Wissenswert Henri Parens: ein Kind auf der Flucht

Wissenswert Henri Parens: ein Kind auf der Flucht Wissenswert Henri Parens: ein Kind auf der Flucht

13.03.2013 Aufrufe

___________________________ Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Dr. Regina Oehler Wissenswert Henri Parens: ein Kind auf der Flucht Regie: Marlene Breuer Sprecherin: Dr. Regina Oehler Zitator: Jochen Nix von Dr. Regina Oehler Sendung:12.12.2011, 08.40 Uhr, hr2-kultur 11-146 Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Die Anfrage kam völlig überraschend für mich: Henri Parens ist in Frankfurt, ob ich ihn treffen will, ob wir eine Sendung machen wollen mit dem international renommierten Kinderpsychiater. Er kam zu uns ins Studio, um über seine Arbeit zu sprechen und über sein Leben - beides hängt untrennbar zusammen. Es wurde ein Gespräch, das man nicht vergessen kann. Die Zähmung menschlicher Destruktivität ist das Lebensthema von Professor Henri Parens und das hat damit zu tun, was in seiner eigenen persönlichen Welt

___________________________<br />

Hessischer Rundfunk<br />

hr2-kultur<br />

Redaktion: Dr. Regina Oehler<br />

<strong>Wissenswert</strong><br />

<strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong>: <strong>ein</strong> <strong>Kind</strong> <strong>auf</strong> <strong>der</strong> <strong>Flucht</strong><br />

Regie: Marlene Breuer<br />

Sprecherin: Dr. Regina Oehler<br />

Zitator: Jochen Nix<br />

von<br />

Dr. Regina Oehler<br />

Sendung:12.12.2011, 08.40 Uhr, hr2-kultur<br />

11-146<br />

Copyright<br />

Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken<br />

benutzen. Jede an<strong>der</strong>e Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag o<strong>der</strong> Aufführung in <strong>der</strong> Öffentlichkeit,<br />

Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung o<strong>der</strong> Zurverfügungstellung in elektronischen Medien,<br />

Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/<strong>der</strong> Autoren zulässig. Die Verwendung zu<br />

Rundfunkzwecken bedarf <strong>der</strong> Genehmigung des Hessischen Rundfunks.<br />

Die Anfrage kam völlig überraschend für mich: <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> ist in Frankfurt,<br />

ob ich ihn treffen will, ob wir <strong>ein</strong>e Sendung machen wollen mit dem<br />

international renommierten <strong>Kind</strong>erpsychiater. Er kam zu uns ins Studio, um über<br />

s<strong>ein</strong>e Arbeit zu sprechen und über s<strong>ein</strong> Leben - beides hängt untrennbar<br />

zusammen. Es wurde <strong>ein</strong> Gespräch, das man nicht vergessen kann.<br />

Die Zähmung menschlicher Destruktivität ist das Lebensthema von Professor<br />

<strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> und das hat damit zu tun, was in s<strong>ein</strong>er eigenen persönlichen Welt


passiert ist, <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> ist in Lodz geboren, 1928, am 13. Dezember und er<br />

hieß damals nicht <strong>Parens</strong>, son<strong>der</strong>n Pruzinowski<br />

O-Ton1<br />

und ich habe m<strong>ein</strong>en Namen verän<strong>der</strong>t…zu <strong>Parens</strong>…<strong>ein</strong> lieber Freund hat<br />

gesagt: <strong>Henri</strong>, wenn du Doktor wirst, d<strong>ein</strong>e Patienten werden d<strong>ein</strong>en Namen<br />

nicht pronounzieren können<br />

aber das war viel später in Amerika, da hatte <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> s<strong>ein</strong>e <strong>Flucht</strong> aus<br />

<strong>ein</strong>em Konzentrationslager längst hinter sich, war mit <strong>ein</strong>em <strong>Kind</strong>ertransport<br />

nach Amerika geschickt worden, war mutterseelenall<strong>ein</strong> dort angekommen,<br />

hatte Gastfamilien gefunden, hatte erfahren, dass s<strong>ein</strong>e Mutter ermordet worden<br />

war, in Auschwitz, hatte Musik studiert und Medizin.<br />

Als <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> wurde er international bekannt: <strong>ein</strong> <strong>Kind</strong>erpsychiater und<br />

Psychoanalytiker, <strong>der</strong> s<strong>ein</strong>e ganzen Energien dar<strong>auf</strong> verwendet, destruktive<br />

Aggressionen und gefährliche Vorurteile bei <strong>Kind</strong>ern und bei Erwachsenen in<br />

den Griff zu bekommen, <strong>der</strong> jungen Eltern – und auch schon Schülerinnen und<br />

Schülern - beibringt, was es heißt, <strong>Kind</strong>er gut zu erziehen<br />

O-Ton2<br />

We have learned more during the 20th century how to bring up our children,<br />

how to educate our children to make them better human b<strong>ein</strong>gs, less hostile<br />

human b<strong>ein</strong>gs, healthier human b<strong>ein</strong>gs. And we can teach this.<br />

Wir haben im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t gelernt, wie wir <strong>Kind</strong>er erziehen müssen, um sie<br />

zu besseren, weniger f<strong>ein</strong>dseligen, gesün<strong>der</strong>en Menschen zu machen. So lautet<br />

s<strong>ein</strong> optimistisches Credo. <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> hat selber <strong>ein</strong>e große Familie gegründet,<br />

die er sehr liebt. Und er merkt doch immer wie<strong>der</strong>, wie sehr er von s<strong>ein</strong>er<br />

Geschichte gezeichnet ist:<br />

O-Ton3<br />

I have a very good life, I have done things that I feel very good about, I have a<br />

won<strong>der</strong>ful family, I’m a very lucky man – but there is always pain.<br />

Schmerz, <strong>der</strong> es ihm unmöglich macht, sich zu erinnern – und zu vergessen.<br />

Schmerz, <strong>der</strong> ihn sprachlos macht und diese Sprachlosigkeit ist auch im<br />

Gespräch immer wie<strong>der</strong> zu spüren, zusammen mit großer Heiterkeit und<br />

Herzlichkeit.<br />

Aber <strong>der</strong> Reihe nach: <strong>auf</strong>gewachsen ist <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> nicht in Lodz, son<strong>der</strong>n in<br />

Brüssel, s<strong>ein</strong>e Mutter hatte sich von s<strong>ein</strong>em Vater getrennt, als <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong><br />

noch sehr kl<strong>ein</strong> war, Vater und älterer Bru<strong>der</strong> blieben in Lodz, s<strong>ein</strong>e Mutter und


er gingen nach Brüssel, wo schon <strong>ein</strong> großer Teil s<strong>ein</strong>er Verwandtschaft lebte,<br />

Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, warum die Trennung, warum<br />

Brüssel? <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> weiß es nicht, und er hat niemand gehabt, den er hätte<br />

fragen können, s<strong>ein</strong>e ganze frühe Geschichte liegt im Dunkeln.<br />

Aufgewachsen ist <strong>Henri</strong> zweisprachig:<br />

O-Ton4<br />

Ihre Muttersprache war Jiddisch o<strong>der</strong> was war ihre Muttersprache?<br />

Jiddisch. M<strong>ein</strong>e Mutter sprach Jiddisch, und ich sprach Jiddisch mit sie und<br />

Französisch in Schule.<br />

Aron war s<strong>ein</strong> jiddischer Namen. An s<strong>ein</strong>e Zeit in Brüssel hat <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong><br />

schöne Erinnerungen:<br />

O-Ton5<br />

Was Gutes war: m<strong>ein</strong>e Mutter und m<strong>ein</strong>e Familie, unser Leben war sehr gut vor<br />

dem Krieg und als <strong>der</strong> Krieg kam, ist es zerbrochen bekommen.<br />

Diese gute Leben endete mit <strong>ein</strong>em Schlag: am 10. Mai 1940.<br />

Zitator<br />

„Für mich <strong>ein</strong> zutiefst erinnerungsträchtiger Tag. Er sollte <strong>der</strong> erste in <strong>ein</strong>er für<br />

immer außergewöhnlichen Serie denkwürdiger Tage in m<strong>ein</strong>em Leben s<strong>ein</strong> —<br />

Tage, die im großen Ganzen <strong>der</strong> Folge von Ereignissen des Zweiten Weltkriegs<br />

entsprechen. Markiert ist für mich <strong>der</strong> 10. Mai 1940 als erster jener Tage, in<br />

denen das Leben, in das ich hin<strong>ein</strong>geboren wurde, ins Nichts abdriftete. Ich<br />

Elfjähriger fragte m<strong>ein</strong>e Mutter in Jiddisch, unserer Umgangssprache in <strong>der</strong><br />

Familie: »Ma, wus passiert?« (»Mama, was geht vor?«). »Les Boches ont<br />

attaque la Belgique. Ar ' n, mir mussen awek g<strong>ein</strong>« (»Die Deutschen haben<br />

Belgien attackiert. Aron [m<strong>ein</strong> jiddischer Name], wir müssen weggehen«).―<br />

Das schreibt <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> in s<strong>ein</strong>en Lebenserinnerungen. Am 10. Mai 1940<br />

greift Deutschland die Nie<strong>der</strong>lande, Belgien und Luxemburg an, 18 Tage später<br />

wird die belgische Armee kapitulieren. <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> und s<strong>ein</strong>e Mutter fliehen<br />

aus Brüssel – im Chaos, mit kl<strong>ein</strong>em Gepäck – k<strong>ein</strong>er käme <strong>auf</strong> die Idee, zum<br />

Beispiel Wintersachen <strong>ein</strong>zupacken.<br />

Zitator<br />

„La Gare du Midi war verwirrend. Leute strömten ständig hin<strong>ein</strong>, manche<br />

trugen <strong>Kind</strong>er o<strong>der</strong> zogen sie hinter sich her, die meisten waren mit Gepäck<br />

überladen, alle eilten in den Bahnhof. Nichts stand still. Unerhört: Man<br />

brauchte k<strong>ein</strong>e Fahrkarte, um in den Zug zu steigen, und es wurden k<strong>ein</strong>e<br />

Zielbahnhöfe angegeben. Man sagte, dieser Zug fahre nach Frankreich…Wir


verließen m<strong>ein</strong>e Familie, m<strong>ein</strong> Zuhause, m<strong>ein</strong>e Schule, m<strong>ein</strong>e Heimatstadt. Mir<br />

kam k<strong>ein</strong> Gedanke an Abschied o<strong>der</strong> daran, sie alle nicht bald wie<strong>der</strong>zusehen;<br />

wir sind <strong>ein</strong>fach abgefahren.―<br />

O-Ton6<br />

Wir waren erst in <strong>ein</strong> Dorf für vier Monate, dann sind wir zu<br />

Konzentrationslagern genommen, erst Récébédou und dann Rivesaltes. Vier<br />

Monate in Récébédou und dann in Rivesaltes und von Rivesaltes bin ich weg.<br />

11 Jahre war <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> alt, als s<strong>ein</strong>e Odyssee durch Frankreich begann.<br />

Die erste Station war <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Dorf, irgendwo nördlich von Toulouse.<br />

Zitator<br />

„Entsinnen kann ich mich nicht, wie wir nach »Dorf« kamen — ich mache <strong>ein</strong>en<br />

Eigennamen daraus, denn an Dorf kann ich mich gut erinnern, nur nicht an<br />

s<strong>ein</strong>en richtigen Namen o<strong>der</strong> wo genau es lag…..Ich erinnere mich ans<br />

Wasser-holen, wie ich mit <strong>der</strong> Handpumpe unseren Eimer füllte und zurücktrug<br />

in unsere ebenerdigen Räume, im Gefühl, etwas Nützliches zu tun. M<strong>ein</strong>e Mutter<br />

und ich lebten in <strong>ein</strong>er gut funktionierenden entente cordiale. Wir konnten<br />

unsere Zuneigung leicht ausdrücken und zudem galt für mich schon längst <strong>ein</strong><br />

unausgesprochener Pakt, dass ich ohne Aufhebens tat, was m<strong>ein</strong>e Mutter mir<br />

sagte o<strong>der</strong> worum sie mich bat.―
<br />

4 Monate lebte <strong>Henri</strong> mit s<strong>ein</strong>er Mutter in „Dorf“, dann wurden sie und an<strong>der</strong>e<br />

Juden zusammengetrieben und in <strong>ein</strong> Lager verfrachtet - in das<br />

Konzentrationslager von Récébédou –<br />

und noch <strong>ein</strong>mal vier Monate später in das Konzentrationslager von Rivesaltes.<br />

Die Fahrt dorthin schil<strong>der</strong>t <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> in s<strong>ein</strong>en Lebenserinnerungen so:<br />

Zitator<br />

„Wir stiegen außerhalb von Toulouse in den Zug. Wie<strong>der</strong> sorgte die<br />

gastgebende Regierung dafür, dass wir nicht zum Bahnhof mussten. Sie kamen<br />

zu uns und transportierten uns bis an unseren Bestimmungsort. Das Gepäck<br />

mussten wir auch nicht tragen, das sollte für uns erledigt werden. Wir verließen<br />

Récébédou mittags. Die Geschichte veranlasst mich, zu erwähnen, dass wir in<br />

Passagierwaggons reisten, nicht in den an<strong>der</strong>en, die bald für ähnliche Zwecke<br />

<strong>ein</strong>gesetzt wurden: Für die Vichy-Franzosen waren wir noch k<strong>ein</strong> Vieh.―<br />

Natürlich war das Gepäck gefilzt, <strong>auf</strong>gebrochen, ausgeplün<strong>der</strong>t, als es nach<br />

Wochen in Rivesaltes ankam…<br />

Es hat fast <strong>ein</strong> ganzes Leben gedauert, bis <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> über s<strong>ein</strong>e Erlebnisse in<br />

Rivesaltes sprechen konnte, bis er sie <strong>auf</strong>schreiben konnte.<br />

O-Ton7


I started writing my memoires, wann ich 70 Jahre war. Bevor konnte ich es nicht<br />

tun.<br />

Das Schreiben machte ihn krank – und war doch gleichzeitig <strong>ein</strong>e Therapie für<br />

ihn.<br />

O-Ton8<br />

Viele von die Überlebende konnten nicht davon sprechen, wenn es so schwierig<br />

ist. Und wenn ich m<strong>ein</strong>e memoiren geschrieben haben, war es really…wirklich<br />

torture. And I developed a severe skin condition while I was writing my<br />

memoires.<br />

<strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> bekam <strong>ein</strong>en Hautausschlag, <strong>der</strong> ihn mit unerträglichem Juckreiz<br />

quälte. S<strong>ein</strong> Arzt war zunächst ratlos:<br />

Zitator<br />

„M<strong>ein</strong> sehr fähiger Dermatologe war ob m<strong>ein</strong>es Zustands ganz perplex. Er<br />

schloss bestimmte Möglichkeiten aus, sachte, zögernd, fragte er s<strong>ein</strong>en<br />

Psychiater-Patienten, ob er zurzeit emotionale Probleme habe: »<strong>Henri</strong>, verzeih<br />

mir die Neugierde, aber gibt es etwas, das dich gerade sehr bedrückt?―<br />

Ich lächelte, schüttelte verdutzt den Kopf und sagte: »Bernie, ich glaube, du hast<br />

es getroffen.« Mir war mehrfach <strong>auf</strong>gefallen, dass ich mich beim Schreiben an<br />

dieser Geschichte, m<strong>ein</strong>er Holocaust-Geschichte, fast ständig kratzte, manchmal<br />

habe ich mich geradezu gewunden vor Juckreiz und musste dann die von ihm<br />

verschriebene Salbe <strong>auf</strong>tragen und/o<strong>der</strong> <strong>ein</strong>e Antihistamintablette <strong>ein</strong>nehmen.―<br />

K<strong>ein</strong> Wun<strong>der</strong> bei Passagen wie diesen:<br />

Zitator<br />

„In Rivesaltes schliefen wir <strong>auf</strong> rauen Matratzen aus Sackmaterial.<br />

Möglicherweise war es sogar <strong>ein</strong> Stoff, wie man ihn früher für Kartoffelsäcke<br />

benutzte, mindestens aber wie für Mehlsäcke. All<strong>ein</strong> <strong>der</strong> Gedanke löst bei mir<br />

sofort <strong>ein</strong>en Juckreiz aus. Und zugedeckt haben wir uns mit <strong>ein</strong>er rauen<br />

Wolldecke, wie bei <strong>der</strong> Armee. …Für mich stehen diese quälenden<br />

Schlafbedingungen – so quälend, dass ich diesen Teil m<strong>ein</strong>er<br />

Rivesaltes-Erfahrung bis jetzt verdrängt hatte — <strong>auf</strong> klare und <strong>ein</strong>fache Weise<br />

für das ganze Elend von Rivesaltes―<br />

Eine große, stille Wut hat <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> beim Schreiben in sich gefühlt.<br />

O-Ton9<br />

But at the same time it was very relieving and gratifying to write. M<strong>ein</strong>e Frau<br />

hat gesagt, es wird <strong>ein</strong> Selbst-Analysis wird s<strong>ein</strong> – sie hatte Recht.


Über 70 Jahre alt ist <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong>, als er das Leben <strong>ein</strong>es 12jährigen beschreibt<br />

im Konzentrationslager Rivesaltes. Immerhin, er findet zwei Freunde, und als „3<br />

Musketiere“ versuchen diese drei Freunde, den unerträglichen Lageralltag zu<br />

überstehen.<br />

Zitator<br />

„Weil wir drei Buben waren und weil alle pfiffigen französischsprachigen<br />

<strong>Kind</strong>er im Alter von elf o<strong>der</strong> zwölf Jahren bereits Les Trois Mousquetaires<br />

gelesen haben, ist es nur schlüssig, dass unsere Fantasie uns von Opfern in<br />

Helden verwandelte. Wir spielten die Drei Musketiere, rannten tagsüber über<br />

Erdhügel und Baustellenabfall, begegneten (und besiegten natürlich immer)<br />

Kardinal Richelieu und s<strong>ein</strong>e Henker. Dass es Frühwinter 1940–41 war, <strong>der</strong><br />

Holocaust noch an s<strong>ein</strong>em Beginn stand und das Schlimmstmögliche uns noch<br />

nicht erreicht hatte, erklärt wohl den Umstand, dass wir überhaupt noch spielen<br />

konnten und dass wir aus dem bösen Richelieu nicht Adolf Hitler machten – mir<br />

wird übel, wenn ich hier nur jenen Namen schreibe!<br />

Ich muss <strong>ein</strong>e Pause <strong>ein</strong>legen.<br />

Was für <strong>ein</strong> verabscheuungswürdiger Name ...―<br />

Am 1. Mai 1941verlässt <strong>ein</strong>er <strong>der</strong> 3 Musketiere das Lager – <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong>.<br />

Er flieht, mutterseelenall<strong>ein</strong> – s<strong>ein</strong>e Mutter schickt ihn <strong>auf</strong> die <strong>Flucht</strong>.<br />

O-Ton10<br />

How did I, how did I flee? Ja, das ist schwer <strong>auf</strong> Deutsch…I…we chose May 1st.<br />

Ein Monat denn es ist Labor Day. M<strong>ein</strong>e Mutter hat gedacht, da werden viele<br />

Menschen nicht werken, also sentinelles würde weniger s<strong>ein</strong><br />

…es würde weniger Wachposten geben. Warum ließ s<strong>ein</strong>e Mutter ihn gehen?<br />

Warum schickte sie ihn all<strong>ein</strong> ins Ungewisse? Hernri <strong>Parens</strong> hat viel darüber<br />

nachgedacht. In s<strong>ein</strong>en Lebenserinnerungen – das Buch trägt den Titel „Heilen<br />

nach dem Holocaust. Erinnerungen <strong>ein</strong>es Psychoanalytikers“ - schreibt er:<br />

Zitator<br />

„Fakten über die europäische Geschichte dieser Zeit, 1940 bis 1945, speichert<br />

m<strong>ein</strong> Gehirn nicht richtig, trotz wie<strong>der</strong>holter Lektüre. Ich kenne Bruchstücke,<br />

kann sie aber nicht zusammenfügen. Bemerkenswert für jemanden, <strong>der</strong> jede<br />

Schule mit <strong>der</strong> höchsten Auszeichnung abschloss — außer <strong>der</strong> Musikhochschule,<br />

wo es nur zur Auszeichnung reichte, wegen m<strong>ein</strong>er Schwäche im Solfeggio<br />

(gleichzeitiges Singen und Benennen <strong>der</strong> Töne)…. Heute denke ich, dass m<strong>ein</strong>e<br />

Mutter etwas Schlimmes über unser Schicksal wusste… Als wir all<strong>ein</strong> waren,<br />

brachte sie die Frage vor, die große Frage, wohl <strong>ein</strong>e <strong>der</strong> größten Fragen in<br />

m<strong>ein</strong>em Leben. Sie sagte, sie wolle, dass ich aus Rivesaltes fliehe! Ohne sie


fliehen! In ihrem Gesicht sah ich ihren Wunsch. »Yoh, Ma, ch ' vet teen vus du<br />

zugst« (»Ja, Mutter, ich tue, was du sagst«), habe ich wahrsch<strong>ein</strong>lich zu ihr<br />

gesagt, in Brüsseler Jiddisch.―<br />

O-Ton11<br />

Und ich bin nach die Grenze von die Lager gegangen, crowling, and there was a<br />

railroad truck that was on one side of the camp, but it was elevated a mount, so<br />

if I got over it I would not be so easily seen from the camp. And I got to the<br />

mount and looked around again, raising just my head, saw that there was no one<br />

there, I started to run and then I really became afraid.<br />

darüber:<br />

Hinter <strong>ein</strong>em Bahndamm konnte sich <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> verstecken, und dann rannte<br />

er los. Und dann bekam er wirklich Angst.<br />

Er rannte, bis er die Straße nach Perpignan erreichte, lief weiter, die 10<br />

Kilometer bis nach Perpignan.<br />

O-Ton12<br />

I went to the station, to the train station, my mother has given me the<br />

lections on how to go and she had given me enough money to buy a train<br />

ticket from Perpignan to Marseille. Then I went to the train station and I got my<br />

ticket, not looking at anybody hoping nobody will look at me and I then realized<br />

that I had many more hours to wait because es war um drei – fünfzehn Uhr –<br />

wenn ich m<strong>ein</strong> Ticket gehabt und <strong>der</strong> Zug would leave at eleven o’clock.<br />

darüber:<br />

Er ging zum Bahnhof, k<strong>auf</strong>te sich <strong>ein</strong>e Fahrkarte von Perpignan nach Marseille<br />

– s<strong>ein</strong>e Mutter hatte ihm Geld und Instruktionen mitgegeben - und dann musste<br />

er sich verstecken – es war erst 3 Uhr nachmittags, und <strong>der</strong> Zug ging um 11 Uhr<br />

nachts.<br />

8 Stunden musste er sich <strong>auf</strong> <strong>ein</strong>er Toilette verstecken, dann kam <strong>der</strong> Zug, <strong>der</strong><br />

ihn nach Marseille bringen sollte. Im Zug wird er angesprochen, von <strong>ein</strong>em<br />

Mann, <strong>der</strong> aussieht wie <strong>ein</strong> Geschäftsreisen<strong>der</strong>:<br />

O-Ton13<br />

I was standing in the train and the man next to me came closer and said to me<br />

very quietly: Ich weiß, von wo du kommst. I was really frightened. Aber er hat es<br />

gesehen und hat gesagt: don’t be afraid. Habe k<strong>ein</strong> Furcht. He reassured me<br />

and er k<strong>auf</strong>te mir m<strong>ein</strong> erstes meal – wie sagt man meal –<br />

REO: Essen<br />

Essen. Ich habe <strong>ein</strong> ganzes meal gegessen. Das erste Mal in neunzehn


Monaten…<br />

und er hat mir gesagt, dass er nach Grenoble geht um zu Ski und ich habe<br />

gedacht, wenn ich habe geschrieben m<strong>ein</strong>e Memoiren, wir waren in<br />

Konzentrationslagern, Kranke und <strong>ein</strong>ige Leute dying und an<strong>der</strong>e Leute skiing.<br />

REO: Zum Skifahren, ja.<br />

Aber nicht schlechte Leute. Das Leben geht… Life went on and he was very nice,<br />

this man, he didn’t have to do what he did<br />

Das betont <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> immer wie<strong>der</strong>, wie viele Menschen ihm geholfen<br />

haben, ihn unterstützt haben.<br />

O-Ton14<br />

…und ich…I fell asleep und das nächste Morgen war ich in Marseille<br />

<strong>auf</strong>gewacht und habe die OSE-Büro gefunden ohne difficulty und dann…then I<br />

felt safe.<br />

OSE – das steht für Oeuvre de Secours aux Enfants , <strong>ein</strong> jüdisches<br />

<strong>Kind</strong>erhilfswerk in Frankreich, dem es gelang, im Verbund mit an<strong>der</strong>en<br />

Organisationen unzählige <strong>Kind</strong>ern vor dem Tod zu retten. Im OSE-Büro in<br />

Marseille wurde <strong>der</strong> 12jährige <strong>Henri</strong> ansch<strong>ein</strong>end schon erwartet:<br />

Zitator<br />

―Sobald ich den Raum betrat, waren schützende Arme um mich. Die Rückkehr<br />

des verlorenen Sohnes, Ende <strong>der</strong> Odyssee – nur, dass wir uns gegenseitig nicht<br />

kannten. Aber was für <strong>ein</strong> Empfang, wie zu Hause. So etwas habe ich selten<br />

gespürt, wenn es nicht wirklich zu Hause war. Dieses »Willkommen daheim« in<br />

<strong>ein</strong>em fremden Land empfand ich in diesem OSE-Büro in Marseille und viele<br />

Jahre später bei m<strong>ein</strong>em ersten Besuch in Jerusalem.‖<br />

Ein Jahr lang lebte <strong>Henri</strong> im OSE-Heim, erlebte dort für sich – trotz <strong>der</strong><br />

Trennung von s<strong>ein</strong>er Mutter – <strong>ein</strong>e schützende, fürsorgliche, sogar heilende<br />

Umgebung.<br />

O-Ton15<br />

die environment, die Leute, sie waren so good und ich war da für vielleicht <strong>ein</strong><br />

Jahr, und die Madame Masur, the chief, hat mir gesagt, dass m<strong>ein</strong>e Mutter,<br />

m<strong>ein</strong>e Mama hat um <strong>ein</strong>e Liste geschrieben, dass ich nach Amerika kommen<br />

soll.<br />

Im Vichy-Frankreich waren die jüdischen <strong>Kind</strong>er auch in den OSE-Heimen<br />

schon lange nicht mehr sicher. Das OSE organsierte deshalb für s<strong>ein</strong>e<br />

Schützlinge Schiffstransporte nach Amerika – mit Unterstützung vieler an<strong>der</strong>er<br />

Organisationen. <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> gehörte zur letzten <strong>Kind</strong>ergruppe, die so nach<br />

Amerika kam. (Der nächste Konvoi wurde von den Deutschen gestoppt.)


O-Ton16<br />

Das war schwer, denn ich habe gefragt, ob auch m<strong>ein</strong>e Mutter wird auch<br />

kommen und Madame Masur hat mir gesagt, dass n<strong>ein</strong>, sie könnte nicht, aber<br />

dass m<strong>ein</strong>e Mutter wünschte, dass ich nach Amerika gehe und dass es <strong>ein</strong>e sehr<br />

gute Sach zu tun war.<br />

So kam es, dass <strong>Henri</strong> Pruzinowski, <strong>der</strong> später <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> heißen sollte, 1942<br />

nach Amerika reiste, mutterseelenall<strong>ein</strong>, gerade mal 13 Jahre alt.<br />

Vorher aber, und das klingt völlig unglaublich, hat er s<strong>ein</strong>e Mutter noch <strong>ein</strong>mal<br />

gesehen. Irgendwie hat es das OSE möglich gemacht, dass Mütter, die im<br />

Konzentrationslager Rivesaltes interniert waren, nach Marseille reisen durften,<br />

und sich dort von ihren <strong>Kind</strong>ern verabschieden konnten:<br />

O-Ton17<br />

OSE was able to get the mothers who were in Rivesaltes of children who were<br />

going to Amerika to come and say goodby to us. Und das war das letzte…<br />

REO: So you could say goodby to your mother then.<br />

HP: Yes. Für <strong>ein</strong> Tage haben sie gekommen können, uns goodby zu sagen. I<br />

don’t remember anything about it. Ich erinnere mich ganz nicht. Aber als<br />

Psychoanalytiker kann ich sehr gut verstehen warum, es war viel zu schwer<br />

darüber denken, mich erinnern. Eben heute kann ich es nicht, mich nicht<br />

erinnern davon.<br />

Nie mehr hat <strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong> danach etwas von s<strong>ein</strong>er Mutter gehört.<br />

Für ihn selber begann in den USA <strong>ein</strong> zweites Leben, <strong>ein</strong> Leben, in dem er zu<br />

<strong>ein</strong>em engagierten, weltweit renommierten <strong>Kind</strong>erpsychiater wurde. Der es<br />

sich zur Lebens<strong>auf</strong>gabe machte, <strong>Kind</strong>er vor sinnlosem Leiden zu schützen. Und<br />

die Gesellschaft vor destruktiver Aggressivität.<br />

Literatur:<br />

<strong>Henri</strong> <strong>Parens</strong>: Heilen nach dem Holocaust,<br />

Erinnerungen <strong>ein</strong>es Psychoanalytikers<br />

Beltz-Verlag, 2007

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