörige wurde vorschnell auf Förderstätten oder Werkstätten verwiesen.<br />

Das noch in den 70er <strong>und</strong> 80er Jahren transportierte Bild einer autistischen Behinderung: -<br />

<strong>Menschen</strong> die sich stereotyp <strong>mit</strong> Gegenständen befassen, auf <strong>ihre</strong> soziale Umwelt nicht<br />

reagieren, sich gegen Veränderungen <strong>zu</strong> Wehr setzen <strong>und</strong> der Sprache nicht mächtig sind –<br />

erweckte den Anschein, als wären berufliche Bildungsmaßnahmen bei diesem Personenkreis<br />

weitgehend sinnlos.<br />

Im Verlauf der letzten 15 Jahre konnte sich nach <strong>und</strong> nach diese Auffassung verändern:<br />

Mehrere Aspekte waren dabei maßgeblich:<br />

- Die Erkenntnis, dass ein aut. Spektrum existiert, führte <strong>zu</strong> der Überlegung, dass<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ganz unterschiedlichen Vorausset<strong>zu</strong>ngen <strong>und</strong> Schweregraden der<br />

Behinderung eine individuelle berufliche Förderung benötigen<br />

- Die Entwicklung von augmentativen oder alternativen Kommunikationsformen trug<br />

<strong>zu</strong>r Verbesserung der Interaktion bei<br />

- Aufgr<strong>und</strong> früher therapeutischer Interventionen <strong>und</strong> angepasster Hilfestellung in<br />

Schulen gelang es immer mehr Kindern, Regelschulabschlüsse <strong>zu</strong> erzielen <strong>und</strong> sich an<br />

den Realitätsanforderungen besser orientieren <strong>zu</strong> können.<br />

- Die erfolgreichen TEACCH Programme konnten unter Beweis stellen: Auch<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> erheblichen Beeinträchtigungen können in die Lage versetzt werden,<br />

eine produktive Tätigkeit auf dem allg. Arbeitsmarkt aus<strong>zu</strong>üben.<br />

- Die Erfolge <strong>mit</strong> Supported Employment-Maßnahmen in den angloamerikanischen<br />

Ländern in den 90er Jahren ließen aufhorchen. Offensichtlich war es doch möglich,<br />

eine ganze Reihe dieser <strong>Menschen</strong> durch Job Coaching direkt vor Ort so <strong>zu</strong> fördern,<br />

dass sie beruflich integriert werden konnten.<br />

Da<strong>mit</strong>: Für viele ist die WfbM das richtige Arbeitsfeld, für etliche kommt eine<br />

Integrationsfirma in Frage, einige können befähigt werden, auf dem allgemeinen<br />

Arbeitsmarkt eine kompetitive Tätigkeit aus<strong>zu</strong>üben.<br />

14


1989 habe ich die erste Untersuchung <strong>zu</strong>r Arbeits- <strong>und</strong> Ausbildungssituation durchgeführt.<br />

Hier kam <strong>zu</strong>m Vorschein, dass von 179 Erwachsenen lediglich 6 einen Nischenarbeitsplatz<br />

(als Hausmeister, landwirt. Hilfskraft, Lagerarbeiter, Näher etc.) gef<strong>und</strong>en hatten. Und in den<br />

BBW gelang es nur wenigen, eine überbetriebliche Ausbildung erfolgreich ab<strong>zu</strong>schließen.<br />

Im Verlauf der 90er Jahre konnte sich jedoch die Situation noch nicht wesentlich verbessern.<br />

Diese Exklusion vom Arbeitsleben war jedoch nicht den mangelhaften Kompetenzen aut.<br />

<strong>Menschen</strong> geschuldet, vielmehr Folge der problematischen wirtschaftlichen Lage<br />

Heute befinden sich etwa 5 % auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die meisten sind in<br />

Werkstätten tätig, doch eine ganze Reihe ist nach wie vor ohne Arbeit, Beschäftigung <strong>und</strong><br />

Perspektive.<br />

Etliche Projekte <strong>zu</strong>r beruflichen Förderung wurden ins Leben gerufen U. a.<br />

Ein Projekt des BUMI für Arbeit <strong>und</strong> Soziales, etabliert seit 2003 am BBW Abensberg hat<br />

nun <strong>zu</strong>m Ziel, Möglichkeiten der beruflichen Förderung <strong>und</strong> Inklusion <strong>zu</strong> erforschen <strong>und</strong><br />

geeignete Integrationswege auf<strong>zu</strong>zeigen.<br />

Der gegenwärtige Stand der Dinge zeigt:<br />

- Die Anzahl von Interessenten <strong>und</strong> Aus<strong>zu</strong>bildenden nimmt ständig <strong>zu</strong> (180 Personen<br />

wurden schon in den <strong>zu</strong>rückliegenden 4 Jahren gefördert)<br />

- Wir rechnen bei den gegenwärtig ca. <strong>10</strong>0 Aus<strong>zu</strong>bildenden <strong>mit</strong> <strong>zu</strong>nehmend<br />

erfolgreichen Ausbildungsabschlüssen <strong>und</strong> einer erfolgreichen Platzierung auf dem<br />

allgemeinen Arbeitsmarkt.<br />

Weitaus mehr <strong>Menschen</strong> aus dem autistischen Formenkreis sind arbeits- <strong>und</strong><br />

ausbildungsfähig. Nicht nur 5, sondern 15 – 20 % könnten auch außerhalb der WfbM<br />

arbeiten, wenn es uns gelingt, für sie in einer globalisierten Wirtschaft angepasste<br />

Arbeitsplätze <strong>zu</strong> konzipieren <strong>und</strong> ihnen die erforderliche Unterstüt<strong>zu</strong>ng angedeihen <strong>zu</strong> lassen.<br />

Auch für die schwer- <strong>und</strong> mehrfachbehinderten <strong>Menschen</strong> haben sich Verbesserungen<br />

ergeben:<br />

Dieser Personenkreis wurde noch vor 20 Jahren aufgr<strong>und</strong> massiver Verhaltensprobleme aus<br />

den WfbM entlassen. Heute verfügen etliche Werkstätten über k<strong>und</strong>iges Personal <strong>und</strong><br />

pädagogisches Know How, um <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Autismus</strong> darin <strong>zu</strong> unterstützen, <strong>ihre</strong><br />

Leistungspotentiale in der WfbM entfalten <strong>zu</strong> können.<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Autismus</strong> sind nicht nur lern –sondern auch arbeitsfähig.<br />

15


Sie haben das Recht, auch in unserer Arbeitsgesellschaft <strong>ihre</strong>n Platz <strong>zu</strong> finden.<br />

Es geht jedoch nicht nur darum, dass sich <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD an unsere Arbeitswelt<br />

anpassen. Auch unsere Gesellschaft ist gefordert, (teilgeschützte) Rahmenarbeitsbedingungen<br />

<strong>zu</strong> schaffen oder <strong>zu</strong> erhalten, die Rücksicht nehmen auf die Besonderheiten einer autistischen<br />

Problematik.<br />

<strong>10</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD können nie selbstständig leben <strong>und</strong> sind lebenslang auf Hilfe<br />

angewiesen.<br />

Folgen wir den vorliegenden internationalen Untersuchungen, dann sind die Prognosen<br />

düster:<br />

Denn nur 2 – 4 % von der gesamten Population können im Erwachsenenalter selbstständig<br />

<strong>und</strong> unabhängig leben. Der allergrößte Teil von Ihnen - so wird vermutet - bleibt auf eine<br />

vollstationäre R<strong>und</strong>umversorgung (REMSCHMID 2000, HOWLIN 2000) angewiesen, wenn<br />

er das schützende Elternhaus verlassen hat.<br />

Dieser fatalistischen Ansicht wäre entgegen<strong>zu</strong>halten:<br />

Die verschiedensten Modelle gemeinwesenintegrierten Wohnens bei uns, in den USA oder in<br />

den Nordeuropäischen Ländern zeichnen ein andere Bild: Auch <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>mit</strong>telgradigen<br />

<strong>und</strong> schweren Behinderung leben in gemeinwesenintegrierten <strong>und</strong> ambulant betreuten<br />

Wohnformen (vgl. DALFERTH 1997; THEUNISSEN/ SCHIBORT 2006) .<br />

Es gibt keinen triftigen Gr<strong>und</strong> für die Annahme, 4 von 5 <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Autismus</strong> könnten<br />

lediglich nur in vollstationären Wohnformen leben!<br />

Wir haben eine b<strong>und</strong>esweite Umfrage gestartet <strong>und</strong> mussten <strong>zu</strong>r Kenntnis nehmen:<br />

51 % (von n = 425 )der <strong>Menschen</strong> (Kanner <strong>und</strong> Aspergersyndrom) leben im<br />

Erwachsenenalter (18 – 45 J.) noch <strong>zu</strong> Hause! Bei Personen <strong>mit</strong> Kannersyndrom befinden<br />

sich die übrigen in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe.<br />

Diese Notwendigkeit besteht bei <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Aspergersyndrom jedoch keineswegs! Hier<br />

zeigt sich allerdings, dass viele gerne in betreute Wohnformen wechseln würden, jedoch<br />

weiter <strong>zu</strong> Hause leben, weil es <strong>zu</strong> wenig geeignete dezentralisierte betreute Wohnformen gibt!<br />

Hier besteht ein erheblicher Nachholbedarf, der <strong>zu</strong>dem eine Entlastung der Angehörigen<br />

<strong>mit</strong>telfristig garantieren kann.<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Autismus</strong> können in <strong>ihre</strong>r Selbstständigkeit so gefördert werden, dass ein<br />

großer Teil von Ihnen <strong>mit</strong> flankierender Hilfe in gemeinwesenintegrierten <strong>und</strong> ambulant<br />

16


etreuten Wohnformen leben kann. Das Ausmaß der erforderlichen Hilfe variiert von Fall <strong>zu</strong><br />

Fall – <strong>und</strong> natürlich auch in Abhängigkeit vom Lebensalter!<br />

Es kommt aber vordringlich darauf an, erst einmal geeignete Wohn- <strong>und</strong> Betreuungsplätze <strong>zu</strong><br />

schaffen, die Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse der <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD <strong>und</strong> ihnen eine<br />

weitgehende Teilhabe am Leben der Gesellschaft gewähren.<br />

!<br />

17


<strong>10</strong> Vermutungen – <strong>10</strong> Entgegnungen<br />

1. Bei <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD handelt es sich keineswegs um eine kleine, <strong>zu</strong><br />

vernachlässigende Gruppe, sondern um einen Personenkreis, der die Anzahl der<br />

blinden <strong>und</strong> gehörlosen <strong>Menschen</strong> weit übersteigt!<br />

2. Wahrscheinlich nur 20, höchstens jedoch 50 % der <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> ASD können als<br />

geistig behindert bezeichnet werden.<br />

3. <strong>Menschen</strong> aus dem aut. Spektrum zeigen zwar verschiedene Formen von Kontakt- <strong>und</strong><br />

Kommunikationsprobleme. Sie können jedoch erhebliche Lernfortschritte machen <strong>und</strong><br />

ihr Verhalten im Verlauf der Entwicklung deutlicher an allgemeine<br />

Verhaltenserwartungen anpassen.<br />

Es trifft nicht <strong>zu</strong>, dass sie an sozialem Kontakt überhaupt nicht interessiert oder gar<br />

völlig <strong>zu</strong>frieden wäre, wenn sie sich <strong>mit</strong> sich selbst beschäftigen können.<br />

4. Empathische Defizite sind nicht gleichbedeutend da<strong>mit</strong>, dass sie am anderen nicht<br />

interessiert oder gar <strong>zu</strong> gefühlsmäßigen Regungen nicht befähigt sind! Ihr Problem ist,<br />

dass sie gefühlsmäßige Reaktionen bei anderen <strong>Menschen</strong> nicht ohne weiteres<br />

erkennen <strong>und</strong> deuten können.<br />

5. Nach wie vor gibt es keine wissenschaftlich begründbaren Anhaltspunkte dafür, dass<br />

Eltern durch ihr Erziehungsverhalten <strong>Autismus</strong> provozieren können. Jegliche<br />

Schuldvorwürfe sind daher <strong>zu</strong>rück <strong>zu</strong> weisen.<br />

6. Auf der Basis einer genetischen Disposition, an <strong>Autismus</strong> <strong>zu</strong> erkranken <strong>und</strong> in<br />

Verbindung <strong>mit</strong> unspezifischen prä- bzw. perinatalen Risikofaktoren entwickelt sich<br />

ein autistisches Syndrom vor Beginn des 3. Lebensjahres.<br />

7. 7. Heilung ist bislang nicht möglich. Einige autistische Symptome bleiben lebenslang<br />

erhalten. Therapeutische Hilfen können jedoch wesentlich <strong>zu</strong> einer Normalisierung<br />

des Verhaltens <strong>und</strong> <strong>zu</strong> einem besseren Zurechtfinden in der Gesellschaft beitragen.<br />

8. Weitaus mehr <strong>Menschen</strong> aus dem autistischen Formenkreis sind arbeits- <strong>und</strong><br />

ausbildungsfähig. Die meisten können in einer geschützten Atmosphäre <strong>ihre</strong><br />

Leistungsfähigkeit entwickeln, doch nicht nur 5, sondern 15 – 20 % wären in der<br />

Lage, auf dem allg. Arbeitsmarkt (auch in einer Integrationsfirma) <strong>zu</strong> arbeiten.<br />

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9. <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Autismus</strong> können in <strong>ihre</strong>r Selbstständigkeit so weit gefördert werden,<br />

dass der größte Teil von Ihnen <strong>mit</strong> flankierenden Hilfe in kleinen , überschaubaren<br />

gemeinwesenintegrierten Wohnformen leben kann.<br />

(Literatur beim Autor)<br />

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