Zum Dialog berufen - Missionszentrale der Franziskaner
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3<br />
Notizen zu einigen Fragen<br />
<strong>der</strong> afro-brasilianischen und indigenen<br />
religiös-kulturellen Identitäten 1<br />
Paulo Suess<br />
„Das Blut und <strong>der</strong> Traum unserer Vorfahren leben in uns weiter. Obwohl man die<br />
Zweige stutzte, die Früchte raubte und sogar den Stamm verbrannte, sind die Wurzeln<br />
lebendig, und keiner kann sie ausreißen.<br />
(Erstes Treffen <strong>der</strong> Indigenen Völker des Tapajós Dezember 1999)<br />
Den Begriff Identität des Subjekts<br />
verdanken wir <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und den<br />
emanzipatorischen Impulsen <strong>der</strong> Aufklärung.<br />
2 Er richtet sich gegen die Min<strong>der</strong>heit<br />
und will Befreiung von Vormundschaft<br />
und Unterdrückung historisch<br />
und biographisch in Gang setzen. Diese<br />
emanzipatorische Sicht <strong>der</strong> Identität<br />
– <strong>der</strong>en Absicht es ist, eine Sinndeutung<br />
zu ermöglichen – wird durch die Postmo<strong>der</strong>ne<br />
in Frage gestellt. Die Linearität<br />
des historischen Prozesses, die Personenwürde<br />
des Menschen und die Einheit <strong>der</strong><br />
Menschheit durchlaufen Turbulenzen,<br />
die alle historisch-gesellschaftlichen Prozesse<br />
vollständig aufbrechen und nur einen<br />
Pluralismus absoluter Beliebigkeit<br />
zulassen wollen.<br />
Ohne diese Fragen zwischen Prädetermination<br />
und radikaler Offenheit <strong>der</strong><br />
Geschichte entscheiden zu wollen, können<br />
wir uns mit <strong>der</strong> Position des Psychoanalytikers<br />
Costa Freire anfreunden, <strong>der</strong><br />
Grenzen aufzeigt: Wir sind nicht „fertig“,<br />
wenn wir geboren werden; wir sind, was<br />
wir werden, und werden – von Ausnahmen<br />
abgesehen – zu dem, was die Kultur uns zu<br />
werden erlaubt. 3<br />
Menschen und gesellschaftliche<br />
Gruppen befinden sich immer in einem<br />
„Die Identität ist das Auffangbecken des Augenblicks“.<br />
Baumann Zygmunt, Identidade, S. 23<br />
Prozess, in dem ererbtes Sein, das „Sein<br />
im Werden“ (Hegel) <strong>der</strong> Geschichte und<br />
das kulturell Verfügbare, zum Beispiel<br />
<strong>der</strong> Volkskatholizismus in Lateinamerika,<br />
miteinan<strong>der</strong> verwoben sind. Gesellschaftliche<br />
Gruppen erben und gestalten<br />
ihre Identität, weil ihre Identität nicht<br />
die eines Objektes ist, son<strong>der</strong>n die eines<br />
kollektiven Subjekts. Die Gestaltung <strong>der</strong><br />
Identität kann aus externen o<strong>der</strong> internen<br />
Gründen scheitern. An<strong>der</strong>s gesagt:<br />
Die Menschen wissen niemals ob sie<br />
scheitern, weil sie niemals fertig sind.<br />
Innerhalb unserer komplexen Gesellschaften<br />
können wir allenfalls Mikroorganismen<br />
Identität zuerkennen. Die<br />
Gesamtheit einer Nation o<strong>der</strong> eines Kontinents<br />
bildet eine Meta-Identität, die<br />
sich aus vielen verschiedenen Identitäten<br />
nach Art eines Netzes zusammenfügt, in<br />
dem Gruppenidentitäten, von gemeinsam<br />
anerkannten Normen geleitet, miteinan<strong>der</strong><br />
koexistieren. Diese von allen<br />
geteilten Normen garantieren die Wechselseitigkeit<br />
von Rechten und Pflichten<br />
und folglich die gegenseitige Anerkennung<br />
4 , selbst dann, wenn Identität „im<br />
Kontrast“ definiert wird „zum Beispiel<br />
als Zurückweisung des Bildes, das an<strong>der</strong>e<br />
in dir sehen möchten“. 5 So wie sich<br />
Grüne Schriftenreihe Nr. 100 – <strong>Zum</strong> <strong>Dialog</strong> <strong>berufen</strong>