Dokument_1.pdf (3044 KB) - OPUS Augsburg - Universität Augsburg

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Fäden [= Individuen, d. Verf.], die miteinander verbunden sind. Dennoch ist weder das Ganze dieses Geflechts noch die Gestalt, die der einzelne Faden darin erhält, von einem Faden allein oder auch von allen einzelnen Fäden für sich zu verstehen, sondern ausschließlich von ihrer Verbindung, von ihrer Beziehung zueinander. Aus dieser Verbindung ergibt sich ein Spannungssystem, dessen Ordnung sich jedem einzelnen Faden mitteilt, und zwar jedem Faden in einer mehr oder weniger verschiedenen Weise, je nach seiner Stelle und Funktion im Ganzen dieses Geflechts. Die Gestalt des einzelnen Fadens ändert sich, wenn sich Spannung und Aufbau des ganzen Geflechts ändern. Dennoch ist dieses Geflecht nichts anderes als eine Verbindung von einzelnen Fäden; und innerhalb dieses Ganzen bildet jeder Faden zugleich eine Einheit für sich; er hat darin eine einzigartige Stelle und Gestalt.“ (Elias 2003 [1939], S. 54). Elias unterstellt dabei, dass den Handlungen einzelner Individuen Intentionen zugrunde liegen. Soziale Gebilde, wie die „Figurationen“, weisen hingegen keinen intentionalen Zusammenhang auf; d.h., sie sind explizit nicht geplant. Die intentionalen Handlungen der Individuen innerhalb von Figurationen produzieren Ungeplantes, woraus wiederum intentionale Handlungen hervorgehen. „Das In- und Gegeneinander der Aktionen, der Zwecke und Pläne vieler Menschen ist selbst nichts Beabsichtigtes und nichts Geplantes und letzten Endes als Ganzes auch niemals planbar. ‚List der Vernunft’, das ist ein tastender, noch in Tagträume verwobener Ausdruck dafür, daß die Eigengesetzlichkeit dessen, wovon ein Mensch ‚Wir’ sagen kann, mächtiger ist als das Planen und die Zwecksetzung irgendeines einzelnen Ich.“ (ebd., S. 93) Auch die Forschungsergebnisse des Soziologen zeigen, dass die nicht-intentionalen Zusammenhänge der Figurationen gegenüber den intentionalen Handlungen in der bisherigen gesellschaftlichen Geschichte die Oberhand hatten (vgl. Bogner 1989, S. 30f.). Die Verflechtung ist in einer dauernden Bewegung, die man sich als „unaufhörliches Weben und Absterben von Beziehungen“ (ebd.) vorstellen kann – also als Prozess. Diesen sozialen Prozess diskutiert der Klassiker unter dem Aspekt der Gesellschaft als „Zivilisationsprozess“. Die Figurationen formen sich über bestimmte Zeiträume hinweg um und verändern damit auch die Handlungen und Motive einzelner Individuen. Der Begriff der „Macht“ kann als Chance eines Individuums, die ungeplanten sozialen Prozesse mit den eigenen individuellen Wünschen konform zu bringen, charakterisiert werden (vgl. Bogner 1989, S. 36). Diese Chance hängt wesentlich von den Strukturen der Figuration ab. D.h., „Macht“ ist eine strukturelle Eigenschaft von Figurationen, in der einige Individuen mehr von anderen abhängen als umgekehrt. Es handelt sich um einen relationalen Begriff im Sinne einer „Machtbalance“, die ungeplant und den Individuen in den Figurationen nicht immer bewusst ist (vgl. ebd., S. 37ff.). Methodik Nach Elias muss die Methodik der Erforschung von sozialen Phänomenen den Strukturcharakteristika des Untersuchungsbereichs entsprechen. Es geht ihm um die Beschreibung von Erscheinungen, die Konzeption eines begrifflichen Instrumentariums und eines Erklärungs- 167

modells, die einer empirischen Überprüfung zu unterziehen sind (vgl. Baumgart/Eichener 1991, S. 10). Seine Erklärungsmodelle enthalten jedoch keine allgemein gültigen Gesetze, sondern sog. „Normalitätsannahmen“ über die Intentionen und Handlungsorientierungen von Individuen, die raumzeitlich - je nach Gesellschaftstyp - variieren können (vgl. Bogner 1989, S. 34f.). 107 Elias´ Methodik ist am Wandel der gesellschaftlichen Gepflogenheiten des Alltags und an den Veränderungen über die Vorstellung zu sozialen Regelmustern ausgerichtet. Die naturwissenschaftlichen Gesetze und Kausalverknüpfungen sind hingegen auf die spezifischen Struktureigentümlichkeiten des Sozialen bzw. des „Menschenwesens“ nicht zugeschnitten, weil sie grundsätzlich auf einer ahistorischen Logik basieren (vgl. Baumgart/Eichener 1991, S. 11ff.). Der Klassiker wendet eine Art historisch-vergleichende Methode an, bei der er bestimmte soziale Phänomene und soziale Gebilde in verschiedenen Epochen mit Rückgriff auf historische Quellen miteinander vergleicht. Auf der Grundlage ihrer Beschreibung entwickelt er raum-zeitliche Synthesemodelle, die die langfristige und ungeplante Gesellschaftsentwicklung bestmöglich erklären. Sie dienen der Orientierung über ungeplante Entwicklungen, der Beobachtung und Feststellung von Trends und Entwicklungsrichtungen. In einem weiteren Schritt werden diese einer kritischen Prüfung unterzogen (vgl. ebd.; Ebers 1995, S. 181f.). Theoretische Positionen Den Ausgangspunkt der soziologischen Analysen bilden die Intentionen von Individuen und die nicht-intentionalen Zusammenhänge in Figurationen. Elias argumentiert jedoch, dass soziale Prozesse, wie der Zivilisationsprozess, nicht von den Intentionen einzelner Individuen aus zu rekonstruieren sind. Die menschliche Geschichte wird nicht von großen Persönlichkeiten (z.B. Häuptlinge, Staatsmänner oder Kirchenoberhäupter) bestimmt, da das „Eigengesetz des mächtigen Menschengeflechts“ 108 die Grenzen und den Spielraum des einzelnen Individuums vorgibt (vgl. Elias (2003) [1939], S. 79; Bogner 1989, S. 30). In seinem Modell der „Interdependenz von Soziogenese und Psychogenese“ formuliert Elias die Hypothese, dass jeder gesellschaftlichen Entwicklungsstufe eine bestimmte Persönlichkeitsstufe entspricht. Die Kausalität dieser Interdependenz setzt bei der Gesellschaft an, die die menschliche Persönlichkeit im sozialen Prozess formt bzw. hervorbringt. Das Individuum ist ein Produkt der jeweiligen Gesellschaft, die wiederum entscheidend dafür ist, inwieweit 107 Bspw. waren bestimmte Tischsitten, wie das Schnäuzen ins Tischtuch, im Mittelalter im Gegensatz zu heute durchaus üblich („normal“). 108 Damit meint er die „Gesellschaft“ (vgl. Elias (2003) [1939], S. 79). 168

Fäden [= Individuen, d. Verf.], die miteinander verbunden sind. Dennoch ist weder das Ganze dieses Geflechts<br />

noch die Gestalt, die der einzelne Faden darin erhält, von einem Faden allein oder auch von allen einzelnen Fäden<br />

für sich zu verstehen, sondern ausschließlich von ihrer Verbindung, von ihrer Beziehung zueinander. Aus<br />

dieser Verbindung ergibt sich ein Spannungssystem, dessen Ordnung sich jedem einzelnen Faden mitteilt, und<br />

zwar jedem Faden in einer mehr oder weniger verschiedenen Weise, je nach seiner Stelle und Funktion im Ganzen<br />

dieses Geflechts. Die Gestalt des einzelnen Fadens ändert sich, wenn sich Spannung und Aufbau des ganzen<br />

Geflechts ändern. Dennoch ist dieses Geflecht nichts anderes als eine Verbindung von einzelnen Fäden; und<br />

innerhalb dieses Ganzen bildet jeder Faden zugleich eine Einheit für sich; er hat darin eine einzigartige Stelle<br />

und Gestalt.“ (Elias 2003 [1939], S. 54).<br />

Elias unterstellt dabei, dass den Handlungen einzelner Individuen Intentionen zugrunde liegen.<br />

Soziale Gebilde, wie die „Figurationen“, weisen hingegen keinen intentionalen Zusammenhang<br />

auf; d.h., sie sind explizit nicht geplant. Die intentionalen Handlungen der Individuen<br />

innerhalb von Figurationen produzieren Ungeplantes, woraus wiederum intentionale Handlungen<br />

hervorgehen.<br />

„Das In- und Gegeneinander der Aktionen, der Zwecke und Pläne vieler Menschen ist selbst nichts Beabsichtigtes<br />

und nichts Geplantes und letzten Endes als Ganzes auch niemals planbar. ‚List der Vernunft’, das ist ein<br />

tastender, noch in Tagträume verwobener Ausdruck dafür, daß die Eigengesetzlichkeit dessen, wovon ein<br />

Mensch ‚Wir’ sagen kann, mächtiger ist als das Planen und die Zwecksetzung irgendeines einzelnen Ich.“ (ebd.,<br />

S. 93)<br />

Auch die Forschungsergebnisse des Soziologen zeigen, dass die nicht-intentionalen Zusammenhänge<br />

der Figurationen gegenüber den intentionalen Handlungen in der bisherigen<br />

gesellschaftlichen Geschichte die Oberhand hatten (vgl. Bogner 1989, S. 30f.).<br />

Die Verflechtung ist in einer dauernden Bewegung, die man sich als „unaufhörliches Weben<br />

und Absterben von Beziehungen“ (ebd.) vorstellen kann – also als Prozess. Diesen sozialen<br />

Prozess diskutiert der Klassiker unter dem Aspekt der Gesellschaft als „Zivilisationsprozess“.<br />

Die Figurationen formen sich über bestimmte Zeiträume hinweg um und verändern<br />

damit auch die Handlungen und Motive einzelner Individuen.<br />

Der Begriff der „Macht“ kann als Chance eines Individuums, die ungeplanten sozialen Prozesse<br />

mit den eigenen individuellen Wünschen konform zu bringen, charakterisiert werden<br />

(vgl. Bogner 1989, S. 36). Diese Chance hängt wesentlich von den Strukturen der Figuration<br />

ab. D.h., „Macht“ ist eine strukturelle Eigenschaft von Figurationen, in der einige Individuen<br />

mehr von anderen abhängen als umgekehrt. Es handelt sich um einen relationalen Begriff im<br />

Sinne einer „Machtbalance“, die ungeplant und den Individuen in den Figurationen nicht immer<br />

bewusst ist (vgl. ebd., S. 37ff.).<br />

Methodik<br />

Nach Elias muss die Methodik der Erforschung von sozialen Phänomenen den Strukturcharakteristika<br />

des Untersuchungsbereichs entsprechen. Es geht ihm um die Beschreibung von<br />

Erscheinungen, die Konzeption eines begrifflichen Instrumentariums und eines Erklärungs-<br />

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