GR-Reisebericht Venezuela
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Caracas, 21. Oktober 2007<br />
Projektbesuch <strong>Venezuela</strong> am 21.10.und 22.10.2007<br />
Kämpfer für die Armen<br />
In <strong>Venezuela</strong> muss man Geduld haben …Ankunft nach einem achtstündigen Flug. Jetzt<br />
erwartet mich jedoch noch ein zweieinhalbstündiger Marathonlauf durch die<br />
Einwanderungsbehörde und den Zoll. Man übt sich in Schlange stehen und warten. Endlich,<br />
am Ausgang erwartet mich Fr. Guillermo OFM im Franziskanerhabit. Dies ist hier so<br />
ungewöhnlich, dass er von Passanten<br />
angesprochen wird, ob sie nicht ein<br />
Foto mit ihm haben können. Auch<br />
fällt der Satz: „Ich dachte<br />
Franziskaner gibt es nur bei Robin<br />
Hood im Kino“. Vom Flughafen bis<br />
zum Konvent der Kustodie in Caracas<br />
dauert es noch einmal über eine<br />
Stunde. Langsam kämpfen wir uns<br />
durch den Stau.<br />
Es ist schwül in Caracas, der<br />
Hauptstadt von <strong>Venezuela</strong>, und es<br />
regnet bei 25 Grad. Alexander von<br />
Humboldt schrieb einst: „…gibt es<br />
keinen Ort, an dem wir uns mit mehr<br />
Vergnügen erinnern würden als an die schöne Stadt Caracas, die durch ihre malerische Lage,<br />
ihre Temperatur, ihre Gebäude und vor allem durch die geistige Kultur und die Feinheit des<br />
gesellschaftlichen Umgangs verdient, der vornehmste Ort unter den Hauptstädten des neuen<br />
Kontinents zu sein.“ Dies hat sich inzwischen relativiert.<br />
Die Einwohnerzahl von Caracas ist auf Grund des fortschreitenden Anwachsens von<br />
Armenvierteln (Barrios) – durch Eigenbau an den Hängen der Berge schwer einzuschätzen.<br />
Die Schätzungen reichen von zwei bis drei Millionen Einwohnern für den zentralen<br />
Verwaltungsbezirk, bis zu zehn Millionen Einwohnern für Groß-Caracas mit allen seinen<br />
Außenbezirken.<br />
Noch in den 70er Jahren war <strong>Venezuela</strong> eines der wohlhabendsten Länder Südamerikas. Mit<br />
dem Verfall des Ölpreises in den 80ern geriet<br />
<strong>Venezuela</strong> jedoch in eine Wirtschaftskrise. Seit<br />
1998 heißt der Präsident Hugo Chávez.<br />
Er träumt, wie einst Befreiungsheld Simon<br />
Bolivar, von einem geeinten Lateinamerika.<br />
Inzwischen findet der selbst ernannte "Kämpfer für<br />
die Armen" nicht nur in den Slums daheim<br />
Bewunderer. Chávez hatte nach seinem ersten<br />
Wahlsieg Ende 1998 eine "friedliche Revolution"<br />
versprochen. Seine erklärten Ziele sind der Kampf<br />
gegen Korruption, die Schaffung und Stärkung<br />
möglichst direkter Demokratie sowie die nationale<br />
und ökonomische Unabhängigkeit und der Aufbau des Sozialismus in <strong>Venezuela</strong>.
Den Erdölstaat hat er jedoch mit umstrittenen Maßnahmen und Reden an den Rand des<br />
Bürgerkriegs gebracht. Von der Opposition wird er als "Diktator" und "Mörder" beschimpft.<br />
Sie wollte ihn einmal sogar wegen Demenz absetzen lassen. Das venezolanische<br />
Establishment sieht in dem autoritär auftretenden Staatschef einen "Populisten" und "Freund<br />
des Kommunismus". Im Jahr 2000 wurde eine neue Verfassung per Referendum bestätigt.<br />
<strong>Venezuela</strong>s Staatsbezeichnung lautet seitdem „Bolivarische Republik <strong>Venezuela</strong>“. Im<br />
Volksmund wird <strong>Venezuela</strong> als „Fünfte Republik“ bezeichnet. Das Realeinkommen der<br />
Venezolaner ist auf das Niveau der 50er Jahre gefallen, Arbeitslosigkeit und Armut sind stark<br />
angestiegen. Die Opposition wirft Chávez nicht nur einen autoritären Regierungsstil mit<br />
Einschüchterungen vor, sondern auch eine "miserable Wirtschaftspolitik". Er verschwende<br />
Öleinnahmen, so heißt es, um seine populistischen Programme zu finanzieren und sich so an<br />
der Macht zu halten. Gemeint sind die so genannten "Sozialmissionen". Diese ermöglichten<br />
jedoch durch Steuererleichterungen und günstige Kredite vielen Landsleuten das erste eigene<br />
Häuschen.<br />
Ich treffe Fr. Alex Arias OFM, der ehemaliger Franziskanerobere. Wir unterhalten uns über<br />
die Projekte und über die politischen Zustände<br />
in <strong>Venezuela</strong>.<br />
Die Politik von Hugo Chávez ist überall das<br />
Thema. Hugo Chávez löst auch Versprechen<br />
gegenüber den Armen ein. Seine staatliche<br />
Politik lindert die große Armut an den<br />
schlimmsten Stellen. Abends sehen wir uns<br />
noch die Fertigstellung eines<br />
Gemeindezentrums in einem armen Barrio an.<br />
Allerdings sind die Beziehungen zur offiziellen<br />
Katholischen Kirche nicht immer<br />
spannungsfrei.<br />
Caracas, 22. Oktober 2007: Heute findet ein Treffen mit der Franziskanischen Familie statt.<br />
Ich lerne die Kapuziner und auch Projektpartner aus anderen Teilen <strong>Venezuela</strong>s kennen.<br />
Danach fahre ich mit Fr. Antonio ins Stadtzentrum von Caracas. Es ist ein interessanter<br />
Nachmittag. Wir besuchen die Menschenrechtsbüros des Komitees der Familien der Opfer der<br />
folgenschweren Ereignisse im Februar und März 1989 - COFAVIC und FEDEFAM. Die<br />
Vereinigung der Familien der Verschwundenen FEDEFAM ist in 13 Ländern von Amerika<br />
organisiert und hat seit Ende der achtziger Jahre eine gute Vernetzung auf<br />
lateinamerikanischer Ebene erreicht. Das zentrale Büro ist in Caracas. Die Arbeit von<br />
FEDEFAM hat die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen zum Ziel. Allgemeinen<br />
Schätzungen zufolge sind etwa 120.000 Personen aus politischen Gründen verschwunden,<br />
vermutlich ermordet. Ihr Schicksal ist bis heute nicht aufgeklärt. Bei diesem Einsatz für späte<br />
Gerechtigkeit geht es um die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen, Kenntnis über<br />
ihre Todesumstände und den Todesort und um Aufdeckung und Anklage der Schuldigen.<br />
Letztendlich, wenn auch sehr spät, geht es um die Anerkennung des Status der<br />
zurückgebliebenen Ehefrauen als Witwen mit den entsprechenden sozialen Rechten und<br />
Versorgungsrechten sowie auch um die Überwindung der Kriminalisierung der Kinder und<br />
Familien. Die Kustodie ist noch recht vorsichtig in politischer Betätigung, was sich aber durch<br />
den in diesem Jahr gewählten neuen Kustos, Frei Joel Alcides, ändern kann.
Auf dem Rückweg durch das Zentrum<br />
sehen wir viele politische Stände, vor<br />
allem von der Partei von Chávez.<br />
Direkt an der U-Bahn zieht mich Fr.<br />
Antonio zu einem Stand, an dem<br />
Raubkopien von Videos verkauft<br />
werden. Mir fehlen die Worte. Ich bin<br />
entsetzt. Fr. Antonio berichtet, dass in<br />
Caracas im Moment der letzte Schrei<br />
der Kauf von Videos über<br />
Hinrichtungen „live“ ist. Wir sehen in<br />
einer kleinen Vorführung, wie ein<br />
Jugendlicher entführt, gedemütigt und<br />
zum Schluss erschossen wird. Alles ist<br />
real. Die Passanten kaufen die Videos. Entführungen und Mord sind in Caracas an der<br />
Tagesordnung, und daraus wird auch noch Profit geschlagen.<br />
Mit dem Bus geht es wieder zurück in das Barrio der<br />
Franziskaner. Vorbei an Zeichnungen an Häuserwänden von<br />
Ché Guevarra und José Martí, den kubanischen Freiheitshelden:<br />
„Al pasado no regresaremos jamas! Hasta la Victoria<br />
Siempre“ und „Patria o Muerte“<br />
Abends fahren wir zur Schule der Franziskaner am anderen reichen Ende von Caracas. So<br />
reich kommt es mir jedoch auch nicht vor. Hochhäuser aus den 70ern und 80er Jahren und<br />
nicht unbedingt schön. Dort treffen wir mit dem frisch gewählten Kustos bei Pizza und Bier<br />
zusammen.<br />
Emanuel<br />
Emanuel Graef<br />
Projektreferent Mexiko, Mittelamerika, Südamerika (Andenländer)