Die vedischen Götter Götter des Himmels Götter der Erde ... - KHA
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Die vedischen Götter Götter des Himmels Götter der Erde ... - KHA
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<strong>Die</strong> <strong>vedischen</strong> <strong>Götter</strong><br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 1 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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<strong>Die</strong> <strong>vedischen</strong> <strong>Götter</strong> leben in drei Sphären: im Himmel, im Luftraum und auf <strong>der</strong> <strong>Erde</strong>. Ihre Zahl variiert:<br />
Manche Texte sprechen von 33 an<strong>der</strong>e von unendlich vielen. Ihre Zuordnung ist schwierig, denn oft<br />
werden mehreren <strong>Götter</strong>n dieselben Taten und Fähigkeiten zugeschrieben.<br />
<strong>Götter</strong> <strong>des</strong> Luftraums<br />
Indra: <strong>der</strong> beliebteste aller <strong>vedischen</strong> <strong>Götter</strong>: er<br />
befreit die Urwasser, läßt die Flüsse fließen, er<br />
befestigt die <strong>Erde</strong>, stützt den Himmel und hält<br />
die Sterne.<br />
Rudra: kann vor Krankheit bewahren, ist gefürchtet<br />
wegen seines grenzenlosen Zorns; man<br />
nennt ihn Shiva, den Segensreichen, später<br />
einer <strong>der</strong> berühmtesten Hindu-<strong>Götter</strong>.<br />
Maruts: die Söhne Rudras; sie vergießen den<br />
Regen, entfachen das Licht, bereiten <strong>der</strong> Sonne<br />
den Weg und schützen die Menschen vor den<br />
Pfeilen ihrer Gegner.<br />
Vayu: <strong>der</strong> Gott <strong>des</strong> Win<strong>des</strong>.<br />
<strong>Götter</strong> <strong>des</strong> <strong>Himmels</strong><br />
Dyaus: die Personifizierung <strong>des</strong> <strong>Himmels</strong>.<br />
Rita: kosmisches Ur-Prinzip, dem alles unterworfen<br />
ist.<br />
Varuna: Herr <strong>des</strong> urzeitlichen Chaos, Schöpfer von<br />
Himmel und <strong>Erde</strong>.<br />
Mitra: die Freundschaft: Gott <strong>des</strong> Lichts und <strong>des</strong><br />
Vertrags.<br />
Surya und Savitri: Sonnengötter.<br />
Vishnu: in früher Zeit noch unbedeutend.<br />
Pushan: schützt vor Gefahr und behütet das Vieh.<br />
Ushas: die Morgenröte.<br />
Ashvins: Söhne von Dyaus, sie bringen Gesundheit,<br />
Wohlstand und Fruchtbarkeit.<br />
<strong>Götter</strong> <strong>der</strong> <strong>Erde</strong><br />
Agni: <strong>der</strong> Feuergott, überall präsent und wirksam:<br />
Als Opferfeuer bringt er das Opfer zu den <strong>Götter</strong>n,<br />
als Verdauungsfeuer spendet er Lebenskraft,<br />
bei <strong>der</strong> Leichenverbrennung reinigt er den<br />
Leichnam<br />
Soma: vergöttlichte Pflanze, <strong>der</strong>en berauschen<strong>der</strong><br />
Saft visionäre Fähigkeiten, ja Unsterblichkeit<br />
(amrita) verleihen soll.<br />
Brihaspati: Herr <strong>der</strong> göttlichen Kraft »Brahman«,<br />
Prototyp <strong>des</strong> späteren Gottes Brahman.<br />
Prithivi: die <strong>Erde</strong>.<br />
Vergötterte Flüsse: Sarasvati, Sindhu, Ganga, u.a.<br />
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Der Veda, das »heilige Wissen«<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 2 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Der Veda ist ein Schriftkomplex vom sechsfachen Umfang <strong>der</strong> Bibel, dem bis heute die meisten Hindus<br />
göttlichen Ursprung und höchste Autorität zuschreiben. Der Veda ist, wie die meisten religiösen Texte <strong>der</strong><br />
Hindus, in Sanskrit verfaßt, was soviel heißt wie vollkommen, wohlgeformt: es ist die klassische Kultursprache<br />
Indiens.<br />
<strong>Die</strong> vier »Veden«<br />
Rigveda: Sammlung aus 1028 Hymnen und<br />
Geschichten über die <strong>Götter</strong> und das Opfer.<br />
Samaveda: Text- und Gesangbuch mit dem die<br />
Vorsänger beim Opfer ausgebildet wurden.<br />
Yajurveda: <strong>Die</strong> eigentlichen Opfersprüche, zum Teil<br />
mit Kommentaren.<br />
Atharvaveda: Eine späte Sammlung von esoterisch-magischen<br />
»Zauberformeln«.<br />
Brahmanas<br />
Priesterliche Erklärungstexte und Kommentare zu<br />
den Opfern; den einzelnen Veden und ihren<br />
Schulen zugeordnet, zum Teil mit philosophischem<br />
Inhalt.<br />
Aranyakas<br />
Philosophische »Nachträge« <strong>der</strong> Brahmanas, als<br />
Lektüre für Waldeinsiedler gedacht<br />
Upanishaden<br />
Rigveda I,1,1-8<br />
© Bildarchiv Preußischer<br />
Kulturbesitz, Berlin<br />
Der Schlußteil <strong>des</strong> geoffenbarten Teils <strong>der</strong> Veden:<br />
ursprünglich philosophische Passagen <strong>der</strong><br />
Brahmanas und Aranyakas, erst spät herausgelöst<br />
und zu einem selbständigen Textkorpus<br />
kompiliert und im Laufe <strong>der</strong> Zeit durch weitere<br />
Texte ergänzt; gelten auch als »dogmatische<br />
Textbücher« <strong>der</strong> einzelnen <strong>vedischen</strong> Schulen.<br />
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Woher stammen die »Kasten«? (1)<br />
(aus: H. Küng, Spurensuche, S. 59-61)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 3 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Woher kommt diese Einteilung <strong>der</strong> ganzen Gesellschaft<br />
in Kasten? <strong>Die</strong> historische Forschung gibt<br />
darauf verschiedene Antworten:<br />
– Sie kommt von <strong>der</strong> beruflichen Spezialisierung<br />
her, lautet eine Antwort. Aber: <strong>Die</strong> Kastenordnung<br />
ist sicher mehr als ein soziales Phänomen, so sehr<br />
sie gerade auch die Berufswahl bestimmt.<br />
– Sie ist eine von den Priestern erfundene Stan<strong>des</strong>ordnung,<br />
lautet die an<strong>der</strong>e Antwort. Aber: <strong>Die</strong><br />
Kastenordnung ist nicht nur ein religiöses Phänomen,<br />
so sehr die Brahmanen zu ihrer Ausgestaltung<br />
und Fixierung beigetragen haben.<br />
Grundlegend war vielmehr die gesamthistorische<br />
Entwicklung. Denn es läßt sich nicht bestreiten:<br />
<strong>Die</strong> nach Indien einwan<strong>der</strong>nden Arier<br />
wollten sich von <strong>der</strong> unterworfenen dunkelfarbigen<br />
Urbevölkerung absetzen und sich ihre »Reinheit«<br />
bewahren. Damals formierten sich jedenfalls<br />
jene sozialen »Farben«, »Varnas«, Gruppierungen.<br />
Sie verstanden sich schon früh auch als religiöse<br />
Institutionen, waren hierarchisch geordnet und<br />
trugen einen gemeinschaftlichen Namen.<br />
Schon in <strong>der</strong> ältesten indischen Literatur,<br />
dem Rig-Veda, findet sich (in einem freilich relativ<br />
späten Teil) eine religiöse Begründung für die Hierarchie<br />
<strong>der</strong> Kasten. Betrachten wir den Hymnus auf<br />
»Purusha«, ein menschenartiges kosmisches Urwesen,<br />
aus dem die ganze Welt entstand (Rig-Veda<br />
10,90). Während drei Viertel dieses eigentümlichen<br />
Wesens geistig-transzendent sind, wird ein Viertel<br />
von den <strong>Götter</strong>n im Opferfeuer dargebracht. So<br />
entsteht alles, was es gibt: die <strong>vedischen</strong> Textsammlungen,<br />
die Tiere und eben die vier Menschenklassen,<br />
schließlich die Gestirne, die Elemente,<br />
<strong>der</strong> Himmel und die <strong>Erde</strong>.<br />
Das Eine<br />
»Das Urwesen (Purusha) mit tausendfachen Häuptern,<br />
mit tausendfachen Augen, tausend Füßen bedeckt<br />
ringsum die <strong>Erde</strong> allerorten, ... Nur er ist diese<br />
ganze Welt, und was da war, und was zukünftig<br />
währt, Herr ist er über die Unsterblichkeit, ...<br />
Vier Veden<br />
Aus ihm als ganz verbranntem Opfertier die Hymnen<br />
und Gesänge sind entstanden, ... und was an<br />
Opfersprüchen ist vorhanden.<br />
Tiere<br />
Aus ihm entstammt das Roß, und was noch sonst<br />
mit Schneidezähnen ist auf beiden Seiten, aus ihm<br />
entstanden sind die Kuhgeschlechter, <strong>der</strong> Ziegen<br />
und <strong>der</strong> Schafe Son<strong>der</strong>heiten.<br />
Menschenklassen<br />
Zum Brahmanen ist da sein Mund geworden, die<br />
Arme zum Krieger sind gemacht, <strong>der</strong> Händler aus<br />
den Schenkeln, aus den Füßen <strong>der</strong> Knecht damals<br />
ward hervorgebracht ...<br />
Himmel und <strong>Erde</strong><br />
Das Reich <strong>des</strong> Luftraums ward aus seinem Nabel,<br />
<strong>der</strong> Himmel aus dem Haupt hervorgebracht, die<br />
<strong>Erde</strong> aus den Füßen, aus dem Ohre die Pole, so die<br />
Welten sind gemacht.«<br />
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Woher stammen die »Kasten«? (2)<br />
(aus: H. Küng, Spurensuche, S. 59-61)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 4 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Man beachte freilich: In diesem Text findet sich<br />
noch nicht die scharfe Abgrenzung zwischen den<br />
Kasten, welche die Heirat verschiedener Kastenangehöriger<br />
und einen Kastenwechsel ausschließt.<br />
<strong>Die</strong>se findet sich erst im einflußreichen »Gesetzesbuch<br />
<strong>des</strong> Manu« (manusmrti, vermutlich 3. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
v. Chr.), das auf den Manu (Mensch), den<br />
Stammvater <strong>der</strong> Menschheit, zurückgeführt wird.<br />
Es ist dieses Gesetzbuch, das zum Fundament <strong>der</strong><br />
Hindugesellschaft wird, ihrer Religion und ihrer<br />
Verhaltensweisen: das erste und wichtigste Werk<br />
<strong>der</strong> nach<strong>vedischen</strong> »Überlieferung« (smrti).<br />
Erst zur Zeit <strong>des</strong> Mittelalters setzt sich jener<br />
Kastenrigorismus durch, <strong>der</strong> die Heirat ebenso<br />
vorherbestimmt wie Berufswahl und Sozialprestige<br />
<strong>des</strong> Individuums. Ganz im Zentrum steht dabei die<br />
Vorstellung ritueller Reinheit. Deren Schatten ist<br />
die Angst vor Befleckung. Unrein macht jetzt<br />
schon die körperliche Berührung mit nie<strong>der</strong>en<br />
Kasten, noch mehr gemeinsames Essen und erst<br />
recht Sexualverkehr. Jegliche Unreinheit zwingt,<br />
sofern überhaupt möglich, zur angemessenen Reinigung.<br />
Dafür haben die Brahmanen ungezählte<br />
Vorschriften entwickelt: Gebote, Verbote, Reinigungsriten,<br />
aber auch die Exkommunikation. Dabei<br />
beson<strong>der</strong>s folgenreich: Ausgeschlossen sind die<br />
nie<strong>der</strong>en Kasten auch vom Studium <strong>der</strong> indischen<br />
heiligen Schriften, <strong>des</strong> »Veda«.<br />
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<strong>Die</strong> Invasion <strong>der</strong> Arier<br />
(aus: H. Küng, Spurensuche, S. 58)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 5 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Indus<br />
A f g h a n i s t a n<br />
Indus<br />
Harappa<br />
Pa k i s t a n<br />
Mohenjo-Daro<br />
500 km<br />
Ahmadabad<br />
Lahore<br />
Bombay<br />
Jaipur<br />
Sutlej<br />
Haridwar<br />
Delhi<br />
Bhopal<br />
Bangalore<br />
Yamuna<br />
I n d i e n<br />
Sanchi<br />
Khajuraho<br />
Hy<strong>der</strong>abat<br />
Madras<br />
Nagpur<br />
Ganges<br />
Sri<br />
Lanka<br />
Colombo<br />
N e p a l<br />
Varanasi<br />
Patna<br />
Bodh Gaya<br />
Bhubaneshvar<br />
Kalkutta<br />
B h u t a n<br />
Bangla<strong>des</strong>h<br />
Brahmaputra<br />
<strong>Die</strong> Invasion <strong>der</strong> Arier<br />
auf dem<br />
indischen Subkontinent<br />
(heutige Karte)<br />
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Was heißt »Seele« im alten Indien?<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 6 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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<strong>Die</strong> <strong>vedischen</strong> Dichter unterscheiden zunächst<br />
ganz allgemein zwischen dem materiellen Körper<br />
(sharira, kaya, deha) und einer immateriellen<br />
Dimension – amartya, das »Unsterbliche« o<strong>der</strong><br />
»Göttliche« eines Menschen –, die bei <strong>der</strong> Leichenverbrennung<br />
nicht mit verbrannt wird. Konkret<br />
kommt diese Dimension in ganz verschiedenen<br />
Begriffen und Vorstellungen zum Ausdruck, die<br />
allesamt, zumin<strong>des</strong>t vage, unter dem Oberbegriff<br />
»Seele« subsummiert werden könnten:<br />
◗ Jiva (»Leben«): die biologische, vitale Persönlichkeit<br />
eines Menschen, mit <strong>der</strong> er sich von an<strong>der</strong>en<br />
Menschen unterscheidet. Später, in den<br />
Upanishads, wird damit jene grobstoffliche<br />
»Lebenseele« bezeichnet, welche die individuellen,<br />
von den Taten geprägten Anlagen eines<br />
Menschen in sich trägt, und in die das feinstoffliche<br />
»Selbst« <strong>des</strong> Menschen (atman) verstrickt<br />
ist;<br />
◗ Manas (»Denken«): allgemein die mentalen<br />
Kräfte eines Menschen, speziell die kognitive<br />
Dimension, <strong>der</strong> Sitz <strong>des</strong> menschlichen Bewußtseins;<br />
das innere Organ <strong>der</strong> Wahrnehmung und<br />
<strong>des</strong> Denkens (insofern ist Manas auch vergänglich),<br />
durch das die Gedanken in die Seele eingehen<br />
und Objekte die Seele affizieren;<br />
◗ Asu / Atman / Prana (»Lebensatem«, »Odem«):<br />
die vitale Kraft, <strong>der</strong> Geist, das Prinzip <strong>des</strong><br />
Lebens; all diese Begriffe werden im Laufe <strong>der</strong><br />
Zeit zunehmend abstrahiert: Prana wird zu einer<br />
<strong>der</strong> (im Veda drei bis zehn) Lebenskräfte bzw. -<br />
organe; aus Atman wird bereits im Atharvaveda<br />
die individuelle, geistige Seele, <strong>der</strong> Kern <strong>des</strong><br />
Individuums, in den Upanishads schließlich das<br />
feinstoffliche individuelle »Selbst«;<br />
◗ Paramatman (»höchster Geist«): ein transpersonales,<br />
universales geistiges Prinzip, in dem<br />
(breits in späten Teilen <strong>des</strong> Rigveda!) <strong>der</strong> Ursprung<br />
aller Lebewesen angenommen wird.<br />
Das heißt: Schon von Anfang an finden sich im<br />
Veda je verschiedene Bezeichnungen für je verschiedene<br />
(geistige) Bereiche <strong>der</strong> menschlichen<br />
Existenz, und keiner dieser Begriffe bezeichnet von<br />
Anfang an eindeutig »eine unvergängliche, immaterielle<br />
geistige Substanz, welche den innersten<br />
unverän<strong>der</strong>lichen Kern einer Persönlichkeit darstellt«<br />
– eben das, was heute allgemein als »Seele«<br />
bezeichnet wird. Entsprechend vage sind auch die<br />
Vorstellungen darüber, was mit dem Menschen<br />
beim Sterben geschieht und, vor allem, was nach<br />
dem Tode – wo und wie auch immer – weiterlebt.<br />
So nehmen etwa die Brahmanas noch an,<br />
»<strong>der</strong> Tote selbst« lebe im Jenseits weiter, und zwar<br />
»wie er leibte und lebte«, indem nämlich bei <strong>der</strong><br />
Verbrennung (o<strong>der</strong> auch durch Verwesung) die<br />
Bestandteile <strong>des</strong> Toten dorthin (d. h. zu den Gottheiten)<br />
zurückkehren, woher sie stammen: »das<br />
Fleisch zur <strong>Erde</strong>, das Blut zum Wasser, die Rede<br />
zum Feuer, <strong>der</strong> Odem zum Winde, die Fähigkeit zu<br />
hören zu den <strong>Himmels</strong>richtungen, die Sehkraft zur<br />
Sonne, das Denken zum Monde«. Übrig bleibt ein<br />
schemenhaftes Wesen (preta; vergleichbar etwa<br />
mit <strong>der</strong> Homerischen »Psyche«), das in einer »Art<br />
Auferstehung <strong>der</strong> Toten« im Jenseits nach seinem<br />
ganzen Leib mit allen Glie<strong>der</strong>n und Gelenken in<br />
verklärter Form aufersteht, sofern er auf <strong>Erde</strong>n<br />
entsprechend gelebt hat o<strong>der</strong> – dieser Gedanke<br />
tritt in den Brahmanas immer mehr in den Vor<strong>der</strong>grund<br />
– über das entsprechende Wissen verfügt, in<br />
ewiger Gemeinschaft mit den <strong>Götter</strong>n.<br />
Stephan Schlensog<br />
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Wie<strong>der</strong>verkörperung und Karmaglaube<br />
(aus: H. Küng, Spurensuche, S. 66)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 7 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Der Glaube an eine zyklische Wie<strong>der</strong>verkörperung<br />
<strong>der</strong> Verstorbenen, an eine »Seelenwan<strong>der</strong>ung«, ist<br />
keine indische Erfindung. Er gehört seit alters zum<br />
Traditionsgut vieler Kulturen überall auf <strong>der</strong> Welt.<br />
Und auch in Indien war und ist man sich keineswegs<br />
einig, wie man sich das Schicksal <strong>der</strong> Verstorbenen<br />
vorzustellen habe.<br />
In frühvedischer Zeit jedenfalls glaubte man<br />
zunächst, die Toten gelangten mit <strong>der</strong> Leichenverbrennung<br />
direkt entwe<strong>der</strong> in die ewige Verdammnis<br />
<strong>der</strong> Unterwelt o<strong>der</strong> zur paradiesischen<br />
Seligkeit in die <strong>Himmels</strong>welt. Doch begann man<br />
bald daran zu zweifeln: War nicht zu befürchten,<br />
daß auch im Himmel ein »Wie<strong>der</strong>tod« erfolgt und<br />
die Verstorbenen zu einer neuen Existenz wie<strong>der</strong><br />
auf die <strong>Erde</strong> zurückkehren müssen, um mit dem<br />
Tod von dort erneut zum Himmel aufzusteigen?<br />
Was diesen Zyklus beeinflußt, darüber wurde<br />
zu allen Zeiten kontrovers spekuliert: Auf dem<br />
Mond, dieser Pforte zur <strong>Himmels</strong>welt, gäbe es, so<br />
meinte man zunächst, einen Wächter, <strong>der</strong> den Verstorbenen<br />
Fragen nach ihrem Leben stelle; <strong>der</strong>en<br />
Beantwortung sei für ihr weiteres Schicksal entscheidend.<br />
Später waren es nach <strong>der</strong> Auffassung<br />
<strong>der</strong> Brahmanen vor allem die Opferhandlungen<br />
<strong>der</strong> Verstorbenen zu Lebzeiten, die ihr Schicksal<br />
nach dem Tod bestimmen sollen. Mit dem Wort<br />
»handeln« war jetzt das entscheidende Stichwort<br />
gegeben, unter dem sich in <strong>der</strong> indischen Tradition<br />
die »Karma«-Theorie (Sanskrit kr – »handeln«,<br />
»tun«) durchsetzen sollte. Hierbei war ausschlaggebend,<br />
daß man sich beim Verständnis <strong>des</strong> Handelns<br />
von mythischen und rituellen Vorstellungen<br />
weitgehend zu lösen begann. Ein komplexer Prozeß,<br />
<strong>der</strong> sich in den Upanishaden noch nachvollziehen<br />
läßt: Schließlich wurde einfach <strong>der</strong> Lebenswandel,<br />
das moralisch richtige Handeln <strong>der</strong> Verstorbenen<br />
zu Lebzeiten, zum entscheidenden<br />
Kriterium für die Art ihrer Wie<strong>der</strong>verkörperung.<br />
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<strong>Die</strong> neuen Hochgötter (1)<br />
(aus: H. Küng, Spurensuche, S. 73f)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 8 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Für den Großteil <strong>der</strong> In<strong>der</strong> waren wohl zu allen<br />
Zeiten die abstrakten philosophischen Spekulationen<br />
von geringer Bedeutung. Wichtiger war die<br />
Verehrung von <strong>Götter</strong>n, ja einer bestimmten Gottheit,<br />
von <strong>der</strong> man Zuspruch und Segen erhofft und<br />
die für die Gläubigen einen Aspekt o<strong>der</strong> eine Inkarnation<br />
<strong>des</strong> Göttlichen repräsentiert. Deshalb konnten<br />
schon die großen philosophischen Konzeptionen<br />
<strong>der</strong> Upanishaden nur begrenzt Eingang in<br />
die religiöse Alltagspraxis <strong>der</strong> einfachen Gläubigen<br />
finden. Ja schon in den Upanishaden selber finden<br />
sich Texte, die von einer wie<strong>der</strong>erstarkten, selbstbewußt<br />
vorgetragenen theistischen Frömmigkeit<br />
zeugen: Heil und Erlösung <strong>des</strong> einzelnen werden<br />
von <strong>der</strong> gläubigen Hingabe an einen personal<br />
gedachten Gott abhängig gemacht. <strong>Die</strong>se Entwicklung<br />
führte zwischen dem 3. Jahrhun<strong>der</strong>t v.<br />
Chr. und dem 3. Jahrhun<strong>der</strong>t n. Chr. zu den klassischen<br />
Hindu-Religionen, wie sie in den großen<br />
Hindu-Epen Mahabharata und Ramayana zum<br />
Ausdruck kommen.<br />
Denn neue <strong>Götter</strong> treten jetzt in den Vor<strong>der</strong>grund,<br />
die in den Veden keine o<strong>der</strong> nur eine geringe<br />
Rolle gespielt hatten. Vielfach waren sie aus<br />
lokalen Kulten hervorgegangen. Und mehr als <strong>der</strong><br />
tantrische Shaktismus konnten sich in <strong>der</strong> nach<strong>vedischen</strong><br />
Zeit die neuen <strong>Götter</strong> Vishnu und Shiva<br />
durchsetzen. Sowohl Vishnu, <strong>der</strong> in den Veden als<br />
Gefährte Indras nur eine untergeordnete Rolle<br />
spielt, wie Shiva, <strong>des</strong>sen Name sich in den Veden<br />
nur als Attribut <strong>des</strong> ambivalenten Gottes Rudra<br />
findet, sind höchst komplexe Gestalten. Ihre Entstehung<br />
bleibt für die historische Forschung weitgehend<br />
im dunkeln. Sicher sind im Verlauf <strong>der</strong> Zeit<br />
verschiedene lokale <strong>Götter</strong> und Heroen mit ihnen<br />
identifiziert worden, so daß uns nun manche ihrer<br />
Einzelzüge wi<strong>der</strong>sprüchlich erscheinen.<br />
Vishnu (»Hari«), dargestellt mit vier Armen, Zeichen<br />
<strong>der</strong> göttlichen Macht, und mit vier Attributen:<br />
Muschelhorn, Diskus, Keule und Lotus. Zwischen<br />
den Weltschöpfungen ruht er auf <strong>der</strong> tausendköpfigen<br />
Schlange Shesha, die schwimmt auf<br />
dem weiten, endlosen Ozean aus Milch. Seine<br />
Gefährtin ist Lakshmi, die Göttin <strong>des</strong> Reichtums<br />
und <strong>des</strong> Glücks. Sein Kult hat für die vielen Verehrer<br />
(die vaishnavas) einen fröhlich-unbeschwerten<br />
Charakter. Sie wissen: Wann immer die Weltordnung<br />
gefährdet ist, greift Vishnu ein, um sie gegen<br />
die Dämonen die zu schützen und die Welt zu retten.<br />
Er (und nur er) nimmt dann eine irdische Gestalt<br />
an, inkarniert sich als Mensch o<strong>der</strong> Tier. Von<br />
zehn solcher Verkörperungen (Inkarnationen) o<strong>der</strong><br />
Avataras (Herabkünfte) sind die wichtigsten Rama<br />
und Krishna. <strong>Die</strong> zehnte allerdings steht noch aus,<br />
sie geschieht am Ende dieses Zeitalters.<br />
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<strong>Die</strong> neuen Hochgötter (2)<br />
(aus: H. Küng, Spurensuche, S. 73f)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 9 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Shiva dagegen ist ein doppelgesichtiger Gott. Mit<br />
seinem schrecklichen Aussehen verkörpert er den<br />
Aspekt <strong>der</strong> Auflösung und Zerstörung. Als großer<br />
Asket und Vorbild aller Yogis sitzt er als Verkörperung<br />
<strong>der</strong> Entsagung meditierend auf einer Bergspitze<br />
<strong>des</strong> Himalaja, <strong>der</strong> Quelle <strong>des</strong> Ganges. Zugleich<br />
ist er seinem Namen nach <strong>der</strong> »Segensreiche,<br />
Gütige, Wohlwollende«, <strong>der</strong> durch seine<br />
unendliche Zeugungskraft alles entstehen läßt und<br />
Leben spendet. <strong>Die</strong> Verkörperung seiner »weib-<br />
lichen« Energien, ohne die Shiva machtlos wäre, ist<br />
seine Partnerin Parvati (als diese gelten auch<br />
Shakti, Durga und Kali), <strong>der</strong>en Verehrung sich im<br />
Kult <strong>der</strong> Göttin verselbständigte.<br />
Shiva wird oft nur symbolisch dargestellt als<br />
Linga (Sanskrit für »Phallus«), naturalistisch o<strong>der</strong><br />
als Säulenstumpf: Ausdruck göttlicher Zeugungskraft,<br />
<strong>der</strong> alles Leben seinen Ursprung verdankt.<br />
Der Linga ist oft verbunden mit <strong>der</strong> Yoni (Vagina),<br />
dem weiblichen Gegenstück, Ausdruck von Shivas<br />
Vereinigung mit seiner Gemahlin, aber auch <strong>der</strong><br />
Komplementarität <strong>der</strong> Geschlechter. Im Zentrum<br />
je<strong>des</strong> Shiva-Tempels steht ein Linga. Viele Namen<br />
geben die Shivaiten (shaivas) ihrem Gott. In <strong>der</strong><br />
Kunst in<strong>des</strong> wird er gerne als Shiva Nataraja, »König<br />
<strong>der</strong> Tänzer«, als tanzen<strong>der</strong> Herr <strong>des</strong> Universums<br />
dargestellt: Sein Tanz, Ausdruck seiner fünf Aktivitäten<br />
(Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung, Verkörperung,<br />
Befreiung), symbolisiert den Kreislauf<br />
<strong>des</strong> Kosmos, wo in einem ewigen Rhythmus Millionen<br />
Welten in jedem Moment zerstört und an<strong>der</strong>e<br />
Millionen neu geschaffen werden.<br />
Brahma gilt als eigentlicher Schöpfer <strong>des</strong> Universums.<br />
Gemeinsam mit Vishnu und Shiva bildet er<br />
die Trimurti, die Dreigestalt, welche die drei Aspekte<br />
<strong>des</strong> Absoluten, Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung,<br />
symbolisiert. Sein Kult ist heute aber nahezu<br />
ausgestorben, nur noch ein einziger Tempel<br />
in Puskar in Rajasthan ist ihm gewidmet.<br />
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<strong>Die</strong> Yuga-Theorie<br />
(aus: H. Küng, Spurensuche, S. 66f)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 10 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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<strong>Die</strong> Vorstellung von einem zyklischen Zeit- und<br />
Geschehensablauf behielt für In<strong>der</strong> und manche<br />
Nicht-In<strong>der</strong> bis heute ihre Suggestionskraft:<br />
Wie<strong>der</strong>holen sich nicht in <strong>der</strong> Natur selber all die<br />
Abläufe? Gestirnkreise, Jahreszeiten, Mondphasen<br />
kommen und gehen. Tag und Nacht wechseln.<br />
Nach indischer Ansicht ist dies alles ein warnen<strong>des</strong><br />
Zeichen auch dafür, daß die Großen nicht ewig<br />
groß und die Kleinen nicht ewig klein bleiben<br />
werden. Freilich: Nach heutigen physikalischen<br />
Erkenntnissen macht die Natur nicht nur Kreisbewegungen<br />
durch, son<strong>der</strong>n – von den Atomkernen<br />
bis zu den Sternen – eine nicht rückgängig zu<br />
machende Geschichte in eine bestimmte Richtung:<br />
seit dem Urknall eine Milliardenjahresgeschichte,<br />
die auf ein Ende zuläuft.<br />
Von einem »Ende« dieser Welt geht jedoch<br />
auch die indische Mythologie aus, wie sie etwa im<br />
»Gesetzbuch <strong>des</strong> Manu« überliefert ist. Demnach<br />
befinden wir uns im letzten <strong>der</strong> vier Weltalter<br />
(yuga), im 6. Jahrtausend <strong>des</strong> Kaliyuga. Aber in<br />
Indien kann keine apokalyptische Angst aufkommen<br />
–␣ warum? W eil es nach einem später ausgeklügelten<br />
Zahlensystem ab unserem Jahr 2000<br />
noch rund 426.000 Menschenjahre dauern wird bis<br />
nach insgesamt 12.000 <strong>Götter</strong>jahren = 4.320.000<br />
Menschenjahren ein göttliches Weltalter (mahayuga)<br />
zu Ende gehen wird! Und 1000 solcher göttlichen<br />
Weltalter: Sie sind nur ein Tag <strong>des</strong> Brahma,<br />
auf den nach einer Weltvernichtung die ebenso<br />
lange Brahma-Nacht <strong>der</strong> Weltenruhe folgt. Erst<br />
dann ist eine Weltperiode (kalpa) abgeschlossen!<br />
So schließt sich <strong>der</strong> Kreis ewig gleichförmig nacheinan<strong>der</strong><br />
abrollen<strong>der</strong> Zeitzyklen – um sogleich<br />
wie<strong>der</strong> von neuem zu beginnen.<br />
Weltenalter Dauer Dämmerung <strong>Götter</strong>jahre Menschenjahre<br />
Kritayuga 4000 2x400 4800 1 728 000<br />
Tretayuga 3000 2x300 3600 1 296 000<br />
Dvaparayuga 2000 2x200 2400 864 000<br />
Kaliyuga 1000 2x100 1200 432 000<br />
1 Mahayuga 12 000 4 320 000<br />
1 Kalpa 24 Millionen 8,64 Milliarden<br />
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Religion und Erotik: Tantrismus (1)<br />
(aus: H. Küng, Spurensuche, S. 69-72)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 11 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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In <strong>der</strong> indischen Religion, Literatur und Kunst findet<br />
sich, an<strong>der</strong>s als im vielfach geschlechts- und<br />
frauenfeindlichen Christentum, von alters her allüberall<br />
das Moment <strong>der</strong> Erotik. Inspiriert war sie<br />
wohl von altorientalischen, vorarischen Fruchtbarkeitskulten.<br />
<strong>Die</strong> Zeugung von Nachfahren war<br />
nun einmal unabdingbare Voraussetzung für die<br />
Sicherung von Nahrung und Arterhaltung. Ohne<br />
erotische Darstellungen, auch die <strong>des</strong> Liebespaares<br />
(mithuna), wäre ein indischer Tempel unvollständig.<br />
Ob Menschen o<strong>der</strong> Tiere, sie sollten in magischer<br />
Weise Schaden abhalten o<strong>der</strong> Glück bringen.<br />
So zeigen indische Religion, Literatur und Kunst<br />
von Anfang an eine unbefangene Freude an Sinnlichkeit,<br />
Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit. Sie<br />
hat keine Hemmungen in bezug auf die Darstellung<br />
weiblichen Charmes und weiblicher Nacktheit.<br />
Schon unter <strong>der</strong> Gupta-Dynastie in Nordindien<br />
(320-500), in einer Blütezeit <strong>der</strong> Hindu-Kunst<br />
und Sanskrit-Literatur, war die klassische Zeit <strong>des</strong><br />
Hinduismus (Paradigma III) eingeleitet worden.<br />
Nach <strong>der</strong> Zerstörung <strong>des</strong> Gupta-Reiches um 500<br />
(durch die weißen Hunnen) aber waren kleinere<br />
feudale Herrscher an die Macht gekommen, die<br />
neue Kulte för<strong>der</strong>ten. Jetzt wird die erotische Liebe<br />
zwischen Mann und Frau, wie sie ja auch im biblischen<br />
Hohenlied besungen wird, breit entfaltet<br />
und immer raffinierter künstlerisch ausgestaltet.<br />
Unübertroffen sind die elegant und einfühlsam gearbeiteten<br />
Plastiken von Khajuraho nahe dem zentralindischen<br />
Bhopal, früher ein riesiges religiöses<br />
Zentrum mit 88 hinduistischen und jainistischen<br />
Tempeln; heute sind noch 22 erhalten.<br />
Europäer reagieren oft befremdet, In<strong>der</strong><br />
bemühen sich um Erklärung: Ist das Pornographie<br />
o<strong>der</strong> einfach Illustration jenes alten Leitfadens<br />
indischer Erotik, <strong>des</strong> »Kama-Sutra«? Allüberall eine<br />
geistige, mystische Bedeutung anzunehmen, wäre<br />
naiv. Nein, die historische Forschung hat den gesellschaftlichen<br />
Hintergrund inzwischen erhellt:<br />
Jene neu an die Macht gekommenen feudalen<br />
Herrscher (»Rajputs«: raja-putra – »Sohn <strong>des</strong> Königs«)<br />
hatten in Indien seit dem 5. Jahrhun<strong>der</strong>t mit<br />
militärischen Mitteln ihre Reiche geschmiedet. Zur<br />
Legitimierung und Konsolidierung ihrer Herrschaft<br />
machten sie große Geschenke an die Brahmanen<br />
und för<strong>der</strong>ten gewaltig den Tempelbau. In den<br />
folgenden Jahrhun<strong>der</strong>ten wurden Sexualität und<br />
Krieg Hauptbeschäftigungen <strong>der</strong> indischen Aristokratie.<br />
Und bei beidem glaubte man mit Hilfe<br />
magischer und abergläubischer Praktiken sicheren<br />
Erfolg zu haben.<br />
Gleichzeitig wurde die Institution <strong>der</strong> Tempeldienerinnen<br />
o<strong>der</strong> Devadasi (wörtlich: Gottesdienerinnen),<br />
die ihren Ursprung ebenfalls in den<br />
Fruchtbarkeitskulten hatte, in Indien sehr populär.<br />
Im Tempel hatten sie für Tanz, Drama, Musik zu<br />
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Religion und Erotik: Tantrismus (2)<br />
(aus: H. Küng, Spurensuche, S. 69-72)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 12 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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sorgen. Mit <strong>der</strong> Zeit wurden immer mehr verweltlichte<br />
und erotische Stücke aufgeführt. Und je größer<br />
und prächtiger die Tempel wurden, um so mehr<br />
Raum hatten die Künstler zur Darstellung erotischer<br />
Themen. Sie wurden die große Leidenschaft<br />
mittelalterlicher indischer Kunst. Während Liebespaare<br />
(mithuna) schon vom 5. bis 9. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
einen allgemein akzeptierten Tempelschmuck darstellten,<br />
so war die ostentative geschlechtliche<br />
Vereinigung (maithuna) ein relativ neues Motiv,<br />
das sich aber in <strong>der</strong> feudalen Periode zwischen 900<br />
und 1400 (Kajuraho 950-1150) immer mehr durchsetzte<br />
(<strong>der</strong> Kandariya-Tempel mit drei Friesen<br />
erotischer Darstellungen stammt von 1050). Man<br />
fragt sich: Was hat diese Entwicklung vorangetrieben?<br />
Tantrismus im Zwielicht<br />
Großen Einfluß übten jene Sekten aus, die verbunden<br />
waren mit dem Shaktismus, <strong>der</strong> Verehrung<br />
weiblicher Gottheiten (shakti – »Energie«, »Urkraft«;<br />
Name für die Göttin) und beson<strong>der</strong>s dem<br />
tantrischen Shaktismus (tantra – »Gewebe«,<br />
»System«) und seinen Riten. Eben in jener Zeit von<br />
600 bis 900 breitete sich dieses esoterische Lehrund<br />
Ritualsystem in Indien aus. Spätestens im 9.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t erreichte <strong>der</strong> Tantrismus auch Khajuraho;<br />
ein Zentrum <strong>der</strong> tantrischen Yogini Kaula-<br />
Sekte ist für diese Zeit bezeugt. So erstaunt es<br />
nicht, daß sich zwischen dem 10. und 12. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
immer zahlreichere Darstellungen von Tanzmädchen<br />
in sinnlich verführerischer Pose finden,<br />
immer häufiger auch sexuelle Paare und orgiastische<br />
Gruppen. Im Mittelpunkt <strong>des</strong> Tantrismus<br />
stehen die fünf Elemente, die mit M beginnen:<br />
Madaya (Wein), Matsya (Fisch), Mamsa (Fleisch),<br />
Mudra (geröstete Körner) und Maithuna<br />
(Geschlechtsverkehr).<br />
Der Tantrismus darf gewiß nicht verteufelt,<br />
allerdings auch nicht verklärt werden. Einerseits<br />
wurden im Tantrismus im Gegensatz zum orthodoxen<br />
Hinduismus unleugbar die Frauen aufgewertet<br />
und die Kastengrenzen aufgehoben – eine Aufwertung<br />
selbst <strong>der</strong> »Unberührbaren«. An<strong>der</strong>erseits läßt<br />
sich nicht verschweigen, daß Tantriker oft eine<br />
Philosophie <strong>des</strong> Sex predigten und praktizierten.<br />
Im ursprünglichen Tantrismus mag die Verbindung<br />
von Yoga und Sexualität nicht auf die bloße Befriedigung<br />
temporärer »Bedürfnisse« gezielt haben,<br />
son<strong>der</strong>n auf Zurückhalten <strong>der</strong> Lebensenergie, Sublimierung<br />
<strong>der</strong> Sexualität und Vereinigung mit dem<br />
Absoluten. Und die tantrischen Schriften sind gewiß<br />
voll von interessanten Spekulationen über Erschaffung<br />
und Zerstörung <strong>der</strong> Welt, Verehrung <strong>der</strong><br />
Gottheiten und spirituellen Übungen, aber eben<br />
auch von Magie, Abnormitäten, Obszönitäten.<br />
Priester führten ein Leben <strong>der</strong> Wollust und gaben<br />
sich mit ihren Adepten allen möglichen sexuellen<br />
Praktiken hin. Auch in indischen Quellen wurde<br />
kritisiert, daß die heilige Atmosphäre vieler Tempel<br />
durch sexuelle Ausschweifung verdorben sei. Wenn<br />
die geschlechtliche Vereinigung mit wechselnden<br />
Partnern (und gar mit Tieren) als Weg zur Vereinigung<br />
mit dem Absoluten (advaita – »Nicht-Zweiheit«)<br />
praktiziert wurde, kann dies kaum als Symbol<br />
<strong>der</strong> Befreiung verstanden werden.<br />
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Yoga<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 13 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Yoga ist eines <strong>der</strong> 6 klassischen philosophischen<br />
Systeme Indiens, denen es allesamt um die Frage<br />
<strong>der</strong> Erlösung <strong>des</strong> Menschen aus dem Kreislauf <strong>der</strong><br />
Geburten geht. Yoga lehrt die Befreiung <strong>des</strong> Geistes<br />
durch einen methodischen Stufenweg zur<br />
Beherrschung von Körper, Atem und Geist. Sein<br />
Begrün<strong>der</strong>, Patanjali (ca. 2. Jh. v. Chr.), definierte<br />
Yoga als »methodische Anstrengung zur Erlangung<br />
<strong>der</strong> Vollkommenheit durch die Beherrschung <strong>der</strong><br />
verschiedenen Elemente <strong>der</strong> menschlichen Natur«.<br />
Das klassische Lehrsystem <strong>des</strong> Yoga glie<strong>der</strong>t sich<br />
in 8 Stufen:<br />
◗ yama (Zucht)<br />
◗ niyama (Reinheit)<br />
◗ asana (Sitzhaltungen)<br />
◗ pranayama (Atemkontrolle)<br />
◗ pratyahara (Ausschalten <strong>der</strong> Wahrnehmung)<br />
◗ dharana (Konzentration)<br />
◗ dhyana (Meditation)<br />
◗ samadhi (Kontemplation)<br />
<strong>Die</strong> erste Stufe <strong>des</strong> Yoga-Weges (yana) verlangt<br />
fünf, in Gedanken, Worten und Werken zu vollziehende<br />
ethische Übungen, die man als Elemente<br />
eines Grundethos bezeichnen kann:<br />
◗ Gewaltlosigkeit, Nicht-Verletzen (a-himsa),<br />
◗ Wahrhaftigkeit (satya),<br />
◗ Nicht-Stehlen (a-steya),<br />
◗ Keuschheit, reiner Lebenswandel (brahmacharya),<br />
◗ Begierdelosigkeit, Nicht-Besitzen (a-parigraha).<br />
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<strong>Die</strong> klassischen Erzählungen:<br />
Puranas und Epen (1)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 14 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Von großer Bedeutung für die religiöse Tradition<br />
<strong>der</strong> Hindus sind seit alters Geschichten: Mythische<br />
Erzählungen über die zahllosen <strong>Götter</strong>, ihr Entstehen<br />
und ihr Wirken in <strong>der</strong> Welt. Bis heute werden<br />
sie erzählt, als Tänze aufgeführt o<strong>der</strong> als Theaterstücke<br />
inszeniert. Bis heute werden mit ihnen<br />
Brauchtum, Werte und Normen tradiert<br />
Puranas<br />
Mit ihren umfangreichen Legenden über die Vishnu,<br />
Shiva und Brahma, über <strong>der</strong>en Wirken und ihre<br />
Verehrung, sind die Puranas zu einer Art Enzyklopädie<br />
<strong>der</strong> vielfältigen Hindu-Traditionen geworden.<br />
◗ Je 6 große Legendensammlungen (5.600-81.000<br />
Doppelverse) über die drei Hauptgötter Vishnu,<br />
Shiva und Brahma.<br />
◗ Sie erklären das Wesen dieser <strong>Götter</strong>, sind von<br />
Gottesliebe erfüllt und bilden die Hauptschriften<br />
ihrer Anhänger.<br />
◗ Sie handeln von Schöpfung, Zerstörung und Erneuerung<br />
<strong>der</strong> Welt, von den Geschlechterfolgen<br />
<strong>der</strong> <strong>Götter</strong>, vom Wirken himmlischer Herrscher<br />
(Manus) in <strong>der</strong> Welt und von <strong>der</strong>en Nachkommen.<br />
◗ Entstehung wohl zwischen dem 6. und 16. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Ramayana<br />
Das Ramayana erzählt die Geschichte vom Königssohn<br />
Ramatschanda, einer Inkarnation Vischnus,<br />
aus Ayodhya: Erst Durch eine Intrige um Thron und<br />
Ehefrau Sita gebracht, befreit er am Ende schließlich<br />
doch die Welt vom Dämonenkönig Ravana.<br />
◗ Ältestes Epos <strong>der</strong> Sanskrit-Literatur (24.000<br />
Doppelverse), entstanden ab dem 4. Jhd. v. Chr.<br />
◗ Erzählt den »Lebenslauf Ramas«, <strong>der</strong> 7. Inkaranation<br />
Vishnus, <strong>der</strong> die Welt von den Taten <strong>des</strong><br />
Dämonenkönigs Ravana befreit.<br />
◗ Rama gilt als vollkommener Mensch, <strong>der</strong> ganz<br />
in Übereinstimmung mit dem Dharma lebt.<br />
Mahabharata<br />
Das Mahabharata schil<strong>der</strong>t die Geschichte vom<br />
Kampf zweier indischer Fürstenhäuser – <strong>der</strong> Pandavas<br />
gegen die Kauravas – um das aufgeteilte<br />
Königtum. Der populärste Teil ist die Bhagavadgita,<br />
<strong>der</strong> »Gesang <strong>des</strong> Erhabenen«: die moralische<br />
Unterweisung Arjunas durch Krishna, <strong>der</strong> 8.<br />
Inkarnation Vishnus.<br />
◗ <strong>Die</strong> Große (maha) Erzählung <strong>der</strong> Bharata-Fürsten<br />
(bharata = heutiger Name Indiens!)<br />
◗ Umfangreichstes Epos <strong>der</strong> indischen Literatur:<br />
106.000 Verse, eingeteilt in 18 Bücher.<br />
◗ Verfaßt zwischen dem 5. Jhd. v. Chr. und dem 2.<br />
Jhd. n. Chr.<br />
◗ Erzählt den Kampf <strong>der</strong> beiden Fürstenhäuser –<br />
<strong>der</strong> Pandavas und <strong>der</strong>en Vettern, <strong>der</strong> Kauravas –<br />
um die Vorherrschaft über das westliche Yamuna-Ganga-Tal.<br />
◗ Philosophischer Höhepunkt ist das 6. Buch, die<br />
Bhagavadgita, <strong>der</strong> »Gesang <strong>des</strong> Erhabenen«: die<br />
moralische Unterweisung <strong>des</strong> Fürsten Arjuna<br />
durch seinen Wagenlenker Krishna.<br />
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<strong>Die</strong> klassischen Erzählungen:<br />
Puranas und Epen (2)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 15 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Bhagavadgita<br />
Wie kaum ein an<strong>der</strong>es Werk hat die Bhagavadgita,<br />
<strong>der</strong> »Gesang <strong>des</strong> Erhabenen«, auf das religiöse<br />
Leben Indiens gewirkt und auch außerhalb Indiens<br />
Popularität und Verbreitung gefunden. Wegen <strong>der</strong><br />
Klarheit und Dichte ihrer Aussagen gilt sie vielen<br />
als das »Evangelium <strong>des</strong> Hinduismus«.<br />
◗ Buch 6 <strong>des</strong> Mahabharata: 18 Kapitel, 700 Verse.<br />
◗ Dialog am Vorabend <strong>der</strong> entscheidenden<br />
Schlacht zwischen dem zweifelnden Arjuna und<br />
seinem Wagenlenker Krishna (8. Inkarnation<br />
Vishnus).<br />
◗ Läßt verschiedene philosophische Auffasungen<br />
(oft unvermittelt) nebeneinan<strong>der</strong> stehen.<br />
◗ Vertritt ein ausgesprochen weltliches Ethos, um<br />
sich aus dem Geburtenkreislauf zu befreien.<br />
◗ Drei klassische Wege zum Heil:<br />
Weg <strong>der</strong> Erkenntnis (jnana-marga): zur Überwindung<br />
<strong>der</strong> Unwissenheit (durch Meditation,<br />
Yoga, Philosophie),<br />
Weg <strong>der</strong> Werke (karma-marga): nicht nur rituell-brahmanisches,<br />
son<strong>der</strong>n auch soziales und<br />
religiöses Handeln,<br />
Weg <strong>der</strong> Gottesliebe (bhakti-marga), <strong>der</strong> allen<br />
Menschen offen steht: »Mein gedenkend, mich<br />
verehrend, mir opfernd, beuge dich vor mir! Zu<br />
mir dann kommst du!« (18,65)<br />
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Lebensstadien und Lebensziele<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 16 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Für viele Hindus besteht bis heute das Wesen <strong>des</strong><br />
Hinduismus in »varnashramadharma«: dem Glaube<br />
an vier von Gott gegebene Menschenklassen<br />
(varna) und vier Lebensstadien (ashrama), denen<br />
wie<strong>der</strong>um ganz bestimmte Lebensziele und -<br />
pflichten (dharma) entsprechen.<br />
Vier Lebensstadien (ashrama)<br />
◗ Studium <strong>der</strong> Heilgen Schriften (brahmacharya)<br />
bei einem authorisierten Lehrer (guru).<br />
◗ Als Familienvater (grihasta) Kin<strong>der</strong> zeugen,<br />
einen Beruf ausüben und Wohlstand anstreben.<br />
◗ Mit <strong>der</strong> Geburt <strong>des</strong> ersten Enkels sich als Einsiedler<br />
(vanaprastha) unter Begleitung <strong>der</strong> Ehefrau<br />
zum erneuten religiösen Studium zurückziehen.<br />
◗ Auf alle weltlichen Bedürfnisse verzichten und<br />
als Entsager (samnyasin) ein mönchisches Leben<br />
führen.<br />
Vier Lebensziele (dharma)<br />
◗ Das Streben nach Angenehmen und Sinnengnuß<br />
(kama).<br />
◗ Das Streben nach Nützlichem und <strong>der</strong> Erwerb<br />
von Wohlstand (artha).<br />
◗ Das Bemühen um Rechtschaffenheit und<br />
Tugend (dharma).<br />
◗ Das Streben nach Befreiung und Erlösung (moksha)<br />
aus dem Kreislauf von Geburt, Tod und<br />
Wie<strong>der</strong>verkörperung.<br />
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<strong>Die</strong> heilige Silbe OM<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 17 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Mantras sind Heilige Worte und Silben in denen<br />
– richtig rezitiert – die Wirkmacht <strong>der</strong> angebeteten<br />
Gottheit präsent wird. Eines <strong>der</strong> bedeutendsten<br />
Mantras ist die Gayatri zur allmorgentlichen Verehrung<br />
<strong>des</strong> Sonnengottes: sie gilt als Quintessenz<br />
<strong>der</strong> <strong>vedischen</strong> Offenbarung.<br />
<strong>Die</strong> Heilige Silbe »OM« – genauer AUM – »ist<br />
für gläubige Hindus das umfassendste Symbol hinduistischer<br />
spiritueller Erkenntnis und Kraft.<br />
»OM« ist zusammengesetzt aus einem »A«<br />
(links), einem »U« (rechts) und einem »M« (oben):<br />
Nach indischem Verständnis symbolisieren ihre<br />
vier geometrischen Formen das Körperliche (1), das<br />
Geistige (2), das Unbewußte (3) und das Höchste<br />
Bewußtsein (4)<br />
3<br />
1<br />
2<br />
4<br />
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Ramakrishna (1836-1886)<br />
(aus: H. Küng, Spurensuche, S. 91f)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 18 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t entsteht eine ethisch orientierte<br />
religiöse Erneuerungsbewegung, ohne die es<br />
kaum je zu einer nationalen indischen Kultur und<br />
zur nationalen Unabhängigkeit gekommen wäre.<br />
Es waren zunächst die vielfältigen Bewegungen<br />
für soziale Reformen, beson<strong>der</strong>s in Bengalen, die –<br />
angefangen von Raja Rammohun Roy – eine Antwort<br />
auf die unter britischer Herrschaft hereingebrochene<br />
Mo<strong>der</strong>ne zu geben versuchten. Aber<br />
ohne die gleichzeitige spirituelle Erneuerung hätten<br />
ihr Tiefgang und Durchhaltekraft gefehlt. <strong>Die</strong><br />
Hindu-Renaissance führte zum mo<strong>der</strong>nen Reform-Hinduismus.<br />
Und da gab es nun einen ungehobelten,<br />
kaum gebildeten, kindlichen Bauernjungen aus<br />
einer armen dörflichen Brahmanenfamilie, <strong>der</strong><br />
schließlich nach Wi<strong>der</strong>streben Priester in einem<br />
ganz neuen Tempel Kalkuttas wurde. Er begann<br />
mit <strong>der</strong> Zeit auch <strong>der</strong> englisch-mo<strong>der</strong>n erzogenen<br />
Intelligenzia zu zeigen: Der Hinduismus ist nicht<br />
am Absterben, ist keineswegs erledigt. Vielmehr<br />
kann er wie<strong>der</strong> neu eine unerschöpfliche Quelle<br />
spiritueller Erneuerung werden! Ramakrishna<br />
(1836-1886), so jetzt sein Name, hatte von Jugend<br />
an tranceartige Erlebnisse und Visionen, Ausdruck<br />
einer übergroßen Gottessehnsucht und Gottesliebe.<br />
In <strong>der</strong> von einer reichen, aber aus <strong>der</strong> untersten<br />
Kaste stammenden Witwe 1855 gestifteten<br />
großen Tempelanlage von Dakshineshvara, die <strong>der</strong><br />
Muttergottheit Kali gewidmet ist, erlebte Ramakrishna<br />
die vom Bild her häßliche, furchterregende<br />
schwarze Kali visionär als junge, schöne, gnadenvolle<br />
»Mutter« (ma). Ein Erlebnis nicht ganz un-<br />
ähnlich dem, wenn Christen die Mutter Jesu als<br />
»<strong>Himmels</strong>königin« o<strong>der</strong> »Mutter <strong>des</strong> Universums«<br />
bezeichnen. Später wird er Kali sogar mit dem<br />
Brahman, dem Absoluten identifizieren. Den<br />
Tantrismus freilich verabscheute er, und die Ehe<br />
mit seiner ihm schon im Alter von vier Jahren<br />
angetrauten Frau, die er später mit <strong>der</strong> Muttergottheit<br />
mystisch identifizierte, vollzog Ramakrishna<br />
nicht.<br />
Kein Zweifel: Ramakrishna war durchaus ein<br />
traditioneller Hindu und hat doch die »Neo-Hinduisten«,<br />
die allenthalben eine Mo<strong>der</strong>nisierung anstrebten,<br />
wesentlich inspiriert. Er war kein Sozialreformer<br />
und hat doch viele Sozialreformer beeindruckt.<br />
Darunter war <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> neohinduistischen<br />
Vereinigung Brahmo Samaj, Keshab<br />
Chandra Sen, <strong>der</strong> mit rationalen Argumenten gegen<br />
Idolatrie, abergläubische Praktiken und soziale<br />
Übel wie Witwenverbrennung und Zwangsmitgift<br />
ankämpfte. Für Ramakrishna und seine immer<br />
zahlreicheren Schüler aber waren Meditation, Lobpreis<br />
<strong>des</strong> Gottesnamens und emotionale Liebe zu<br />
einem persönlichen Gott (ob als Kali o<strong>der</strong> wie immer<br />
verehrt) entscheidend: <strong>der</strong> Bhakti-Marga also,<br />
<strong>der</strong> »Weg <strong>der</strong> Hingabe«.<br />
So gelangte Ramakrishna zur Überzeugung,<br />
daß alle Religionen wahr seien, auch wenn sie von<br />
Irrtümern nicht frei sind. Ob es nun die primitive<br />
Bil<strong>der</strong>verehrung ist, die ja schließlich nicht dem<br />
Bild, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gottheit gilt, o<strong>der</strong> aber die Betrachtung<br />
<strong>des</strong> bildlosen Brahman, die gewiß eine<br />
höhere Form von Religion darstellt: Sie sind doch<br />
allesamt unterschiedliche Wege zu <strong>der</strong> einen, allumfassenden<br />
Gottheit.<br />
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Swami Vivekananda (1863-1902)<br />
(aus: H. Küng, Spurensuche, S. 92f)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 19 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Ramakrishnas prominentester Schüler war Swami<br />
Vivekananda, geboren 1863 in Kalkutta, das von<br />
<strong>der</strong> Göttin Kali seinen Namen hat. Hier, wo er 1902<br />
auch starb, gründete er ein Zentrum für spirituelle<br />
Übungen und die Kultur <strong>des</strong> Wissens: Belur Math<br />
mit Namen, gelegen am Ganges. Es ist das Hauptquartier<br />
<strong>der</strong> internationalen Ramakrishna-Bewegung<br />
Vivekanandas, wo heute noch Vivekanandas<br />
Arbeitszimmer hoch in Ehren gehalten wird. Er war<br />
es, <strong>der</strong> das Erbe Ramakrishnas in die sich jetzt entwickelnde<br />
nationale Bewegung einbrachte.<br />
In einer christlichen Schule erzogen, hatte er<br />
wie viele dieser mo<strong>der</strong>n gebildeten jungen Männer<br />
den Glauben an den traditionellen Hinduismus<br />
verloren und war zu einem rationalistischen Skeptiker<br />
geworden. Aber <strong>der</strong> Jurastudent wurde zunehmend<br />
von Ramakrishna angezogen und<br />
schließlich von ihm zum geistigen Erben bestimmt.<br />
Im Jahr nach <strong>des</strong>sen Tod legte Vivekananda mit<br />
acht bis zehn Gefährten ebenfalls das Mönchsgelübde<br />
ab und studierte intensiv die religiöse<br />
Sanskrit-Literatur. Dann wan<strong>der</strong>te er fast drei Jahre<br />
mühselig als Bettelmönch durch ganz Indien,<br />
von Osten nach Westen und vom Fuß <strong>des</strong> Himalaja<br />
bis zur Südspitze Indiens. Doch we<strong>der</strong> die blinde<br />
Starrheit <strong>der</strong> orthodoxen Hindus noch <strong>der</strong> einseitige<br />
Rationalismus <strong>der</strong> Sozialreformer <strong>des</strong> »Brahmo<br />
Samaj« konnten ihn befriedigen.<br />
Mehr zufällig hörte er von einem Parlament<br />
<strong>der</strong> Weltreligionen, das in Chicago im Rahmen <strong>der</strong><br />
Weltausstellung im September 1893 tagen sollte.<br />
Kurz entschlossen reiste er nach Chicago, ein<br />
obskurer unbekannter Hindu-Mönch, <strong>der</strong> einige<br />
Schwierigkeiten hatte, als Delegierter zugelassen<br />
zu werden. Aber schon am ersten Kongreßtag<br />
stellte er mit einer inspirierenden Rede ohne<br />
Manuskript, in perfektem Englisch, alle an<strong>der</strong>en<br />
Redner in den Schatten. Und er blieb die geistesmächtigste<br />
Figur in diesem Parlament, wo sich<br />
zum erstenmal in aller Form Christentum und<br />
östliche Religionen getroffen haben. Er war seiner<br />
Zeit weit voraus, wenn er statt <strong>der</strong> bisherigen Konflikte<br />
und Konfrontationen eine Harmonie <strong>der</strong> Religionen<br />
von Ost und West for<strong>der</strong>te.<br />
Voraussetzung für das Ethos ist Vivekananda<br />
zufolge die auf viele Weisen mögliche Ausrichtung<br />
auf das Göttliche: »Jede Seele ist potentiell göttlich.<br />
Das Ziel ist, diese Gottheit im Inneren zu<br />
manifestieren, indem man die Natur, äußerlich und<br />
innerlich, kontrolliert. Tue dies durch Werke o<strong>der</strong><br />
durch Gottesdienst o<strong>der</strong> durch psychische Kontrolle<br />
o<strong>der</strong> durch Philosophie – durch eines o<strong>der</strong><br />
durch alle von ihnen –, und sei frei. <strong>Die</strong>s ist die<br />
ganze Religion; Lehren o<strong>der</strong> Dogmen o<strong>der</strong> Rituale<br />
o<strong>der</strong> Bücher o<strong>der</strong> Tempel o<strong>der</strong> Formen sind alles<br />
nur zweitrangige Details.« Damit hat sich Vivekananda<br />
als guter Hindu nicht nur gegen die Überbewertung<br />
von Doktrin, Dogma und Ritus gewandt,<br />
son<strong>der</strong>n zugleich für die Ergänzungsfähigkeit<br />
(Kompatibilität und Komplementarität) <strong>der</strong> drei<br />
o<strong>der</strong> vier praktischen Hindu-Wege zum Heil<br />
plädiert: Ob es <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> Meditation (yoga) o<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis (jnana), ob jener <strong>der</strong> Werke<br />
(karma) o<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> Gottesliebe (bhakti), sie<br />
führen alle zum einen Ziel, zum einen Gott.<br />
<strong>Die</strong>se Auffassung bestimmt nun auch Vivekanandas<br />
Einstellung zu den an<strong>der</strong>en Religionen:<br />
»Ich bin stolz darauf, zu einer Religion zu gehören«,<br />
erklärte Vivekananda vor den Delegierten,<br />
»welche die Welt Toleranz und allumfassende<br />
Annahme gelehrt hat. Wir glauben nicht nur an<br />
die universale Toleranz, son<strong>der</strong>n wir nehmen an,<br />
daß alle Religionen wahr sind.«<br />
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Mahatma Gandhi (1869-1948)<br />
CD-ROM „Spurensuche“ Materialienblatt zum Hinduismus Blatt 20 von 20<br />
© 1999 – Hans Küng / Stephan Schlensog<br />
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Mohandas Karamchand Gandhi, geboren am 2.<br />
Oktober 1869 in Porbandar im westlichen Indien,<br />
ist eine <strong>der</strong> bedeuten<strong>des</strong>ten Persönlichkeiten <strong>des</strong><br />
mo<strong>der</strong>nen Indiens.<br />
Aus wohlhabendem Hause stammend, besuchte<br />
Gandhi zunächst seiner gesellschaftlichen<br />
Stellung entsprechende Schulen und absolvierte<br />
dann, mäßig begabt, in London am Inner Temple<br />
ein Jurastudium. Berufliche Mißerfolge und private<br />
Enttäuschungen verhin<strong>der</strong>ten, daß <strong>der</strong> junge<br />
Gandhi in London Fuß faßte. Er stellte sich in den<br />
<strong>Die</strong>nst einer Firma, die ihn als Rechtsbeistand zu<br />
einer Filiale nach Südafrika entsandte. Aus <strong>der</strong><br />
Erfahrung, in Südafrika selber zur diskriminierten<br />
Min<strong>der</strong>heit zu zählen, entwickelte Gandhi den<br />
festen Willen, allen Ungerechtigkeiten zu wi<strong>der</strong>stehen,<br />
und wurde so bald zum Führer <strong>der</strong> indischen<br />
Einwan<strong>der</strong>er.<br />
In dieser Zeit begegnete Gandhi auch jenen<br />
westlichen Autoren, die ihn in seinen gewalfreien<br />
Aktionen bestärkten und seinen politischen Ideen<br />
eine Basis lieferten: Lew Tolstoi mit seiner Lehre<br />
<strong>der</strong> gewaltfreien Aktionen, John Ruskin, <strong>des</strong>sen<br />
Schriften in Gandhi das Bewußtsein für den Zusammenhang<br />
<strong>des</strong> Wohles <strong>des</strong> Einzelenen mit dem<br />
<strong>der</strong> Allgemeinheit weckten, und Henry David<br />
Thoreau, von dem Gandhi die Theorie <strong>des</strong> »zivilen<br />
Ungehorsams« übernahm. Für seinen Einsatz in<br />
Südafrika wurde Gandhi 1907 im indischen Nationalkongreß<br />
öffentlich gewürdigt, 1913 erhielt er<br />
von Rabindranath Tagore den Ehrentitel »Mahatma«<br />
– die »große Seele« Indiens.<br />
Zu Beginn <strong>des</strong> 1. Weltkriegs kehrte Gandhi<br />
nach Indien zurück. <strong>Die</strong> Nationalbewegung war<br />
gespalten – in Radikale und Gemäßigte gegenüber<br />
<strong>der</strong> britischen Politik. Gandhi for<strong>der</strong>te die Selbstregierung<br />
(homerule) Indiens und propagierte<br />
Sva<strong>des</strong>hi, den Gebrauch indischer und damit den<br />
Boykott englischer Waren. In Reaktion auf britische<br />
Notstandsgesetze im Jahre 1919 rief Gandhi<br />
einen lan<strong>des</strong>weiten Generalstreik aus, den die Briten<br />
am 13.4.1919 mit dem Massaker von Amritsar<br />
beantworteten. Wegen zunehmen<strong>der</strong> Gewalt und<br />
Polarisierung <strong>der</strong> Reformbewegung zog sich Gandhi<br />
auf die Dörfer zurück und setzte dort seine<br />
Kampagnen gegen die Unberührbarkeit und für die<br />
Verbreitung <strong>des</strong> Baumwolltuches fort. Höhepunkt<br />
seiner Agitation war 1930 <strong>der</strong> »Salzmarsch«, <strong>der</strong><br />
öffentliche Protest gegen das britische Salzmonopol.<br />
Gandhi setzte sich vehement – vor allem mit<br />
mehrmaligem längeren Fasten – für die Beibehaltung<br />
<strong>der</strong> Einheit Indiens unter Respektierung aller<br />
Minoritäten ein (»vivisect me before you vivisect<br />
India!«) – ohne Erfolg. Vom Fasten geschwächt und<br />
politisch an den Rand gedrängt konnte Gandhi <strong>der</strong><br />
Teilung Indiens und <strong>der</strong> Schaffung eines eigenen<br />
Muslim-Staates Pakistan nichts mehr entgegensetzen.<br />
Sein Einsatz für eine gerechte Teilung <strong>der</strong><br />
Staatskasse wurde von radikalen Hindus schließlich<br />
als Hochverrat gewertet: auf dem Weg zum<br />
Gebet wurde er am 30.1.1948 von einem Brahmanen<br />
erschossen. Gandhis letzte Worte: »he ram«, »o<br />
Gott!«.<br />
Gandhi glaubte zeitlebens an die Reformierbarkeit<br />
<strong>des</strong> Hinduismus. Das Kastenwesen sei an<br />
sich keine schlechte Sache, nur die Ausgrenzung<br />
<strong>der</strong> Unberührbaren sei ein verwerflicher Mißbrauch.<br />
Gandhis Kriterien für Authentizität und<br />
Wahrhaftigkeit von Religion waren ethische Prinzipien<br />
wie Aufrichtigkeit, Gewaltlosigkeit, Selbstbeherrschung,<br />
Besitzlosigkeit, Askese … Allen Religionen<br />
zollte er Respekt und Toleranz, solange sie<br />
diesen ethischen Prinzipien entsprachen.<br />
Stephan Schlensog<br />
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