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In Putins Russland

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Nach ihrem Aufsehen erregenden und<br />

international ausgezeichneten Buch<br />

TSCHETSCHENIEN. DIE WAHRHEIT ÜBER<br />

DEN KRIEG (2003) dokumentiert Anna<br />

Politkovskaja die Wahrheit über <strong>Putins</strong> neues<br />

autoritäres Reich.<br />

Anna Politkovskaja beschreibt in ihren<br />

Fallberichten, faktengesättigt und auf der<br />

Grundlage eines nicht zu überbietenden<br />

Zugangs zu ihren <strong>In</strong>formanten, den<br />

mächtigen Apparat des Geheimdienstes,<br />

dem Putin entstammt ; die unerträglich<br />

brutalen und korrupten Verhältnisse<br />

in der Armee und in einer käuflichen<br />

Justiz ; die Oligarchen-Mafia in der<br />

<strong>In</strong>dustrie ; das bestechliche Geflecht aus<br />

Nomenklatura und Zentralverwaltung ; die<br />

zunehmende Rechtlosigkeit von ganzen<br />

Bevölkerungsgruppen und den neuen<br />

russischen Rassismus. <strong>In</strong> <strong>Russland</strong> ist Stabilität<br />

eingekehrt, in beängstigender Form, mit<br />

einem zynischen Wladimir Putin, der über<br />

Leichen geht, an der Staatsspitze.<br />

IN PUTINS RUSSLAND : Schärfer kann<br />

die Diagnose nicht ausfallen, die Anna<br />

Politkovskaja in ihren Reportagen dem<br />

<strong>Russland</strong> unter Putin stellt.


ANNA POLITKOVSKAJA<br />

IN PUTINS RUSSLAND<br />

Aus dem Russischen<br />

von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme<br />

DUMONT


Das Vorwort, die Kapitel »Worüber schreibe ich in diesem Buch«, »Die<br />

Armee meines Landes und die Soldatenmütter«, »<strong>Russland</strong>s neues<br />

Mittelalter oder Allenthalben Kriegsverbrecher«, »Provinzgeschichten<br />

oder Wie Staatsorgane helfen, staatliches Eigentum kriminell umzuverteilen«<br />

und »Tanja, Mischa, Rinat … Was ist aus uns geworden ?«<br />

hat Hannelore Umbreit übersetzt, die Kapitel »›Nord-Ost‹ : Die jüngste<br />

Geschichte der Zerstörung«, »Akaki Akakijewitsch Putin-2« und »Nach<br />

Beslan ? – Anstelle eines Nachworts« Ulrike Zemme ; Katharina Narbutovc<br />

dankt der Verlag für die Unterstützung.<br />

<strong>In</strong> <strong>Putins</strong> <strong>Russland</strong> hat Anna Politkovskaja für den »Westen« verfasst<br />

und ist in <strong>Russland</strong> bisher nicht erschienen. Veränderungen gegenüber<br />

dem Original sind mit der Autorin abgestimmt. Die englische Version<br />

von <strong>In</strong> <strong>Putins</strong> <strong>Russland</strong> erschien 2004 unter dem Titel <strong>Putins</strong> Russia<br />

bei The Harvill Press, London 2004.<br />

© 2004 Anna Politkovskaja<br />

Erste Auflage 2005<br />

© 2005 für die deutsche Ausgabe : DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

Ausstattung und Umschlag : Groothuis, Lohfert, Consorten (Hamburg)<br />

Satz : Greiner & Reichel, Köln<br />

Druck und Verarbeitung : Clausen & Bosse, Leck<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 3-8321-7919-4


<strong>In</strong>halt<br />

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE . . . . . . . 9<br />

WORÜBER SCHREIBE ICH IN DIESEM BUCH ? . . . . 15<br />

DIE ARMEE MEINES LANDES UND<br />

DIE SOLDATENMÜTTER . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />

FALL EINS : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

DER SIEBENTE oder<br />

DIE GESCHICHTE VON NR. U-729343, DEN MAN<br />

AUF DEM SCHLACHTFELD VERGASS<br />

FALL ZWEI : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />

54 SOLDATEN oder EMIGRATION NACH HAUSE<br />

NOCH EINIGE FÄLLE . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />

RUSSLANDS NEUES MITTELALTER oder<br />

ALLENTHALBEN KRIEGSVERBRECHER . . . . . . . . 61<br />

DER FALL CHASSUCHANOW . . . . . . . . . . . 65<br />

Dossier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

Die Vorgeschichte des Prozesses . . . . . . . . 66<br />

Wladikawkas . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />

Der Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />

DER PRÄZEDENZFALL BUDANOW . . . . . . . . . 88<br />

Das Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . 91<br />

Der Angeklagte Juri Dmitrijewitsch Budanow 100


Der Angeklagte Iwan Iwanowitsch Fjodorow . . 106<br />

Der Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />

Expertenspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />

UND DIE ANDEREN KRIEGSVERBRECHER ? . . . . . 193<br />

PROVINZGESCHICHTEN oder WIE STAATSORGANE<br />

HELFEN, STAATLICHES EIGENTUM<br />

KRIMINELL UMZUVERTEILEN . . . . . . . . . . . . 201<br />

FEDULEW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205<br />

Der Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209<br />

Die Rechtsschützer . . . . . . . . . . . . . . 212<br />

Schnapskriege . . . . . . . . . . . . . . . . . 218<br />

Die Unantastbaren . . . . . . . . . . . . . . . 224<br />

Umverteilung Nummer zwei . . . . . . . . . . 233<br />

Katschkanar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239<br />

Die korrupteste Justiz der Welt . . . . . . . . 245<br />

Der »beste Richter« im Ural . . . . . . . . . . 247<br />

Die »schlechten« Richter . . . . . . . . . . . . 254<br />

Die »guten« Richter . . . . . . . . . . . . . . 261<br />

TANJA, MISCHA, LENA, RINAT …<br />

WAS IST AUS UNS GEWORDEN ? . . . . . . . . . . 279<br />

TANJA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282<br />

MISCHA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305<br />

RINAT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319


»NORD-OST« : DIE JÜNGSTE GESCHICHTE<br />

DER ZERSTÖRUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . 333<br />

DIE ERSTE GESCHICHTE : DER FÜNFTE . . . . . . . 336<br />

DIE ZWEITE GESCHICHTE : . . . . . . . . . . . . . 348<br />

NUMMER 2551 – DER UNBEKANNTE<br />

DIE DRITTE GESCHICHTE : . . . . . . . . . . . . . 369<br />

SIRASHDI, JACHA UND IHRE FREUNDE<br />

AKAKI AKAKIJEWITSCH PUTIN-2 . . . . . . . . . . 395<br />

NACH BESLAN – ANSTELLE EINES NACHWORTS . . 415


VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE<br />

Wladimir Putin und Gerhard Schröder wirken in jüngster<br />

Zeit geradezu wie Zwillingsbrüder mit ihren wechselseitigen<br />

Sympathiebekundungen, ihren Worten des Lobes<br />

füreinander. Da nimmt es nicht Wunder, dass auch die<br />

deutsche Wirtschaft den russischen Präsidenten nach<br />

Kräften hofiert. Deshalb ist dieses Buch in meinen Augen<br />

nicht gerade ein Geschenk für das gegenwärtige Schröder-<br />

Deutschland, in dem eine Atmosphäre der weitreichenden<br />

Kritiklosigkeit herrscht gegenüber allem, was der im Frühjahr<br />

2004 für eine zweite Amtszeit gewählte Staatschef<br />

der Russischen Föderation sagt und tut. Tsche tschenien ?<br />

Mag dort ruhig Krieg sein, wenn nur unser Erdgas fließt.<br />

Die Verhaftung Chodorkowskis ? Darüber sehen wir hinweg,<br />

Hauptsache, unsere Geschäfte florieren. Mundtot<br />

gemachte Journalisten ? Nun ja, eigentlich … Die Zerschlagung<br />

der demokratischen Opposition ? Eine interne<br />

Angelegenheit der Russen. Die Abrechnung mit Missliebigen<br />

unter Umgehung von Recht und Gesetz ? Rassismus ?<br />

Neofaschismus ? Auch da mischen wir uns nicht ein.<br />

Bei seinem Deutschlandbesuch im Dezember 2004<br />

wiegelte Putin von vornherein sämtliche Fragen zum<br />

Tschetschenien-Krieg ab und beschied den Fragestellern<br />

dummdreist, sie könnten getrost nach Hause gehen und<br />

9


ihre Weihnachtsgans verspeisen, denn es gäbe keinen<br />

Krieg. Das war eine Lüge. Doch diejenigen, denen Putin<br />

diesen Bären aufband, zuckten mit keiner Wimper. Bundeskanzler<br />

Schröder lächelte strahlend … Und dabei<br />

haben wir in <strong>Russland</strong> so lange gedacht, Deutschland<br />

stünde an unserer Seite im Kampf um Demokratie, auf<br />

Deutschland könnten wir jederzeit zählen. Gerade deshalb<br />

war ja für mich so überaus erfreulich, dass mein<br />

Buch »Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg« hier<br />

erschien, das um folgendes Kernargument kreist : Die<br />

einzig wirksamen <strong>In</strong>strumente gegen die neue Welle des<br />

Terrorismus sind eine politische Lösung und ein aktiver<br />

Friedensprozess.<br />

Jetzt steht fest : Wir haben vergebens gehofft. Deutschland<br />

ist auf der Seite <strong>Putins</strong>, nicht auf unserer. Alle Worte,<br />

alle Appelle, darunter auch meine, sind ungehört verhallt<br />

in dieser Atmosphäre der Liebedienerei vor dem<br />

russischen Präsidenten. Im Grunde zählt nur eins : Putin<br />

kann Deutsch, und das genügt, um ihm nicht nur alles<br />

nachzusehen, sondern sogar die eigenen scheinbar fest<br />

verwurzelten demokratischen Prinzipien umzustoßen,<br />

auf denen – wie wir glaubten – die bundesrepublikanische<br />

Gesellschaftsordnung so unerschütterlich ruht.<br />

Im Dezember 2004, also erst vor wenigen Wochen,<br />

weilte eine parlamentarische Delegation des Deutschen<br />

Bundestages in Moskau. Einer der Abgeordneten bat uns,<br />

mich und Ruslan Auschew, zu einem Essen. Ruslan Auschew<br />

ist nicht nur der ehemalige Präsident der Republik<br />

<strong>In</strong>guschetien und ein überzeugter Befürworter von Frie-<br />

10


densverhandlungen mit den tschetschenischen Rebellen<br />

als einzig gangbarem Weg zur Eindämmung der Terrorakte<br />

in <strong>Russland</strong> ; diesem mutigen Mann gelang es auch,<br />

während des Geiseldramas in Beslan im September 2004<br />

in Verhandlungen mit den Terroristen die Freilassung<br />

von sechsundzwanzig Frauen und Kindern zu erwirken.<br />

Eine Großtat zur Rettung von Menschenleben, die ihm<br />

Präsident Wladimir Putin nicht anders zu danken wusste<br />

als mit einer ungeheuerlichen Rufmordkampagne.<br />

Wir schilderten also dem Bundestagsabgeordneten<br />

die Situation. Er hörte uns lange und aufmerksam zu,<br />

nickte manchmal zustimmend, schien sogar so etwas<br />

wie Anteilnahme zu empfinden, jedenfalls musste er<br />

immer wieder unsere bitteren Worte über den katastrophalen<br />

Kurs, den <strong>Russland</strong> unter Putin eingeschlagen<br />

hat, mit einem kräftigen Schluck Bier hinunterspülen.<br />

Dann gähnte der Herr Bundestagsabgeordnete, zeigte<br />

Anzeichen von Müdigkeit. Ich begriff, dass es schnell<br />

zu handeln galt, und stellte meine wichtigste Frage, die<br />

für mich eigentlich der alleinige Beweggrund gewesen<br />

war, diese Einladung zum Essen anzunehmen : »Ist der<br />

Deutsche Bundestag bereit, sich aktiv einzubringen in<br />

den politischen Prozess in Tschetschenien und die Aufnahme<br />

von Verhandlungen zwischen den tschetschenischen<br />

Rebellen und der Putin-Regierung zu befördern –<br />

gemäß dem Konzept des Komitees der Soldatenmütter,<br />

das die <strong>In</strong>stitutionen der bürgerlichen Gesellschaft als<br />

Vermittler zwischen den beiden Konfliktparteien gewinnen<br />

will ?«<br />

11


Damit brachte ich den Bundestagsabgeordneten nun<br />

allerdings in einige Verlegenheit. Er flüchtete sich in<br />

hohle Phrasen. Eine derartige Wendung war nicht nach<br />

dem Geschmack des Herrn Parlamentariers, schließlich<br />

hatten unsere Schilderungen der dramatischen Situation<br />

seinen Bedarf an politischer Exotik bereits gedeckt. Also<br />

gab er zu verstehen, dass die Antwort auf meine Frage<br />

lautete : »Nein.«<br />

Weshalb dann dieses Essen ? Wozu all die vorherigen<br />

Treffen mit anderen deutschen Parlamentariern ? Stets<br />

hatten wir sie um Unterstützung gebeten – und nie Hilfe<br />

bekommen. Wenn es um etwas ging, was Präsident Putin<br />

möglicherweise unangenehm sein konnte.<br />

Ich gebe zu, dass mich Depressionen befallen, wenn<br />

ich sehe, wie Europa sich <strong>Putins</strong> <strong>Russland</strong> gegenüber<br />

verhält. Es erinnert fatal an die Jahre des Kommunismus,<br />

an das altbekannte menschenverachtende Prinzip : Soll es<br />

DORT ruhig einen Eisernen Vorhang geben, soll DORT<br />

Tyrannei herrschen, solange wir uns nur heraushalten<br />

können und davon unbeschadet bleiben, solange Erdöl<br />

und Erdgas nur schön weiter zu uns fließen. Hat sich<br />

Europa etwa gegen Stalin gewandt, selbst als bekannt<br />

wurde, dass <strong>Russland</strong> dessen Terror mit Millionen Menschenleben<br />

bezahlt ? Hat sich eine Welle der Empörung<br />

erhoben gegen Breshnews Regime der Stagnation, das<br />

eine ganze Generation russischer <strong>In</strong>tellektueller, die besten<br />

Köpfe der russischen Gesellschaft in Gefängnissen<br />

und Arbeitslagern schmachten ließ ?<br />

Jetzt ist es nicht viel anders. Europa gewährt uns das<br />

12


Recht, unter Putin allein vor uns hin zu sterben. Wir<br />

wollen aber nicht sterben, wir schlagen um uns, versuchen<br />

freizukommen, zu überleben, unsere neu gewonnene<br />

Demokratie zu retten. Dieses Buch berichtet davon,<br />

wie wir uns gegen den übermächtigen Putin’schen Druck<br />

wehren, selbst wenn das beinahe unmöglich scheint.<br />

Ich glaube nicht, dass mein Buch in Deutschland viele<br />

Freunde findet. Wo doch jetzt Freund Putin dort so hoch<br />

im Kurs steht.<br />

Januar 2005


WORÜBER SCHREIBE ICH IN DIESEM BUCH ?<br />

Über Putin, und zwar ohne überschwängliche Begeisterung<br />

– etwas, was im Westen gegenwärtig absolut nicht<br />

en vogue ist.<br />

Und ich nenne auch gleich den Grund, warum ich<br />

diese Begeisterung nicht teile, die heute beinahe als Markenzeichen<br />

des Westens gelten kann und die sich so<br />

sehr relativiert, wenn man das gesamte Geschehen von<br />

<strong>Russland</strong> aus wahrnimmt : Putin, der dem finstersten<br />

aller russischen Geheimdienste entstammt, hat es nach<br />

seiner Wahl zum Präsidenten nicht vermocht, über sich<br />

hinauszuwachsen, will heißen, den Oberstleutnant des<br />

KGB in sich auszumerzen. Er tut weiter, was er in all<br />

den Jahren seiner bisherigen beruflichen Laufbahn getan<br />

hat : Er rechnet ab mit denjenigen, die sich allzu aufmüpfig<br />

gebärden, erstickt Meinungsvielfalt und Freiheit<br />

im Keim.<br />

Und dann schreibe ich in meinem Buch noch darüber,<br />

dass wir, die wir in <strong>Russland</strong> leben, dies nicht wollen.<br />

Wir wollen nicht länger Sklaven sein, selbst wenn<br />

das dem heutigen Westen ganz gut ins Konzept passt.<br />

Keine Sandkörnchen, kein Staub unter <strong>Putins</strong> Sohlen, die<br />

bei aller staatsmännischen Politur doch die eines KGB-<br />

Oberstleutnants bleiben. Wir bestehen auf persönlicher


Freiheit. Wir fordern sie. Wir lieben sie so sehr, wie Sie<br />

sie lieben.<br />

Eines aber ist dieses Buch nicht : eine Analyse der Putin-Herrschaft<br />

zwischen 2000 und 2003. Analysen werden<br />

von Analytikern verfasst. Und ich bin einfach ein<br />

Mensch, bin eine von vielen, von denjenigen, die Sie in<br />

Moskau, in Tschetschenien, in Sankt Petersburg oder anderswo<br />

in der Menge sehen. Deshalb enthält mein Buch<br />

lediglich emotionale Randnotizen zu unserem Leben im<br />

heutigen <strong>Russland</strong>. Deshalb kann ich dieses Leben noch<br />

nicht analysieren, aus jener Distanz heraus, die eine Analyse<br />

nun einmal erfordert, mit jenem kühlen Blick, der<br />

das Ganze in einzelne Komponenten zu zerlegen vermag.<br />

Ich lebe nur und schreibe auf, was ich erlebe.


DIE ARMEE MEINES LANDES UND<br />

DIE SOLDATENMÜTTER<br />

Die russische Armee ist eine hermetisch abgeschlossene<br />

Zone, vergleichbar mit einem Gefängnis. Was sie eigentlich<br />

auch ist, nur heißt sie eben anders. Keiner gelangt<br />

in die Armee oder ins Gefängnis, den die militärische<br />

Führung (die Gefängnisdirektion) nicht dorthin beordert<br />

hat. Grund dafür, dass das Leben eines Menschen in der<br />

Armee einem Weg in die Sklaverei gleichkommt.<br />

Natürlich stellt <strong>Russland</strong> keine Ausnahme dar, in jedem<br />

anderen Land betreiben die Militärs auch diese Abkapselung,<br />

was uns das Recht geben dürfte, von den Generälen<br />

als einer besonderen Spezies Mensch mit vergleichbaren<br />

Charaktereigenheiten zu sprechen, unabhängig davon,<br />

welches Land der eine oder andere General nun regiert.<br />

Jedoch weisen die Beziehungen in der Armee – oder richtiger<br />

gesagt : die Beziehungen zwischen Armee und Zivilgesellschaft<br />

in <strong>Russland</strong> Besonderheiten auf, jegliche zivile<br />

Kontrolle über das Handeln der Militärs fehlt. Der Soldat<br />

als niederste Kaste in der Armeestruktur ist ein Niemand,<br />

ein absolutes Nichts, und das ist allgemeine Praxis. Hinter<br />

den Betonmauern der Kasernen kann jeder Offizier mit<br />

diesem Soldaten machen, was immer ihm gerade einfällt.<br />

Ebenso wie ein ranghöherer Offizier mit einem rangniederen<br />

nach Gutdünken umspringen kann.<br />

17


Bestimmt liegt Ihnen jetzt die Frage auf der Zunge : Ist<br />

denn wirklich alles so schlecht ? Was eigentlich heißen<br />

soll : Alles kann ja wohl nicht so schlecht sein ? !<br />

Nein, alles nicht. Der verfestigte Status quo wird dann<br />

(und nur dann) positiv durchbrochen, wenn plötzlich in<br />

der Armeestruktur ein Vorgesetzter mit humanistischer<br />

Gesinnung auf den Plan tritt und beginnt, diese Menschlichkeit<br />

auch öffentlich zu demonstrieren, indem er seine<br />

Untergebenen zur Ordnung ruft. Nur dank solcher individuellen<br />

Ausnahmen, nicht aber kraft gesellschaftlicher<br />

Regulative zeigt sich in unserer Armee Licht am Ende<br />

des Tunnels. <strong>In</strong>sgesamt aber bleibt sie ein geschlossenes,<br />

sklavisches System.<br />

»Und was tun Ihre Staatschefs ?«, werden Sie wieder<br />

fragen ; die in Personalunion als Präsident und Oberbefehlshaber<br />

der Armee fungieren und deshalb persönliche<br />

Verantwortung für den inneren Zustand der Armee<br />

tragen. Auf den Kreml-Thron gelangt, wetteifern unsere<br />

Präsidenten nicht gerade darum, den widerwärtigen<br />

Zuständen ein Ende zu bereiten und Gesetze zu verabschieden,<br />

die der Willkür einen Riegel vorschieben. Eher<br />

umgekehrt : Jeder von ihnen möchte der Armee noch<br />

mehr Macht über die ihr anvertrauten Menschen verleihen.<br />

Und je nachdem, wie gut das dem jeweiligen Mann<br />

an der Spitze gelingt, wird ihn das Militär unterstützen<br />

oder boykottieren. Versuche, die Armee menschlicher zu<br />

machen, gab es – vor dem Hintergrund der allgemeinen<br />

Demokratisierungsbestrebungen – lediglich unter Jelzin.<br />

Doch wurden sie sehr schnell eingestellt. Macht war bei<br />

18


uns schon immer wichtiger als die Rettung von Soldatenleben,<br />

und dem Druck des empörten Generalstabs<br />

gehorchend, machte schließlich auch Jelzin seinen Kotau<br />

vor der Generalität.<br />

Unter Putin gibt es erst gar keine derartigen Versuche.<br />

Mehr noch, in der Herrschaftszeit des gegenwärtigen<br />

Präsidenten, der selbst Offizier ist, kann es sie per<br />

definitionem nicht geben. Als Putin gerade am politischen<br />

Horizont des Landes aufgetaucht war – als möglicher<br />

Kandidat für den Posten des Staatschefs, nicht<br />

für den des Leiters jener unpopulären, von fast allen<br />

gehassten <strong>In</strong>stitution namens <strong>In</strong>landsgeheimdienst FSB –,<br />

da äußerte er sich bereits in dem Sinne, dass die Armee,<br />

die unter Jelzin gedemütigt worden sei (womit Putin<br />

Jelzins saft- und kraftlose Versuche zur Einschränkung<br />

der Anarchie in den Streitkräften meinte), nun wieder<br />

der ihr gebührende Rang zukommen müsse. Und das<br />

Einzige, was ihr fehle zu dieser vollständigen und endgültigen<br />

Renaissance, sei ein Krieg, der zweite Tschetschenien-Krieg<br />

…<br />

Alles, was dann im Nordkaukasus geschah, erklärt<br />

sich aus ebenjener ursprünglichen Putin’schen Prämisse.<br />

Als der zweite Tschetschenien-Krieg begann, durfte die<br />

Armee in Tschetschenien machen, was sie wollte. Weshalb<br />

diese Armee dann bei den Präsidentschaftswahlen<br />

im Jahr 2000 auch unisono Putin ihre Stimme gab.<br />

Denn der Krieg im Kaukasus ist in jeglicher Hinsicht<br />

höchst vorteilhaft und lukrativ : Dort steigt man schnell<br />

auf, verdient sich Orden, legt den Grundstein für steile<br />

19


Karrieren, junge Generäle mit Kampferfahrung bahnen<br />

sich den Weg in die Politik, in die Reihen der politischen<br />

Elite. Und Putin kann das Land mit einer neuen<br />

Wahlkampfbotschaft beglücken, indem er die Wiedergeburt<br />

der Armee als vollendete Tatsache darstellt und<br />

sich, Putin, als denjenigen präsentiert, der den unter<br />

Jelzin gedemütigten und im ersten Tschetschenien-Krieg<br />

geschlagenen Streitkräften geholfen hat, sich aus dem<br />

Staub zu erheben.<br />

Darauf, wie diese »Hilfe« in Wirklichkeit aussah, komme<br />

ich noch ausführlich zu sprechen.<br />

Sie aber könnten doch einfach einmal die Situation<br />

auf sich selbst beziehen und dann urteilen : Möchten<br />

Sie, Sie ganz persönlich, in einem solchen Land leben,<br />

möchten Sie regelmäßig Steuern zahlen für eine solche<br />

Armee ? Würden Sie es hinnehmen, dass Ihre eigenen<br />

Söhne, wenn sie achtzehn geworden sind und damit<br />

das Einberufungsalter erreicht haben, in der Armee zu<br />

»Humanmaterial« werden ? Würden Sie eine Armee akzeptieren,<br />

in der jede Woche massenhaft Soldaten desertieren<br />

? Manchmal ein kompletter Zug, gelegentlich<br />

aber auch eine ganze Kompanie. Eine Armee, aus der sie<br />

fortlaufen, nur um das eigene Leben zu retten ? <strong>In</strong> der<br />

nicht im Krieg, sondern allein durch Schläge im Jahre<br />

2002 mehr als 500 Armeeangehörige – die Größenordnung<br />

eines Bataillons – umkamen ? Eine Armee, in der<br />

die Offiziere alles stehlen, was sie in die Finger bekommen,<br />

die jämmerlichen Zehnrubelscheine der Familien<br />

für ihre Söhne ebenso wie komplette Panzerkolonnen ?<br />

20


Wo die ranghöheren Offiziere die rangniederen verachten<br />

und verprügeln, wann immer sich eine Gelegenheit<br />

bietet ? Und die rangniederen Offiziere ihre angestaute<br />

Wut auf die Vorgesetzten an den Soldaten auslassen ?<br />

Und sämtliche Offiziere zusammen wiederum die Soldatenmütter<br />

hassen, weil diese manchmal – nicht oft,<br />

weil die meisten Angst haben, aber mitunter, wenn die<br />

Todesumstände zum Himmel schreien, eben doch – laut<br />

und vernehmlich aussprechen, dass ihre Söhne umgebracht<br />

worden sind, und eine gerechte Strafe für die<br />

Schuldigen fordern ?<br />

FALL EINS :<br />

DER SIEBENTE oder DIE GESCHICHTE VON NR. U-729343,<br />

DEN MAN AUF DEM SCHLACHTFELD VERGASS<br />

Der Kalender zeigt das Datum 18. November 2002. Nina<br />

Lewurda, 25 Jahre lang Lehrerin für russische Sprache<br />

und Literatur, jetzt in Rente, eine nicht mehr junge Frau,<br />

schwerfällig und müde, mit einem ganzen Feldblumenstrauß<br />

ernst zu nehmender Krankheiten, steht wie schon<br />

so oft in diesem Jahr in der Warteschlange vor dem<br />

betont ungemütlichen Eingang zum Stadtbezirksgericht<br />

Krasnaja Presnja in Moskau.<br />

Nina Lewurda hat keine andere Wahl. Sie ist eine<br />

Mutter ohne Sohn. Schlimmer noch, eine Mutter ohne<br />

die volle Wahrheit über ihren Sohn. Oberleutnant Pawel<br />

Lewurda, Jahrgang 1975, Armee-Kennnummer U-729343,<br />

21


kam in Tschetschenien um, vor fast zwei Jahren, ganz<br />

am Anfang des zweiten Tschetschenien-Kriegs. Jenes<br />

Krieges, in dem nach Putin’scher Auslegung die Armee<br />

wiedererstand. Wie sich diese Renaissance vollzog, verdeutlicht<br />

die Geschichte der letzten Lebensmonate und<br />

des Sterbens von U-729343. Dabei ist es nicht einmal<br />

mehr die Tatsache des Todes selbst, die Nina Lewurda<br />

veranlasst, seit nunmehr elf Monaten von einer juristischen<br />

<strong>In</strong>stanz zur anderen zu laufen. Unsere Mütter<br />

haben sich an alles gewöhnt, sogar an den Tod ihrer Kinder.<br />

Nina Lewurda will wissen, unter welchen Umständen<br />

ihr Sohn starb und was anschließend geschah. Ein<br />

einziges Ziel lässt sie wieder und wieder vom Staat eine<br />

juristisch verbindliche Antwort fordern : Nina Lewurda<br />

will begreifen, warum ihr Sohn nach dem Gefecht ganz<br />

einfach auf dem Schlachtfeld vergessen wurde. Und<br />

warum nach seinem Tod das Ministerium für Verteidigung,<br />

das wohl besser Ministerium für zynische Beleidigung<br />

heißen sollte, mit ihr, der Mutter des gefallenen<br />

Kämpfers, obendrein noch so brutal umsprang.<br />

Pawel Lewurda wollte Offizier werden, schon als Kind<br />

träumte er von einer Armeelaufbahn. <strong>In</strong> unseren Tagen<br />

ist das ein nicht gerade verbreiteter Wunsch, eher umgekehrt.<br />

Zwar treten Jungen aus armen Familien, denen<br />

das Geld für ein Hochschulstudium fehlt, tatsächlich<br />

häufig in Offiziersschulen ein, doch nur wegen der dort<br />

möglichen Berufsausbildung, um dann mit dem frisch<br />

erworbenen Offiziersdiplom in der Tasche die Armee<br />

sofort wieder zu verlassen. <strong>In</strong> der absoluten Armut der<br />

22


Bildungshungrigen und nicht in einem gestiegenen Ansehen<br />

der Armee unter Putin, liegt die Erklärung, warum<br />

einerseits die Präsidialverwaltung in ihren offiziellen<br />

Berichten beständig einen wachsenden Ansturm auf<br />

die militärischen Bildungseinrichtungen vermeldet (was<br />

absolut den Tatsachen entspricht), andererseits aber (und<br />

darüber verlieren die amtlichen Stellen kein Sterbenswörtchen)<br />

in den Truppenteilen ein katastrophaler Mangel<br />

an jüngeren Offizieren im Rang von Leutnants und<br />

Hauptleuten herrscht. Viele Absolventen erscheinen nach<br />

Abschluss der Offiziersschule einfach nicht in der Garnison,<br />

für die sie die Lenkungskommission vorgesehen<br />

hat, sondern »erkranken schwer« auf dem Weg dorthin<br />

oder besorgen sich Atteste über eine plötzlich eingetretene<br />

»<strong>In</strong>validität«, was in einem so korrupten Land wie<br />

dem unseren kein Problem darstellt.<br />

Nicht so Pawel Lewurda. Er wollte ganz bewusst Offizier<br />

werden. Die Eltern versuchten, es ihm auszureden,<br />

wussten sie doch, worauf sich ihr Sohn da einließ : Pjotr<br />

Lewurda, Pawels Vater, war selbst Offizier gewesen, das<br />

ganze Leben hatte die Familie in verschiedensten Provinzgarnisonen,<br />

in der Umgebung abgelegener Truppenübungsplätze<br />

und militärischer Versuchsgelände zugebracht.<br />

Außerdem konnte zu Beginn der neunziger Jahre, als<br />

in <strong>Russland</strong> mit dem Imperium binnen kürzester Zeit<br />

auch alles andere zerfiel, nach landläufiger Meinung nur<br />

ein Verrückter noch auf eine Offiziersschule gehen, wo<br />

es für die Kadetten nicht einmal genug zu essen gab.<br />

23


Pawel blieb hartnäckig. Er begann ein Studium an<br />

der Offiziershochschule Fernost für Kommandeure der<br />

motorisierten Schützentruppen, erhielt 1996 das Offiziersdiplom,<br />

diente zunächst in einem Truppenteil bei St.<br />

Petersburg, bis ihm 1998 das Schlimmste passierte, was<br />

einem Militärangehörigen widerfahren kann : Er wurde<br />

in die 58. Armee versetzt.<br />

Diese 58. Armee genießt bei uns einen denkbar schlechten<br />

Ruf. <strong>In</strong> mehrfacher Hinsicht steht sie als Symbol für<br />

den moralischen Niedergang der Streitkräfte. Natürlich<br />

begann das alles nicht erst zu <strong>Putins</strong> Zeiten, sondern<br />

bereits früher. Doch Putin trägt entscheidende Verantwortung<br />

zum einen für die absolute Anarchie unter den<br />

Truppenoffizieren, ihre grenzenlose Willkür, und zum<br />

anderen dafür, dass sie von Staats wegen den Status der<br />

Immunität besitzen, de facto nicht vor Gericht gestellt<br />

und bestraft werden können, ganz gleich, welche Verbrechen<br />

man ihnen auch zur Last legt.<br />

Außerdem ist die 58. Armee, in die Pawel Lewurda<br />

geriet, auch noch die so genannte Schamanow-Armee.<br />

General Wladimir Schamanow, Held der Sowjetunion,<br />

war an beiden Tschetschenien-Kriegen beteiligt und tat<br />

sich dort durch ein besonders rigides Vorgehen gegen die<br />

Zivilbevölkerung hervor. Heute, nach seinem Ausscheiden<br />

aus den Streitkräften, ist Schamanow Gouverneur<br />

des Gebiets Uljanowsk. Der zweite Tschetschenien-Krieg,<br />

in dessen Verlauf der General in schöner Regelmäßigkeit<br />

vor die Fernsehkameras trat, um dem Land stets aufs<br />

Neue zu erklären, alle Tschetschenen seien Banditen<br />

24


und müssten folglich vernichtet werden – was ihm die<br />

Unterstützung Wladimir <strong>Putins</strong> eintrug –, dieser Krieg<br />

also diente Schamanow als Sprungbrett für seine politische<br />

Karriere.<br />

Die aktiven Truppenteile der 58. Armee, deren Stab<br />

in Wladikawkas, der Hauptstadt der an Tschetschenien<br />

und <strong>In</strong>guschetien angrenzenden Republik Nordossetien-<br />

Alanija, stationiert ist, kämpften im ersten Tschetschenien-Krieg<br />

und tun dies bis heute. Das Offizierskorps<br />

will natürlich nicht hinter dem General zurückstehen<br />

und zeichnet sich durch besondere Härte sowohl gegenüber<br />

der tschetschenischen Bevölkerung als auch gegenüber<br />

den eigenen Soldaten und Unteroffizieren aus. Das<br />

Archiv des Komitees der Soldatenmütter in Rostow am<br />

Don (die Stadt ist ein zentraler Militärstützpunkt, hier<br />

befindet sich der Stab des Militärbezirks Nordkaukasus,<br />

zu dem die 58. Armee gehört) enthält vornehmlich Fälle<br />

im Zusammenhang mit der Fahnenflucht von Soldaten,<br />

die ihren Peinigern in ebenjener 58. Armee entkommen<br />

wollten. Außerdem steht diese militärische Einheit in<br />

dem traurigen Ruf, dass hier nicht nur Munition aus<br />

den Waffenlagern gestohlen, sondern auch noch an die<br />

Feldkommandeure des tschetschenischen Widerstands<br />

weiterverkauft wird, was den Tatbestand des Verrats und<br />

der bewussten Wehrkraftschädigung erfüllt.<br />

Ich kenne viele junge Offiziere, die alles in ihren Kräften<br />

Stehende unternahmen, um dem Dienst in der 58.<br />

Armee zu entgehen. Pawel Lewurda aber entschied sich<br />

anders. Er blieb in der Truppe, schrieb sorgenvolle Briefe<br />

25


nach Hause, verbrachte regelmäßig den Urlaub bei seinen<br />

Eltern, denen nicht entging, dass ihr Sohn von Mal<br />

zu Mal schwermütiger wurde. Doch auf ihre inständigen<br />

Bitten, den Dienst zu quittieren, antwortete Pawel<br />

nur : »Was sein muss, muss sein.« Pawel Lewurda war einer<br />

derjenigen, von dem die politischen Entscheidungsträger<br />

ganz sicher hätten sagen können : Dieser junge<br />

Bürger mit seinem besonderen, ausgeprägten Pflichtgefühl<br />

gegenüber der Heimat und seinen vorbildlichen<br />

Vorstellungen von Patriotismus verkörpert unsere Hoffnung<br />

auf eine wirkliche Wiedergeburt der besten russischen<br />

Militärtraditionen, der Ehre und Würde des Offiziersstands.<br />

Doch die Entscheidungsträger sagten etwas<br />

ganz anderes …<br />

Im Jahre 2000 bot sich Pawel Lewurda eine weitere<br />

Chance, dem Kampfeinsatz im Nordkaukasus zu entgehen,<br />

wofür ihn damals kaum jemand verurteilt hätte,<br />

suchten doch – entgegen der heute verbreiteten staatlichen<br />

Propagandaversion – viele junge Offiziere Mittel<br />

und Möglichkeiten, nicht kämpfen zu müssen. <strong>In</strong>dem sie<br />

beispielsweise in ihrem Organismus über Nacht Symptome<br />

schwerer Gebrechen entdeckten oder fiktive Ehen<br />

eingingen mit Frauen, die bereits zwei Kinder hatten,<br />

was einer Versetzung entgegenstand.<br />

Pawel Lewurda aber wollte, wie er den Eltern erklärte,<br />

seine Soldaten nicht im Stich lassen : Sie mussten in den<br />

Krieg, wie konnte er da lügen, betrügen und manipulieren,<br />

nur um der Gefahr auszuweichen ? Pawel ließ die<br />

Chance ungenutzt am Leben zu bleiben.<br />

26


Am 13. Januar 2000 begann sein Kampfeinsatz. Von<br />

Brjansk aus, wo seine Eltern damals wohnten und er<br />

gerade auf Urlaub war, wurde er in das 15. Garde-Motschützenregiment<br />

der 2. Gardedivision (Division Taman,<br />

Truppenteil 73881) in das Moskauer Umland abkommandiert,<br />

danach ging es weiter. Am 15. Januar hörte Nina<br />

Lewurda die Stimme ihres Sohnes zum letzten Mal : Er<br />

rief an, um ihr mitzuteilen, er habe seinen Einsatzvertrag<br />

für Tschetschenien unterschrieben und …<br />

Was dieses verfluchte »und …« meinte, bedurfte keiner<br />

weiteren Erklärung.<br />

»Ich habe geweint, wollte ihn davon abhalten«, erzählt<br />

Nina Lewurda, »aber Pascha hat gesagt, alles sei schon<br />

entschieden, es gebe kein Zurück. Meine Nichte, die in<br />

Moskau wohnt, sollte gleich zu Pascha in die Division<br />

fahren und dort mit ihm sprechen, ihn zurückzuhalten<br />

versuchen. Doch als sie ankam, traf sie Pascha nicht<br />

mehr an, er war einige Stunden zuvor mit einer Militärmaschine<br />

nach Mosdok abgeflogen …«<br />

<strong>In</strong> Mosdok, einer nordossetischen Kleinstadt nahe der<br />

tschetschenischen Grenze, befand sich zu Beginn des<br />

Krieges der Hauptstützpunkt der Vereinten Armeegruppe<br />

und aller Truppen, die an der »Anti-Terror-Operation«<br />

beteiligt waren. Hierher also kam am 18. Januar 2000 an<br />

Bord eines Militärflugzeugs und zusammen mit anderen<br />

ebensolchen »Nummern« U-729343.<br />

»Ich bin jetzt bei Grosny, am südwestlichen Stadtrand<br />

…«, schrieb Pascha den Eltern in seinem ersten<br />

und einzigen Brief aus dem Krieg, datiert vom 24. Januar<br />

27


2000. »Der Zugang zur Stadt ist von allen Seiten versperrt,<br />

dort wird heftig gekämpft … Der Beschuss hört<br />

keinen Augenblick auf. <strong>In</strong> der Stadt brennt es ständig, der<br />

ganze Himmel ist schwarz – manchmal fällt direkt neben<br />

einem ein Sprengsatz runter oder irgendein Jagdbomber<br />

schickt dir eine Rakete dicht am Ohr vorbei. Die Artillerie<br />

feuert pausenlos … Wir haben schreckliche Verluste<br />

im Bataillon … <strong>In</strong> meiner Kompanie hat es mittlerweile<br />

alle Offiziere erwischt … Vor mir ist der Kommandeur<br />

meines Zuges von einer Granate aus unserer eigenen<br />

Selbstschussanlage zerfetzt worden. Und als ich mich bei<br />

meinem Kompaniechef melden wollte, nimmt der sein<br />

Maschinengewehr und schießt aus Versehen eine ganze<br />

MG-Garbe direkt neben mir in den Boden. Er hätte mich<br />

fast getroffen. Danach haben alle gelacht und gemeint :<br />

›Pascha, vor dir gab es hier schon fünf Zugführer, und<br />

du wärst um ein Haar nicht einmal fünf Minuten einer<br />

gewesen !‹ Die Kameraden sind schon in Ordnung, bloß<br />

psychisch ein bisschen labil. Die Offiziere haben alle<br />

einen Einsatzvertrag wie ich, die jungen Soldaten halten<br />

sich bis auf wenige Ausnahmen tapfer. Wir schlafen in<br />

einem Zelt, auf dem Erdboden. Läuse gibt es jede Menge.<br />

Und als Verpflegung irgendwelche Scheiße. Anders kann<br />

man den Fraß nicht nennen. Was uns erwartet, wissen<br />

wir nicht. Entweder ein Angriff auf wer weiß was, oder<br />

dieses Herumsitzen auf ein und demselben Fleck, bis<br />

man verblödet, oder wenn’s der Teufel will, ziehen sie<br />

uns noch nach Moskau ab … Oder sonst was … Krank<br />

bin ich nicht, aber irgendwie mächtig geknickt … Das<br />

28


wär’s, macht’s gut für heute. Ich umarme und küsse euch.<br />

Pascha«<br />

Ein derartiger Brief ist kaum dazu angetan, Eltern zu<br />

beruhigen. Doch im Krieg gehen die Verhaltensmuster<br />

aus Friedenszeiten schnell verloren, das menschliche<br />

Hirn stößt sie einfach ab, weil man sonst wahrscheinlich<br />

den Verstand verliert. Man hört auf zu begreifen,<br />

was beruhigend und was schockierend wirken könnte<br />

auf diejenigen, die weit entfernt sind von diesem Krieg,<br />

weil man selbst so ungeheuer schockiert ist, dass alles<br />

im Kopf durcheinander gerät.<br />

Was nun folgt, ist die Sprache eines offiziellen Dokuments<br />

: Am 19. Februar wurde Oberleutnant Lewurda bei<br />

dem Versuch, den Ausbruch der Aufklärungsgruppen<br />

des Bataillons aus ihrer Umzingelung zu unterstützen<br />

und »seinen aus der Siedlung Uschkaloi, Kreis Itum-Kalin,<br />

abziehenden Kameraden Feuerschutz zu geben«, wie<br />

es in dem Antrag auf Auszeichnung Pawel Lewurdas mit<br />

dem Tapferkeitsorden wörtlich heißt, schwer verwundet<br />

und verstarb »durch massiven Blutverlust infolge zahlreicher<br />

Schussverletzungen …«<br />

Uschkaloi also. Dort waren die Kämpfe im Winter<br />

des Jahres 2000 am härtesten, spielten sie sich doch in<br />

Bergwäldern, auf schmalen Gebirgspfaden ab : ein verzweifelter<br />

Partisanenkrieg. Doch diese Erklärung dient<br />

nur dem allgemeinen Verständnis der Situation. Nina<br />

Lewurda, Pawels Mutter, beschäftigte etwas ganz anderes<br />

: Wenn ihr Pascha »verstarb«, wo war dann sein Körper<br />

? Irgendwo musste dieser Körper sein ! Irgendetwas<br />

29


musste sie doch begraben ! Und damit begann ein neuer<br />

Abschnitt im entbehrungsreichen Leben der Mutter : Ihre<br />

Suche nach Pawels Gebeinen, die der Staat, dem ihr Sohn<br />

in verzweifelter Treue dienen wollte, einfach verlor.<br />

Was fand Nina Lewurda heraus bei ihren persönlichen<br />

Ermittlungen ?<br />

Am 19. Februar, dem offiziellen Todestag Pawel Lewurdas,<br />

waren die »Kameraden«, denen er um den Preis des<br />

eigenen Lebens Feuerschutz gab, tatsächlich abgezogen.<br />

Aber Pawel, ihren Pascha, und sechs andere Kämpfer, die<br />

den Eingeschlossenen eine Ausbruchschneise freischossen,<br />

hatten sie einfach auf dem Gefechtsfeld zurückgelassen.<br />

Die meisten der sieben waren verwundet, aber noch<br />

am Leben, schrien um Hilfe, flehten, sie mitzunehmen.<br />

Das bezeugten später die Bewohner der Bergsiedlung<br />

Uschkaloi, die vieles mit angesehen, den einen oder anderen<br />

Verwundeten sogar verbunden hatten, mehr aber<br />

nicht. <strong>In</strong> Uschkaloi gibt es kein Krankenhaus, keinen<br />

Arzt, nicht einmal eine Krankenschwester.<br />

Ein Krieg ist bekanntlich nicht der Ort für stetige<br />

Heldentaten und puren Edelmut. Zuerst wurde Pawel<br />

Lewurda zurückgelassen, dann vergaß man auch noch,<br />

dass sein Körper dort lag und es eine Familie gab, die<br />

auf den Leichnam wartete.<br />

An dieser Stelle scheint ein Kommentar nötig : Was mit<br />

Pawel Lewurda nach seinem Tod geschah, ist typisch für<br />

unsere Armee, der beschämende Einzelfall steht symptomatisch<br />

für ein grundlegendes Handlungsmuster. <strong>In</strong><br />

der Armee gilt der einzelne Mensch nichts. Es fehlt ein<br />

30


System der exakten Kontrolle und der Verantwortung<br />

gegenüber den Familien der Soldaten.<br />

Man erinnerte sich an Oberleutnant Lewurda erst fast<br />

eine Woche später, am 24. Februar, als einer offiziellen<br />

<strong>In</strong>formation des Hauptstabs in Tschetschenien zufolge<br />

die russischen Streitkräfte Uschkaloi endgültig »von Rebellen<br />

befreit« und die Siedlung »unter Kontrolle genommen«<br />

hatten. Eine Version, im Nachhinein zusammengezimmert<br />

vom Stab der Streitkräfte mit dem Ziel, die<br />

von Nina Lewurda gegenüber dem Verteidigungsministerium<br />

eingereichte Klage auf Wiedergutmachung wegen<br />

des erlittenen moralischen Schadens abzuwehren – unter<br />

Berufung auf »das Fehlen einer objektiven Möglichkeit«,<br />

die Leiche ihres Sohnes zu bergen. Doch selbst<br />

am 24. Februar wurden in Uschkaloi nur die Gebeine<br />

von sechs Armeeangehörigen geborgen, nicht aber die<br />

des siebenten. Dieser siebente war Pawel Lewurda. Als<br />

man seine Leiche nicht fand, zog man ab und vergaß<br />

ihn aufs Neue.<br />

Nina Lewurda war außer sich. Den einzigen Brief ihres<br />

Sohnes hatte sie am 7. Februar erhalten, seitdem keine<br />

Nachricht, keine <strong>In</strong>formation, keine Antwort auf ihre<br />

Anfragen. Im Verteidigungsministerium verwies man in<br />

solchen Fällen auf die eigens eingerichtete Hotline, was<br />

nichts änderte, da mit den Dienst habenden Offizieren<br />

am anderen Ende der Leitung sich so gut wie mit einem<br />

Computer über das unaufhaltsam zur Gewissheit<br />

werdende Unheil reden ließ. »Oberleutnant Pawel Petrowitsch<br />

Lewurda ist in den Listen der Gefallenen und<br />

31


Vermissten nicht aufgeführt«, lautete die Standardauskunft.<br />

Mehrere Monate lang. Und das Widerwärtigste<br />

war, dass Nina Lewurda diese »erschöpfende« Antwort<br />

auch dann noch erhielt, als sie bereits dank ihrer eigenen<br />

Ermittlungen Paschas Gebeine gefunden und späterhin<br />

identifiziert hatte. Selbst bei ihrem letzten Anruf<br />

am 25. August, ein halbes Jahr nach der offiziellen Todesmeldung,<br />

waren die ach so vergesslichen Väter des<br />

Regiments nicht im Stande gewesen, eine entsprechende<br />

Nachricht an die zentralen Stellen weiterzuleiten.<br />

Doch der Reihe nach.<br />

Am 20. Mai, drei Monate nach den Kämpfen, fanden<br />

Mitarbeiter der <strong>In</strong>terimsabteilung für innere Angelegenheiten<br />

(also der örtlichen Miliz) des Kreises Itum-Kalin<br />

in der Siedlung Uschkaloi »eine Begräbnisstätte mit einer<br />

männlichen Leiche, die Anzeichen eines gewaltsamen<br />

Todes aufwies«, wie sie in ihrem Protokoll festhielten.<br />

Aber erst am 6. Juli, nach weiteren anderthalb Monaten<br />

tagtäglicher Anrufe Nina Lewurdas sowohl bei der Hotline<br />

des Verteidigungsministeriums als auch beim zuständigen<br />

Wehrkreiskommando, stellte die Milizabteilung<br />

von Itum-Kalin das für weitere Ermittlungen erforderliche<br />

Dokument aus : die »Nachforschungsorder Nr. 464«.<br />

Am 19. Juli landete diese »Nachforschungsorder«<br />

schließlich bei den Kriminalbehörden der Stadt Brjansk.<br />

Von hier aus war Pawel nach seinem letzten Urlaub zum<br />

Einsatz gefahren, hier hatte Nina Lewurda bei der Miliz<br />

die Vermisstenanzeige für ihren Sohn aufgegeben.<br />

Am 2. August erschien bei den Lewurdas ein ganz<br />

32


gewöhnlicher Mitarbeiter der Milizabteilung des Stadtteils,<br />

der Kriminalpolizist Abramotschkin. Zu Hause war<br />

nur die vierzehnjährige Enkelin Nina Lewurdas, Pawels<br />

Nichte, die Tochter seiner älteren Schwester Lena. Der<br />

Milizionär befragte das Mädchen nach Pascha, wollte<br />

wissen, welche Sachen er bei sich gehabt habe, und war<br />

sehr verwundert, als er hörte, dass es sich bei Pawel<br />

um einen Armeeangehörigen handelte, hatte er doch<br />

geglaubt, es ginge einfach um einen jungen Burschen,<br />

der aus unerfindlichen Gründen nach Tschetschenien<br />

geraten und dort umgekommen war.<br />

Dieser ganz gewöhnliche Milizionär Abramotschkin,<br />

dem man die Routineangelegenheit »Ermittlung in<br />

Sachen einer unbekannten Leiche« aufgedrückt hatte –<br />

und nicht das Verteidigungsministerium, durch welchen<br />

Vertreter auch immer –, informierte die Mutter des gefallenen<br />

Offiziers schließlich darüber, dass Pawel Lewurda<br />

am 19. Februar offiziell als vermisst gemeldet und seit<br />

dem 20. Februar aus sämtlichen Versorgungslisten des<br />

Truppenteils Nr. 73881 gestrichen war. Und dass er, der<br />

Milizionär Abramotschkin, sich nur mit dieser Angelegenheit<br />

befasse, weil seine Miliz-Kollegen in Uschkaloi<br />

die Leiche eines Militärangehörigen gefunden hätten und<br />

diese Leiche Merkmale aufwies, die nach der Beschreibung<br />

Nina Lewurdas auf den vermissten Oberleutnant<br />

Lewurda passen könnten. Eine Ermittlungsorder aus dem<br />

Verteidigungsministerium aber läge nicht vor. Und außerdem<br />

hätten ihn seine Kollegen aus Itum-Kalin gebeten,<br />

in Brjansk zu den Eltern des Vermissten zu gehen und<br />

33


den Standort des Regimentsstabs von Truppenteil-Nr.<br />

73881 zu erfragen, damit sie sich mit dem Kommandeur<br />

in Verbindung setzen und die genauen Umstände<br />

des Todes jenes Mannes, der nach den Beschreibungen<br />

seiner Mutter möglicherweise einer ihrer Offiziere war,<br />

klären konnten.<br />

Die angeführten Details werfen ein bezeichnendes<br />

Licht sowohl auf die Zustände in der Armee als auch auf<br />

das Wesen jenes Krieges, den die Putin’sche Armee im<br />

Kaukasus führt. <strong>In</strong> dieser Armee weiß die rechte Hand<br />

nicht, was die linke tut, und es ist einfacher, die weit<br />

entfernt wohnenden Eltern per Brief nach dem Standort<br />

des Truppenteils zu fragen, als bis zum Hauptstab in<br />

Chankala (in der Nähe von Grosny) vorzudringen, wo<br />

es eigentlich eine Sache von Minuten sein dürfte, den<br />

Kommandeur der Taman-Division zu finden.<br />

Milizionär Abramotschkin, der sah, in welchem Zustand<br />

sich die Familie des Vermissten befand, gab Nina<br />

Lewurda den guten Rat, nicht abzuwarten, bis die Behörden<br />

etwas unternehmen würden, sondern so schnell<br />

wie möglich nach Rostow am Don zu fahren. Er hatte<br />

im Zuge seiner Ermittlungen herausgefunden, dass die<br />

Gebeine des »unbekannten Armeeangehörigen« aus<br />

Uschkaloi zwischenzeitlich in das zentrale Militär-Leichenschauhaus<br />

in Rostow überführt worden waren, zu<br />

Oberst Wladimir Schtscherbakow, dem in ganz <strong>Russland</strong><br />

bekannten Leiter des 124. Gerichtsmedizinischen<br />

Labors der Streitkräfte, das in derartigen Fällen die Toten<br />

identifiziert. Wobei Oberst Schtscherbakow – und das<br />

34


ist außerordentlich wichtig – dies nicht im Auftrag der<br />

Kommandeure, der Generäle oder des Armeestabs tut,<br />

sondern auf Grund seines eigenen Pflichtgefühls, seiner<br />

persönlichen Überzeugung, weil er die Augen der verzweifelten<br />

Mütter sieht, die aus allen Teilen des Landes<br />

zu ihm kommen auf der Suche nach ihren in der Armee<br />

»verloren gegangenen« Söhnen.<br />

Abramotschkin riet Nina Lewurda außerdem, den<br />

Teufel noch nicht an die Wand zu malen, schließlich ist,<br />

wie man bei uns so schön sagt, in <strong>Russland</strong> alles möglich.<br />

<strong>In</strong>zwischen hatte sich auch das Brjansker Komitee der<br />

Soldatenmütter in den Fall eingeschaltet, und erst auf<br />

diesem Wege – durch Milizionär Abramotschkin und die<br />

Soldatenmütter – erfuhren das ach so wenig gardemäßige<br />

15. Regiment und die noch gardeunwürdigere Division<br />

Taman, dass der nicht identifizierte Tote möglicherweise<br />

Oberleutnant Pawel Lewurda war.<br />

»Am 20. August kamen wir in Rostow an«, erzählt<br />

Nina Lewurda, »und ich bin sofort zum gerichtsmedizinischen<br />

Labor gegangen. Der Eingang dort wird nicht<br />

bewacht, also bin ich weiter, hinein in den erstbesten<br />

Untersuchungsraum, und da war auf dem Tisch des Gerichtsmediziners<br />

ein vom Körper abgetrennter Kopf aufgestellt.<br />

Genauer gesagt, ein Schädel. Aber ich habe sofort<br />

gewusst, dass es Paschas Kopf ist. Obwohl daneben<br />

noch andere Schädel standen.«<br />

Lässt sich der moralische Schaden, den die Mutter<br />

erlitt, überhaupt irgendwie in Zahlen fassen, lässt er<br />

sich wieder gutmachen ? Natürlich nicht. Und wer wollte<br />

35


estreiten, dass die Arbeit eines Gerichtsmediziners nun<br />

einmal so ist, dass bei ihm Schädel auf den Tischen stehen<br />

und alle möglichen Leute direkt von der Straße hereinspaziert<br />

kommen können.<br />

Und dennoch. Wir werden immer mehr zu einer Nation<br />

von Stumpfsinnigen – wir sind simpel strukturiert,<br />

grob, ohne Gefühl für Feinheiten und deshalb amoralisch.<br />

Zu Nina Lewurda aber, die man nach der Begegnung<br />

mit Paschas Schädel (es war wirklich der ihres Sohnes)<br />

gerade erst wieder mit Tabletten hatte zu sich bringen<br />

können, trat im nächsten Augenblick strammen Schrittes<br />

der so genannte »Repräsentant des Truppenteils«. Von<br />

Pawels Eltern mit der Adresse ausgestattet, hatte Milizionär<br />

Abramotschkin dorthin telegrafiert, worauf der<br />

Kommandeur einen Vertreter nach Rostow schickte zur<br />

Regelung der Formalitäten.<br />

Der »Repräsentant« hielt ein Papier in der Hand. Nina<br />

Lewurda warf einen Blick auf das Dokument – und fiel<br />

in tiefe Ohnmacht. <strong>In</strong> dieser »Mitteilung« baten Garde-<br />

Oberstleutnant A. Dragunow, Kommandeur des Truppenteils<br />

Nr. 73881, und Garde-Oberstleutnant A. Potschatenko,<br />

Stabschef der genannten Einheit, einen nicht<br />

genannten Adressaten, die »Bürger Lewurda« offiziell<br />

davon in Kenntnis zu setzen, dass »ihr Sohn … bei<br />

der Ausführung einer Gefechtsaufgabe, getreu seinem<br />

Fahneneid, standhaft und mutig in seiner Haltung, im<br />

Kampf gefallen ist.« Womit die Einheit die Spuren ihrer<br />

frevelhaften »Vergesslichkeit« verwischen wollte.<br />

36


Als Nina Lewurda wieder bei Bewusstsein war, sah<br />

sie sich diese »Mitteilung«, dieses »im Kampf gefallen«<br />

genauer an. Und entdeckte, dass das Papier keinerlei<br />

Todesdatum enthielt.<br />

»Und was ist mit dem Datum ?«, fragte sie den »Repräsentanten«.<br />

»Setzen Sie selbst irgendeins ein, welches Sie wollen«,<br />

lautete die schlichte Antwort.<br />

»Wieso ›selbst einsetzen‹ ?« Nina Lewurda entfuhr ein<br />

Schrei. »Ich habe Pascha an dem Tag geboren, an dem<br />

ich ihn geboren habe – und das ist sein Geburtstag. Und<br />

es steht mir zu, seinen Todestag zu erfahren, ich will<br />

wissen, wann er umgekommen ist !«<br />

Der »Repräsentant« machte eine bedauernde Geste :<br />

Er wisse nichts, habe nur den Auftrag, ein paar Papiere<br />

abzuliefern, ohne Diskussion … und drückte der Mutter<br />

noch einen Auszug aus der Order der Dienststelle ȟber<br />

die Streichung des Oberleutnants aus den Regimentslisten«<br />

in die Hand. Datum und Begründung fehlten<br />

wiederum, aber das Dokument war abgestempelt und<br />

unterschrieben. Dann bat der Regimentsvertreter Nina<br />

Lewurda mit bemerkenswerter Blauäugigkeit, alles eigenhändig<br />

auszufüllen und nach ihrer Heimreise selbst im<br />

Wehrkreiskommando abzugeben, damit Pawel Lewurda<br />

dort in der Wehrkartei gelöscht würde.<br />

Nina Lewurda sagte nichts. Was konnte sie einem<br />

Menschen erklären, der weder Herz noch Verstand besa<br />

ß ?<br />

»So ist das einfacher, das müssen Sie doch zugeben.<br />

37


Für mich wäre es eine weite Reise nach Brjansk, zum<br />

Wehrkreiskommando …«, fuhr der »Repräsentant« halb<br />

fragend, halb konstatierend fort.<br />

Natürlich war es einfacher. Daran gibt es nichts zu<br />

deuteln. Es ist tatsächlich einfacher, einfach zu sein,<br />

stumpf. Wie unser gegenwärtiger Verteidigungsminister<br />

Sergej Iwanow, ein enger Vertrauter des Präsidenten<br />

noch aus jenen Zeiten, als Putin in St. Petersburg beim<br />

<strong>In</strong>landsgeheimdienst FSB arbeitete : Allwöchentlich verkündet<br />

Iwanow dem Land im Fernsehen die neuesten<br />

militärischen Anordnungen des ersten Mannes im Staate.<br />

<strong>In</strong> einem Tonfall wie Goebbels in der Wochenschau erklärt<br />

Iwanow, keiner könne <strong>Russland</strong> je dazu bewegen,<br />

»vor Terroristen in die Knie zu gehen«, und er beabsichtige,<br />

den Krieg in Tschetschenien fortzusetzen bis zum<br />

»siegreichen Ende«. Niemals jedoch verliert der Verteidigungsminister<br />

auch nur ein einziges Wort über das<br />

Schicksal der Soldaten und Offiziere, die es ihm und<br />

dem Präsidenten überhaupt erst ermöglichen, nicht »vor<br />

Terroristen in die Knie zu gehen«. Die Richtung, die unsere<br />

gegenwärtige Führung eingeschlagen hat, ist absolut<br />

neosowjetisch : Es gibt keine Menschen, es gibt nur<br />

Schräubchen, die die politischen Abenteuer derjenigen,<br />

die in den Besitz der Macht gelangt sind, widerspruchslos<br />

in die Tat umzusetzen haben. Diese Schräubchen verfügen<br />

über keinerlei Rechte, nicht einmal auf ein würdiges<br />

Sterben.<br />

Ungemein schwieriger ist es, nicht einfach zu sein.<br />

Was für mich bedeutet, nicht nur »die Generallinie von<br />

38


Partei und Regierung« in den Blick zu nehmen, sondern<br />

auch die Details ihrer Umsetzung. Und die sehen<br />

so aus : Am 31. August 2000 wurde Nummer U-729343<br />

endlich in der Stadt Iwanowo begraben. Die Rostower<br />

Gerichtsmediziner hatten Nina Lewurda den Kopf ihres<br />

Sohnes ausgehändigt, weitere sterbliche Überreste ließen<br />

sich nicht finden.<br />

Und warum das Begräbnis in Iwanowo ? Weil das<br />

Leben in Brjansk für die Lewurdas bedrückend geworden<br />

war und sie in der Nähe ihrer ältesten Tochter sein<br />

wollten, die in Iwanowo wohnt.<br />

Heute kennen viele in <strong>Russland</strong> Nina Lewurda. Und<br />

das hat mit der Reise zu tun, die sie am neunten Tage<br />

nach der Beerdigung antrat : Zum Stab des 15. Regiments<br />

der Taman-Division, dessen Standort sich in der Nähe<br />

von Moskau befindet.<br />

Als sie in Iwanowo aufbrach, hatte Nina Lewurda nur<br />

einen Wunsch : Pawels Kommandeuren in die Augen zu<br />

sehen und darin wenigstens Reue zu erkennen dafür,<br />

dass man ihren Sohn vergessen hatte. Aber in der Taman-<br />

Division wollte man nicht einmal mit ihr reden. Der<br />

Kommandeur war nie erreichbar. Drei Tage lang saß<br />

Nina Lewurda in der Wachstube und wartete. Ohne<br />

etwas zu essen und zu trinken, schlaflos, völlig unbeachtet.<br />

Offiziere gingen und kamen, eilten vorbei und<br />

taten so, als würden sie sie nicht bemerken. Hier, am<br />

Kasernentor, fasste Nina Lewurda den Entschluss, den<br />

Staat zu verklagen, das Verteidigungsministerium und<br />

Verteidigungsminister Iwanow haftbar zu machen für<br />

39


das ihr zugefügte Leid. Und zwar nicht wegen des Todes<br />

ihres Sohnes, Pawel war ja in Ausübung seines militärischen<br />

Dienstes ums Leben gekommen, sondern wegen<br />

dem, was nach seinem Tod geschah.<br />

Nina Lewurda forderte Antwort auf eine Reihe von<br />

Fragen : Warum hatte das Regiment den Körper ihres<br />

Sohnes auf dem Gefechtsfeld zurückgelassen ? Warum<br />

war nicht nach ihm gesucht worden ? Warum hatte sie<br />

als Mutter keinerlei <strong>In</strong>formationen über Pawels Schicksal<br />

erhalten ? Warum hatte sie selbst die sterblichen Überreste<br />

ausfindig machen müssen ? Wer trug die persönliche<br />

Verantwortung dafür ?<br />

Und das kam dann : Zuerst überreichten sie Nina<br />

Lewurda den Tapferkeitsorden für ihren Sohn im Gebietswehrkommando<br />

von Iwanowo. Und danach nahmen sie<br />

Rache. Das Verteidigungsministerium und die Taman-<br />

Division eröffneten einen Krieg gegen die Mutter des<br />

gefallenen Leutnants, die es gewagt hatte, sich öffentlich<br />

über die Zustände zu empören. Im Verlaufe dieses Krieges<br />

wurde Nina Lewurda einer moralischen Folterung<br />

mit »Putin-Gas« unterzogen, in der gleichen Dosis, mit<br />

dem gleichen Ziel, als sei sie eine Terroristin. Um ihren<br />

Willen zu brechen, sie in die Schranken zu weisen, zur<br />

Abschreckung für alle anderen.<br />

Dieses »Putin-Gas« wirkte folgendermaßen : <strong>In</strong> knapp<br />

einem Jahr gab es acht Verhandlungstermine, den ersten<br />

am 26. Dezember 2001, den letzten am 18. November<br />

2002. Sie blieben samt und sonders ergebnislos. Das<br />

Gericht kam nicht einmal dazu, sich mit dem <strong>In</strong>halt der<br />

40


Klage zu befassen, weil die Vertreter des Verteidigungsministeriums<br />

die Vorladungen ignorierten, überzeugt,<br />

ihnen könne ohnehin niemand etwas anhaben. Und sie<br />

sollten Recht behalten. Zuerst saß dem Prozess »Nina<br />

Lewurda gegen den Staat« (Gerichtsstand war gemäß der<br />

juristischen Adresse des Verteidigungsministeriums das<br />

Stadtbezirksgericht Krasnaja Presnja in Moskau) Richter<br />

Tjulenew vor, der befand, dass die Mutter »kein Recht<br />

auf <strong>In</strong>formationen« über den Körper des eigenen Sohnes<br />

habe, das Verteidigungsministerium folglich auch<br />

nicht zu entsprechenden Auskünften verpflichtet sei<br />

und … Nina Lewurda legte Berufung ein beim Moskauer<br />

Stadtgericht, das angesichts der offenkundigen<br />

Absurdität der Entscheidung die Angelegenheit an das<br />

Stadtbezirksgericht Krasnaja Presnja zurückverwies. Die<br />

Wiederaufnahme geriet für die Mutter zu einer neuen<br />

Folterrunde durch die beständige Abwesenheit der offiziellen<br />

Vertreter des Verteidigungsministeriums sowie<br />

der Führung der Landstreitkräfte, zu denen die Taman-<br />

Division und das 15. Regiment gehören. Sie erschienen<br />

einfach nicht zu den Terminen, ungeniert und dreist, ließen<br />

Nina Lewurda am langen Arm verhungern. Sie aber<br />

kam und wartete … jedes Mal. Fuhr von Iwanowo nach<br />

Moskau. Nur, um die leeren Plätze auf der Anklagebank<br />

anzustarren – und ohne jedes Ergebnis zurückzureisen.<br />

Eine einfache Pensionärin, mit einer Altersrente, die wie<br />

bei so vielen gerade ausreicht, um nicht zu verhungern,<br />

und einem Ehemann, der nach Pawels Beerdigung nicht<br />

mehr aus seinem Dauerrausch herauskam.<br />

41


Zu guter Letzt platzte Richterin Bolonina der Kragen.<br />

Als die Beklagten zum achten Mal den Verhandlungstermin<br />

ignorierten, verhängte sie gegen das Verteidigungsministerium<br />

eine Strafe in Höhe von achttausend Rubeln.<br />

Natürlich zu Gunsten der Staatskasse, und auch aus der<br />

Staatskasse zu entrichten. Schade, dass Minister Iwanow<br />

das Geld nicht aus eigener Tasche bezahlen musste und<br />

nicht die Mutter das Geld erhielt. Aber dafür gibt es keinen<br />

Paragrafen in unserer Gesetzgebung. Sie steht nicht<br />

auf der Seite des armen Opfers, sondern auf Seiten der<br />

Macht, die ohnehin allmächtig ist.<br />

Am 18. November erschienen die Vertreter des Verteidigungsministeriums<br />

dann endlich vor dem Stadtbezirksgericht,<br />

führten sich aber merkwürdig auf : Sie wussten<br />

nichts von dem verhandelten Sachverhalt, verstanden das<br />

Allerelementarste nicht, weigerten sich, ihre Namen zu<br />

nennen, beklagten das Chaos in ihrer Behörde, das an<br />

allem schuld sei, und … der Prozess wurde ein weiteres<br />

Mal vertagt, diesmal auf den 2. Dezember.<br />

Nina Lewurda stand weinend im ungemütlichen Korridor<br />

des Gerichtsgebäudes.<br />

»Wofür nur ?«, sagte sie. »Man könnte meinen, nicht<br />

sie hätten mir den Sohn weggenommen, nicht sie mich<br />

verhöhnt …«<br />

Wie sehr ich Sergej Iwanow, den Minister unseres<br />

volksverachtenden Militärwesens, beneide ! Er hat es<br />

leicht. Er bekommt die »Details« nicht zu sehen. Vor<br />

allem nicht die Augen der Mütter, die ihre Söhne verloren<br />

haben in jenem »Krieg gegen den internationalen<br />

42


Terrorismus«, über den sich der Herr Minister so gern<br />

auslässt, um Präsident Putin seine Loyalität zu beweisen.<br />

Er hört nicht die Stimmen der Mütter, zu weit sind<br />

sie von ihm entfernt. Spürt ihren Schmerz nicht, weiß<br />

nichts von den zerstörten Existenzen. Von den Tausenden<br />

Vätern und Müttern, die das System im Stich gelassen<br />

hat, nachdem ihre Kinder für ebendieses System ihr<br />

Leben gegeben haben.<br />

»Putin kann schließlich nicht alles verantworten !«,<br />

schreien diejenigen, die den Präsidenten lieben.<br />

Natürlich nicht. Als Präsident zeichnet er für das System<br />

verantwortlich. Für die grundsätzlichen Handlungsmuster.<br />

Er prägt sie. So geht das nun einmal bei uns :<br />

Wer an der Spitze steht, dem tun es alle nach. Also ist<br />

Putin verantwortlich für die systematische Brutalität und<br />

Unversöhnlichkeit, die sich eingebürgert hat in Armee<br />

und Staat. Diese Brutalität gleicht einer schweren <strong>In</strong>fektion,<br />

die leicht zur Epidemie werden kann. Sie kommt<br />

nie nur einmal vor. Anfangs richtete sich das brutale<br />

Vorgehen gegen die tschetschenische Bevölkerung, und<br />

viele meinten, es würde sich darin erschöpfen. Doch<br />

dann ging es weiter mit den »eigenen Leuten«, wie man<br />

heute vaterlandstreu zu sagen pflegt. Einschließlich derjenigen<br />

unter den »eigenen Leuten«, die den »patriotischen<br />

Kampf« gegen die anfänglich betroffenen Bevölkerungsgruppen<br />

führten. Nur Naive konnten etwas anderes<br />

erwarten.<br />

»Es lässt sich nicht ändern … Pascha wird nicht wieder<br />

lebendig … Er hat seine Wahl getroffen und ist seinen<br />

43


Weg gegangen«, sagt Nina Lewurda und wischt sich die<br />

Tränen aus dem Gesicht. Richterin Bolonina in ihrer<br />

Robe geht mit undurchdringlicher Miene vorüber. »Aber<br />

ihr seid doch Menschen …«<br />

FALL ZWEI :<br />

54 SOLDATEN oder EMIGRATION NACH HAUSE<br />

Emigration, das ist ein Ort, wohin man flieht, wenn bei<br />

einem weiteren Verbleib in der Heimat Lebensgefahr<br />

oder ein massiver Angriff des Staates auf die eigene Ehre<br />

und Würde droht. Am 8. September 2002 geschah ebendies<br />

in der Armee der Russischen Föderation. 54 Soldaten<br />

emigrierten aus den Streitkräften.<br />

Am Rande des Dorfes Prudboi im Gebiet Wolgograd<br />

befindet sich der Truppenübungsplatz der 20. Garde-<br />

Motschützendivision. Hierher waren die Mannschaften<br />

der 2. Abteilung des Truppenteils 20004 aus ihrem<br />

Standort, der ebenfalls im Gebiet Wolgograd gelegenen<br />

Kleinstadt Kamyschin, abkommandiert worden ; mit dem<br />

hehren Ziel, den Soldaten Unterweisung in der hohen<br />

Militärkunst angedeihen zu lassen. Wobei als Unterweiser<br />

natürlich die »väterlichen« Offiziere fungieren sollten.<br />

Nur dass am 8. September 2002 diese »Väter« – Oberstleutnant<br />

Kolesnikow, Major Schirjajew, Major Artjomow,<br />

Oberleutnant Kadijew, Oberleutnant Korostylew, Oberleutnant<br />

Kobez und Leutnant Pekow – eine dem Offiziersstand<br />

so gar nicht zukommende Rolle übernahmen :<br />

44


die der Kriminalpolizei. Beim Appell wurde den Soldaten<br />

verkündet, es müsse umgehend geklärt werden, wer<br />

in der Nacht den Spähpanzer vom Truppenübungsplatz<br />

entführt habe.<br />

Dabei stand dieser Spähpanzer, wie die Soldaten später<br />

versicherten, unangetastet im Fuhrpark der Division.<br />

Die Offiziere langweilten sich einfach, hatten bereits den<br />

x-ten Tag hintereinander getrunken und offenbar einen<br />

Kater. Also wollten sie ein bisschen die Muskeln spielen<br />

lassen. Was auch früher bereits des Öfteren der Fall<br />

gewesen war und dem Truppenübungsgelände bei Kamyschin<br />

traurige Berühmtheit eingetragen hatte.<br />

Nach dem Appell wurde die erste Gruppe zur Befragung<br />

in das Stabszelt geführt : die Unterfeldwebel<br />

Kutusow und Krutow sowie die Soldaten Generalow,<br />

Gurskoi und Grizenko. Die anderen, denen befohlen worden<br />

war, in der Nähe zu warten, bis sie an die Reihe kämen,<br />

hörten bald darauf das Schreien und Stöhnen ihrer<br />

Kameraden. Als diese aus dem Stabszelt gestoßen wurden,<br />

berichteten sie den Wartenden, die oben genannten Offiziere<br />

hätten mit Pionierspaten auf sie eingeschlagen und<br />

sie mit Fußtritten traktiert. Aber eigentlich bedurfte es<br />

der Schilderung gar nicht, die deutlich sichtbaren Spuren<br />

der Misshandlungen sprachen Bände.<br />

Nun erklärten die Offiziere, nach ihrer Mittagspause<br />

werde jeder, der die Entführung des Spähpanzers nicht<br />

freiwillig gestehe, ebenso verprügelt wie diejenigen, die<br />

jetzt im Gras neben dem Stabszelt lagen. Und schritten<br />

zu Tisch.<br />

45


Und die Soldaten ? Gingen … Sie rebellierten, weil sie<br />

keine Opferlämmer sein wollten. Auf dem Truppenübungsgelände<br />

blieben nur die zum Wachdienst Eingeteilten<br />

(das Verlassen des Postens hatte disziplinarische<br />

Maßnahmen – Militärgericht und Strafbataillon – zur<br />

Folge) sowie Kutusow, Krutow, Generalow, Gurskoi und<br />

Grizenko, die nach der Prügelorgie kein Bein mehr vor<br />

das andere setzen konnten.<br />

Zu einer Marschkolonne angetreten, liefen die Soldaten<br />

in Richtung Wolgograd. Um Hilfe zu holen.<br />

Doch bis Wolgograd war es weit, fast 180 Kilometer.<br />

Und die gesamte Entfernung legten die 54 Soldaten organisiert<br />

und geordnet zurück, ohne sich vor jemandem<br />

zu verstecken. Sie bewegten sich am Rande einer viel<br />

befahrenen Chaussee, auf der unter anderem auch Offiziere<br />

der 20. Division unterwegs waren. Doch kein einziges<br />

Militärfahrzeug hielt an, niemand kam auf den<br />

Gedanken, sich zu erkundigen, was passiert sei, wohin<br />

die Kolonne – entgegen der Dienstvorschrift ohne Offizier<br />

– marschierte. Als es dunkel wurde, richteten die<br />

Soldaten in einem Waldstreifen in Sichtweite der Chaussee<br />

ein Nachtlager her. Auch hier wurden sie von keinem<br />

einzigen Offizier behelligt.<br />

Doch nun zum Wichtigsten : Als der Oberstleutnant,<br />

die beiden Majore, die drei Oberleutnants und der Leutnant<br />

nach dem Mittagessen die Kantine verließen, stellten<br />

sie fest, dass ihre 2. Abteilung stark geschrumpft war.<br />

Dass es fast niemanden mehr zu befehligen gab. Und was<br />

taten die Offiziere ? Sie gingen seelenruhig schlafen. Ohne<br />

46


zu wissen, wo sich ihre Soldaten aufhielten, für die sie<br />

laut Gesetz die volle persönliche Verantwortung trugen.<br />

Allerdings wussten sie sehr gut, dass in unserem Land<br />

kein einziger Offizier je wegen eines Soldaten bestraft<br />

worden wäre.<br />

Am frühen Morgen des 9. September marschierte die<br />

Kolonne weiter. Ganz offen. Am Rande der Chaussee.<br />

Abends zog sie in Wolgograd ein, ohne jede Tarnung.<br />

Unter den Augen der Milizposten, die die Zufahrt zur<br />

Stadt überwachten. Doch wieder interessierte sich niemand<br />

für die Soldaten, fragte kein einziger Offizier, was<br />

sie denn so spät hier zu tun hatten. Ungehindert erreichte<br />

die Marschkolonne das Zentrum von Wolgograd.<br />

»Gegen sechs Uhr abends, als wir schon gehen wollten,<br />

klingelte plötzlich das Telefon : ›Arbeiten Sie noch ? Dürfen<br />

wir zu Ihnen kommen ?‹«, erzählt Tatjana Sosulenko,<br />

die das Wolgograder Gebietskomitee der Rechtsschutzorganisation<br />

»Mutterrecht« – einer <strong>In</strong>teressenvertretung der<br />

Eltern von Militärangehörigen – leitet. »Ich habe geantwortet,<br />

sie sollten kommen. Aber auf so etwas war ich<br />

natürlich nicht gefasst. Ein paar Minuten später betraten<br />

vier Soldaten das winzige Zimmerchen unserer Organisation<br />

und sagten, sie seien insgesamt vierundfünfzig.<br />

Ich fragte : ›Wo sind die anderen ?‹ Da führten mich die<br />

Soldaten in den Keller unseres Hauses – dort standen die<br />

übrigen. Ich arbeite schon elf Jahre bei ›Mutterrecht‹, aber<br />

etwas Derartiges habe ich bisher noch nicht erlebt. Mein<br />

erster Gedanke war : ›Wo sollen wir sie unterbringen ?<br />

Es ist ja schon spät …‹ Wir haben sofort gefragt : ›Habt<br />

47


ihr etwas gegessen ?‹, worauf sie antworteten : ›Seit gestern<br />

nicht mehr.‹ Unsere Frauen sind gleich losgelaufen<br />

nach Brot und Milch, haben gebracht, soviel sie konnten.<br />

Die Jungs sind darüber hergefallen wie hungrige junge<br />

Hunde. Das kennen wir schon, die Verpflegung in den<br />

Truppeneinheiten ist sehr schlecht, die Soldaten haben<br />

chronisch Hunger. Als sie gegessen hatten, wollte ich von<br />

den Jungs wissen : ›Was bezweckt ihr mit eurer Aktion ?‹<br />

›Dass die Offiziere, die Soldaten schlagen, bestraft werden.‹<br />

Dann beschlossen wir : Weil der Morgen klüger ist<br />

als der Abend, sollten sie erst einmal bei uns, im Büro<br />

von ›Mutterrecht‹, übernachten, auf dem Fußboden, so<br />

gut es eben ging. Morgens früh wollten wir dann zur<br />

Militärstaatsanwaltschaft der Garnison. Ich schloss die<br />

Tür ab und ging nach Hause. Ich wohne gleich nebenan<br />

und dachte, ich könnte im Fall des Falles ja jederzeit<br />

schnell zu ihnen hinüberlaufen. Um 23 Uhr wollte ich<br />

sie anrufen, aber es hat keiner abgenommen. Ich dachte :<br />

›Sie sind sicher müde und schlafen. Oder haben Angst,<br />

ans Telefon zu gehen.‹ Gegen zwei Uhr nachts hat mich<br />

dann unser Rechtsanwalt Sergej Semuschin geweckt mit<br />

der Nachricht, Unbekannte hätten bei ihm angerufen<br />

und verlangt, wir sollten ›den Raum übernehmen‹. Ein<br />

paar Minuten später war ich vor Ort. Ringsum standen<br />

Kübelwagen der Armee, in denen irgendwelche Offiziere<br />

saßen, die sich nicht vorgestellt haben. Die Soldaten<br />

waren schon fort. Als ich die Offiziere fragte, wo sie<br />

sind, bekam ich keine Antwort.«<br />

Außerdem fanden die Mitarbeiter von »Mutterrecht«<br />

48


ihre Dateiensammlung mit <strong>In</strong>formationen über gravierende<br />

Menschenrechtsverletzungen in der 20. Division<br />

geknackt und zerstört vor. Unter dem Läufer auf dem<br />

Fußboden entdeckten sie einen Zettel, hinterlassen von<br />

einem der Soldaten : Sie würden irgendwohin gebracht<br />

und geschlagen, bräuchten Hilfe …<br />

Bleibt nicht viel hinzuzufügen. Ein Anruf »von oben«<br />

brachte die Offiziere auf dem Truppenübungsgelände<br />

dazu, ihre Soldaten zu suchen. Das war am 9. September<br />

spätabends, nachdem sich Tatjana Sosulenko mit Wolgograder<br />

Journalisten in Verbindung gesetzt hatte und<br />

im Radio eine erste Meldung über den Vorfall gesendet<br />

worden war. Natürlich verlangte der Gebietsstab von den<br />

Offizieren eine Erklärung, und da erst bemerkten diese<br />

angeblich das Fehlen der Soldaten.<br />

Nachts brachten Militärfahrzeuge alle vierundfünfzig<br />

Soldaten zunächst in die Arrestanstalt der Militärkommandantur,<br />

dann zurück in die Einheit, unter der Aufsicht<br />

ebenjener Offiziere, vor deren Schlägen sie geflohen<br />

waren. Tatjana Sosulenko fragte den Militärstaatsanwalt<br />

der Wolgograder Garnison (zu dessen Pflichten es gehört,<br />

die Einhaltung von Recht und Gesetz in den Einheiten<br />

zu überwachen), warum er eine solche Anordnung<br />

getroffen habe. Worauf er unverblümt erwiderte : »Weil<br />

es unsere Soldaten sind.«<br />

Das ist der Schlüsselsatz in dieser Geschichte. »Unsere<br />

Soldaten« bedeutet »unsere Sklaven«, keinen anderen<br />

Sinn birgt die Antwort von Militärstaatsanwalt Tschernow.<br />

Es hat sich nichts geändert : Eine verzerrt inter-<br />

49


pretierte »Offiziersehre«, die es unter allen Umständen<br />

zu schützen gilt, wird grundsätzlich höher bewertet als<br />

das Leben und die Menschenwürde von Soldaten. Der<br />

Gewaltmarsch der vierundfünfzig Männer vom Truppenübungsgelände<br />

Kamyschin nach Wolgograd offenbart<br />

zum einen die unausrottbare, widerwärtige Armeetradition,<br />

nach der ein Soldat der Sklave des Offiziers ist –<br />

und der hat immer Recht und kann nach Gutdünken<br />

mit seinem Untergebenen umspringen. Zum anderen<br />

verdeutlicht dieser Fall das Fehlen einer zivilen Kontrolle<br />

über die Armeestrukturen. Davon, dass eine zivile Kontrolle<br />

unbedingt eingeführt werden müsse, war in den<br />

Jahren der Jelzin-Herrschaft vielfach die Rede, es wurde<br />

sogar ein entsprechender Gesetzentwurf erarbeitet, der<br />

heute allerdings keine Rolle mehr spielt, da Präsident<br />

Putin als zutiefst sowjetischer Mensch und Offizier die<br />

grundsätzliche Einstellung der Militärs teilt und deshalb<br />

ein solches Gesetz für vollkommen überflüssig hält.<br />

Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch<br />

folgendes Detail : Die gesamte 20. Division (genannt<br />

Rochlin-Division, weil sie früher befehligt wurde von<br />

Lew Rochlin, Held des ersten Tschetschenien-Krieges,<br />

Abgeordneter der Staatsduma und vor ein paar Jahren<br />

durch eine Pistolenkugel getötet), insbesondere aber ihre<br />

Truppeneinheit Nr. 20004 sind längst nicht nur in Wolgograd<br />

oder im Militärbezirk Nordkaukasus, sondern in<br />

ganz <strong>Russland</strong> zu einem Negativsymbol geworden.<br />

»Ein ganzes Jahr lang haben wir der Wolgograder Militärstaatsanwaltschaft,<br />

vor allem dem Militärstaatsanwalt<br />

50


der Garnison, Tschernow, aber auch sämtlichen übergeordneten<br />

<strong>In</strong>stanzen bis hin zur Obersten Militärstaatsanwaltschaft<br />

in Moskau unsere <strong>In</strong>formationen über Verbrechen<br />

von Offizieren des Truppenteils Nr. 20004 übermittelt«,<br />

berichtet Tatjana Sosulenko. »Nach der Anzahl der<br />

Eingaben, die wir von Soldaten bekommen, liegt diese<br />

Einheit auf Platz eins. Die Offiziere schlagen ihre Untergebenen,<br />

pressen den Soldaten, die aus Tschetschenien<br />

zurückkommen, das so genannte ›Kampfgeld‹ ab. Wir<br />

haben darüber nicht einfach berichtet, wir haben geschrien<br />

! Doch nichts ist passiert. Die Militärstaatsanwaltschaft<br />

schweigt derartige Vorfälle absolut tot. Wir sind<br />

der Meinung : Was auf dem Truppenübungsgelände von<br />

Kamyschin geschah, ist die gesetzmäßige Folge der uneingeschränkten<br />

Willkür und Straflosigkeit der Offiziere.«<br />

NOCH EINIGE FÄLLE<br />

Natürlich gibt es in <strong>Russland</strong> einen Verteidigungshaushalt,<br />

und es wird heftig darüber debattiert. Es gibt eine<br />

Militärlobby, die sich stark macht für neue <strong>In</strong>vestitionen<br />

und Großaufträge, bezahlt aus der Staatskasse. Alles wie<br />

überall. Aber man darf eine Besonderheit nicht vergessen,<br />

die uns von anderen unterscheidet : <strong>In</strong> <strong>Russland</strong> gibt<br />

es eine bedeutende Rüstungsindustrie und weltweiten<br />

Waffenhandel. Immerhin waren wir es, die der Welt das<br />

Kalaschnikow-Maschinengewehr geschenkt haben, worauf<br />

viele Russen heute noch stolz sind.<br />

51


Doch ich will Sie nicht mit den Geschäftszahlen unserer<br />

Rüstungsindustrie behelligen. Mich bewegt etwas<br />

anderes : Fühlen sich die Menschen glücklich in der Ordnung,<br />

die Präsident Putin eingeführt hat ? Das ist für<br />

mich das Hauptkriterium, an dem das Wirken eines<br />

Staatschefs zu messen ist. Um eine Antwort zu finden,<br />

gehe ich zum Komitee der Soldatenmütter, frage die<br />

Frauen : Waren ihre Söhne glücklich, als sie zur Armee<br />

einberufen wurden ? Sind sie dort tatsächlich richtige<br />

Männer geworden ? Und ich lerne dabei eine ganz andere<br />

Armee kennen …<br />

Das Detail ist wichtiger als die Gesamtansicht. Die<br />

Einzelheit bezeichnender als das Ganze. Zumindest für<br />

mich.<br />

Mischa Nikolajew, im Gebiet Moskau zu Hause, wurde<br />

im Juli 2001 einberufen. Er kam zu den Grenztruppen,<br />

in eine zehn Flugstunden von der Hauptstadt entfernte<br />

Einheit in der Nähe des Dorfes Gorjatschi Pljash auf<br />

der Anutschin-<strong>In</strong>sel, die zur Kleinen Kurilenkette zählt,<br />

um die sich bekanntlich russische und japanische Politiker<br />

seit dem Zweiten Weltkrieg erbittert streiten. Doch<br />

während sie streiten, muss die Grenze bewacht werden.<br />

Und das tat Mischa. Ein halbes Jahr lang. Bis er am 22.<br />

Dezember 2001 starb. Doch Besorgnis erregende Briefe<br />

erhielten die Eltern bereits im Herbst, als Mischa an seinem<br />

Körper eitrige Geschwüre entdeckte. Er bat : »Besorgt<br />

mir Medikamente – Wischnewski-Salbe, Streptozid,<br />

Brillantgrünspiritus zum Einreiben, überhaupt alles<br />

gegen Eiterwunden, Analgin, Binden, möglichst auch<br />

52


Pflaster. Hier gibt es nichts.« Klaglos schickten die Eltern<br />

Pakete, schließlich war ihnen bewusst, dass unsere<br />

Armee arm ist. Sicher dachten sie auch, gar so schlimm<br />

könne es nicht sein, weil Mischa ja weiter arbeitete … als<br />

Koch ! Wäre er schwer krank, glaubten die Eltern, würde<br />

man ihn wohl kaum an die Kessel mit dem Mannschaftsessen<br />

heranlassen. Doch Mischa, dessen Körper übersät<br />

war mit eitrigen Hautausschlägen, kochte weiter für alle.<br />

Als der Pathologe nach seinem Tod eine Obduktion vornahm,<br />

musste er feststellen, dass die Körpergewebe der<br />

Leiche förmlich unter dem Skalpell zerflossen. Zu Beginn<br />

des 21. Jahrhunderts verfaulte der Soldat Mischa Nikolajew<br />

bei lebendigem Leibe, unter den Augen der Offiziere,<br />

die ihm keinerlei medizinische Versorgung angedeihen<br />

ließen. Nichts konnte Mischa retten vor diesen Offizieren,<br />

denen er, und nicht nur er, absolut gleichgültig war.<br />

Dmitri Kisseljow kam zum Wehrdienst in die Siedlung<br />

Istra bei Moskau, was als großer Glücksfall galt. Dmitris<br />

Eltern, die in Moskau wohnten, konnten ihren Sohn oft<br />

besuchen kommen, zur Not auch zu seinem Kommandeur<br />

vordringen, wenn es nötig gewesen wäre. Nicht wie<br />

Mischa Nikolajew auf den fernen Kurilen. Doch selbst<br />

die Nähe der Hauptstadt rettete Dmitri nicht vor den<br />

verkommenen Offizieren.<br />

Oberstleutnant Alexander Boronenko, der die Einheit<br />

befehligte, verdiente sich etwas zu seinem Sold hinzu<br />

durch Geschäfte. Was nicht unüblich ist in unserer<br />

Armee, wo sich jeder die niedrige Besoldung so gut er<br />

kann aufbessert. Das Geschäft, das dieser Oberstleut-<br />

53


nant betrieb, war allerdings Sklavenhandel : Er verkaufte<br />

seine Soldaten als billige Arbeitskräfte an die Besitzer der<br />

zahlreichen Wochenendgrundstücke in und um Istra. Sie<br />

arbeiteten lediglich für ihre Beköstigung, den Lohn strich<br />

Kommandeur Boronenko ein. Eine verbreitete Erscheinung.<br />

Mitunter werden die Soldaten für die gesamte<br />

Wehrdienstzeit als kostenlose Arbeiter, also als bessere<br />

Sklaven, verkauft an »nützliche Leute«. Mit Soldaten bzw.<br />

mit ihrer Arbeit bezahlt der Offizier bestimmte Dienstleistungen.<br />

Ist eine Reparatur an seinem Wagen fällig,<br />

aber kein Geld da, schickt er ein paar Soldaten in die<br />

Autowerkstatt, wo diese so lange schuften, wie es der<br />

Besitzer für nötig hält : als Äquivalent für die Reparatur<br />

des Offiziersautos. Und schließlich werden die Soldaten<br />

noch »verliehen«. Die größte Verbreitung aber hat ihr<br />

Einsatz als Tagelöhner in Haus, Hof und Garten des<br />

jeweiligen Offiziers gefunden.<br />

Ende Juni 2002 war auch der frisch einberufene<br />

Dmitri Kisseljow an der Reihe, Frondienste zu leisten –<br />

beim Hausbau für einen gewissen Herrn Karabutow im<br />

Gartenverband »Mir«, ebenfalls im Kreis Istra. Zuerst<br />

baute Dmitri tatsächlich ein Haus. Danach sollten er<br />

und sieben andere Armeesklaven neben dem Grundstück<br />

einen tiefen Graben ausheben. Am 2. Juli um sieben<br />

Uhr abends brach bei den Schachtarbeiten der Boden<br />

ein, drei Soldaten wurden verschüttet, einer von ihnen,<br />

Dmitri Kisseljow, erstickte unter den Erdmassen. Die<br />

Eltern versuchten Oberstleutnant Boronenko vor Gericht<br />

zu bringen, doch er konnte sich herauswinden, dank<br />

54


der vielen »nützlichen Leute« in seinem Bekanntenkreis.<br />

Dmitri war der einzige Sohn gewesen.<br />

Am 28. August 2002 veranstalteten in der Truppeneinheit<br />

42839 (stationiert in Tschetschenien, in der Nähe der<br />

Siedlung Kalinowskaja, also dort, wo schon lange nicht<br />

mehr gekämpft wird) die »Altgedienten« ein Trinkgelage.<br />

Diese kurz vor der Entlassung aus dem Wehrdienst<br />

stehenden »Altgedienten«, russisch »Dedy« (Großväter)<br />

genannt, sind die furchtbarste, die vernichtendste Kraft<br />

unserer Armee. Gegen Abend befürchteten die »Großväter«,<br />

der Wodka könnte nicht reichen, und sie gaben<br />

dem Soldaten Juri Djatschenko, der ihnen gerade über<br />

den Weg lief, den Auftrag, in Kalinowskaja Nachschub<br />

zu holen : »Beschaff Wodka, egal woher.« Djatschenko<br />

weigerte sich. Zum einen, weil er gerade als Streife zur<br />

Außensicherung des Truppengeländes eingeteilt war und<br />

seinen Posten nicht verlassen durfte. Zum anderen, weil<br />

er kein Geld hatte, wie er den »Großvätern« erklärte.<br />

Doch die verlangten, dann solle er eben in der Siedlung<br />

etwas stehlen, um an Wodka zu kommen. Juri weigerte<br />

sich standhaft. Worauf ihn die »Großväter« gnadenlos<br />

verprügelten, bis fünf Uhr morgens. <strong>In</strong> den Pausen zwischen<br />

den Schlägen peinigten sie ihr Opfer weiter auf<br />

schlimmste Weise. So fuhren sie ihm mit einem in die<br />

Latrine getauchten Lappen über das Gesicht. Sie zwangen<br />

ihn, den Fußboden zu scheuern, und als er sich bückte,<br />

stießen sie ihm einen Schrubberstiel in den Anus. Zum<br />

Abschluss der »Erziehungsmaßnahmen« schleiften die<br />

»Großväter« Juri in die Kantine, wo er einen Drei-Liter-<br />

55


Kanister voll Grützbrei leer essen musste. Wenn er aufhören<br />

wollte, schlugen sie wieder auf ihn ein.<br />

Und die Offiziere der Einheit ? Sie feierten in dieser<br />

Nacht selbst feuchtfröhlich und waren physisch außer<br />

Stande, auch nur irgendetwas zu bemerken. Am 29.<br />

August, gegen sechs Uhr morgens, fand man Juri Djatschenko<br />

in einem Winkel des Proviantlagers. Er hatte<br />

sich erhängt.<br />

Sibirien ist weit entfernt von Tschetschenien und vom<br />

Krieg. Aber das ändert nichts. Valeri Putinzew aus dem<br />

Gebiet Tjumen kam zum Wehrdienst in die Kreisstadt<br />

Ushur (Region Krasnojarsk), in eine Eliteeinheit der Strategischen<br />

Raketentruppen. Was seine Mutter Swetlana<br />

Putinzewa außerordentlich freute, teilte sie doch die landläufige<br />

Meinung, dass bei den Raketentruppen die Offiziere<br />

hoch gebildet sind, nicht trinken, keine Schläge<br />

austeilen und für Disziplin sorgen. Immerhin haben sie<br />

mit den modernsten, gefährlichsten Waffen unserer Zeit<br />

zu tun. Bald aber kamen schlimme Briefe von Valeri, in<br />

denen er keinen anderen Namen für die Offiziere fand<br />

als »die Schakale«.<br />

»Hallo Mama ! Dieser Brief darf niemand anderem<br />

in die Hände geraten als dir. Vor allem Oma nicht. Wir<br />

beide haben uns immer gut verstanden, und du wirst<br />

verhindern, dass sich Oma noch den letzten Rest Gesundheit<br />

ruiniert – ich sorge mich um sie … Ich kann<br />

mich noch immer nicht damit abfinden, dass ich Leuten<br />

als Sklave diene, die mir verhasst sind. Ich möchte<br />

einfach nur für das Wohl meiner Nächsten arbeiten, Er-<br />

56


nährer sein für die Familie, deren Wert ich erst jetzt erkenne<br />

…«<br />

Es sollte Valeri nicht vergönnt sein, für das Wohl seiner<br />

Nächsten zu arbeiten. <strong>In</strong> Ushur herrschte die Anarchie<br />

der Offiziere. Sie plünderten die Soldaten aus, verhöhnten<br />

und demütigten diejenigen, die versuchten, ihre<br />

Ehre zu verteidigen : wie Valeri Putinzew. <strong>In</strong> den sechs<br />

Monaten seines Dienstes in der Einheit wurden vier<br />

Särge aus der Kaserne getragen. Vier Särge von Soldaten,<br />

die zu Tode geprügelt worden waren.<br />

Als Erstes nahmen die Offiziere Valeri die Uniform<br />

weg (das Einzige, was ein Soldat in der Armee besitzt,<br />

jede andere Art von Kleidung ist verboten) und erklärten,<br />

er müsse sie bei ihnen »zurückkaufen«. Das Geld<br />

dafür solle er sich per Eilüberweisung von zu Hause<br />

schicken lassen. Valeri widersetzte sich hartnäckig,<br />

wusste er doch, dass seine Mutter, die mit der Oma,<br />

seiner Schwester und deren kleiner Tochter zusammen<br />

in einer Wohnung lebte, dieses Geld nicht erübrigen<br />

konnte. Nun wurde er immer wieder brutal verprügelt.<br />

Bis er es nicht mehr aushielt und sich wehrte, worauf<br />

man ihn wegen Auflehnung in die Arrestanstalt des<br />

Truppenteils verfrachtete. Dort inszenierte man einen<br />

»Ausbruchversuch«, bei dem Valeri schwer verletzt wurde.<br />

Swetlana Putinzewa rief den Kommandeur des Truppenteils,<br />

Oberstleutnant Butow, an. Der »beruhigte« sie<br />

mit den Worten, er könne so schlagen, dass keine Spuren<br />

blieben. Swetlana ließ alles stehen und liegen und<br />

flog nach Ushur, wo sie ihren Sohn sterbend vorfand. Er<br />

57


hatte einen Durchschuss des kleinen Beckens, der Harnblase,<br />

der Harnleiter sowie der Hüftarterie. Im Hospital<br />

erklärte man der Mutter : »Treiben Sie umgehend Blut<br />

auf für eine Transfusion. Wir haben keins.« Sie musste<br />

also Spender finden. Aber wie ? <strong>In</strong> einem fremden Ort,<br />

allein … Sie kämpfte sich zum Kommandeur des Truppenteils<br />

vor, bat um Hilfe, die ihr jedoch verweigert<br />

wurde. Swetlana irrte durch die ganze Stadt, versuchte<br />

noch irgendetwas für ihren Sohn zu tun, schaffte es<br />

aber nicht, Blut für eine Transfusion zu besorgen. Am<br />

27. Februar 2002 starb Valeri Putinzew.<br />

<strong>In</strong> einem seiner letzten Briefe an die Mutter hatte<br />

Valeri geschrieben, so als sähe er voraus, was kommen<br />

würde : »Ich rechne nicht sehr auf ihre ›Offiziershilfe‹. Sie<br />

sind nur fähig zu ungerechten Demütigungen …«<br />

Wieder das Moskauer Umland. Die Siedlung Balaschicha,<br />

Standort des Truppenteils 13815. 4. Mai 2002,<br />

frühmorgens. <strong>In</strong> dem Kesselhaus, das die Militäreinheit<br />

mit Wärme versorgt, hörten zwei Heizerinnen ganz in<br />

der Nähe Hilferufe. Sie liefen hinaus und sahen, dass<br />

in der Mitte des Hofes ein Soldat bis zum Hals in die<br />

Erde eingegraben war. Er schrie. Die Frauen entfernten<br />

das Erdreich, durchschnitten den Strick, mit dem er an<br />

Händen und Füßen gefesselt war, halfen dem Soldaten<br />

aus der Grube. <strong>In</strong> diesem Augenblick erschien Major<br />

Alexander Simakin. Wutentbrannt brüllte er die Frauen<br />

an, sie sollten sich heraushalten, er habe den Soldaten<br />

Tschesnokow zu erziehen, und wenn sie sich nicht zurück<br />

in ihr Kesselhaus scherten, würde er sie entlassen.<br />

58


Der Grube entronnen, floh der Soldat Tschesnokow<br />

aus der Einheit.<br />

Die Armee <strong>Russland</strong>s – traditionell eine der tragenden<br />

Säulen des Staates – ist immer noch ein typisches<br />

Straflager hinter Stacheldraht für die jungen Bürger des<br />

Landes, die man ohne Recht auf Gegenwehr dorthin verfrachtet.<br />

Wo gewollt gefängnishafte Regeln des Gemeinschaftslebens<br />

herrschen, eingeführt von den Offizieren,<br />

wo »windelweich prügeln« die wichtigste Erziehungsmethode<br />

darstellt. Immerhin war dies die Devise, die Putin<br />

bei seiner Besteigung des Kreml-Throns für den Kampf<br />

gegen die inneren Feinde ausgab.<br />

So etwas mag ihm gefallen, unserem heutigen Präsidenten<br />

mit den Schulterstücken eines Oberstleutnants,<br />

der zu Hause zwei Töchter hat, die keinen Wehrdienst<br />

leisten müssen. Doch allen anderen – außer der Offizierskaste,<br />

die sich ausgesprochen wohl fühlt in der Rolle<br />

von allmächtigen »Paten« – missfällt es sehr. Besonders<br />

denen, die Söhne haben. Und erst recht denjenigen, deren<br />

Söhne jetzt im Einberufungsalter sind, die also nicht<br />

warten können, bis die Armeereformen – der Gesellschaft<br />

seit Ewigkeiten versprochen und regelmäßig im Sande<br />

verlaufen – irgendwann einmal kommen. Diese Söhne<br />

riskieren, schnurstracks auf dem Truppenübungsgelände<br />

von Kamyschin zu landen, oder in Tschetschenien, oder<br />

an einem anderen Ort, von dem es kein Zurück gibt.


RUSSLANDS NEUES MITTELALTER oder<br />

ALLENTHALBEN KRIEGSVERBRECHER<br />

Der zweite Tschetschenien-Krieg, begonnen im August<br />

1999, zeitgleich mit der Ernennung Wladimir <strong>Putins</strong> zum<br />

Premierminister, fortgeführt über seine gesamte erste<br />

Amtsperiode als Staatspräsident und nicht beendet bis<br />

zum heutigen Tag, ist Nährboden für zahlreiche Kriegsverbrechen.<br />

Alle Prozesse, die in diesem Zusammenhang<br />

geführt wurden, haben eines gemeinsam : Sie sind<br />

samt und sonders ideologisch geprägt. »<strong>In</strong>ter armas silent<br />

leges«, wie es so schön heißt. Wer im Rahmen eines derartigen<br />

Prozesses auf der Anklagebank saß, erhielt sein<br />

Urteil nicht gemäß einer juristischen Verfahrensordnung,<br />

die auf Recht und Gesetz gründet, sondern abhängig<br />

davon, was für ein ideologischer Wind zum gegebenen<br />

Zeitpunkt gerade aus dem Kreml wehte.<br />

Die Kriegsverbrecher, deren Taten mit dem zweiten<br />

Tschetschenien-Krieg in Verbindung stehen, lassen sich<br />

in zwei Typen unterteilen : Den ersten Typus bilden diejenigen,<br />

die tatsächlich in diesem Krieg gekämpft haben.<br />

Entweder als Angehörige der in die »Anti-Terror-Operation«<br />

involvierten föderalen Streitkräfte – oder als Rebellen,<br />

bekämpft von der russischen Armee. Erstere versuchte<br />

man mit allen Mitteln reinzuwaschen, letztere bekamen<br />

in juristisch nachlässig geführten Prozessen nach<br />

61


esten Kräften Verbrechen angehängt. Ersteren verhalf<br />

die Justiz in Gestalt von Staatsanwälten und Richtern<br />

dazu, selbst bei vorliegenden Schuldbeweisen einer Bestrafung<br />

zu entgehen, wobei es ohnehin Seltenheitswert<br />

besitzt, wenn die Staatsanwaltschaft gegen diese Kategorie<br />

von Kriegsverbrechern überhaupt Beweise erhebt.<br />

Gegen Letztere wurde gewöhnlich das höchstmögliche<br />

Strafmaß verhängt.<br />

Das spektakulärste Beispiel für den Umgang mit Ersteren<br />

liefert der Prozess gegen Oberst Juri Budanow, Befehlshaber<br />

des 160. Panzerregiments des Verteidigungsministeriums<br />

der Russischen Föderation, der am 26. März –<br />

dem Tag, an dem Putin zum Präsidenten gewählt wurde<br />

– die achtzehnjährige Tschetschenin Elsa Kungajewa<br />

aus ihrem Elternhaus in der Siedlung Tangi-Tschu entführte,<br />

vergewaltigte und tötete.<br />

Der bekannteste verurteilte Kriegsverbrecher aus den<br />

Reihen der tschetschenischen Rebellen ist Salman Radujew,<br />

ein berüchtigter Feldkommandeur und Brigadegeneral,<br />

der bereits im ersten Tschetschenien-Krieg als<br />

Befehlshaber der so genannten »Armee General Dudajews«<br />

für terroristische Übergriffe verantwortlich war,<br />

im Jahre 2001 gefangen genommen und zu einer lebenslänglichen<br />

Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Während<br />

der Haft kam Radujew unter bis heute nicht geklärten<br />

Umständen im Schwerverbrecher-Gefängnis von Solikamsk<br />

ums Leben. Die im Ural gelegene Stadt Solikamsk<br />

(Gebiet Perm) mit ihren Salzbergwerken ist bereits seit<br />

der Zarenzeit ein traditioneller Verbannungsort für viele<br />

62


Generationen von Häftlingen. Radujew verkörperte den<br />

Typus des Rebellen, der unversöhnlich für die Unabhängigkeit<br />

Tschetscheniens von <strong>Russland</strong> streitet.<br />

Gerichtsverfahren wie das gegen Salman Radujew<br />

gibt es nur sehr selten, und in der Regel werden sie als<br />

nicht öffentliche Prozesse geführt, obwohl keiner weiß,<br />

warum eigentlich. <strong>In</strong> einigen wenigen Fällen gelang es,<br />

wenn auch heimlich und unter großen Schwierigkeiten,<br />

Einsicht in die Prozessakten zu nehmen. Die offenbarten,<br />

dass diese Verfahren gleichfalls ideologisch geprägt<br />

waren, nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen : Ohne<br />

sich der mühsamen Prozedur einer Beweisführung zu<br />

unterziehen, fällten die Richter ihr Schuldurteil. Getreu<br />

dem Prinzip : »Verurteilt wird, wer verurteilt werden<br />

muss«, und in dem Wissen, dass auch der zweifelhafteste<br />

Richterspruch nicht angefochten würde.<br />

Der gesamte erste Typus von Kriegsverbrechern, ganz<br />

gleich ob auf föderaler oder tschetschenischer Seite, hat<br />

also kein ordentliches Gerichtsverfahren durchlaufen.<br />

Das ist das wichtigste Fazit. Nach ihrer Verurteilung<br />

hatten die tschetschenischen Rebellen in den entlegenen<br />

Arbeitskolonien und Gefängnissen nicht mehr lange zu<br />

leben, sie kamen nach kurzer Zeit um : »Unter ungeklärten<br />

Umständen.« Dass sie auf Wunsch von oben beseitigt<br />

wurden, bezweifeln Meinungsumfragen zufolge nicht<br />

einmal mehr diejenigen in <strong>Russland</strong>, die die Position<br />

der Regierung und des Präsidenten im Hinblick auf den<br />

Tschetschenien-Krieg unterstützen. Weil hier faktisch<br />

niemand an eine unvoreingenommene Rechtsprechung<br />

63


glaubt, umso mehr aber an die politische Verstrickung<br />

der Justiz.<br />

Der zweite Typus von Kriegsverbrechern besteht aus<br />

»Randfiguren«, aus Menschen, die zufällig in die Mühlen<br />

der Geschichte gerieten. Die nicht in den bewaffneten<br />

Formationen kämpften, aber Tschetschenen waren<br />

und deshalb verurteilt wurden. Bezeichnend ist in diesem<br />

Zusammenhang der Prozess gegen Islam Chassuchanow.<br />

<strong>In</strong> seinem Fall erinnert alles an das Jahr 1937, so<br />

als sei Stalin noch am Leben und die Tscheka wie ehedem<br />

am Werk : Durch Schläge abgepresste Geständnisse,<br />

Folterungen, der Einsatz von Psychopharmaka, um den<br />

Willen des Angeklagten zu brechen. Diesen Höllenweg<br />

durchliefen die meisten Tschetschenen, die in die Gefängnisse<br />

nicht nur des <strong>In</strong>landsgeheimdienstes FSB, sondern<br />

auch der anderen in Tschetschenien aktiven militärischen<br />

Strukturen gerieten. Gefoltert wird bei der<br />

»Kadyrow-Truppe«, den Nachfolgern Achmad Kadyrows,<br />

der vor seiner Ermordung als Marionette Moskaus die<br />

tschetschenische Verwaltung leitete. Gefoltert wird in den<br />

Militärkommandanturen der russischen Streitkräfte, in<br />

Armeeeinheiten und Milizabteilungen. Die richtungsweisende<br />

Rolle spielt dabei der FSB : <strong>Putins</strong> Mannschaft, die<br />

unter seinem Patronat agiert, seinen Willen umsetzt.<br />

64


DER FALL CHASSUCHANOW<br />

Islam Chassuchanow : »… Ich habe vierzehn Rippenbrüche,<br />

einen Schädelbruch, ein Knochensplitter ist in die<br />

Niere eingedrungen, sie haben mir die Hände kaputt<br />

geschlagen … ich glaube nicht, dass ich überlebe.«<br />

Do s s i e r<br />

Islam Scheich-Achmedowitsch Chassuchanow, geboren<br />

1954 in Kirgisien. Seit 1973 Angehöriger der Streitkräfte,<br />

Kadett an der Militärpolitischen Offiziershochschule<br />

der Seekriegsflotte in Kiew. 1978 bis 1989 Dienst<br />

in der Baltischen Flotte, danach in der Pazifik-Flotte,<br />

U-Boot-Offizier. Gehörte zur Elite der Seestreitkräfte.<br />

1991 Abschluss der Militärpolitischen Akademie »W. I.<br />

Lenin« in Moskau. 1998 in die Reserve entlassen im<br />

Range eines Kapitäns zur See und als stellvertretender<br />

Kommandeur eines großen Atom-U-Boots vom Typ B-<br />

251. Seit 1998 wohnhaft in Grosny. Unter der Maschadow-Regierung<br />

Leiter der Militärinspektion und Chef<br />

des operativen Stabes Aslan Maschadows. Familienvater,<br />

zwei Kinder. <strong>In</strong> zweiter Ehe verheiratet mit einer Nichte<br />

Aslan Maschadows. Weder im ersten noch im zweiten<br />

Tschetschenien-Krieg an Kampfeinsätzen beteiligt. Offiziell<br />

in Grosny gemeldet, im Besitz amtlich ausgestellter<br />

Personaldokumente. Am 20. April 2002 von Sondereinheiten<br />

des FSB in der Kreisstadt Schali als »internationaler<br />

Terrorist« und »Organisator illegaler bewaffneter<br />

65


Formationen« verhaftet. Vom Obersten Gerichtshof der<br />

Republik Nordossetien-Alanija verurteilt zu zwölf Jahren<br />

Freiheitsentzug in einem Arbeitslager mit strengen<br />

Haftbedingungen.<br />

Die Vo r g e s c h i c h t e D e s Pr oz e s se s<br />

Was geschieht mit einem Menschen, der in die Fänge<br />

des modernen FSB gerät ? Nicht jener Tscheka aus dem<br />

Jahre 1937, wie wir sie aus Büchern, aus Alexander Solshenizyns<br />

»Archipel GULAG« kennen, nein, eines neuzeitlichen,<br />

sehr gegenwärtigen FSB, den das Land mit<br />

Steuermitteln unterhält. Darüber wird in <strong>Russland</strong> heute<br />

viel geredet und gemutmaßt. Keiner weiß etwas Genaues,<br />

aber jeder hat Angst, wie früher. Und genau wie früher,<br />

unter dem Sowjetsystem, dringt nur sehr selten etwas<br />

nach außen.<br />

Der Fall Chassuchanow ist so eine Ausnahme. Erst<br />

wenn man sämtliche alptraumhafte Einzelheiten dieses<br />

Falls kennt, versteht man den ungeheuerlichen Sinn der<br />

Worte, die der Angeklagte Islam Chassuchanow vor der<br />

Urteilsverkündung sprach : »Im September 2000 war ich<br />

in vielem nicht einverstanden mit Maschadow und habe<br />

ihm das auch nicht verschwiegen, mir schwebten andere<br />

Lösungen vor … Doch jetzt, nach allem, was ich durchgemacht<br />

habe, bin ich mit ihm einer Meinung.«<br />

Aus den Akten der Strafsache Nr. 56/17 geht hervor,<br />

dass Islam Chassuchanow am 27. April 2002 in der Majakowski-Straße<br />

der tschetschenischen Kreisstadt Schali<br />

66


festgenommen wurde wegen unerlaubten Waffenbesitzes,<br />

gemäß Paragraf 222 des Strafgesetzbuches der Russischen<br />

Föderation. Diese Waffe musste folglich das entscheidende<br />

<strong>In</strong>diz sein.<br />

Doch als die bewaffneten und wie üblich maskierten<br />

Männer im Morgengrauen das Haus stürmten, in dem<br />

Chassuchanows Familie damals bei Verwandten wohnte,<br />

und den Reserveoffizier abführten, hielten sie es nicht<br />

einmal für nötig, ihm dieses <strong>In</strong>diz »unterzujubeln«. Eine<br />

eigene Waffe aber besaß Chassuchanow nicht. Die Sondereinheiten,<br />

die in Tschetschenien Jagd auf »internationale<br />

Terroristen« machen und sich schon lange in der<br />

absoluten Sicherheit wiegen, unantastbar zu sein, folgten<br />

diesmal dem Hinweis eines <strong>In</strong>formanten. Sicher meinten<br />

sie, einen »Führer der illegalen bewaffneten Formationen«<br />

dingfest machen zu können. Und dessen Schicksal<br />

wäre ohnehin vorprogrammiert gewesen : der Tod. Deshalb<br />

findet sich in keinem einzigen Prozessdokument<br />

auch nur irgendein Hinweis auf eine Waffe als Beweisstück,<br />

ganz gleich ob Pistole oder Maschinengewehr.<br />

Paragraf 222 aber wurde weiterhin angewandt. Wie<br />

im Übrigen auch das falsche Verhaftungsdatum nicht<br />

berichtigt wurde, denn in Wirklichkeit war Chassuchanow<br />

nicht am 27. April, sondern bereits am 20. April festgenommen<br />

worden. Typisch für die »Anti-Terror-Operation«<br />

in Tschetschenien : Ein Mensch wird an einen<br />

unbekannten Ort verschleppt, und die erste Woche nach<br />

seinem Verschwinden ist die schlimmste. Der Mensch<br />

ist quasi unauffindbar, kein einziges Rechtsschutzorgan<br />

67


führt ihn in seinen Listen, seine Nächsten suchen überall,<br />

aber er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Und<br />

in dieser Zeit prügeln die Geheimdienste alles aus ihm<br />

heraus, was sie brauchen.<br />

An die Tage zwischen dem 20. und dem 27. April kann<br />

sich Chassuchanow nicht genau erinnern, er war wie<br />

in Agonie, die Dinge verschwammen vor seinen Augen.<br />

Schläge – Spritzen – Schläge – Spritzen … Das ist alles,<br />

was er noch weiß. Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung,<br />

zehn Monate später : »Die ersten sieben Tage<br />

verbrachte ich im Gebäude des FSB in Schali. Dort wurde<br />

ich geschlagen. Seitdem habe ich vierzehn Rippenbrüche,<br />

der Knochensplitter einer Rippe ist in die Niere eingedrungen<br />

…«<br />

Was wollte der FSB von Chassuchanow wissen, bevor<br />

man ihn totschlagen würde ? Er sollte die Geheimdienstler<br />

auf Maschadows Spur bringen, danach konnte er<br />

sterben. Das Problem war nur, dass Chassuchanow die<br />

gewünschten <strong>In</strong>formationen partout nicht lieferte – und<br />

partout nicht verrecken wollte. Dem stand seine ausgezeichnete<br />

Kondition als U-Boot-Offizier entgegen.<br />

Deshalb beschloss man am 30. April, Chassuchanows<br />

Verhaftung einen gesetzlichen Rahmen zu geben. Dazu<br />

wurde er – auf der Grundlage einer entsprechenden<br />

Überführungsorder des damaligen Staatsanwalts von<br />

Tschetschenien, Alexander Nikitin – in eine Einzelhaftzelle<br />

im Untersuchungsgefängnis eines anderen tschetschenischen<br />

Kreiszentrums, der Siedlung Snamenskaja,<br />

gebracht. <strong>In</strong> ebenjenes Untersuchungsgefängnis, das ein<br />

68


Selbstmordattentäter am 12. Mai 2003 mit einer Sprengladung<br />

dem Erdboden gleichmachte. Nach dem Anschlag<br />

ging unter den Tschetschenen die Rede, nicht umsonst<br />

habe es gerade diesen Ort getroffen, wo so viele Menschen<br />

gefoltert worden waren, wo man so viele, die die<br />

Folter nicht überlebten, heimlich irgendwo in der Umgebung<br />

verscharrt hatte.<br />

Als Chassuchanow in Snamenskaja ankam, war er ein<br />

lebendiger Leichnam, ein Sack Fleisch. Doch er atmete<br />

noch. Also gingen die Torturen weiter. Unter der Führung<br />

von Oberstleutnant Anatoli Tscherepnew, dem stellvertretenden<br />

Leiter der Ermittlungsabteilung in der für Tschetschenien<br />

zuständigen Verwaltung des <strong>In</strong>landsgeheimdienstes.<br />

Tscherepnew war Untersuchungsführer im Fall<br />

Chassuchanow und zugleich derjenige, der die Folterungen<br />

zur gewaltsamen Erpressung von Aussagen dirigierte.<br />

Welche <strong>In</strong>formationen sollte ihm Chassuchanow liefern ?<br />

Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung :<br />

– »Weswegen wurde gegen Sie Gewalt angewendet ?«<br />

– »<strong>In</strong> allen Verhören ging es nur um die Frage, wo<br />

sich Maschadow aufhält und wo das U-Boot ist, das ich<br />

angeblich entführen wollte. Wegen dieser beiden Fragen<br />

wurde gegen mich Gewalt angewendet …«<br />

Im Hinblick auf den ersten Aspekt, der Tscherepnew<br />

so sehr interessierte, schien die Sache mehr oder weniger<br />

aussichtslos : Chassuchanow wollte den FSB nicht auf<br />

die Fährte Maschadows bringen. Weil er es nicht konnte :<br />

Er hatte Aslan Maschadow im Jahr 2000 zum letzten<br />

69


Mal persönlich gesehen, übte selbst keinerlei Führungsfunktion<br />

aus, und wenn es Kontakte zu Maschadow<br />

gab, dann nur virtuell, vermittels Tonbandbotschaften.<br />

Hielt es Maschadow für nötig, besprach er eine Kassette,<br />

schickte einen Kurier (von denen einer den FSB auf<br />

Chassuchanow aufmerksam machte) und erwartete von<br />

Zeit zu Zeit eine Antwort. Das letzte Mal erhielt Chassuchanow<br />

im Januar 2002 eine derartige Kassette, auf<br />

die er im April 2002, zwei Tage vor seiner Verhaftung,<br />

antwortete. Was enthielt sie ? Üblicherweise bat Maschadow<br />

Chassuchanow darum festzuhalten, welchem Feldkommandeur<br />

er, Maschadow, wie viel Geld gegeben hatte.<br />

Warum der ehemalige Präsident gerade Chassuchanow<br />

damit betraute, wird später zur Sprache kommen.<br />

Zunächst aber noch ein Wort zum Thema »U-Boot-<br />

Entführung«, das eine genauere Betrachtung verdient.<br />

Chassuchanow war, wie bereits erwähnt, bei seinem Ausscheiden<br />

aus den Streitkräften Kapitän zur See, hatte<br />

einen hohen Kommandeursposten inne. Und er war<br />

der einzige Tschetschene, der jemals – in sowjetischen<br />

wie postsowjetischen Zeiten – ein Atom-U-Boot befehligte.<br />

Was Tscherepnew auf den Gedanken brachte, ihm<br />

eine »von Mitgliedern illegaler bewaffneter Formationen<br />

geplante Besetzung eines nuklearen U-Boots, die Übernahme<br />

der Kontrolle über die Atomsprengladung, die<br />

Geiselnahme von Duma-Abgeordneten zwecks Erzwingung<br />

einer Verfassungsänderung durch Androhung einer<br />

Sprengung der atomaren Ladungen und Ermordung der<br />

Geiseln« anzulasten. Das oben stehende Zitat stammt<br />

70


aus einem an die Staatsanwaltschaft Tschetscheniens<br />

gerichteten Antrag des Chefermittlers auf nochmalige<br />

Verlängerung der Untersuchungshaft für Chassuchanow.<br />

Dem Gesuch wurde, wie bereits allen anderen zuvor, in<br />

Abwesenheit des Untersuchungshäftlings stattgegeben.<br />

Doch Tscherepnews Plan ging nicht auf. Chassuchanow<br />

legte kein Geständnis ab – und konnte es wiederum<br />

auch gar nicht, hatte er doch im Jahr 1992 das U-Boot<br />

selbst »gebaut«. So nennt es die Flotte, wenn der Kommandeur<br />

namens der Besatzung die Entstehung des »zukünftigen<br />

Einsatzortes« in der Werft verfolgt und begleitet.<br />

Dieses Boot war ihm so teuer wie kein anderes, er<br />

hätte es niemals entführen können.<br />

Tscherepnew bereitete das Thema »Besetzung eines<br />

Atom-U-Boots« gründlich vor. Der FSB fabrizierte Dokumente,<br />

die angeblich von tschetschenischen Rebellen<br />

nach Chassuchanows geheimen Angaben verfasst worden<br />

waren : »Arbeitsplan der tschetschenischen illegalen<br />

bewaffneten Formationen zur Durchführung eines Sabotageaktes<br />

auf dem Territorium der Russischen Föderation<br />

und selbst verfertigte Karten zur Aufstellung der 4. Flottille<br />

atomar betriebener U-Boote der Pazifik-Flotte …«<br />

sowie »Plan zur Durchführung eines Sabotageakts auf<br />

dem Territorium <strong>Russland</strong>s«. Selbstverständlich mit<br />

dem Zusatz : »Die Ausarbeitung der Operation erfolgte<br />

auf der Grundlage einer Sicht- und Agenturaufklärung<br />

des betreffenden Gebietes im Dezember 1995«. Hierunter<br />

sollte Chassuchanow seinen Namen setzen. Was er<br />

nicht tat. Worauf die Schläge immer abgefeimter wur-<br />

71


den, obwohl es an Chassuchanows Körper bereits keine<br />

heile Stelle mehr gab. Nun schlug man ihn, weil er den<br />

schönen Plan des FSB durchkreuzte.<br />

Das Einzige, was Tscherepnew aus Chassuchanow<br />

herausprügeln konnte, war dessen – durch Folter und<br />

Psychopharmaka erzwungene – Bereitschaft, leere Formblätter<br />

für »Befehle und Gefechtsanweisungen Maschadows«<br />

blanko zu unterschreiben, zu »authentisieren«, wie<br />

es später im Gerichtsurteil heißen würde. Tscherepnew<br />

fügte dann ein, was er für nötig hielt. Wie diese Fälschungen<br />

aussahen, soll ein Beispiel aus der Anklageschrift<br />

zeigen :<br />

»Am 2. September 2000 erteilte Chassuchanow allen<br />

Feldkommandeuren Befehl, auf den Straßen und Fahrrouten<br />

der föderalen Kräfte kleine Nägel, Bolzen, Schrauben<br />

und Metallringe zu verstreuen, um damit Minen<br />

und Sprengladungen zu tarnen … Unter Ausnutzung seiner<br />

führenden Rolle in den illegalen bewaffneten Formationen<br />

verleitete Chassuchanow mit seinen vorsätzlichen<br />

Handlungen andere Mitglieder dieser Formationen zur<br />

Verübung von Terrorakten, die sich gegen die Durchsetzung<br />

der verfassungsmäßigen Ordnung auf dem Territorium<br />

der Tschetschenischen Republik richteten …«<br />

Außerdem verlangte Tscherepnew von Chassuchanow,<br />

dass dieser sämtliche Vernehmungsprotokolle ungeprüft<br />

unterschrieb. Wie es um deren Qualität stand, zeigt<br />

der folgende Auszug, bei dem man sich als Fragenden<br />

Tscherepnew vorzustellen hat, während die »Antwort«<br />

Islam Chassuchanow in den Mund gelegt wird.<br />

72


– »Ihnen liegt eine Kopie des Aufrufs Nr. 215 vom 25.<br />

November 2000 vor, der sich an die Offiziere <strong>Russland</strong>s<br />

richtet. Was können Sie dazu aussagen ?«<br />

– »Die Vorbereitung und Verbreitung derartiger Dokumente<br />

war Bestandteil der Propaganda, die die operative<br />

Verwaltung der Streitkräfte der Tschetschenischen<br />

Republik Itschkerija unter meiner unmittelbaren Leitung<br />

durchführte. Der <strong>In</strong>halt des Aufrufs sollte der Darstellung<br />

des Verlaufs der ›Anti-Terror-Operation‹ in den russischen<br />

Medien entgegenwirken. Ich war mir darüber im<br />

Klaren, dass die Verbreitung derartiger Dokumente zu<br />

einer Destabilisierung der Lage auf dem Territorium der<br />

Tschetschenischen Republik führen kann, setzte meine<br />

Handlungen jedoch fort …«<br />

Das ist typischer Militärduktus. Um ein solches Material<br />

zusammenzustöppeln, wurde Chassuchanow in Snamenskaja<br />

einen Monat lang gefoltert.<br />

Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung :<br />

– »Als ich wegen der Schläge bereits nichts mehr verstand<br />

und auf nichts mehr reagierte, erhielt ich wieder<br />

<strong>In</strong>jektionen und wurde dem FSB Nordossetiens überstellt.<br />

Doch wollte man mich nicht in das Untersuchungsgefängnis<br />

aufnehmen, weil ich so zugerichtet war. Der Arzt<br />

sagte, ich würde in zwei Tagen sterben, deshalb brachten<br />

sie mich in den Militärbetrieb JaN 68-1, ins Sägewerk.«<br />

– »Wurden Sie medizinisch versorgt ?«<br />

– »Ich lag einfach im Sägewerk, versuchte drei Monate<br />

lang, zu mir zu kommen.«<br />

73


Was ist das für ein Sägewerk ? <strong>In</strong> den Berichten über<br />

Menschen, die in Tschetschenien nach Säuberungen spurlos<br />

verschwanden, spielt dieser Ort immer wieder eine<br />

Rolle. Einige, die dorthin gerieten und überlebten, nennen<br />

ihn nach alter, noch aus Stalinzeiten stammender<br />

Tradition »Holzeinschlag«, andere sprechen von einem<br />

»Sägewerk«. Die offizielle Bezeichnung lautet Einrichtung<br />

Nr. JaN 68-1 des Justizministeriums der Republik<br />

Nordossetien. Man weiß von diesem Sägewerk, dass die<br />

Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane, vor allem des FSB,<br />

dort tatsächlich Halbtotgeschlagene abliefern, ohne jegliche<br />

Papiere ; Menschen, die nach der Begegnung mit den<br />

föderalen Kräften aufgehört haben zu existieren.<br />

Den Verantwortlichen im Sägewerk JaN 68-1 sei Dank<br />

dafür, dass sie diese Menschen ohne Identität aufnehmen,<br />

was eigentlich ungesetzlich ist. Manch einer konnte dadurch<br />

dem sicheren Tod entrinnen. Von denen, die die<br />

Föderalen nur aus Trägheit nicht bereits auf dem Weg<br />

nach Ossetien erschossen, oder denen, die man nach<br />

einer entsprechenden »Behandlung« hier zum Sterben<br />

ablieferte, um sich selbst nicht die Hände schmutzig zu<br />

machen. Wie viele Menschen hier während des zweiten<br />

Tschetschenien-Kriegs umkamen und wer sie waren,<br />

weiß niemand. Dafür kennen wir einige, die wie durch<br />

ein Wunder überlebten. Beispielsweise Islam Chassuchanow.<br />

Ein Bewacher hatte Mitleid mit ihm, einfach Mitleid.<br />

Er brachte dem Halbtoten immer von zu Hause<br />

frische Kuhmilch mit.<br />

So kam Chassuchanow wieder auf die Beine – und<br />

74


sah sich erneut Oberstleutnant Anatoli Tscherepnew<br />

gegenüber. <strong>In</strong> der FSB-Verwaltung für Tschetschenien<br />

gilt die Regel : Wer überlebt, kommt vor Gericht. Und da<br />

nur wenige überleben, gibt es folglich auch nicht viele<br />

Prozesse gegen »internationale Terroristen«. Aber man<br />

braucht diese Verfahren, braucht im Rahmen der »Anti-<br />

Terror-Operation« ein paar verurteilte Terroristen, weil<br />

die westlichen Politiker hin und wieder von Präsident<br />

Putin Rechenschaft darüber fordern, und der verlangt<br />

das Gleiche vom <strong>In</strong>landsgeheimdienst und der Generalstaatsanwaltschaft.<br />

Deshalb sind sie schnell bei der<br />

Hand mit Prozessen. Wenn es denn jemanden gibt, der<br />

überlebt und vor Gericht gestellt werden kann.<br />

Wl a D i k aW k a s<br />

Wladikawkas ist die Hauptstadt der an Tschetschenien<br />

und <strong>In</strong>guschetien grenzenden Republik Nordossetien-<br />

Alanija, und die wiederum fungiert als gleichberechtigte<br />

Mitstreiterin bei der »Anti-Terror-Operation«. <strong>In</strong><br />

Ossetien befindet sich der Hauptstützpunkt Mosdok, in<br />

dem die Einheiten der föderalen Streitkräfte für den Einsatz<br />

in Tschetschenien zusammengestellt werden. Deshalb<br />

wurde gerade Mosdok zum Schauplatz von zwei<br />

schweren Terrorakten : Am 5. Juni 2003 sprengte sich<br />

eine Selbstmordattentäterin in einem Bus, der Militärpiloten<br />

beförderte, in die Luft, und am 1. August desselben<br />

Jahres raste ein Lastwagen, beladen mit einer Tonne<br />

Sprengstoff, in das Gebäude des Militärhospitals.<br />

75


Wladikawkas ist der Ort, an dem traditionell die meisten<br />

Schauprozesse gegen »internationale Terroristen«<br />

stattfinden. Viele Anwälte in der Stadt agieren, wenn<br />

sie in solchen Fällen als Verteidiger berufen werden, in<br />

enger Kooperation mit Gericht, <strong>In</strong>landsgeheimdienst und<br />

Staatsanwaltschaft, unterstützen mehr das Bestreben des<br />

FSB, einen »internationalen Terroristen« zu entlarven, als<br />

die Belange ihrer Mandanten.<br />

Die Mitarbeiter der Verwaltung des <strong>In</strong>landsgeheimdienstes<br />

für Tschetschenien arbeiten hier oftmals lange,<br />

bringen <strong>In</strong>haftierte gern zu Vernehmungen in die örtliche<br />

FSB-Verwaltung, um möglichst weit weg zu sein<br />

vom Krieg. Schließlich will jeder leben.<br />

So war es auch diesmal. Tscherepnew kam nach Wladikawkas<br />

zu Chassuchanow, und seine erste Tat bestand<br />

darin, dem Gefangenen einen Verteidiger beizugeben.<br />

Man beachte : Seit dem 1. Juli 2003 gilt in <strong>Russland</strong> eine<br />

neue Strafprozessordnung, so neu und fortschrittlich,<br />

dass sie es mit den besten europäischen Standards aufnehmen<br />

kann. Und diese Strafprozessordnung verbietet<br />

schlechthin, einen Verdächtigen ohne Anwalt zu vernehmen.<br />

Aber wenn nötig, verfällt man eben doch wieder in<br />

die alten Handlungsmuster : Chassuchanow hatte vom 20.<br />

April bis zum 9. Oktober 2002 – ein geschlagenes halbes<br />

Jahr lang – keinen Verteidiger. Der trat erst auf den Plan,<br />

als Chassuchanows Wunden verheilt, die gebrochenen<br />

Rippen zusammengewachsen waren, sodass man ihn für<br />

einen Gerichtsprozess »bereitmachen« konnte.<br />

<strong>In</strong>teressant, wie man dabei zu Werke ging. Am 8. Ok-<br />

76


tober 2002 rief Tscherepnew Chassuchanow zu einer Vernehmung,<br />

erklärte, er solle ein Gesuch an ihn, Tscherepnew,<br />

richten und diktierte auch gleich den Wortlaut : »Ich<br />

bitte Sie, mir für die Voruntersuchung einen Verteidiger<br />

zur Verfügung zu stellen … Bisher habe ich anwaltliche<br />

Dienste nicht benötigt und mache deshalb auch keine<br />

diesbezüglichen Beanstandungen gegenüber den Untersuchungsbehörden<br />

geltend … Die Auswahl des Anwalts<br />

steht im Ermessen des Untersuchungsführers …«<br />

Am 9. Oktober wurde Chassuchanow zum ersten Mal<br />

im Beisein des Anwalts Alexander Dsilichow aus Wladikawkas<br />

vernommen. Natürlich betrachtete ihn Chassuchanow<br />

nicht als seinen Verteidiger, sondern einfach<br />

als einen weiteren Mitarbeiter des FSB, der sich als Anwalt<br />

ausgab. Etwas anderes hätte Chassuchanow auch<br />

gar nicht annehmen können. Im Übrigen tat Dsilichow<br />

wenig, um das Vertrauen seines Mandanten zu gewinnen.<br />

Er erteilte Chassuchanow keinerlei Ratschläge, saß<br />

nur schweigend bei den Vernehmungen.<br />

Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung :<br />

– »Können Sie sagen, dass ein Unterschied besteht zwischen<br />

den Aussagen, die Sie vor der Einschaltung des<br />

Anwalts machten, und denen danach ? Worin besteht<br />

dieser Unterschied ?«<br />

– »Ja, es gibt einen Unterschied. Früher konnte ich am<br />

Ende der Vernehmung das Protokoll nicht lesen, nach<br />

Einschaltung des Anwalts erhielt ich es zum Lesen …«<br />

<strong>In</strong>sgesamt gab es drei Vernehmungen in Dsilichows<br />

77


Beisein, am 9., 23. und 24. Oktober. Richtiger wäre zu<br />

sagen, dass Tscherepnew an diesen drei Tagen einfach<br />

die in Snamenskaja aus Chassuchanow herausgeprügelten<br />

Aussagen auf neue Formblätter übertrug und sie so zu<br />

»Aussagen gemäß Strafprozessordnung« machte.<br />

Als letzten Tag der Voruntersuchung legte Tscherepnew<br />

den 25. Oktober fest und erklärte, Chassuchanow<br />

werde demnächst die Anklageschrift zur Einsichtnahme<br />

erhalten und müsse diesen Text schnellstmöglich unterschreiben.<br />

Und damit sich Chassuchanow erst gar keine<br />

Illusionen machte, wurde er am 29. Oktober erneut für<br />

zwei Tage aus dem Untersuchungsgefängnis irgendwohin<br />

verbracht – natürlich ohne Anwalt. Wohin genau, weiß<br />

Chassuchanow nicht, denn man stülpte ihm einen Sack<br />

über den Kopf. Doch zu welchem Zweck, das verstand<br />

er sehr bald, weil das Ganze einem Gang zur Exekution<br />

glich. »Das war’s dann, jetzt ist es aus mit dir«, kommentierten<br />

seine Bewacher und ließen die Gewehrschlösser<br />

knacken. Natürlich handelte es sich um eine vorgetäuschte<br />

Hinrichtung, mit der man ihn einschüchtern<br />

wollte, damit er keinen Widerstand leistete und alles<br />

unterschrieb, was in der Anklageschrift stand.<br />

Chassuchanow unterschrieb, keine Frage. Wer einmal<br />

vor einem Erschießungskommando stand, der weiß, dass<br />

Widerstand zwecklos ist. Und wer es nicht erlebt hat,<br />

sollte Dostojewski lesen. Doch Chassuchanows Wille war<br />

noch nicht gebrochen, in dem nachfolgenden Gerichtsprozess<br />

widerrief er alle Aussagen, auf denen die vom<br />

neuen Staatsanwalt Tschetscheniens, Wladimir Krawt-<br />

78


schenko, sanktionierte Anklageschrift fußte. Der Text<br />

dieser Anklageschrift wanderte dann fast ungekürzt in<br />

die Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters Valeri<br />

Dshiojew.<br />

Die folgenden Zitate aus Anklageschrift und Urteilsbegründung<br />

erfordern einige Kommentare. Um aufzuzeigen,<br />

wie die Prozessdokumente in derartigen Verfahren<br />

fabriziert, oder besser : skrupellos zusammengeschustert<br />

werden. Sind sich die Beteiligten doch der vollen Unterstützung<br />

»von oben« gewiss, was sie nicht einmal mehr<br />

fürchten lässt, diese Dokumente könnten vielleicht erhalten<br />

bleiben für die Geschichte, die ja in <strong>Russland</strong> traditionell<br />

von Zeit zu Zeit umgeschrieben wird.<br />

»Im April 1999 wurde Chassuchanow … Mitglied einer<br />

bewaffneten Formation, die der Gesetzgebung der Russischen<br />

Föderation zuwiderläuft … Chassuchanow trat<br />

in Kontakt zu einem Stellvertreter Maschadows, Magomed<br />

Chambijew. Der bot ihm an, mit seiner Erfahrung<br />

Maschadow beim Aufbau der ›Militärinspektion‹ genannten<br />

illegalen bewaffneten Formation zu helfen …«<br />

Und was geschah wirklich ? Nach Chassuchanows Ausscheiden<br />

aus dem aktiven Militärdienst kehrte er nach<br />

Hause zurück, ließ sich in Grosny nieder. Ihm, dem<br />

ranghohen Offizier mit akademischer Bildung, wie es<br />

ihn unter den Tschetschenen kein zweites Mal gab, unterbreitete<br />

Aslan Maschadow den Vorschlag, in seiner<br />

Verwaltung mitzuarbeiten. Bei dieser Verwaltung handelte<br />

es sich 1999 um eine ganz normale, von Moskau<br />

79


finanzierte Republiksregierung, und Maschadow war der<br />

gewählte, von Moskau anerkannte Präsident der Republik<br />

Tschetschenien. Die Gründung der Militärinspektion,<br />

in der Chassuchanow tätig sein sollte, war ein Gebot<br />

der Stunde. Die tschetschenischen Staatsdiener stahlen<br />

ungeniert, wie übrigens auch die russischen, und der<br />

Präsident brauchte einen kompetenten Mann, der insbesondere<br />

die über militärische Kanäle fließenden Finanzströme<br />

kontrollieren konnte. Sie stammten in erster<br />

Linie aus dem Staatshaushalt der Russischen Föderation.<br />

Was für eine »illegale bewaffnete Formierung«<br />

sollte diese Militärinspektion also sein ?<br />

Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung :<br />

– »Hielten Sie die Handlungen von Präsident Maschadow<br />

für rechtmäßig ?«<br />

– »Ja. Ich konnte nicht wissen, dass Maschadow, die<br />

Regierung und die Militärbehörden für ungesetzlich<br />

erklärt werden würden. Ich ging davon aus, dass Maschadow<br />

der Präsident und von der Führung der Russischen<br />

Föderation anerkannt war, es gab offizielle Treffen mit<br />

seinen Ministern, Mittel wurden bereitgestellt, und natürlich<br />

wusste ich nicht, dass ich in eine illegale bewaffnete<br />

Formation eintrete …«<br />

– »Sie überprüften die Finanz- und Wirtschaftstätigkeit<br />

des <strong>In</strong>nenministeriums der Tschetschenischen Republik<br />

Itschkerija ?«<br />

– »Ja. Im Juni 1999 erstattete ich Maschadow Bericht<br />

über die Ergebnisse der Revision. Ich führte vollständig<br />

80


auf, wofür Geld ausgegeben worden war. Sämtliche Daten<br />

wurden auf offiziellem Wege ermittelt. Ich konnte nicht<br />

vermuten, irgendetwas Ungesetzliches zu tun.«<br />

Zu Chassuchanows Aufgaben vor Ausbruch des zweiten<br />

Tschetschenien-Krieges gehörte es tatsächlich, die<br />

Finanz- und Wirtschaftstätigkeit des tschetschenischen<br />

<strong>In</strong>nenministeriums zu überprüfen sowie ein System zu<br />

entwickeln, das die Erfassung und Kontrolle sämtlicher<br />

der Republik für den Unterhalt der militärischen Strukturen<br />

(<strong>In</strong>nenministerium, National- und Präsidialgarde<br />

sowie Hauptstab) zufließenden Mittel gestattete. Im Sommer<br />

1999 fand er heraus, dass über den Hauptstab beträchtliche<br />

Summen für die Anschaffung von Waffen<br />

und Ausrüstungen eingingen, das Verteidigungsministerium<br />

dafür aber beispielsweise in einem Rüstungsbetrieb<br />

in Grosny Granatwerfer bestellt hatte, die erkennbar<br />

gefechtsuntauglich waren. Eine bewusste Veruntreuung<br />

von Staatsgeldern. Nicht anders verhielt es sich mit den<br />

Uniformen : Sie wurden in der tschetschenischen Stadt<br />

Gudermes genäht, für 60 Rubel pro Ausrüstungssatz,<br />

während sie in den Unterlagen als »gefertigt im Baltikum«<br />

– und damit als weitaus teurer – erschienen.<br />

Über all diese Fälle erstattete Chassuchanow dem Präsidenten<br />

Bericht, mit dem Ergebnis, dass er sehr bald<br />

Probleme mit den Vertretern der bewaffneten Strukturen<br />

im Umfeld Maschadows bekam. Doch Maschadow<br />

ernannte Chassuchanow bereits nach einer Woche Arbeit<br />

bei der Militärinspektion zum Chef seines Stabes. Weil<br />

er nichts so dringend brauchte wie ehrliche Leute. Das<br />

81


war Ende Juli 1999. Anfang August nahm Chassuchanow<br />

seine Tätigkeit als Stabschef auf. Wenige Tage vor<br />

Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges, an dem er<br />

sich nicht beteiligte.<br />

Liest man die Protokolle der Gerichtsverhandlungen<br />

(das Verfahren fand hinter verschlossenen Türen statt),<br />

wird man den Eindruck nicht los, dass der Prozess einem<br />

vorgegebenen Schema folgte. Quasi von vornherein stand<br />

fest, dass Chassuchanow verurteilt werden sollte, zu einer<br />

langen Haftstrafe und für ein kapitales Verbrechen. Was<br />

natürlich so nicht in den Akten steht, sich aber anhand<br />

indirekter Hinweise ableiten lässt. Vielleicht hat Chassuchanow<br />

ja damals, im Sommer 1999, etwas herausgefunden,<br />

was ihm dann in den Jahren 2002–2003 zum<br />

Verhängnis wurde : jenes geheimnisvolle Verschwinden<br />

von Geldern, die aus dem Staatshaushalt für die militärischen<br />

Strukturen Tschetscheniens bereitgestellt wurden<br />

und über die Kanäle der föderalen Militärstrukturen<br />

flossen. Könnte hier der Grund liegen, warum<br />

man Chassuchanow verurteilt sehen wollte ? Jener Diebstahl<br />

in großem Maßstab also, der, wie viele vermuten,<br />

mit zum Ausbruch des zweiten Tschetschenien-Krieges<br />

führte, weil sich dadurch die Spuren ein für alle Mal<br />

verwischen ließen ? Und lehnt die Militärführung <strong>Russland</strong>s<br />

vielleicht gerade deshalb Friedensverhandlungen<br />

so vehement ab ?<br />

Ein weiterer Auszug aus der Anklageschrift und Urteilsbegründung<br />

:<br />

82


»Chassuchanow, der aktiv an der Tätigkeit der illegalen<br />

bewaffneten Formation teilnahm, beschäftigte<br />

sich 1999 mit Fragen ihrer Finanzierung … Er konzipierte<br />

ein System zur Erfassung der Mittel, die für die<br />

Unterhaltung der illegalen militärischen Formationen<br />

›Nationalgarde‹ und ›Hauptstab‹ sowie für das <strong>In</strong>nenministerium<br />

der selbst ernannten Republik Itschkerija<br />

bereitgestellt wurden, und setzte es in die Praxis um.<br />

<strong>In</strong> dieser Eigenschaft bewies er organisatorische und<br />

fachliche Qualitäten, weshalb Maschadow Chassuchanow<br />

Ende Juli 1999 zum Chef seines Stabes ernannte.<br />

Chassuchanow war aktiv beteiligt an der Tätigkeit der<br />

genannten illegalen bewaffneten Formation, wirkte mit<br />

bei der Erarbeitung der grundlegenden Beschlüsse zum<br />

Widerstand einschließlich bewaffneter Aktionen gegen<br />

die Kräfte der föderalen Regierung bei der Durchsetzung<br />

der verfassungsmäßigen Ordnung auf dem Territorium<br />

der Tschetschenischen Republik …«<br />

Man könnte über diesen Unfug lachen. Wüsste man<br />

nicht, welchen Preis Islam Chassuchanow für die dreiste<br />

Verfälschung der Wirklichkeit zahlte.<br />

Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung :<br />

– »Führen Sie aus, welche Notwendigkeit dafür bestand,<br />

dass Sie sich seit Beginn der Kampfhandlungen und bis<br />

zum Tag Ihrer Verhaftung in Tschetschenien aufhielten.«<br />

– »Ich erachtete es für unmöglich, Maschadow den<br />

Rücken zu kehren, weil ich ihn als den gewählten Präsidenten<br />

ansah. Ich selbst konnte den Krieg nicht beenden<br />

83


und tat alles, was in meinen Kräften stand … Manchmal<br />

habe ich Maschadows Bitten erfüllt … Ich war außer<br />

Stande, in die Wälder zu gehen, aber was ich tun konnte,<br />

wollte ich tun. Ich habe gesehen, wie die Leute umkommen,<br />

und ich weiß, wie die verfassungsmäßige Ordnung<br />

durchgesetzt wird. Ich werde nie verhehlen, dass dieser<br />

ganze Krieg Völkermord ist. Aber ich habe niemals zur<br />

Verübung von Terrorakten aufgerufen.«<br />

– »Und zur Vernichtung der föderalen Truppen ?«<br />

– »Um zu etwas aufzurufen, muss man Menschen führen.<br />

Ich habe sie nicht geführt.«<br />

– »War irgendeiner der Feldkommandeure Ihnen direkt<br />

unterstellt ?«<br />

– »Nein.«<br />

Vor mir liegen Dokumente, die vertraulich sind, nur<br />

zum Dienstgebrauch bestimmt : <strong>In</strong> Vorbereitung auf den<br />

Prozess gegen Chassuchanow verschickte Tscherepnew an<br />

sämtliche FSB-Kreisverwaltungen in Tschetschenien Anfragen,<br />

welche »Akte von Terrorismus« in ihren Zuständigkeitsbereichen<br />

»auf Anordnung des Chefs des operativen<br />

Stabes der Streitkräfte der Republik Tsche tschenien,<br />

Islam Chassuchanow,« verübt wurden. Gemeint sind jene<br />

»Anordnungen«, die Chassuchanow während der Ermittlungen<br />

blanko unterschrieben hatte und die dann von<br />

Tscherepnew abgefasst worden waren. So, wie der Chefermittler<br />

sie brauchte.<br />

Natürlich erklärten alle Leiter der Kreisverwaltungen<br />

in schöner Einmütigkeit : Keine. Chassuchanow steht<br />

nicht in Verbindung mit irgendeinem Terrorakt. Doch<br />

84


die Maschinerie, die auf eine unbedingte Verurteilung<br />

Chassuchanows hinarbeitete, stand nicht still. Das »führende<br />

Mitglied einer illegalen bewaffneten Formation«,<br />

wie man Chassuchanow jetzt titulierte, musste hinter Gitter,<br />

allen Fakten und der Beweislage zum Trotz. Also ließ<br />

das Gericht die vertraulichen Unterlagen vollkommen<br />

unbeachtet. Nicht anders als die Staatsanwaltschaft.<br />

De r Pr o z e s s<br />

Das Verfahren gegen Islam Chassuchanow ging unter<br />

Ausschluss der Öffentlichkeit und in rasantem Tempo<br />

über die Bühne. Die Verhandlung im Obersten Gericht<br />

der Republik Nordossetien-Alanija unter Vorsitz von<br />

Richter Valeri Dshiojew dauerte vom 14. Januar bis zum<br />

25. Februar 2003. Dieses Gericht fand reinweg gar nichts<br />

beanstandenswert : Nicht die Tatsache, dass man Chassuchanow<br />

sechs Monate lang einen Anwalt vorenthielt,<br />

nicht den Umstand, dass diesen Anwalt schließlich diejenigen<br />

aussuchten, die den Angeklagten misshandelt<br />

hatten. Nicht die Tatsache, dass der Angeklagte zwischen<br />

dem 20. und dem 27. April an einem unbekannten Ort<br />

festgehalten worden war. Und auch nicht, dass man ihn<br />

gefoltert hatte. Zwar konstatierte das Gericht den Tatbestand<br />

der Folterung, reagierte aber in keiner Weise<br />

darauf, wie nachstehendes Zitat aus der Urteilsbegründung<br />

verdeutlicht : »Im Verlauf der Ermittlungen legte<br />

Chassuchanow kein Geständnis ab, musste aber unter<br />

dem psychologischen und physischen Druck von Seiten<br />

85


der Mitarbeiter des FSB die vorgefertigten Vernehmungsprotokolle<br />

unterschreiben.«<br />

»Sie haben gesagt, gegen Sie sei Gewalt angewendet<br />

worden ?«, fragte der Richter den Angeklagten. »Können<br />

Sie die Namen derjenigen nennen, von denen diese<br />

Gewalt ausging ?« Chassuchanow antwortete : »Das kann<br />

ich nicht. Weil ich sie nicht kenne.«<br />

Und da die Folterknechte ihrem Opfer vor den Misshandlungen<br />

nicht erst die Personalausweise gezeigt hatten,<br />

setzte das Gericht ungerührt die Verhandlungen fort<br />

und verweigerte dem Angeklagten mit dem deformierten<br />

Schädel sogar ein medizinisches Gutachten. Das Höchste,<br />

wozu sich dieses Gericht aufschwingen konnte, war, den<br />

Direktor des »Sägewerks«, Teblojew, zu befragen, ob sich<br />

Chassuchanow in der Sanitätsstelle der Einrichtung JaN<br />

68-1 befunden habe. Als Teblojew antwortete, »Ja. Vom 3.<br />

Mai bis September 2002. Die Diagnose lautete ›Prellung<br />

des Brustkorbs‹«, schluckten die Richter die Auskunft,<br />

ohne sich die geringste Verwunderung darüber zu erlauben,<br />

dass ein Mensch zum Auskurieren einer »Prellung«<br />

vier Monate braucht.<br />

Noch ein Zitat aus der Urteilsbegründung :<br />

»Der Angeklagte Chassuchanow bekannte sich während<br />

der Gerichtsverhandlung nicht schuldig im Sinne<br />

der Anklage … Er erklärte, es für seine Pflicht gehalten<br />

zu haben, in Einzelfällen Bitten und Aufträge des gesetzmäßig<br />

gewählten Präsidenten Maschadow zu erfüllen.<br />

Terrorakte habe er nicht vorbereitet, und er sei auch<br />

86


nicht mit der Finanzierung der Feldkommandeure befasst<br />

gewesen. Er bestätigt lediglich, einige Befehle bzw.<br />

Anordnungen Maschadows eigenhändig beglaubigt zu<br />

haben durch einen entsprechenden Vermerk.«<br />

Das soll die ganze »Schuld« gewesen sein ?<br />

Ja. Und so endete der Prozess : Zwölf Jahre Freiheitsentzug<br />

in einer Arbeitskolonie mit strengen Haftbedingungen,<br />

ohne Recht auf Begnadigung. Das Schlusswort<br />

des Angeklagten lautete : »Ich möchte erklären, dass ich<br />

mich nicht lossage von meinen Überzeugungen. Das,<br />

was in Tschetschenien passiert, halte ich für eine grobe<br />

Verletzung der Menschenrechte. Die wahren Verbrecher<br />

verfolgt niemand. Und solange geschieht, was geschieht,<br />

werden viele wie ich auf der Anklagebank sitzen.«<br />

Uns umgibt dieselbe Finsternis, aus der wir uns schon<br />

einmal, mehrere sowjetische Jahrzehnte lang, nicht befreien<br />

konnten. Die Geschichten darüber, wie der FSB<br />

durch Folter Gerichtsverfahren mit der gewünschten ideologischen<br />

Ausrichtung fabriziert und dabei Richter und<br />

Staatsanwälte zu seinen Handlangern macht, werden immer<br />

zahlreicher. Es sind bereits so viele, dass man nicht<br />

mehr von Ausnahmen sprechen, nicht mehr an Zufälle<br />

glauben kann. Was bedeutet : Unsere Verfassung stirbt,<br />

ungeachtet aller Garantien, die sie schützen sollen. Und<br />

der FSB ist der Zeremonienmeister für ihre Bestattung.<br />

Als ich erfuhr, dass Chassuchanow in das bekannte<br />

Moskauer Transitgefängnis Krasnaja Presnja gebracht<br />

worden war, rief ich das hiesige Büro des <strong>In</strong>ternationa-


len Roten Kreuzes an. Die Mitarbeiter dieser Organisation<br />

sind fast die Einzigen, die in die Gefängniszellen<br />

gelangen und bestimmte Häftlinge besuchen können.<br />

Ich rief an, weil ich wusste, dass Chassuchanow nach<br />

allem, was er durchgemacht hatte, ein lebendiger Leichnam<br />

war. Ich bat sie darum, Chassuchanow in Krasnaja<br />

Presnja zu besuchen, ihm mit Medikamenten zu helfen,<br />

bei der Gefängnisleitung medizinische Behandlung und<br />

die Erlaubnis regelmäßiger Besuche zu erwirken.<br />

Das Moskauer Büro des <strong>In</strong>ternationalen Roten Kreuzes<br />

brauchte eine Woche, um meine Bitte zu prüfen und<br />

dann abzulehnen mit der in den Telefonhörer gestotterten<br />

Begründung, das sei »sehr schwierig«.<br />

Ich weiß, was hinter derartigen Antworten steht : Sie<br />

sind von Angst diktiert, Angst vor dem FSB. Und von<br />

dem Wunsch, sich nicht gegen die Putin’sche Politik zu<br />

stellen. Eine Schande.<br />

DER PRÄZEDENZFALL BUDANOW<br />

Am 25. Juli 2003 sprach in Rostow am Don das Militärgericht<br />

des Militärbezirks Nordkaukasus das Urteil<br />

gegen den nunmehr bereits ehemaligen Oberst der Streitkräfte<br />

der Russischen Föderation Juri Budanow. Budanow,<br />

mit zwei Tapferkeitsorden ausgezeichnet, Teilnehmer<br />

an beiden Tschetschenien-Kriegen, muss zehn Jahre<br />

Haft in einer Arbeitskolonie mit strengen Haftbedingungen<br />

verbüßen für Verbrechen, die er im Rahmen der so<br />

88


genannten »Anti-Terror-Operation« beging : für die Entführung<br />

und Ermordung der Tschetschenin Elsa Kungajewa.<br />

Außerdem wurden ihm sein Dienstrang und<br />

sämtliche staatlichen Auszeichnungen aberkannt.<br />

Der »Fall Budanow«, der am 26. März 2000 begann<br />

und sich über drei von bislang vier Jahren des zweiten<br />

Tschetschenien-Kriegs hinzog, wurde zu einer Herausforderung,<br />

einer schweren Prüfung für die gesamte russische<br />

Gesellschaft, von der Kreml-Führung bis hin zu<br />

den Bewohnern des kleinsten Dorfs. Jeder musste Position<br />

beziehen : Was sind sie, diese Soldaten und Offiziere,<br />

die tagtäglich in Tschetschenien morden, plündern,<br />

foltern und vergewaltigen ? Typische Kriminelle<br />

und Kriegsverbrecher ? Oder aber kompromisslose, unerschütterliche<br />

Aktivisten im globalen Kampf gegen den<br />

internationalen Terrorismus, die diesen Kampf mit allen<br />

ihnen zu Gebote stehenden Mitteln und Methoden<br />

führen ? Rechtfertigt das hehre Ziel, die Menschheit zu<br />

retten, jedwede Tat ?<br />

Dieser Hintergrund führte zu einer beispiellosen<br />

Politisierung des Falls Budanow, machte ihn zu einem<br />

Symbol unserer Zeit. Alles, was in den letzten Jahren in<br />

der Welt und in <strong>Russland</strong> geschah, spiegelt sich darin :<br />

der 11. September 2001 in New York, die Kriege im Irak<br />

und in Afghanistan, die Gründung der internationalen<br />

Antiterror-Koalition, die Terroranschläge in russischen<br />

Städten, das Geiseldrama im Oktober 2002 in Moskau,<br />

die nicht abreißende Kette von tschetschenischen Selbstmordattentäterinnen,<br />

die sich in die Luft sprengen, die<br />

89


Palästinisierung des zweiten Tschetschenien-Krieges als<br />

Antwort unter anderem auch auf die Taten Juri Budanows,<br />

auf den Verlauf des Gerichtsverfahrens, den die<br />

Tschetschenen als Beleidigung für ihr Volk empfanden.<br />

Ein Fall von ungeheurer Tragweite, der all unsere Probleme<br />

offen legte : unser Leben im Dunstkreis von <strong>Putins</strong><br />

zweitem Tschetschenien-Krieg, den Irrationalismus unserer<br />

Einstellung zu diesem Krieg und zur Putin-Herrschaft,<br />

unsere Vorstellungen davon, wer Recht hat im<br />

Nordkaukasus und wer nicht, vor allem aber die gravierenden<br />

Veränderungen, die sich unter Putin und vor<br />

dem Hintergrund des Tschetschenien-Krieges in unserem<br />

Rechtswesen vollzogen. Die von den demokratischen<br />

Kräften auf den Weg gebrachte und von Boris Jelzin nach<br />

Kräften beförderte Justizreform brach in sich zusammen<br />

unter der Last des Budanow-Prozesses. Weil er uns mehr<br />

als drei Jahre lang vor Augen führte, dass es – ungeachtet<br />

dieser Reform – kein unabhängiges Gericht gibt. Stattdessen<br />

aber Gerichtsverfahren im politischen Auftrag,<br />

bestimmt von der schnelllebigen politischen Konjunktur.<br />

Und dass, viel schlimmer noch, die Mehrheit der Bevölkerung<br />

diese Steuerung der Rechtsprechung als völlig<br />

normal empfindet.<br />

Am 25. Juli 2003 kamen die Eltern der von Oberst Juri<br />

Budanow bestialisch umgebrachten jungen Tschetschenin<br />

Elsa Kungajewa nicht einmal zur Urteilsverkündung,<br />

waren sie doch überzeugt, das Gericht würde den Mörder<br />

ihrer Tochter freisprechen.<br />

Aber es geschah das Wunder, mit dem faktisch nie-<br />

90


mand gerechnet hatte, ein Wunder, wahr geworden<br />

durch die Großtat des Vorsitzenden Richters Wladimir<br />

Bukrejew. Eine Heldentat, weil Bukrejew es wagte, einen<br />

Schuldspruch zu fällen, eine nicht nur formale, sondern<br />

reale, lange Freiheitsstrafe zu verhängen und sich damit<br />

gegen die gesamte Militärkaste in <strong>Russland</strong> zu stellen, die<br />

Budanow bis heute aktiv unterstützt und seine Verbrechen<br />

rechtfertigt. Ungeachtet des nicht zu übersehenden<br />

kolossalen Drucks von Seiten des Kreml und des Verteidigungsministeriums<br />

entschied Richter Bukrejew : Budanow<br />

soll bekommen, was er verdient. Und dies angesichts<br />

der Tatsache, dass die Militärgerichte in <strong>Russland</strong> Teil<br />

der Streitkräfte sind, als deren Oberster Befehlshaber laut<br />

Verfassung der Präsident fungiert.<br />

Was ein weiteres Mal beweist : Es gibt in <strong>Russland</strong> nach<br />

wie vor keine unabhängige Justiz, das System der Rechtsprechung<br />

bedient politische Aufträge. Es gibt lediglich<br />

Fälle, wo sich Einzelne mutig diesen Zwängen verweigern.<br />

Da s ge r i c h t s V e r fa h r e n<br />

Um die Mythen zu zerstreuen, die im Zusammenhang<br />

mit dem Fall Budanow sowohl in der russischen Öffentlichkeit<br />

als auch unter den westlichen Anhängern Präsident<br />

<strong>Putins</strong> kursieren, sollen nachfolgend Dokumente<br />

sprechen. Vor allem die Anklageschrift in der Strafsache<br />

Nr. 14/00/0012-00. Obwohl in der trockenen Sprache der<br />

Staatsanwaltschaft abgefasst, demonstriert sie eindrucks-<br />

91


voller als jedes publizistische Material die Atmosphäre des<br />

zweiten Tschetschenien-Kriegs, den inneren Zustand der<br />

Truppen, die in der Zone der »Anti-Terror-Operation« stationiert<br />

sind, die fast allgegenwärtige, absolute Militäranarchie.<br />

Die letztendlich auch den Nährboden bildete für<br />

die Verbrechen Juri Budanows, der als Oberst der Panzertruppen<br />

ein Eliteregiment der Streitkräfte befehligte,<br />

als Absolvent der Militärakademie selbst zur Armee-Elite<br />

zählte und für seine militärischen Verdienste mit den<br />

höchsten staatlichen Auszeichnungen dekoriert wurde.<br />

»Anklageschrift<br />

gegen den Oberst der Truppeneinheit 13206 (160. Panzerregiment)<br />

Juri Dmitrijewitsch Budanow … und den<br />

Oberstleutnant der Truppeneinheit 13206 Iwan Iwanowitsch<br />

Fjodorow …«<br />

Zur Erklärung sei angeführt, dass sich das Verfahren<br />

zunächst nicht nur gegen Regimentskommandeur Budanow,<br />

sondern auch gegen seinen Stellvertreter Fjodorow<br />

richtete, weil beide am 26. März 2000 gemeinsam<br />

und einzeln Verbrechen begangen hatten. <strong>In</strong> der Folge<br />

wurde Oberstleutnant Fjodorow jedoch freigesprochen,<br />

da ihm das Opfer seiner Misshandlungen öffentlich im<br />

Gerichtssaal verzieh.<br />

»Die Voruntersuchung stellte fest :<br />

Juri Dmitrijewitsch Budanow wurde am 31. August<br />

1998 zum Befehlshaber der Truppeneinheit 13206 (160.<br />

92


Panzerregiment) ernannt. Am 31. Januar 2000 erhielt er<br />

den Dienstrang eines Obersts. Iwan Iwanowitsch Fjodorow<br />

ist seit dem 12. August 1997 Oberstleutnant. Am 16.<br />

September 1999 wurde er zum Stabschef und stellvertretenden<br />

Befehlshaber der Truppeneinheit 13206 (160.<br />

Panzerregiment) ernannt. Am 19. September 1999 erfolgte<br />

auf der Grundlage der Direktive des Generalstabs der<br />

Streitkräfte der Russischen Föderation Nr. 312/00264 die<br />

Versetzung Budanows und Fjodorows mit der Truppeneinheit<br />

13206 in den Militärbezirk Nordkaukasus und<br />

später in die Tschetschenische Republik zur Teilnahme<br />

an der Anti-Terror-Operation.<br />

Am 26. März 2000 befand sich die Einheit 13206 an<br />

ihrem zeitweiligen Standort am Rande des Dorfes Tangi,<br />

Kreis Urus-Martan, Tschetschenien. Während des Mittagessens<br />

in der Offizierskantine des Regiments hatten<br />

Budanow und Fjodorow aus Anlass des Geburtstags der<br />

Tochter von Oberst Budanow alkoholische Getränke zu<br />

sich genommen. <strong>In</strong> betrunkenem Zustand gingen Budanow<br />

und Fjodorow auf Vorschlag Fjodorows mit einer<br />

Gruppe von Regimentsoffizieren in die Unterkunft der<br />

Aufklärungskompanie des Regiments, das von Oberleutnant<br />

P. W. Bagrejew befehligt wurde.«<br />

Noch eine notwendige Erläuterung : Oberleutnant Pawel<br />

Bagrejew war es, der später im Gerichtssaal Budanow<br />

und Fjodorow die durch sie erlittenen Misshandlungen<br />

öffentlich verzieh.<br />

93


»Nachdem sie die Ordnung in den Zelten kontrolliert hatten,<br />

wollte Fjodorow gegenüber Budanow die Schlagkraft<br />

der Aufklärungskompanie, deren Kommandeur auf seine<br />

Empfehlung hin ernannt worden war, unter Beweis stellen<br />

und schlug vor, eine Überprüfung der Gefechtsbereitschaft<br />

vorzunehmen. Budanow lehnte diesen Vorschlag zunächst<br />

ab. Doch Fjodorow beharrte weiter darauf. Nach mehrfachem<br />

Drängen Fjodorows gestattete ihm Budanow die<br />

entsprechende Überprüfung, er selbst ging mit der Gruppe<br />

von Offizieren zur Nachrichtenzentrale. Nachdem Fjodorow<br />

Budanows Zustimmung erhalten hatte, beschloss<br />

er, ohne Budanow davon in Kenntnis zu setzen, den Einsatz<br />

gegen das Dorf Tangi zu befehlen. Die Entscheidung,<br />

das Feuer zu eröffnen, stand in keinem Zusammenhang<br />

mit der herrschenden Lage, wurde ohne Notwendigkeit<br />

getroffen, da ein Beschuss der Positionen der föderalen<br />

Kräfte aus Richtung des Dorfes Tangi nicht erfolgte.<br />

<strong>In</strong> Verwirklichung seines Plans befahl Fjodorow unter<br />

grober Missachtung der Direktive des Generalstabs der<br />

Streitkräfte der Russischen Föderation vom 21. Februar<br />

2000, Nr. 312/0091, die einen Einsatz der Einheiten ohne<br />

allseitige Vorbereitung und Kontrolle ihrer Gefechtsbereitschaft<br />

bezüglich der Ausführung von Kampfaufgaben<br />

verbietet, die Einnahme der Feuerpositionen und den<br />

Beschuss des Ortsrandes von Tangi.<br />

Auf Fjodorows Befehl gab Oberleutnant Bagrejew seiner<br />

Kompanie das Kommando, der Gefechtseinteilung<br />

entsprechend Position zu beziehen und das Feuer auf<br />

ein einzeln stehendes Gebäude am Rande des Dorfes<br />

94


zu eröffnen. Drei Startfahrzeuge wurden in Gefechtsstellung<br />

gebracht. Nachdem sie die Feuerlinien bezogen<br />

hatten, befolgte ein Teil der Fahrzeugbesatzungen Fjodorows<br />

Befehl zur Eröffnung des Feuers auf die bewohnte<br />

Ortschaft nicht. <strong>In</strong> fortgesetzter Überschreitung seiner<br />

Dienstvollmachten verlangte Fjodorow die Eröffnung des<br />

Feuers. Wütend über die Weigerung der Besatzungen,<br />

machte Fjodorow Bagrejew Vorhaltungen, forderte ihn<br />

auf, den Befehl gegenüber seinen Untergebenen durchzusetzen.<br />

Nicht zufrieden mit Bagrejews Vorgehen, übernahm<br />

Fjodorow persönlich das Kommando über die<br />

Kompanie und befahl die Eröffnung des Feuers auf den<br />

Ortsrand von Tangi. Er sprang auf eines der Raketenstartfahrzeuge<br />

und verlangte von dem Richtschützen<br />

Fähnrich Larin, das Zielfeuer zu eröffnen. Fjodorows<br />

Befehl gehorchend, gab die Besatzung Feuer. Durch<br />

die Ausführung dieses Befehls und den Einschlag einer<br />

Rakete in das Haus Nr. 4 in der Saretschnaja-Straße der<br />

Siedlung Tangi wurde dieses Haus, das dem Einwohner<br />

A. A. Dshawatchanow gehörte und einen Wert von<br />

150 000 Rubel besaß, vollständig zerstört.<br />

Um seinen vorschriftswidrigen Befehl durchzusetzen,<br />

packte Fjodorow Bagrejew an der Uniform und fuhr<br />

fort, ihm unberechtigte Vorwürfe zu machen. Bagrejew<br />

leistete keinerlei Widerstand und ging in das Zelt der<br />

Kompanie.<br />

Als Budanow, der sich neben der Nachrichtenzentrale<br />

befand, im Abschnitt der Aufklärungskompanie<br />

Schüsse hörte, befahl er Fjodorow, das Feuer einzustel-<br />

95


len, und rief ihn zu sich. Fjodorow meldete Budanow,<br />

Bagrejew habe vorsätzlich den Befehl zur Eröffnung des<br />

Feuers nicht ausgeführt. Budanow ließ Bagrejew kommen<br />

und machte ihm in grober Form Vorhaltungen wegen<br />

der nicht sofort erfolgten Ausführung des Feuerbefehls.<br />

Budanow beleidigte Bagrejew und versetzte ihm dann<br />

mindestens zwei Faustschläge ins Gesicht.<br />

Gleichzeitig befahlen Budanow und Fjodorow den Soldaten<br />

des Stabszugs, Bagrejew zu fesseln und zur Strafe<br />

in eine auf dem Militärgelände ausgehobene Grube zu<br />

werfen. Budanow packte Bagrejew an der Uniform und<br />

stieß ihn zu Boden. Fjodorow versetzte Bagrejew einen<br />

Stiefeltritt ins Gesicht. Die Mannschaft des Stabszugs<br />

fesselte den auf dem Boden liegenden Bagrejew. Dann<br />

schlugen Budanow und Fjodorow weiter auf ihn ein. Fjodorow,<br />

der Armee-Halbstiefel trug, versetzte dem Liegenden<br />

mindestens 5–6 Fußtritte gegen den Körper, darunter<br />

auch ins Gesicht ; Budanow, der ebenfalls Armee-Halbstiefel<br />

trug, versetzte ihm mindestens 3–4 Fußtritte gegen<br />

den Oberkörper.<br />

Danach wurde Bagrejew in die Grube hinabgelassen,<br />

wo er in sitzender Haltung, an Händen und Füßen gefesselt,<br />

ausharren musste. Dreißig Minuten später kehrte<br />

Fjodorow zu der Grube zurück, sprang hinein und versetzte<br />

Bagrejew noch mindestens zwei Faustschläge ins<br />

Gesicht, wobei er ihm die Nase blutig schlug. Die Verprügelung<br />

Bagrejews wurde von dazukommenden Offizieren<br />

des Regiments beendet. Wenige Minuten später<br />

erschien Budanow. Auf seine Anordnung holte man<br />

96


Bagrejew aus der Grube. Als Budanow sah, dass Bagrejew<br />

die Fesseln gelöst hatte, befahl er dem Stabszug, ihn<br />

erneut zu fesseln. Als das erfolgt war, schlugen Budanow<br />

und Fjodorow wieder auf Bagrejew ein. Danach wurde<br />

er mit gefesselten Händen und Füßen ein weiteres Mal<br />

in die Grube befördert. Als sich Bagrejew bereits in der<br />

Grube befand, sprang Fjodorow nochmals hinein und<br />

biss Bagrejew in die rechte Augenbraue. <strong>In</strong> der genannten<br />

Grube saß Bagrejew bis zum 27. 03. 2000 um acht Uhr<br />

morgens, dann wurde er auf Befehl Budanows befreit.<br />

Am 26. März gegen Mitternacht beschloss Budanow,<br />

persönlich in das Dorf Tangi zu fahren, obwohl er dazu<br />

keinerlei Anordnung von Seiten der Führung des für die<br />

Anti-Terror-Operation zuständigen Stabs hatte. Budanow<br />

wollte eine ihm vorliegende <strong>In</strong>formation über den<br />

möglichen Aufenthalt von Beteiligten an einer illegalen<br />

bewaffneten Formation im Haus Nr. 7 der Saretschnaja-<br />

Straße überprüfen. Budanow befahl seinen Untergebenen,<br />

den Schützenpanzer Nr. 391 startklar zu machen.<br />

Beim Losfahren nahmen Budanow und die Besatzung<br />

des Schützenpanzers als Bewaffnung Maschinenpistolen<br />

des Typs AK-74 mit. Budanow gab der aus den Soldaten<br />

Grigorjew, Jegorow und Li-en-schou bestehenden Besatzung<br />

zur Kenntnis, dass die Fahrt der Festnahme einer<br />

Heckenschützin diene. Aus diesem Grunde führten die<br />

Mitglieder der Besatzung im Weiteren Budanows Befehle<br />

und Kommandos widerspruchslos aus.<br />

Am 27. März gegen ein Uhr nachts traf Budanow in<br />

Tangi ein. Er ließ den Schützenpanzer in der Saretsch-<br />

97


naja-Straße neben dem Haus Nr. 7 halten, in dem die<br />

Familie Kungajew wohnte. Budanow ging zusammen mit<br />

Grigorjew und Li-en-schou in das Haus. Dort befanden<br />

sich Elsa Wissajewna Kungajewa, geboren am 22. März<br />

1982, und ihre vier minderjährigen Geschwister. Budanow<br />

fragte, wo die Eltern seien. Als er keine Antwort<br />

erhielt, befahl Budanow in fortgesetzter Überschreitung<br />

seiner Dienstvollmachten und unter Verstoß gegen Artikel<br />

13 F3 des föderalen Gesetzbuches (›Über den Kampf<br />

gegen den Terrorismus‹) Li-en-schou und Grigorjew, Elsa<br />

Kungajewa festzunehmen.<br />

Grigorjew und Li-en-schou, die von der Rechtmäßigkeit<br />

ihres Handelns ausgingen, packten Elsa Kungajewa,<br />

wickelten sie in eine Decke, trugen sie zum Schützenpanzer<br />

Nr. 391 und verfrachteten sie in den Heckraum.<br />

Nach der Entführung brachte Budanow Elsa Kungajewa<br />

auf das Gelände der Truppeneinheit 13206, 160. Panzerregiment.<br />

Auf Befehl Budanows trugen Grigorjew, Jegorow<br />

und Li-en-schou die in die Decke gewickelte Elsa<br />

Kungajewa in seinen Wohncontainer und legten sie auf<br />

den Fußboden. Dann erteilte ihnen Budanow den Befehl,<br />

sich in der Nähe des Wohncontainers aufzuhalten und<br />

niemanden hereinzulassen.<br />

Als Budanow mit Elsa Kungajewa allein war, verlangte<br />

er von ihr Auskunft über den möglichen Aufenthaltsort<br />

ihrer Eltern sowie <strong>In</strong>formationen über Truppenbewegungen<br />

der Rebellen in Tangi. Elsa Kungajewa weigerte sich,<br />

doch Budanow, der nicht berechtigt war, sie zu verhören,<br />

bestand auf einer Antwort. Als Elsa Kungajewa alle For-<br />

98


derungen Budanows zurückwies, begann er sie zu schlagen,<br />

wobei er ihr eine Vielzahl von Faustschlägen und<br />

Fußtritten ins Gesicht und andere Körperteile versetzte.<br />

Elsa Kungajewa versuchte sich zu wehren, stieß Budanow<br />

zurück und wollte aus dem Wohncontainer fliehen.<br />

Budanow, der überzeugt war, dass Elsa Kungajewa<br />

zu einer illegalen bewaffneten Formation gehörte und<br />

mitverantwortlich war für den Tod von mehreren seiner<br />

Untergebenen im Januar 2000, beschloss, sie zu töten.<br />

Deshalb packte er sie an der Kleidung, warf sie auf die<br />

hölzerne Pritsche und begann ihr mit der Hand die<br />

Kehle zuzudrücken. Wohl wissend, dass diese Handlung<br />

sie töten würde, und den Tod Elsa Kungajewas billigend<br />

in Kauf nehmend, fuhr Budanow fort, dem Mädchen mit<br />

beiden Händen den Hals zuzudrücken, bis er überzeugt<br />

war, dass sie kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Erst<br />

danach ließ er ihren Hals los.<br />

Die vorsätzlichen Handlungen Budanows bewirkten<br />

bei der Geschädigten den Bruch des rechten großen Zungenbeinhorns,<br />

die Entwicklung einer Asphyxie und den<br />

nachfolgenden Tod. Als Budanow begriff, dass er einen<br />

vorsätzlichen Mord begangen hatte, rief er Grigorjew,<br />

Jegorow und Li-en-schou in den Wohncontainer und<br />

befahl ihnen, die Leiche fortzuschaffen und heimlich<br />

außerhalb des Militärgeländes zu verscharren. Sie brachten<br />

den Körper Elsa Kungajewas fort und vergruben ihn<br />

in einem Waldstück, worüber Grigorjew am Morgen des<br />

27. März 2000 Budanow Meldung erstattete.<br />

Die Angeklagten Budanow und Fjodorow, die bei den<br />

99


Vernehmungen im Zusammenhang mit dem vorliegenden<br />

Strafverfahren die ihnen zur Last gelegten Taten<br />

teilweise eingeräumt hatten, widerriefen später die in der<br />

Anfangsphase der Ermittlungen gemachten Aussagen.«<br />

De r an g e k l a g t e Ju r i Dm i t r i J e W i t s c h Bu D a n o W<br />

»Bei seiner Vernehmung als Zeuge am 27. März 2000<br />

erklärte Budanow, er sei am 25. März nach Tangi gefahren.<br />

<strong>In</strong> einem der Häuser habe er Minen gefunden und<br />

zwei Tschetschenen festgenommen. Zu den Umständen<br />

des Konflikts mit Oberleutnant Bagrejew führte Budanow<br />

aus, niemand habe Bagrejew geschlagen. Bei der<br />

Überprüfung der Gefechtsbereitschaft der Aufklärungskompanie,<br />

die er und Fjodorow am 26. März 2000 gegen<br />

19.00 Uhr durchgeführt hätten, habe die Kompanie den<br />

Befehl ›Fertig zum Gefecht‹ nicht korrekt ausgeführt. Es<br />

sei ein Konflikt entstanden, in dessen Verlauf Bagrejew<br />

gegenüber Fjodorow ausfällig geworden sei. Daraufhin<br />

habe er, Budanow, Bagrejew festnehmen lassen. Budanow<br />

verneinte, dass Fjodorow den Befehl zum Beschuss<br />

des Dorfes Tangi gegeben habe, wie auch die Tatsache<br />

der Eröffnung des Feuers. Am Ende der Vernehmung<br />

äußerte Budanow die Absicht, ein schriftliches Geständnis<br />

ablegen zu wollen über die von ihm verübte Tötung<br />

einer Verwandten von Bürgern, die sich an Bandenformationen<br />

auf dem Territorium Tschetscheniens beteiligten.<br />

Anschließend legte Budanow am 27. März 2000 in<br />

seinem an den Militärstaatsanwalt des Militärbezirks<br />

100


Nordkaukasus gerichteten Geständnis eigenhändig dar :<br />

Am 26. März 2000 sei er zum östlichen Ortsrand von<br />

Tangi gefahren mit dem Ziel der Vernichtung oder Gefangennahme<br />

einer Heckenschützin. Nach seinem Eintreffen<br />

in Tangi um 0.20 Uhr sei er in das Haus am Rande des<br />

Dorfes gegangen. Dort hätten sich zwei Mädchen und<br />

zwei Jungen aufgehalten. Auf die Frage, wo die Eltern<br />

seien, habe die älteste Tochter geantwortet, sie wisse es<br />

nicht. Worauf er seinen Untergebenen den Befehl erteilt<br />

habe, das Mädchen in eine Decke zu wickeln und in<br />

das Fahrzeug zu bringen. Auf dem Militärgelände habe<br />

man sie in seinen Wohncontainer getragen. Als er mit<br />

dem Mädchen allein gewesen sei, habe er sie nach dem<br />

Aufenthaltsort der Mutter gefragt, weil er auf Grund<br />

operativer <strong>In</strong>formationen davon ausgehen musste, dass<br />

sie als Heckenschützin bei den Rebellen kämpfte. Das<br />

Mädchen habe geantwortet, schlecht Russisch zu sprechen<br />

und nicht zu wissen, wo die Eltern seien. Worauf er,<br />

Budanow, versetzt hätte, sie müsse wissen, wo sich ihre<br />

Mutter aufhalte und wie viele russische Armeeangehörige<br />

sie umgebracht habe. Das Mädchen habe zu schreien und<br />

zu beißen begonnen, sich losreißen wollen. Deshalb sei<br />

er zur Gewaltanwendung gezwungen gewesen. Es habe<br />

einen Kampf gegeben, bei dem Strickjacke und Büstenhalter<br />

des Mädchens zerrissen worden seien. Weil sie sich<br />

noch immer habe losreißen wollen, habe er das Mädchen<br />

auf die Pritsche geworfen und gewürgt. Mit der rechten<br />

Hand am Hals. Die Unterwäsche habe er dem Mädchen<br />

nicht ausgezogen. Nach ungefähr zehn Minuten sei sie<br />

101


still geworden, und er habe ihren Puls kontrolliert. Das<br />

Mädchen sei tot gewesen. Auf seinen Befehl hätte die<br />

Besatzung des Schützenpanzers die Leiche wieder in<br />

die Decke gewickelt, in ein Waldstück in der Nähe des<br />

Panzerbataillons gefahren und vergraben.<br />

Bei seiner Vernehmung als Verdächtiger am 28. März<br />

2000 sagte Budanow aus, ihm sei am 3. März 2000 aus<br />

operativen Quellen bekannt geworden, dass in Tangi<br />

eine Heckenschützin wohne, die auf Seiten der Rebellen<br />

kämpfe. Man habe ihm ihr Foto gezeigt. Diese <strong>In</strong>formationen<br />

hätten von einem Dorfbewohner gestammt, der<br />

offene Rechnungen mit den Rebellen begleichen wollte.<br />

Der Mann habe ihm etwa am 13. oder 14. Mai 2000 das<br />

letzte Haus am östlichen Ortsrand von Tangi gezeigt, in<br />

dem die Heckenschützin wohnen sollte. Am 24. März<br />

2000 sei er an dem Haus vorbeigefahren, aber nicht hineingegangen.<br />

Den weiteren Verlauf stellte Budanow wie<br />

folgt dar :<br />

Am 26. März fuhr er zu diesem Haus. Seinen <strong>In</strong>formationen<br />

zufolge sollte sich die Heckenschützin in der<br />

Nacht vom 26. zum 27. März dort aufhalten. Er betrat<br />

das Haus. Keiner der Bewohner schlief, alle waren angezogen.<br />

Budanow fragte, wo der Hausherr sei, die älteste<br />

Tochter erwiderte, sie wisse es nicht. Da befahl er seinen<br />

Untergebenen, sie mitzunehmen. Sie kehrten auf das<br />

Militärgelände zurück, und er blieb mit dem Mädchen<br />

allein in seinem Wohncontainer.<br />

Sie begann zu schreien, ihn unflätig zu beschimpfen,<br />

102


versuchte aus dem Wohncontainer zu fliehen. Er packte<br />

sie und stieß sie auf das Bett, wobei er ihre Strickjacke<br />

zerriss. Er schleppte sie in den hintersten Winkel des<br />

Containers, warf sie auf die hölzerne Pritsche und begann<br />

ihr mit der rechten Hand die Kehle zuzudrücken.<br />

Sie leistete Widerstand, und als Folge des Kampfes zerriss<br />

er ihr die Oberbekleidung. Nach ungefähr zehn Minuten<br />

wurde sie ruhig. Er kontrollierte ihren Puls, fühlte<br />

aber keinen Pulsschlag mehr. Er rief nach der Besatzung<br />

des Schützenpanzers. Der Besatzungskommandeur und<br />

der Fernschreiber betraten den Wohncontainer. Zu dieser<br />

Zeit lag das Mädchen im hinteren Teil, nackt, nur mit<br />

einem Schlüpfer bekleidet. Er beauftragte die beiden Soldaten,<br />

sie wieder in die Decke zu wickeln, in der sie hergebracht<br />

worden war, und sie zu begraben. Er, Budanow,<br />

habe die Beherrschung verloren, weil das Mädchen nicht<br />

sagen wollte, wo sich die Mutter aufhielt, die nach seinen<br />

<strong>In</strong>formationen zwischen dem 15. und dem 20. Januar 2000<br />

mit einem Scharfschützengewehr in der Argun-Schlucht<br />

zwölf Soldaten und Offiziere erschossen hatte.<br />

Bei seiner Vernehmung als Beschuldigter am 30.03.2000<br />

legte Budanow ein Teilgeständnis ab und sagte Folgendes<br />

aus : Am 23. März 2000 habe er zwei Tschetschenen<br />

festgenommen. <strong>In</strong> dem Haus, in dem sie sich aufhielten,<br />

seien sechzig 80-Millimeter-Minen gefunden worden.<br />

Einer der Tschetschenen mit Namen Schamil sei bereit<br />

gewesen, ihm alle Häuser zu zeigen, in denen Rebellen<br />

wohnten, wenn er dafür freigelassen würde. Budanow<br />

103


drückte Schamil eine Soldatenmütze auf den Kopf, setzte<br />

ihn in einen Schützenpanzer und fuhr mit ihm durch<br />

das Dorf. Schamil sei es gewesen, der ihm, Budanow, das<br />

Haus am östlichen Dorfrand gezeigt und erklärt habe,<br />

dort wohne die Scharfschützin. Außerdem habe er noch<br />

fünf oder sechs andere Häuser von Rebellen identifiziert.<br />

Von Schamil stamme auch die <strong>In</strong>formation, dass die<br />

Scharfschützin nachts oft nach Hause käme und von<br />

ihrer Tochter ständig über Angehörige der russischen<br />

Streitkräfte auf dem Laufenden gehalten werde.<br />

Budanow änderte seine Aussagen über das Verhalten<br />

Elsa Kungajewas teilweise, indem er erklärte, sie habe<br />

gesagt, auch ihn würde man noch erwischen, er und die<br />

anderen kämen nicht lebend aus Tschetschenien heraus,<br />

sie habe Flüche ausgestoßen und sei dann zum Ausgang<br />

des Wohncontainers gelaufen. Ihre Worte hätten ihn zur<br />

Weißglut gebracht. Er habe sie an der Strickjacke gepackt<br />

und auf die Pritsche geworfen. Seiner Darstellung nach<br />

wollte Elsa Kungajewa die Pistole an sich nehmen, die<br />

auf dem Tisch neben der Pritsche lag. Daraufhin drückte<br />

er ihr mit der rechten Hand den Hals zu, mit der linken<br />

hielt er ihren Arm fest, damit sie die Pistole nicht ergreifen<br />

konnte. Elsa Kungajewa versuchte freizukommen,<br />

dabei zerriss die gesamte Oberbekleidung. Er nahm die<br />

Hand nicht von ihrem Hals, nach etwa zehn Minuten<br />

wurde das Mädchen ruhig.«<br />

104


Hier muss etwas klargestellt werden :<br />

Die allmählichen Veränderungen in Budanows Aussagen<br />

während der Ermittlungen sind darauf zurückzuführen,<br />

dass sich Kreml und Militärführung des Landes<br />

von dem Schock zu erholen begannen, den ihnen das<br />

Vorgehen der unverhofft mutig gewordenen Staatsanwaltschaft<br />

mit der Verhaftung eines hoch dekorierten<br />

Obersts der kämpfenden Truppe versetzt hatte. Die<br />

Obrigkeit begann Druck auszuüben auf die Ermittler,<br />

die die Vernehmungen führten. Und Budanow von da<br />

an in den Mund legten, was er sagen sollte, damit die<br />

juristischen Konsequenzen seiner Verbrechen möglichst<br />

gering ausfielen oder er möglicherweise sogar ungestraft<br />

davonkam.<br />

»Bei einer zusätzlichen Vernehmung am 26. September<br />

2000 konkretisierte der Beschuldigte Budanow seine<br />

Aussagen hinsichtlich der Frage, woher er wisse, dass<br />

die Kungajewas an einer illegalen bewaffneten Formation<br />

beteiligt waren. Die <strong>In</strong>formation stamme von einem<br />

Tschetschenen, mit dem er sich im Januar und Februar<br />

2000, nach den Kämpfen in der Argun-Schlucht, getroffen<br />

habe. Der Tschetschene habe ihm ein Foto übergeben,<br />

auf dem die Kungajewa mit einer Scharfschützenpistole<br />

zu sehen gewesen sei.<br />

Bei seiner Vernehmung am 4. Januar 2001 sagte Budanow<br />

aus, er bekenne sich nicht schuldig im Hinblick<br />

auf die Entführung der Kungajewa. Er glaubte richtig<br />

105


zu handeln, entsprechend der ihm zur Verfügung stehenden<br />

operativen <strong>In</strong>formationen. Als er Elsa Kungajewa<br />

sah, erkannte er sie wieder anhand des Fotos, das<br />

ihm übergeben worden war. Er erteilte Grigorjew und<br />

Li-en-schou den Befehl, Elsa Kungajewa festzunehmen,<br />

um sie den Rechtsschutzorganen zu überantworten. Was<br />

er dann jedoch nicht tat in der Hoffnung, selbst bei der<br />

Verhafteten in Erfahrung bringen zu können, wo sich die<br />

Rebellen aufhielten, und schnellstmöglich Maßnahmen<br />

zu deren Ergreifung einzuleiten.<br />

Ebenso war ihm bewusst, dass die Rebellen, wenn sie<br />

von der Verhaftung Kungajewas erfuhren, alles unternehmen<br />

würden, um das Mädchen zu befreien. <strong>In</strong>sbesondere<br />

aus diesem Grund beschloss er, sofort in das Regiment<br />

zu fahren. Außerdem sind nachts alle Bewegungen von<br />

Militärfahrzeugen über größere Entfernungen verboten.<br />

Er hielt sich jedoch im Zuständigkeitsbereich des Regiments<br />

auf, wo dieses Verbot nicht galt. Der Beschuldigte<br />

bekennt sich der vorsätzlichen Ermordung Elsa Kungajewas<br />

nicht für schuldig, weil er keine Absicht gehegt habe,<br />

ihren Tod herbeizuführen, er sei sehr erregt gewesen und<br />

könne nicht erklären, wie es dazu gekommen sei, dass<br />

er sie erstickt habe.«<br />

De r an g e k l a g t e iW a n iW a n o W i t s c h fJ o D o r o W<br />

»Bei seiner Vernehmung als Zeuge am 3. April 2000<br />

sagte Fjodorow aus, am 26. März 2000 hätten er, Hauptmann<br />

Arsumanjan und Budanow kontrolliert, ob in der<br />

106


Aufklärungskompanie Ordnung herrsche. Nach der <strong>In</strong>spektion<br />

habe er Bagrejew den vorläufigen Befehl ›Angriff<br />

auf Kommandozentrale, Feuerlinie einnehmen‹ erteilt<br />

und ihm gezeigt, wo diese Feuerlinie verlief. Anschließend<br />

habe er Bagrejew zu sich beordert und gefragt, warum<br />

die Startfahrzeuge nicht in den entsprechenden Positionen<br />

stünden. An die Antwort Bagrejews könne er sich<br />

nicht erinnern. Wahrscheinlich habe er dann Bagrejew<br />

grob beschimpft und ihn an der Kleidung gepackt.<br />

Budanow und Arsumanjan seien zur Kommandozentrale<br />

gegangen. Er wisse nicht mehr, wer den Befehl gegeben<br />

habe, Bagrejew an Händen und Füßen zu fesseln,<br />

die Soldaten des Stabszugs hätten jedoch dessen Hände<br />

zusammengebunden. Dann sei er zu Bagrejew gegangen<br />

und habe ihm mehrere Schläge versetzt. Wie, daran könne<br />

er sich nicht erinnern. Danach habe man Bagrejew auf<br />

seinen Befehl hin in die Grube gesteckt. Er, Fjodorow, sei<br />

auch noch hinuntergesprungen, um ihm ordentlich die<br />

Meinung zu sagen.<br />

Arsumanjan habe ihn aus der Grube gezogen. Dass<br />

Budanow in der Nacht nach Tangi gefahren war, sei<br />

ihm erst zur Kenntnis gelangt, als eine Stabskommission<br />

der Truppengruppierung ›West‹ in der Einheit eingetroffen<br />

sei.<br />

Um den 20. März 2000 herum habe er bei Budanow<br />

die Kopie eines Fotos gesehen, das eine Frau zeigte, die<br />

nach Budanows Worten eine Heckenschützin war. Wie<br />

Budanow weiter gesagt habe, wohne sie in Tangi, und er<br />

müsse sie finden. Dem Anschein nach konnte die Frau<br />

107


nicht älter als 30 Jahre sein. Um den 25. März herum<br />

sei Budanow nach Tangi gefahren, und ein Tschetschene<br />

habe ihm die Häuser gezeigt, in denen Rebellen wohnten.<br />

Bei einer Untersuchung von Fjodorows Notizblock<br />

wurde festgestellt, dass sich auf der Rückseite von Blatt<br />

Nr. 8 eine Eintragung befand : Schamil Sambijew. Darunter<br />

stand : Sarezkaja-Straße, Haus 7, Idolbek Chungajew.<br />

Das Blatt wurde den Verfahrensakten als Beweisstück<br />

beigefügt.<br />

Danach befragt, sagte Fjodorow aus, der Eintrag auf<br />

Seite Nr. 8 bedeute, dass es Schamil Sambijew gewesen<br />

sei, der ihnen in Tangi die Häuser gezeigt habe, in denen<br />

Rebellen wohnten. Es seien nur zwei Adressen festgehalten,<br />

weil der Tschetschene die anderen nicht genau<br />

zu benennen wusste und ihnen die Häuser – insgesamt<br />

zehn – nur zeigen konnte.<br />

Bei seiner Vernehmung am 24. November 2000 sagte<br />

Fjodorow aus, er habe am 26. März 2000 Bagrejew den<br />

Befehl ›Fertig zum Gefecht, Gegner aus Richtung Tangi‹<br />

erteilt und danach die Handlungen der Aufklärer überwacht.<br />

Das Kommando sei von Bagrejew wiederholt worden.<br />

Er, Fjodorow, habe bemerkt, dass Bagrejew dabei<br />

unqualifiziert vorging, weswegen er wütend geworden<br />

sei. Im Weiteren habe er von Bagrejew eine ordnungsgemäße,<br />

der Gefechtseinteilung entsprechende Ausführung<br />

der Aufgaben seitens der Mannschaft verlangt und diese<br />

auch durchgesetzt.<br />

Da bei der <strong>In</strong>spektion zu Tage getreten sei, dass der<br />

Kompaniechef sich nur unzureichend in der Situation<br />

108


zurechtfand habe er, Fjodorow, beschlossen, die Überprüfung<br />

bis zum Ende durchzuführen und zu beobachten,<br />

wie die Mannschaft die Gefechtsaufgabe einer<br />

Bekämpfung durch Raketenbeschuss bewältige. Deshalb<br />

habe er Bagrejew befohlen, unter Munitionseinsatz von<br />

1 Rakete pro Startfahrzeug das Feuer auf ein einzeln<br />

stehendes Gebäude am Rande von Tangi zu eröffnen.<br />

Diese Entscheidung sei auch dadurch beeinflusst gewesen,<br />

dass ihr Panzerregiment mehrfach von diesem Haus<br />

aus beobachtet worden sei. Bezüglich des Konflikts mit<br />

Bagrejew räumte Fjodorow ein, die Tatsache, dass er<br />

sich so in einem Menschen täuschen konnte, habe ihn<br />

außerordentlich verstimmt und quasi zu den weiteren<br />

Handlungen angestachelt.<br />

Bei seiner Vernehmung am 26. Dezember 2000 sagte Fjodorow,<br />

er sei nicht damit einverstanden, dass der Wert<br />

des zerstörten Hauses mit 150 000 Rubeln veranschlagt<br />

wurde. Dieses Haus habe vor dem Raketeneinschlag am<br />

26. März bereits erhebliche Schäden erlitten im Zusammenhang<br />

mit den massiven Kampfhandlungen zwischen<br />

föderalen Streitkräften und Bandenformationen am Ortsrand<br />

von Tangi im Dezember 1999. Vor Erteilung des<br />

Feuerbefehls sei ihm glaubhaft bekannt gewesen, dass es<br />

Fälle eines Beschusses ihrer Einheit aus der Umgebung<br />

dieses Hauses gegeben habe.<br />

Die Schuld Budanows und Fjodorows an den ihnen<br />

zur Last gelegten Taten wird nicht nur durch die abgelegten<br />

Teilgeständnisse, sondern darüber hinaus auch durch<br />

109


die Gesamtheit der im Zuge des Ermittlungsverfahrens<br />

gesammelten Beweise bestätigt.<br />

Der Geschädigte Wissa Umarowitsch Kungajew, Tschetschene,<br />

geboren am 19. April 1954, verheiratet, Agronom<br />

in der Sowchose Urus-Martan, Vater der Elsa Kungajewa,<br />

sagte Folgendes aus :<br />

Elsa war die älteste Tochter. Außer ihr hat die Familie<br />

noch vier Kinder. Ihrem Charakter nach war Elsa sehr<br />

bescheiden, ruhig, arbeitsam, ordentlich und ehrlich.<br />

Die gesamte Hausarbeit lag auf ihren Schultern, da die<br />

Mutter krank ist und nicht arbeiten kann. Aus diesem<br />

Grund versorgte Elsa auch die jüngeren Geschwister. Ihre<br />

Freizeit verbrachte sie stets zu Hause, unternahm keine<br />

Besuche, traf sich nicht mit Jungen. Personen männlichen<br />

Geschlechts gegenüber zeigte sie Scheu, intime<br />

Beziehungen unterhielt sie nicht. Elsa war auf gar keinen<br />

Fall eine Heckenschützin, hatte nicht das Geringste mit<br />

Bandenformationen zu tun.<br />

Am 26. März 2000 ging Wissa Kungajew mit seiner<br />

Frau und den Kindern wählen, danach verrichteten sie<br />

häusliche Arbeiten. Seine Frau machte sich für einen<br />

Besuch bei ihrem Bruder Alexej in Urus-Martan fertig<br />

und fuhr gegen 15.00 Uhr los. Der Geschädigte blieb mit<br />

den Kindern allein zu Hause.<br />

Gegen 21.00 Uhr gingen sie zu Bett, weil es keinen<br />

Strom gab. Wissa Kungajew schlief auf dem Sofa in der<br />

Sommerküche. Am 27. März gegen 0.30 Uhr erwachte<br />

er vom Lärm eines Gefechtsfahrzeugs. Es hielt gegen-<br />

110


über ihrem Haus. Er blickte aus dem Fenster und sah<br />

mehrere Personen zu ihnen herüber kommen. Wissa<br />

Kungajew rief Elsa und bat sie, schnell die anderen Kinder<br />

zu wecken, anzuziehen und fortzubringen, weil das<br />

Haus von Soldaten umstellt werde. Er selbst lief auf die<br />

Straße, zu seinem Bruder Adlan, der zwanzig Meter entfernt<br />

wohnt.<br />

Adlan war zu der Zeit bereits in umgekehrter Richtung<br />

unterwegs und betrat das Haus der Kungajews durch den<br />

Haupteingang. Aus der Schilderung seines Bruders wisse<br />

er, Kungajew, dass Adlan dort Oberst Budanow sah, den<br />

er erkannte, weil Budanows Foto bereits in der Zeitung<br />

›Krasnaja swesda‹ abgebildet war.<br />

Budanow habe gefragt : ›Wer bist du denn ?‹ Nach Adlans<br />

Antwort : ›Der Bruder des Hausherrn‹, habe Budanow<br />

in grober Form verlangt : ›Hau ab !‹ Adlan sei aus<br />

dem Haus gelaufen und habe laut gerufen. Aus der Schilderung<br />

der Kinder wisse er, Kungajew, dass Budanow<br />

dann den Soldaten befahl, Elsa zu packen. Sie schrie.<br />

Die Soldaten wickelten Elsa in eine Decke und trugen<br />

sie auf die Straße. Wegen des Vorfalls liefen sämtliche<br />

Verwandten zusammen, die noch in derselben Nacht<br />

versuchten, Elsa zu finden.<br />

Kungajew wandte sich an den Leiter der Dorfverwaltung,<br />

an die Militärkommandanten der Siedlung Tangi<br />

und des Kreises Urus-Martan. Morgens um 6.00 Uhr<br />

fuhr er mit dem Auto in die Kreisstadt, um seine Tochter<br />

vermisst zu melden und offiziell nach ihr suchen<br />

zu lassen. Am 27. März gegen Abend erfuhr er, dass<br />

111


Elsa umgebracht wurde. Nach Kungajews Auffassung<br />

hat Budanow sie entführt und vergewaltigt, weil sie ein<br />

hübsches Mädchen war.<br />

Der Zeuge A. S. Magamajew sagte aus, er wohne neben<br />

den Kungajews. Die Familie lebe ärmlich, arbeite hauptsächlich<br />

auf dem Feld. Elsa kenne er seit ihrer Geburt.<br />

Sie sei ein schüchternes Mädchen, zu Altersgefährten<br />

männlichen Geschlechts habe sie keine Beziehungen<br />

unterhalten. Er könne mit Sicherheit sagen, dass Elsa<br />

niemals an Bandenformationen beteiligt gewesen sei.<br />

Im Zuge der Ermittlungen konnten Kontakte E. W.<br />

Kungajewas zu illegalen bewaffneten Formationen oder<br />

ihre Beteiligung an deren Aktivitäten nicht nachgewiesen<br />

werden. Der als Zeuge vernommene Iwan Alexandrowitsch<br />

Makarschanow, ehemaliger Angehöriger des Truppenteils<br />

13206, sagte aus : Am Abend des 26. März 2000<br />

wurde im Stabszug Alarm ausgelöst. Die Mannschaft<br />

musste auf Befehl des Regimentskommandeurs den Kommandeur<br />

der Aufklärungskompanie Bagrejew fesseln. Er<br />

lag auf dem Boden. Budanow und Fjodorow versetzten<br />

ihm jeweils mindestens drei Fußtritte. Alles ging sehr<br />

schnell. Danach wurde Bagrejew in eine Grube, in einen<br />

so genannten ›Sindan‹, gesteckt.<br />

Einige Zeit später, als es bereits dunkel war, hörte<br />

Makarschanow Schreie und Stöhnen. Er verließ das Zelt<br />

und sah, dass sich in der Grube, in die man Bagrejew<br />

geworfen hatte und die etwa 15–20 Meter vom Zelt entfernt<br />

lag, auch Budanow und Fjodorow befanden. Fjodo-<br />

112


ow versetzte Bagrejew Faustschläge ins Gesicht. Budanow<br />

stand daneben. Jemand leuchtete die Grube mit<br />

einer Taschenlampe aus, deshalb konnte Makarschanow<br />

alles deutlich erkennen. Dann wurde Fjodorow aus der<br />

Grube gezogen.<br />

Am 27. März hielt er, Makarschanow, sich bis zwei<br />

Uhr nachts in Fjodorows Zelt auf, um den Ofen zu heizen.<br />

Gegen ein Uhr hörte er, wie ein Schützenpanzer zu<br />

Budanows Wohncontainer fuhr. Hinter dem Zeltvorhang<br />

hervor beobachtete Makarschanow, was geschah. Er sah,<br />

wie vier Männer (einer von ihnen Budanow selbst) in<br />

den Wohncontainer gingen. Ein Mann trug eine Art<br />

Bündel auf der Schulter, das der Größe nach etwa einem<br />

menschlichen Körper entsprach. An einer Seite hingen<br />

aus dem Bündel lange Haare, wie sie Frauen oder junge<br />

Mädchen tragen.<br />

Derjenige, der das Bündel auf der Schulter hatte, öffnete<br />

die Tür, trug es in den Wohncontainer und legte<br />

es auf den Boden. Weil im Wohncontainer zu dieser<br />

Zeit Licht brannte, konnte Makarschanow alles sehen.<br />

Budanow betrat den Wohncontainer. Die Entfernung<br />

von der Stelle im Zelt, wo sich Makarschanow befand,<br />

bis zum Container betrug höchstens 8–10 Meter. Die<br />

gesamte Zeit nach Budanows Ankunft standen drei Soldaten<br />

von der Besatzung des Schützenpanzers vor dem<br />

Wohncontainer.<br />

Der als Zeuge vernommene J. G. Mischurow, ehemaliger<br />

Angehöriger des Truppenteils 13206, sagte aus, er<br />

habe am 27. März um zwei Uhr nachts seinen Dienst<br />

113


im Zelt des Stabschefs angetreten. Er sah, dass neben<br />

dem Wohncontainer Budanows zwei Soldaten von der<br />

Besatzung des Schützenpanzers standen. Gegen 3.30 Uhr<br />

fuhr der Schützenpanzer weg, kam gegen 5.50 Uhr in die<br />

Einheit zurück und wurde in der Nähe des Wohncontainers<br />

abgestellt.<br />

Der Zeuge Viktor Alexejewitsch Kolzow diente ab dem<br />

1. Februar 2000 als Zeitsoldat im Truppenteil 13206. <strong>In</strong><br />

der Nacht war er ab 23.00 Uhr als Posten eingeteilt, um<br />

die Grube zu bewachen, in der sich der Kompaniechef<br />

befand. <strong>In</strong> dieser Nacht verließ Budanow mit einem<br />

Schützenpanzer das Lager. Nach ungefähr dreißig Minuten<br />

kehrte der Schützenpanzer in die Einheit zurück,<br />

etwa 100 Meter vor dem Stellplatz des Fahrzeugs schrie<br />

Budanow den Fahrer an : ›Mach das Licht aus !‹ Ohne<br />

Beleuchtung fuhr der Schützenpanzer zum Wohncontainer.<br />

Dann hörte Kolzow, wie die Hecktür des Schützenpanzers<br />

klappte und die Tür des Wohncontainers<br />

aufging. Als er von seinem Posten abgelöst wurde und<br />

die Unterkunft betrat, traf er Makarschanow, den Heizer<br />

des Stabschefs. Der erzählte ihm, der Kommandeur<br />

habe ›wieder ein Weib angeschleppt‹.<br />

Der Zeuge Alexander Michailowitsch Saifullin leistete<br />

ab August 1999 seinen Wehrdienst im Truppenteil 13206.<br />

Ende Januar 2000 wurde ihm die Beheizung von Budanows<br />

Wohncontainer übertragen. Am 27. März ungefähr<br />

gegen 5.15 Uhr ging er in den Wohncontainer des Kom-<br />

114


mandeurs, um Brennmaterial nachzulegen. Budanow lag<br />

nicht wie gewohnt im hinteren Teil des Wohncontainers,<br />

sondern auf der rechten Pritsche. Der Fußbodenbelag<br />

war verrutscht und schlug Falten. Die Uhr, die sonst<br />

über Budanows Bett hing, stand neben der rechten Pritsche<br />

auf dem Fußboden, nahe der Tür. Durch den ein<br />

wenig zur Seite gezogenen Vorhang zwischen Schlafteil<br />

und vorderem Teil des Containers sah Saifullin, dass<br />

Budanows Bett nicht hergerichtet war. Budanow schlief.<br />

Gegen sieben Uhr morgens ging Saifullin in den Wohncontainer,<br />

um dem Kommandeur einen Eimer Waschwasser<br />

zu bringen. Budanow befahl ihm, um 7.15 Uhr<br />

wiederzukommen.<br />

Der Kommandeur gab Anweisung, den Wohncontainer<br />

aufzuräumen, zeigte mit dem Kopf auf das Bett<br />

und sagte, Saifullin solle die Zudecke und die gesamte<br />

Bettwäsche wechseln. Als sich Saifullin an die Arbeit<br />

machte, bemerkte er, dass die Decke auf dem Bett nass<br />

war. Der Fleck befand sich ungefähr 20 cm vom Fußende<br />

entfernt an der Wandseite. Als Saifullin die Decke anhob,<br />

erblickte er auf dem Laken einen 15 × 15 cm großen gelben<br />

Fleck. Er wechselte die Bettwäsche. Danach gab<br />

ihm Budanow eine Stunde Zeit, um den Wohncontainer<br />

gründlich zu reinigen. Als Saifullin das Bettzeug von der<br />

Holzpritsche im hinteren Teil nahm, stellte er fest, dass<br />

das Laken in der linken Ecke nass war.<br />

Die Durchsuchung von Budanows Wohncontainer am<br />

27. März 2000 ergab : Auf dem hinteren Bett lag eine<br />

nasse Matratze, die nach Urin roch.<br />

115


Im Zuge der Ermittlungen wurden die Bettwäsche und<br />

die Zudecke aus dem Wohncontainer sichergestellt. Die<br />

Bettwäsche ist den Verfahrensdokumenten als Beweisstück<br />

beigefügt. Die <strong>In</strong>augenscheinnahme des Lakens<br />

ergab, dass es gelbe Flecke aufwies.<br />

Der Zeuge Valeri Wassiljewitsch Gerassimow hatte vom<br />

5. März bis zum 20. April 2000 den Oberbefehl über die<br />

Truppengruppierung ›West‹. Am Morgen des 27. März<br />

erfuhr er vom Militärkommandanten des Kreises Urus-<br />

Martan, dass in der Nacht ein Mädchen aus Tangi entführt<br />

worden war und Soldaten verdächtigt würden. Gerassimow<br />

setzte sich mit den Kommandeuren von drei<br />

Regimentern, darunter auch mit Budanow als Befehlshaber<br />

des 160. Panzerregiments, in Verbindung und gab<br />

Befehl, das Mädchen binnen dreißig Minuten aufzufinden<br />

und zurückzubringen. Zusammen mit General Alexander<br />

Iwanowitsch Werbizki fuhr er zuerst zum 245.,<br />

anschließend zum 160. Regiment.<br />

Im 160. Regiment wurde Gerassimow von Budanow<br />

persönlich empfangen, der ihm meldete, im Regiment<br />

sei alles in Ordnung, über das verschwundene Mädchen<br />

habe er nichts in Erfahrung bringen können. Gerassimow<br />

und Werbizki fuhren weiter nach Tangi, wo sich<br />

zu der Zeit alle Einwohner versammelt hatten. Der Vater<br />

des verschwundenen Mädchens erklärte, in der Nacht<br />

seien ein Oberst und mehrere Soldaten mit einem Schützenpanzer<br />

in das Dorf gekommen, hätten seine Tochter<br />

in eine Decke gewickelt und fortgebracht. Die Einwoh-<br />

116


ner gaben an, diesen Oberst zu kennen, er befehlige das<br />

Panzerregiment. Gerassimow und Werbizki wollten das<br />

zunächst nicht glauben. Aus dem Dorf fuhren sie wieder<br />

in das Panzerregiment zurück, Budanow war nicht<br />

da. Er, Gerassimow, ordnete daraufhin an, Maßnahmen<br />

zur Festnahme Budanows zu ergreifen.«<br />

An dieser Stelle ist eine Erläuterung notwendig :<br />

<strong>In</strong> den Streitkräften der Russischen Föderation gilt die<br />

Vorschrift, dass Militärangehörige nur mit Genehmigung<br />

und auf Anordnung ihrer Vorgesetzten verhaftet werden<br />

dürfen. <strong>In</strong> Bezug auf Budanow konnte also nur General<br />

Gerassimow einen derartigen Befehl erteilen. Dass es<br />

also überhaupt einen Fall Budanow und einen Budanow-<br />

Prozess gab, verdanken wir in erster Linie Valeri Gerassimow.<br />

Immerhin verweigern die meisten Kommandeure<br />

in Tschetschenien nicht nur der Staatsanwaltschaft die<br />

Erlaubnis, ihre Untergebenen festzunehmen, wenn diese<br />

Kriegsverbrechen begangen haben, sondern decken die<br />

Schuldigen auch noch in jedweder Weise. Angesichts<br />

der Zustände in der Zone der »Anti-Terror-Operation«<br />

stellte General Gerassimows Entscheidung zweifellos<br />

einen kühnen Schritt dar, der ihn durchaus die Karriere<br />

hätte kosten können. Das verhinderte jedoch die<br />

große öffentliche Aufmerksamkeit, die der Fall Budanow<br />

erregte, und in der Folgezeit avancierte General Gerassimow<br />

sogar zum Befehlshaber der 58. Armee.<br />

117


»Nach seiner Festnahme wurde Budanow nach Chankala<br />

in das Hauptquartier der russischen Streikräfte in Tschetschenien<br />

überstellt. Am Abend desselben Tages gestand<br />

der Fahrer des Schützenpanzers, dass sie in der Nacht<br />

des 27. März ein Mädchen in die Einheit gebracht und zu<br />

Budanow in den Wohncontainer getragen hätten. Zwei<br />

Stunden später habe Budanow sie zu sich befohlen, da sei<br />

das Mädchen schon tot gewesen. Auf Befehl Budanows<br />

hätten sie die Leiche fortgebracht und vergraben.<br />

Am Morgen des 28. März wurde die Leiche exhumiert<br />

und in das Sanitätsbataillon überführt. Nach der Untersuchung<br />

sowie einer anschließenden Reinigung des<br />

Leichnams erfolgte die Auslieferung an die Eltern.<br />

Der als Zeuge vernommene Igor Wladimirowitsch Grigorjew<br />

sagte aus : Am 27. März 2000 befahl ihnen Budanow<br />

nach der Rückkehr auf das Militärgelände, das in<br />

eine Decke gewickelte Mädchen in seinen Wohncontainer<br />

zu tragen, sich in der Nähe des Containers zu<br />

postieren und aufzupassen, dass niemand hereinkam.<br />

Budanow selbst blieb mit dem Mädchen allein im Wohncontainer.<br />

Etwa 10 Minuten, nachdem sie den Container<br />

verlassen hatten, schrie eine Frauenstimme, auch die<br />

Stimme Budanows war zu hören, danach ertönte Musik<br />

im Wohncontainer. Einzelne Schreie der Frau hörten sie<br />

noch eine Weile.<br />

Budanow war ungefähr 1,5 bis 2 Stunden mit dem<br />

Mädchen im Container. Etwa 2 Stunden später rief Budanow<br />

alle drei Besatzungsmitglieder des Schützenpan-<br />

118


zers herein. Die Frau lag nackt auf dem Bett, das Gesicht<br />

bläulich angelaufen. Auf dem Fußboden war die<br />

Decke ausgebreitet, in der sie sie hergebracht hatten. Auf<br />

der gleichen Decke lag ihre Kleidung. Budanow befahl<br />

ihnen, die Frau heimlich fortzubringen und zu vergraben.<br />

Was sie anschließend taten. Sie hüllten den Körper<br />

in das Plaid, brachten ihn im Schützenpanzer Nr. 391<br />

vom Militärgelände und vergruben die Leiche, worüber<br />

er, Grigorjew, am Morgen des 27. März Budanow Meldung<br />

erstattete.<br />

Bei seiner Vernehmung am 17. Oktober 2000 erklärte<br />

Grigorjew : Ungefähr 10–20 Minuten, nachdem sie den<br />

Wohncontainer verlassen hatten, begann Budanow zu<br />

schreien, was genau, konnte er, Grigorjew, nicht hören.<br />

Ebenso waren einige Aufschreie des Mädchens zu hören,<br />

die angstvoll klangen. Als sie auf Anordnung Budanows<br />

den Wohncontainer betraten, sahen sie das Mädchen<br />

ohne ein Lebenszeichen vollkommen unbekleidet auf<br />

der hölzernen Pritsche liegen. Der Körper lag auf dem<br />

Rücken, das Gesicht nach oben. Auf dem Fußboden<br />

befand sich eine Decke, darauf Kleidung – Schlüpfer,<br />

eine Strickjacke, noch etwas. Am Hals des Mädchens<br />

waren blaue Flecke erkennbar, die wie Würgemale aussahen.<br />

Budanow zeigte auf das Mädchen und sagte mit<br />

eigentümlichem Gesichtsausdruck : ›Das hast du Hündin<br />

abgekriegt für Rasmachin und für die Jungs, die auf der<br />

Höhe umgekommen sind.‹<br />

119


Bei der Untersuchung der Leiche Kungajewas wurden<br />

folgende Verletzungen festgestellt : Hautabschürfungen<br />

und Blutergüsse im oberen Drittel der vorderen Halsseite,<br />

Blutergüsse im Weichgewebe des Halses, Zyanose,<br />

aufgedunsenes Gesicht, punktförmige Blutungen in der<br />

Gesichtshaut und der Schleimhaut der Mundhöhle, intrakonjunktivale<br />

Blutungen, Blutergüsse im Pleuraraum,<br />

Perikardblutungen ; Ekchymosen in der rechten Unteraugenhöhlengegend,<br />

der <strong>In</strong>nenseite des rechten Oberschenkels,<br />

ein Trauma an der Umschlagfalte der Konjunktiva<br />

des rechten Auges, Blutergüsse in der Schleimhaut des<br />

Mundvorraums und des Zahnfleischs sowie des linken<br />

Oberkiefers. Die Leiche war unbekleidet. An Kleidung<br />

wurde neben der Leiche gefunden : eine Strickjacke aus<br />

Wolle, auf der Rückseite zerrissen (zerschnitten) ; ein<br />

Baumwollrock, eine Seitennaht zerrissen ; ein auf dem<br />

Rücken längs entzweigerissenes gelb-weißes T-Shirt ; ein<br />

beigefarbener Büstenhalter, hinterer Träger zerrissen (zerschnitten)<br />

; ein beigefarbener Baumwollschlüpfer.<br />

Das gerichtsmedizinische Gutachten Nr. 22 vom 30.<br />

April 2000 kommt zu dem Schluss : Die an der Leiche<br />

festgestellten Ekchymosen (im Gesicht und an der linken<br />

Hüfte), die Blutergüsse in der Schleimhaut des Mundvorraums<br />

sowie die Wunde am rechten Auge rühren von<br />

der Einwirkung eines stumpfen, festen Gegenstandes<br />

(stumpfer, fester Gegenstände) mit begrenzter Oberfläche<br />

her. Die schädigende Einwirkung bestand in einem<br />

Schlag. Die Ursache für den Tod Elsa Kungajewas bildete<br />

die Kompression des Halses durch einen stumpfen, festen<br />

120


Gegenstand (stumpfe, feste Gegenstände), wodurch sich<br />

eine Asphyxie entwickelte. Die genannten Verletzungen<br />

traten vor dem Tod ein und können in der Zeit und<br />

unter den Umständen entstanden sein, wie sie in der zur<br />

Untersuchungsanordnung gehörenden Fallbeschreibung<br />

ausgewiesen sind.<br />

Der als Zeuge vernommene Ermittler der Militärstaatsanwaltschaft,<br />

Hauptmann der Justiz Alexej Viktorowitsch<br />

Simuchin, sagte aus, dass er am 27. März 2000<br />

die Anordnung erhielt, Budanow für die Überstellung<br />

nach Chankala zum Hubschrauberstartplatz des Truppenteils<br />

13206 zu bringen. Budanow sei im Zusammenhang<br />

mit den Ermittlungen außerordentlich erregt gewesen,<br />

habe ihn, Simuchin, auszufragen versucht, wie<br />

er sich verhalten, was er am besten tun und sagen solle.<br />

Als Mitglied der Untersuchungsgruppe unternahm Simuchin<br />

in Begleitung des Zeugen Jegorow am Morgen<br />

des 28. März 2000 eine Suchaktion zur Auffindung der<br />

Leiche Elsa Kungajewas. Jegorow zeigte ihm freiwillig,<br />

wo die Geschädigte vergraben war. Simuchin stellte fest,<br />

dass auf Grund der äußerst sorgfältigen Tarnung und<br />

Abdeckung der Begräbnisstätte mit Rasenstücken die<br />

Stelle ohne den entsprechenden Hinweis Jegorows zur<br />

gegebenen Zeit nicht zu entdecken gewesen wäre. Die<br />

Leiche war in halb sitzender Haltung vergraben und<br />

vollkommen nackt.<br />

Aussage des Geschädigten Roman Witaljewitsch Bagrejew,<br />

geboren am 12. Februar 1975 in Nikopol, Gebiet Dnepro-<br />

121


petrowsk, Ukraine, Oberleutnant, stellvertretender Stabschef<br />

des Panzerbataillons des Truppenteils 13206.<br />

Seit dem 1. Oktober 1999 war der Geschädigte als Angehöriger<br />

des 160. Regiments an der Anti-Terror-Operation<br />

beteiligt. Nach eigenen Angaben hegte er keine persönlichen<br />

Vorbehalte gegen Budanow und Fjodorow.<br />

Am 20. März 2000 erfolgte die Verlegung der Aufklärungskompanie<br />

aus dem Dorf Komsomolskoje nach<br />

Tangi. Im Regiment wurde unter den einzelnen Einheiten<br />

ein Wettbewerb ausgerufen, welche Kompanie in<br />

Bezug auf Ordnung und Disziplin vorbildlich war. Den<br />

ersten Platz belegte die Fliegerabwehrdivision. Fjodorow<br />

wollte das Ergebnis nicht akzeptieren und erklärte, die<br />

Aufklärungskompanie sei trotzdem die beste. Um dies<br />

gegenüber Budanow zu beweisen, bestand Fjodorow am<br />

26. März darauf, in der Unterkunft der Aufklärungskompanie<br />

eine <strong>In</strong>spektion vorzunehmen. Nach 18.00 Uhr trafen<br />

Budanow, Fjodorow, Siliwanez und Arsumanjan in<br />

der Unterkunft ein. Budanow war nicht nüchtern, hatte<br />

sich jedoch vollständig unter Kontrolle. Fjodorow war<br />

stark betrunken, sprach undeutlich und schwankte. Fjodorow<br />

wollte Budanow veranlassen, die Gefechtsbereitschaft<br />

der Kompanie zu prüfen. Dreimal oder noch öfter<br />

lehnte Budanow ab, doch Fjodorow beharrte weiter auf<br />

seinem Vorschlag. Budanow gab nach und erteilte den<br />

Befehl ›Zu den Waffen, fertig zum Gefecht‹.<br />

Daraufhin lief Bagrejew sofort zu den Schützengräben<br />

der Kompanie, gefolgt von Fjodorow. Die Fahrzeuge<br />

bezogen Stellung an der Feuerlinie. Budanow befand<br />

122


sich zu diesem Zeitpunkt in der Nachrichtenzentrale. Er<br />

wusste, dass in jedem Startfahrzeug auf der Ladeachse<br />

stets 1 Schuss Munition – eine Splittergranate – liegt.<br />

Zu dem Zeitpunkt gab es außer dem Befehl Fjodorows<br />

keinerlei Grund für die Eröffnung des Feuers auf das<br />

Dorf Tangi.<br />

Nachdem die Gefechtsbesatzungen Position bezogen<br />

hatten, befahl Bagrejew, die Splittergranaten durch eine<br />

Hohlladung zu ersetzen und einen Warnschuss abzugeben.<br />

Bei Warnschüssen mit Hohlladungen vernichtet sich<br />

das Geschoss selbst, wenn es auf keinen Widerstand trifft,<br />

während Splittergranaten nicht mit einem Selbstvernichtungsmechanismus<br />

ausgestattet sind. Durch das Auswechseln<br />

der Ladungen kam es zu einer Verzögerung.<br />

Das Fahrzeug Nr. 380 feuerte einen Warnschuss über<br />

die Häuser des Dorfes ab. Als Fjodorow das sah, sprang<br />

er auf das Fahrzeug der zweiten Gefechtsbesatzung und<br />

befahl dem Richtschützen, Tangi zu beschießen. Unzufrieden<br />

mit der Vorgehensweise des Kompaniechefs,<br />

packte Fjodorow Bagrejew an der Uniform und beschimpfte<br />

ihn rüde. Budanow befahl Bagrejew zu sich.<br />

Als dieser in die Nachrichtenzentrale kam, befanden sich<br />

dort Budanow und Fjodorow, die ihn verprügelten.<br />

Die Ortsbesichtigung ergab, dass zu der in Rede stehenden<br />

Zeit am 27. März 2000 südwestlich vom Stab des<br />

Truppenteils 13206 in einer Entfernung von 25 m zum<br />

Befehlsstand eine Grube ausgehoben war. Darüber lagen<br />

drei zurechtgesägte Bohlen. Die Grube wies eine Länge<br />

von 2,4 m, eine Breite von 1,6 m und eine Tiefe von 1,3 m<br />

123


auf, die Wände waren mit Ziegelsteinen ausgemauert, der<br />

Boden bestand aus festgestampfter Erde.«<br />

Diese Stelle der Anklageschrift im Fall Budanow verdient<br />

einen Kommentar :<br />

Das, was Sie gerade gelesen haben, ist die erste juristische<br />

Beschreibung eines so genannten »Sindan«, einer<br />

Foltergrube, wie sie im zweiten Tschetschenien-Krieg bis<br />

heute weite Verbreitung finden und in fast jedem Truppenteil<br />

anzutreffen sind. <strong>In</strong> der Regel werden gefangene<br />

Tschetschenen in die Sindans gesteckt, mitunter auch<br />

Soldaten, die sich etwas zu Schulden kommen lassen,<br />

und in seltenen Fällen Offiziere niederer Dienstränge.<br />

»Aussage des Zeugen Dmitri Igorjewitsch Pachomow,<br />

Soldat :<br />

Am 26. März 2000 gegen 20.00 Uhr schrie Fjodorow<br />

Bagrejew an : ›Dir Jungspund werde ich schon noch beibringen,<br />

meine Befehle zu befolgen.‹ Fjodorow stieß unflätige<br />

Beschimpfungen und Beleidigungen gegen Bagrejew<br />

aus. Es war schrecklich mit anzusehen. Dann erteilte<br />

Fjodorow den Befehl, Bagrejew zu fesseln und in<br />

die Grube zu stecken. Es gab im Regiment schon Fälle,<br />

wo etwas Derartiges mit betrunkenen Zeitsoldaten gemacht<br />

wurde, doch mit dem Kommandeur der Aufklärungskompanie,<br />

das war unfassbar.<br />

Etwa eine Stunde später alarmierte Budanow den Stabszug<br />

ein zweites Mal. Als die Mannschaft an der Grube<br />

eintraf, lag Bagrejew bereits auf der Erde. Budanow und<br />

124


Fjodorow schlugen ihn erneut. Danach musste der Stabszug<br />

auf Budanows Befehl Bagrejew wieder fesseln und<br />

in die Grube stecken. Fjodorow sprang hinterher und<br />

schlug dort weiter auf Bagrejew ein. Bagrejew schrie und<br />

stöhnte. Dann sprang Siliwanez in die Grube und zog<br />

Fjodorow heraus. Gegen zwei Uhr nachts hörte Pachomow,<br />

der sich in seinem Zelt befand, eine Maschinengewehrsalve.<br />

Wie er erfuhr, hatte Suslow die Schüsse<br />

abgegeben, um Fjodorow, der noch einmal zu Bagrejew<br />

wollte, zur Räson zu bringen.<br />

Das Strafverfahren gegen die Beschuldigten Igor Wladimirowitsch<br />

Grigorjew, Artjom Iwanowitsch Li-en-schou<br />

und Alexander Wladimirowitsch Jegorow wegen Vertuschung<br />

und unterlassener Meldung des von Budanow begangenen<br />

Mordes an Elsa Kungajewa gemäß Paragraf 316<br />

des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation wurde<br />

infolge einer Amnestie eingestellt.<br />

Das stationär erstellte gerichtsmedizinische Gutachten<br />

gelangt zu dem Schluss, dass Budanow im Zeitraum<br />

der ihm zur Last gelegten Handlungen gegen Bagrejew<br />

an keiner temporären, krankhaften Störung seiner Psyche<br />

litt und sich nicht im Zustand eines pathologischen<br />

oder physiologischen Affekts befand. Im Augenblick der<br />

Ermordung Elsa Kungajewas befand er sich hingegen in<br />

einem kurzzeitigen, vorübergehenden, situativ bedingten<br />

psycho-emotionalen Zustand des kumulativen Affekts.<br />

Er war sich des faktischen Charakters und der Bedeutung<br />

seiner Handlungen nicht in vollem Maße bewusst,<br />

125


konnte sie nicht willentlich steuern und kontrollieren.<br />

Auf der Grundlage des oben Dargestellten werden<br />

a ngek lag t :<br />

Juri Dmitrijewitsch Budanow<br />

Iwan Iwanowitsch Fjodorow<br />

gezeichnet :<br />

Oberst der Justiz Sch. M. Achmedow<br />

Stellvertretender Militärstaatsanwalt des Militärbezirks<br />

Nordkaukasus«<br />

De r Pr o z e s s<br />

Im Sommer des Jahres 2001 kam der Fall Budanow vor<br />

Gericht. Der erste Richter, der über Budanows Verbrechen<br />

zu befinden hatte, war Oberst Viktor Kostin vom<br />

Militärgericht des Militärbezirks Nordkaukasus in Rostow<br />

am Don, wo auch der Stab des genannten Militärbezirks<br />

seinen Sitz hat. <strong>In</strong> dieser Stadt ist der Einfluss der Militärs<br />

allenthalben spürbar. Hier befindet sich das zentrale<br />

Armeelazarett, das Tausende in Tschetschenien verwundete<br />

Angehörige der Streitkräfte als Krüppel entließ. Hier<br />

leben zahlreiche Familien von Offizieren, die in Tschetschenien<br />

im Einsatz sind. <strong>In</strong> gewissem Sinne ist Rostow<br />

am Don eine Frontstadt, was nicht ohne Einfluss blieb<br />

auf den Verlauf des Gerichtsverfahrens gegen Budanow.<br />

Vor dem Gerichtsgebäude bekundeten Demonstranten mit<br />

Plakaten ihre Unterstützung für Budanow, Protestkundgebungen<br />

unter der Losung »<strong>Russland</strong> wird abgeurteilt !«<br />

126


oder »Freiheit für den Helden <strong>Russland</strong>s !« bildeten die<br />

ständige öffentliche Begleitmusik zu diesem Prozess.<br />

Der erste Teil der Sitzungen dauerte mehr als ein Jahr,<br />

vom Sommer 2001 bis zum Oktober 2002, und diente<br />

nicht der Wahrheitsfindung, sondern ausschließlich dazu,<br />

den Angeklagten von allen ihm zur Last gelegten Verbrechen<br />

reinzuwaschen. Über die gesamte Sitzungsperiode<br />

hinweg demonstrierte Richter Kostin unverhohlen seine<br />

Voreingenommenheit, indem er sämtliche Anträge von<br />

Seiten der Geschädigten, der Familie Kungajew, ablehnte<br />

und keinen einzigen Zeugen zuließ, dessen Aussage<br />

Budanow möglicherweise belasten konnte. Selbst General<br />

Gerassimow und General Werbizki wurden nicht in<br />

den Zeugenstand gerufen. Ebenso offen nahm in dieser<br />

Phase auch der Staatsanwalt Partei für den Angeklagten,<br />

den er faktisch verteidigte, statt, wie es das Gesetz von<br />

ihm verlangt, die <strong>In</strong>teressen des Opfers zu wahren.<br />

Was im Gericht geschah, wiederholte sich außerhalb<br />

seiner Mauern. Die öffentliche Meinung war mehrheitlich<br />

auf Seiten Budanows : Meetings vor dem Gerichtsgebäude<br />

mit kommunistischen roten Fahnen, zu Beginn<br />

jeder Sitzung Blumen für den Angeklagten, ein Verteidigungsminister,<br />

der vor laufenden Kameras und Mikrofonen<br />

erklärte, Budanow sei »zweifelsohne unschuldig«.<br />

Ideologisch wurde die Reinwaschung Budanows<br />

mit folgender Argumentation untermauert : Ja, er hat<br />

ein Verbrechen begangen, aber er hatte das Recht, so<br />

mit Elsa Kungajewa umzuspringen, weil er in einem<br />

Krieg an einem Gegner Vergeltung übte und weil er<br />

127


das Mädchen für diejenige Heckenschützin hielt, die<br />

im Februar 2000, während der schweren Kämpfe in<br />

der Argun-Schlucht, mehrere Offiziere des Regiments<br />

getötet hatte. An »Feinden« Vergeltung zu üben – wobei<br />

mit »Feinden« die Tschetschenen gemeint waren –, das<br />

sei nur zu gerecht.<br />

Für die Kungajews war es zu Beginn des Prozesses<br />

außerordentlich schwer, einen Rechtsanwalt zu finden.<br />

Die Familie, arm, kinderreich und ohne gesichertes Einkommen,<br />

musste nach dem tragischen Tod der Tochter<br />

in ein Flüchtlingslager in <strong>In</strong>guschetien übersiedeln, aus<br />

Furcht, die Militärs könnten sich dafür rächen, dass sie,<br />

die Eltern, die Sache vor Gericht gebracht hatten. Die<br />

Familie wurde mehrfach bedroht. Weil die Kungajews<br />

ganz allein dastanden, gewann die Menschenrechtsgesellschaft<br />

»Memorial« – die eigentlich in Moskau ihren<br />

Sitz hat, aber ein Büro in Rostow am Don unterhält – in<br />

eigener <strong>In</strong>itiative Rechtsbeistände für die Kungajews und<br />

übernahm lange Zeit auch deren Bezahlung.<br />

Der erste Anwalt war Abdula Chamsajew, einer der<br />

dienstältesten tschetschenischen Juristen, allerdings seit<br />

Jahren in Moskau ansässig, und ein weitläufiger Verwandter<br />

der Familie Kungajew. Wenn Chamsajews Verteidigung<br />

über einen langen Zeitraum hinweg ineffektiv<br />

blieb, ist das nicht ihm anzulasten. Unsere Gesellschaft<br />

mit ihren zunehmend rassistischen Zügen hegt ein tiefes<br />

Misstrauen gegenüber Menschen aus dem Kaukasus oder<br />

schlimmer noch : aus Tschetschenien. So brachten die<br />

Pressekonferenzen, die Chamsajew in Moskau einberief,<br />

128


um publik zu machen, wie der Prozess im Militärgericht<br />

von Rostow am Don verlief, keinerlei Nutzen. Die<br />

Journalisten glaubten nicht, was ihnen Chamsajew sagte,<br />

und so entstand in der Öffentlichkeit keine Bewegung<br />

zur Unterstützung der Kungajews. Allein eine solche<br />

Bewegung aber konnte die Fortsetzung dieses bereits<br />

in der unmittelbaren Anfangsphase wieder ins Stocken<br />

geratenen politischen Verfahrens bewirken.<br />

<strong>In</strong> dieser Situation stellte »Memorial« Chamsajew den<br />

jungen Moskauer Rechtsanwalt Stanislaw Markelow zur<br />

Seite. Markelow, der im Übrigen demselben überregionalen<br />

Juristenkollegium angehörte wie auch Budanows Verteidiger,<br />

hatte in der Vergangenheit vor allem durch seine<br />

Vorgehensweise bei Gerichtsverfahren im Zusammenhang<br />

mit Terrorismus und politischem Extremismus (Sprengung<br />

des Denkmals zu Ehren von Zar Nikolaus II. bei<br />

Moskau ; versuchte Sprengung eines Denkmals für Peter<br />

den Großen ; Ermordung eines russischen Staatsbürgers<br />

afghanischer Nationalität durch Skinheads) von sich reden<br />

gemacht.<br />

Markelow war Russe, und diesem Umstand kam<br />

zum damaligen Zeitpunkt grundsätzliche Bedeutung<br />

zu. »Memorial« hatte die richtige Wahl getroffen, denn<br />

in der Folgezeit gelang es Markelow dank seines energischen<br />

Handelns, einer klug ausgearbeiteten Taktik und<br />

großen Geschicks im Umgang mit der Presse, das <strong>In</strong>teresse<br />

einer breiten Öffentlichkeit, vor allem aber der russischen<br />

und ausländischen Journalisten in Moskau auf<br />

das Verfahren zu lenken. Dieser Umstand führte eine<br />

129


entscheidende Wendung in der Entwicklung des Budanow-Prozesses<br />

herbei.<br />

Im Folgenden soll zitiert werden, welches Bild sich<br />

Markelow bei seinem Eintritt in das faktisch nichtöffentlich,<br />

unter Ausschluss der Medien geführte Gerichtsverfahren<br />

bot :<br />

– »Die Atmosphäre im Saal war dadurch geprägt, dass<br />

es das Gericht sehr eilig hatte, kein einziges unserer<br />

Gesuche substanziell prüfen wollte und alles beiseite<br />

schob, was gegen Budanow ausgelegt werden konnte.<br />

Zugelassen war nur, was seiner Verteidigung diente, die<br />

Linie seiner Anwälte unterstützte. Sämtliche Anträge, die<br />

wir stellten, etwa zur Vorladung ›unserer‹ Zeugen, zur<br />

Hinzuziehung von Experten oder der Erstellung unabhängiger<br />

Gutachten, ignorierte das Gericht völlig. Ich<br />

hatte den Eindruck, dass Richter Kostin die Anträge<br />

nicht einmal las. Denn was auch immer ihr Gegenstand<br />

war, wir bekamen sie postwendend mit einer Ablehnung<br />

zurück. Und das bei mehr als zehn Anträgen pro Tag.«<br />

– »Warum haben Sie so viele Anträge eingereicht ? Meinen<br />

Sie nicht, dass diese Antragsflut das Gericht auch reizen<br />

konnte ? War eine derartige Strategie vernünftig ?«<br />

– »Der Grund dafür ist simpel : Das Gericht beging<br />

eine Verletzung der Strafprozessordnung nach der anderen,<br />

und wir als Anwälte mussten darauf reagieren. Warum<br />

es zum Beispiel so viele Anträge gab ? Und woher auf<br />

einmal all die Leute kamen, die wir von Seiten der Geschädigten<br />

als Zeugen vorladen lassen wollten ? Weshalb<br />

zumindest um zwei von ihnen ein so heftiges Tauziehen<br />

130


entbrannte und das Gericht alles tat, damit sie nicht aussagen<br />

konnten ? Ich erinnere an die Tatumstände : Einen<br />

Tag vor dem Verbrechen, am 26. März 2000, hatte Budanow<br />

zusammen mit anderen Offizieren im Dorf zwei<br />

Tschetschenen festgenommen. Einer der beiden habe<br />

ihm, so behauptete Budanow, das Haus gezeigt, in dem<br />

eine Familie wohnte, die angeblich die Terroristen unterstützte<br />

oder deren Mitglieder selbst Terrorgruppen<br />

angehörten. Die Namen der beiden <strong>In</strong>formanten finden<br />

sich in den Prozessunterlagen, sie wurden nicht verheimlicht.<br />

Wir, die Verteidigung, versuchten herauszufinden,<br />

wer diese Leute sein konnten, die Budanow das Haus der<br />

Kungajews zeigten und ihn damit auf eine falsche Fährte<br />

setzten. Wenn sich denn freilich alles so abgespielt, sie<br />

ihn tatsächlich in die Irre geführt hatten. Ein plausible<br />

Position : Sollten die beiden doch vor Gericht erscheinen<br />

und die Gründe für ihr Handeln erklären. Und da begannen<br />

die Ungereimtheiten … Wir fanden heraus : Einer<br />

der ›<strong>In</strong>formanten‹ war taubstumm. Also physisch außer<br />

Stande, Budanows Frage, wo in Tangi-Tschu die Heckenschützin<br />

wohne, überhaupt zu verstehen. Und ebenso<br />

unfähig, darauf zu antworten. <strong>In</strong> den Prozessunterlagen<br />

heißt es aber bemerkenswerterweise, dieser taubstumme<br />

<strong>In</strong>formant habe Budanow alles ›erzählt‹ !«<br />

– »Und der andere ?«<br />

– »Er ließ sich noch leichter finden. Am 26. März hatten<br />

nämlich Journalisten der ›Krasnaja swesda‹, der Armeezeitung<br />

des Verteidigungsministeriums, diesen zweiten<br />

<strong>In</strong>formanten nach seinem Treffen mit Budanow rein<br />

131


zufällig neben dem Oberst fotografiert. Just an diesem<br />

Tag waren die Journalisten in der Siedlung Tangi-Tschu<br />

gewesen, und elf der dort von ihnen aufgenommenen<br />

Fotos sind Bestandteil der Verfahrensunterlagen, auf Beschluss<br />

der Militärstaatsanwaltschaft, die die Voruntersuchung<br />

führte. Folglich durfte es ein Leichtes sein, diesen<br />

Mann anhand der Fotos zu identifizieren und ihn vor<br />

Gericht bestätigen zu lassen, dass Budanow an jenem<br />

verhängnisvollen Abend nach Tangi-Tschu fahren wollte,<br />

um Terroristen festzunehmen. Das war unser Gedankengang,<br />

eine wichtige, prinzipielle Überlegung, darin<br />

werden Sie mir sicher beipflichten. Doch nun begannen<br />

erneut unerklärliche Widersinnigkeiten : Wir betrachteten<br />

die von den Journalisten der ›Krasnaja swesda‹ zur<br />

Verfügung gestellten Fotos genauer und entdeckten, dass<br />

als Aufnahmedatum der 25. März und nicht der 26. ausgewiesen<br />

war. Zur Untermauerung seiner Version hatte<br />

Budanow, wie die Materialien der Voruntersuchung zeigen,<br />

aber stets auf diesem Datum beharrt. Am 26. März<br />

hätten ihm, wie erinnert werden darf, die <strong>In</strong>formanten<br />

von den Heckenschützinnen erzählt. Beseelt von dem<br />

Wunsch, die getöteten Kameraden zu rächen, und durch<br />

das gerade Erfahrene in höchste nervliche Anspannung<br />

versetzt, sei er losgefahren, um die Heckenschützin zu<br />

verhaften. Er kann kaum den Abend abwarten, steht<br />

völlig im Bann heftiger Gefühle, und geleitet von diesen<br />

Empfindungen, die das gerichtsmedizinische Gutachten<br />

bereits für gerechtfertigt erklärt hat, übt er an der als<br />

›Feind‹ betrachteten Heckenschützin Vergeltung für die<br />

132


getöteten Kameraden, nach den Gesetzen des Krieges.<br />

Wenn Budanow die entsprechende <strong>In</strong>formation nun aber<br />

bereits am 25. März erhalten hat, von welchen spontanen<br />

Reaktionen – Gefühlen, die den Oberst vollkommen<br />

überwältigten und sein Verhalten rechtfertigen – kann<br />

dann noch die Rede sein ? Zeugen sagten aus, dass Budanow<br />

den gesamten 25. März über und auch am 26. März<br />

vormittags, bis zum Beginn des von ihm initiierten Umtrunks<br />

anlässlich des Geburtstags seiner kleinen Tochter,<br />

ruhig gewesen sei und keinerlei Absicht bekundet habe,<br />

sich an irgendeiner Heckenschützin zu rächen.«<br />

– »Lassen Sie uns dennoch objektiv sein. Da verwechselt<br />

jemand ein Datum. So etwas kommt vor. Dort ist<br />

schließlich Krieg … Was soll’s.«<br />

– »Nein, nicht ›was soll’s‹. Derartige Unstimmigkeiten<br />

in den Details finden sich im Fall Budanow auf Schritt<br />

und Tritt. Alles, was sich nur irgendwie ›hinbiegen‹ ließ,<br />

wurde hingebogen. So besagen die Materialien der Voruntersuchung<br />

beispielsweise, der <strong>In</strong>formant habe auf ein<br />

›schmutzig weißes Haus‹ gezeigt, in dem die Heckenschützin<br />

wohnen sollte. Das Haus der Kungajews, aus<br />

dem Budanow Elsa entführte, ist jedoch ein roter Backsteinbau,<br />

wie ein Foto, das wir dem Gericht vorlegten,<br />

eindeutig erkennen lässt.«<br />

– »Und wie hat Richter Kostin darauf reagiert ?«<br />

– »Überhaupt nicht, wie immer … Und noch ein Beispiel<br />

: Glaubt man Budanows Worten, dann hatte ihm<br />

der <strong>In</strong>formant berichtet, die Heckenschützin wohne in<br />

der Saretschnaja-Straße. Entführt wurde Elsa Kungajewa<br />

133


jedoch aus ihrem Elternhaus in der Saretschnaja-Straße,<br />

die einen Kilometer von der gleichnamigen Straße entfernt<br />

am entgegengesetzten Ende der Siedlung liegt.<br />

Schwer vorstellbar, dass der <strong>In</strong>formant Budanow nicht<br />

wenigstens die Richtung gezeigt haben soll, in der er<br />

die Heckenschützin finden konnte. All diese Unstimmigkeiten<br />

lassen selbst den juristisch unbedarften Laien<br />

erkennen : Das Gericht war einfach dazu verpflichtet,<br />

den <strong>In</strong>formanten anzuhören, es musste ein <strong>In</strong>teresse<br />

daran haben, ihn vorzuladen. Um der Wahrheitsfindung<br />

willen ! Was geschah wirklich in Tangi-Tschu, bei dem<br />

entscheidenden Treffen zwischen Budanow und seinem<br />

<strong>In</strong>formanten ? Wollte Budanow eine Heckenschützin festnehmen<br />

? Oder einfach ein hübsches Mädchen in seine<br />

Gewalt bringen ? Und wäre dann nicht die gesamte Ideologie,<br />

die ganze ›Anti-Terror-Operation‹, als deren Held<br />

und Opfer Budanow dargestellt werden soll, vollkommen<br />

unerheblich für den Fall ? Dürfte dann das psychiatrische<br />

Gutachten der Gerichtsmedizin seine Schlussfolgerungen<br />

noch ausnahmslos auf diesen ›Heroismus‹ und den<br />

›Drang nach Rache an einer Heckenschützin‹ gründen ?<br />

Umso mehr, als sich in den Unterlagen Zeugenhinweise<br />

auf zahlreiche vorherige ›Weiber des Obersts‹ finden.<br />

›Der Oberst hat schon wieder ein Weib angeschleppt‹,<br />

gab einer der Soldaten während der Ermittlungen wieder,<br />

und auch andere Angehörige des Truppenteils charakterisierten<br />

anschaulich die im 160. Regiment herrschende<br />

Atmosphäre, beschrieben Details des Alltags im Militärlager<br />

bei Tangi-Tschu.«<br />

134


– »Und was geschah dann ?«<br />

– »Dann erklärte das Gericht, es wolle seinen eigenen<br />

Beschluss nicht ausfuhren. Ein Gericht sei schließlich<br />

kein Suchdienst und nicht verpflichtet, diesen Mann<br />

ausfindig zu machen … Natürlich sind wir Anwälte<br />

aktiv geworden und haben ihn selbst gefunden : Ramsan<br />

Sembijew war wegen Menschenraubs verurteilt worden<br />

und verbüßte seine Freiheitsstrafe in einer Arbeitskolonie<br />

mit strengen Haftbedingungen in Dagestan. Doch<br />

es geht hier nicht um die Persönlichkeit des <strong>In</strong>formanten,<br />

nicht darum, dass Budanows Helfershelfer gemeine<br />

Verbrecher waren. Dass wir Sembijew in einer Arbeitskolonie<br />

aufspürten, bedeutete lediglich : Man konnte<br />

ihn problemlos zum Verhör in den Gerichtssaal bringen.<br />

Denn nach den Strafprozessvorschriften der Russischen<br />

Föderation werden alle Personen, die sich in<br />

juristischem Gewahrsam befinden, in einer speziellen<br />

Datenbank erfasst, auf die auch die Gerichte Zugriff<br />

haben. Um Richter Kostin Arbeit abzunehmen, wiesen<br />

wir sogar nach, wo genau Sembijew seine Strafe verbüßt,<br />

nämlich ganz in der Nähe von Rostow am Don.<br />

Doch auch jetzt lautete die Antwort nur wieder : ›Nein.<br />

Wir brauchen diesen Mann nicht. Er kann dem Gericht<br />

keinerlei wesentliche <strong>In</strong>formationen liefern.‹ Mehr noch,<br />

nach der Ablehnung unseres Antrags ergriff Staatsanwalt<br />

Nasarow (er vertrat zu dem Zeitpunkt, im Mai 2002, die<br />

staatliche Anklage) das Wort zu einer Einlassung, die<br />

bei einem so erfahrenen Juristen überaus merkwürdig<br />

anmutet : Weil der Zeuge ein Verbrecher sei, erklärte<br />

135


Nasarow, würde er ohnehin nicht die Wahrheit sagen,<br />

und es habe keinen Sinn, ›ihn herzuschleppen‹. Ich war<br />

konsterniert. Dem Staatsanwalt schien völlig unwichtig,<br />

dass Sembijew in diesem Verfahren als Zeuge aussagen<br />

sollte, in dem anderen aber als Verbrecher vor Gericht<br />

gestanden hatte.«<br />

– »Wo liegt das Motiv für ein solches Verhalten ?«<br />

– »Das Gericht betrachtete den Fall Budanow allein<br />

unter ideologischen Gesichtspunkten. Der Druck des<br />

Kreml ging in eine einzige Richtung : Budanow sollte<br />

reingewaschen werden. Und alle Fakten, die nicht zu<br />

seinen Gunsten sprachen, wurden für unwichtig erklärt<br />

bzw. außer Acht gelassen. Um diese Linie im Gerichtssaal<br />

durchzusetzen, ging die Staatsanwaltschaft sogar<br />

so weit, ihre verfassungsmäßige Rolle umzudeuten.<br />

Denn seinem Status nach ist ein Staatsanwalt Vertreter<br />

der staatlichen Anklage und hat – im Namen des Staates<br />

– vor allem die <strong>In</strong>teressen der geschädigten Seite zu<br />

wahren. Nasarow aber agierte wie ein Verteidiger des<br />

Angeklagten, den es vor den Ansprüchen der Geschädigten<br />

zu schützen galt. <strong>In</strong> der erwähnten Einlassung<br />

Nasarows kamen darüber hinaus völlig unerklärliche<br />

Dinge zur Sprache. Etwa der Umstand, dass nach unserem<br />

Antrag an das Gericht ein namentlich nicht genannter<br />

örtlicher Staatsanwalt in Dagestan Sembijew in<br />

der Arbeitskolonie aufgesucht und befragt haben soll, ob<br />

er Budanow kenne. Worauf Sembijew angeblich antwortete,<br />

er kenne diesen Mann nicht, habe ihn zum ersten<br />

Mal im Fernsehen gesehen.«<br />

136


– »Wurde die Befragung des <strong>In</strong>formanten durch den<br />

Staatsanwalt vor Gericht in protokollarisch fixierter Form<br />

dokumentiert ?«<br />

– »Natürlich nicht. Staatsanwalt Nasarow lieferte eine<br />

freie Nacherzählung. Das Erstaunlichste ist jedoch, dass<br />

das Gericht die Erklärungen als wahrheitsgemäß und beweiskräftig<br />

akzeptierte, sie weder anzweifelte noch einer<br />

Überprüfung unterzog und kein Protokoll forderte.«<br />

– »Was ändert diese Antwort Sembijews, wenn sie denn<br />

überhaupt so gegeben wurde ?«<br />

– »Glaubt man dem Staatsanwalt aufs Wort, war also<br />

alles so, wie er es schilderte, dann trägt das in jedem<br />

Fall zur Wahrheitsfindung bei. Dann stellt sich nämlich<br />

heraus, dass Sembijew, wenn er Budanow nicht kannte,<br />

ihm auch nicht das Wohnhaus der ›Heckenschützin‹<br />

Elsa Kungajewa gezeigt haben kann und aus irgendeinem<br />

anderen Grund neben Budanow auf das Foto des<br />

Armeekorrespondenten geriet.«<br />

– »Kann man so weit gehen zu behaupten, dass das<br />

Bezirksmilitärgericht alle Anstrengungen unternahm,<br />

um in der Strafsache Nr. 14/00/0012-00 gegen Budanow<br />

kein wahres Bild der begangenen Verbrechen entstehen<br />

zu lassen ? Dass dieses Gericht also das Gegenteil von<br />

dem tat, wozu es laut Verfassung und geltender Gesetzgebung<br />

verpflichtet ist ?«<br />

– »Ja. Ich möchte noch eine Episode schildern, bei der<br />

das Gericht keinerlei dokumentarische Beweisführung<br />

forderte. Ein wichtiges <strong>In</strong>diz – sowohl in der Verhandlung<br />

als auch im gerichtsmedizinischen Gutachten – war<br />

137


das Foto, das Budanow angeblich lange Zeit bei sich<br />

trug und auf dem Elsa Kungajewa und ihre Mutter zu<br />

sehen waren. Beide mit Waffen in der Hand. Budanow<br />

behauptete, dieses Foto von Jachjajew, dem Verwaltungschef<br />

der Siedlung Duba-Jurt, erhalten zu haben, damit er<br />

nach den Frauen suchen konnte, die bei den Kämpfen in<br />

der Argun-Schlucht mehrere Offiziere seines Regiments<br />

erschossen hatten. Duba-Jurt, am Eingang zur Argun-<br />

Schlucht gelegen, war tatsächlich im Februar 2000 das<br />

Zentrum schwerer Gefechte, an denen Budanows Regiment<br />

teilnahm. Aber das Foto, auf dem das gerichtsmedizinische<br />

Gutachten seine Schlussfolgerungen aufbaute<br />

und damit den Eindruck erweckte, es liege als Beweisstück<br />

vor, ebendieses Foto findet sich nirgendwo in den<br />

Verfahrensakten. Und war zu keiner Zeit dort. Was erstens<br />

bedeutet, dass das Gutachten lügt. Grund genug,<br />

ihm keinen Glauben zu schenken und die Erstellung einer<br />

neuen Expertise zu fordern. Und zweitens fehlt damit<br />

schlechthin der bei den Ermittlungen von Anfang an ins<br />

Zentrum gerückte Ausgangspunkt für die Reinwaschung<br />

Budanows. Basierte die gesamte Rechtfertigungsstrategie<br />

doch auf diesem Foto. Angeblich hatte Budanow, überwältigt<br />

von starken Empfindungen im Zusammenhang<br />

mit dem tragischen Tod seiner Kampfgefährten durch<br />

die Kugeln von Heckenschützen, das Foto ständig in der<br />

Brusttasche seiner Uniform bei sich getragen und geschworen,<br />

die Heckenschützinnen um jeden Preis zu finden<br />

und zu vernichten. Als er dann von dem <strong>In</strong>formanten<br />

die Adresse erfuhr, gingen, so die Darstellung, seine<br />

138


Nerven mit ihm durch und er beschloss, selbst Gericht<br />

zu spielen, statt die Rechtsschutzorgane einzuschalten.«<br />

– »Nun gut, selbst wenn sich das Foto nicht in den<br />

Verfahrensakten befindet, dann bleibt doch immer noch<br />

der Verwaltungschef von Duba-Jurt als wichtiger Zeuge.<br />

Man konnte Jachjajew doch vor Gericht verhören.«<br />

– »Allerdings nur, wenn man einer normalen verfahrensrechtlichen<br />

Logik folgt, bei der es um die Wahrheitsfindung<br />

und den Nachweis der tatsächlichen Schuld eines<br />

jedes Einzelnen geht. Doch unsere Gerichtsbarkeit ist<br />

eine andere, sie ist ideologisch und schützt die <strong>In</strong>teressen<br />

von Kriegsverbrechern in der Annahme, damit zugleich<br />

die <strong>In</strong>teressen des Staates zu wahren. Also verkündete<br />

Richter Kostin auch diesmal : ›Nein. Wir brauchen Jachjajew<br />

nicht. Er wird uns nichts Wesentliches mitteilen.‹<br />

Dabei hätte Jachjajew eine Wende im Prozessverlauf herbeiführen<br />

können. Wir haben den Chef der Ortsverwaltung<br />

aufgesucht, und er erklärte sich bereit, zur Gerichtsverhandlung<br />

nach Rostow am Don zu kommen. Was er<br />

jedoch nicht einfach so in Eigeninitiative tun konnte,<br />

denn um die Kontrollpunkte in Tschetschenien passieren<br />

und die Republik verlassen zu können, brauchte er eine<br />

richterliche Vorladung. Die er aber nicht erhielt.«<br />

– »Welche Motive bewogen Richter Kostin, selbst eine<br />

Vorladung General Gerassimows abzulehnen ? Immerhin<br />

war es Gerassimow, der am Morgen des 27. März in<br />

das Lager des 160. Regiments fuhr und die Verhaftung<br />

Budanows anordnete.«<br />

– »Dieselben Beweggründe wie in Bezug auf Jachjajew :<br />

139


›Gerassimow kann uns nichts Neues sagen.‹ Eine Formulierung,<br />

an der man sich die Zähne ausbeißt. Richter<br />

Kostin hatte kein <strong>In</strong>teresse an der Vernehmung des Generals,<br />

obwohl der beispielsweise hätte schildern können, in<br />

welchem Zustand sich der Oberst an besagtem Morgen,<br />

unmittelbar nach dem Verbrechen, befand. Dazu gab es<br />

nämlich die unterschiedlichsten Darstellungen. General<br />

Gerassimow hat Budanow damals gesehen und mit ihm<br />

gesprochen. Zeigte Budanow zum Beispiel Anzeichen für<br />

einen Kater ? Das Gutachten bezweifelte ja allen Ernstes,<br />

dass er in der Verbrechensnacht überhaupt betrunken<br />

war, ließ ihn ›nüchtern‹ werden, obwohl Zeugen bei<br />

der Voruntersuchung mehrfach darauf verwiesen, dass<br />

Budanow am Vorabend des Mordes an Elsa Kungajewa<br />

getrunken hatte. Wie war das Verhalten Budanows am<br />

Morgen des 27. März ? Befand er sich, wie das erste der<br />

insgesamt sechs Gutachten formuliert, in einem veränderten<br />

Zustand infolge eines Alkoholrauschs ? Oder als<br />

Ergebnis von Unzurechnungsfähigkeit ? Wenn eine solche<br />

Unzurechnungsfähigkeit aber nach Auffassung unabhängiger<br />

Experten nicht binnen weniger Stunden verschwinden<br />

kann, war Budanow dann also zurechnungsfähig,<br />

sich seiner Handlungen bewusst ? Warum behauptet das<br />

erste Gutachten, er sei sich dieser Handlungen nicht<br />

bewusst gewesen und trüge folglich keine juristische Verantwortung<br />

für die Verbrechen ? Vielleicht, weil Budanow<br />

wiederum reingewaschen werden sollte ?«<br />

– »Außerdem hätte sich durch ein Verhör Gerassimows<br />

feststellen lassen können, ob Budanow beispielsweise bei<br />

140


seiner Festnahme Widerstand leistete. Als General Gerassimow,<br />

begleitet von einer Sonderheit, im 160. Regiment<br />

eintraf, um Budanow festzunehmen, zwang Budanow ja<br />

bekanntlich die Soldaten der Aufklärungskompanie dazu,<br />

bewaffneten Widerstand zu leisten, was um ein Haar<br />

einen verhängnisvollen Schusswechsel zwischen beiden<br />

Einheiten provoziert hätte.«<br />

– »<strong>In</strong> der Tat. Budanow zog damals ebenfalls seinen<br />

Revolver, was General Gerassimow befürchten ließ, er<br />

könne jemanden niederschießen. Doch nach kurzer Überlegung<br />

schoss sich Budanow in den Fuß. All das belegen<br />

die Verfahrensakten, und die hätte das Gericht auswerten<br />

müssen, was es jedoch nicht tat. Zusammenfassend<br />

lässt sich sagen, dass im Verlauf des Prozesses alles vom<br />

Tisch gewischt wurde, was nicht zu Budanows Gunsten<br />

sprach.«<br />

– »Gut, aber wenn der Oberst bei seiner Festnahme<br />

tatsächlich Widerstand leistete, was konnte das schon<br />

noch ändern ?«<br />

– »Sehr viel. Zum einen ist das ein zusätzlicher Straftatbestand.<br />

Und zum anderen eine wichtige Kennzeichnung<br />

der Persönlichkeit Budanows. Dieses Gericht, das<br />

sämtliche Anträge und alle Zeugen der Verteidigung<br />

ablehnte, fand sich sehr wohl bereit, einen Brief General<br />

Wladimir Schamanows, heute Gouverneur des Gebiets<br />

Uljanowsk, zu den Akten zu nehmen. Dieser Brief an die<br />

Richter enthält keinerlei neue Fakten, weil Schamanow<br />

sich zum Zeitpunkt des Verbrechens überhaupt nicht in<br />

Tschetschenien aufhielt, sondern auf Urlaub in Moskau<br />

141


war. Dafür aber umso mehr Ideologie, indem einfach<br />

behauptet wird, Budanow sei ›unschuldig‹, er habe mit<br />

seiner Festnahme der Heckenschützin Kungajewa vollkommen<br />

legitim gehandelt, sie zu Recht umgebracht,<br />

weil sie Widerstand leistete. Schamanow schrieb an das<br />

Gericht als typischer Aktivist des zweiten Tschetschenien-Kriegs,<br />

als unmittelbarer Vorgesetzter des Obersts,<br />

und schon fand sein Schreiben Eingang in die Verfahrensakten.«<br />

– »Ihrer Schilderung nach handelt es sich bei Schamanows<br />

Brief um eine ideologisch begründete Fürsprache.<br />

Kann man sagen, dass der gesamte Budanow-Prozess<br />

unter ideologischem Vorzeichen geführt wird ? Wenn<br />

sich der Vorsitzende Richter weigert, Gerassimow sowie<br />

Sembijew und Jachjajew als unmittelbare Zeugen anzuhören<br />

und von ihnen konkrete <strong>In</strong>formationen zu erhalten,<br />

dafür aber das ›patriotische‹ Schreiben eines General<br />

Schamanow, der nicht das Geringste zur Wahrheitsfindung<br />

beitragen kann, jedoch in ganz <strong>Russland</strong> bekannt<br />

ist als Ideologe eines gnadenlosen Vorgehens gegen die<br />

Zivilbevölkerung Tschetscheniens, als Verfechter der<br />

These, dass das tschetschenische Volk die kollektive Verantwortung<br />

trägt für die Handlungen einzelner Krimineller,<br />

wenn er ein solches Schreiben also zum Prozessdokument<br />

erklärt ?«<br />

– »Allerdings. Bei den Gerichtsverhandlungen herrschten<br />

Wirrwarr, heilloses Durcheinander und absolute<br />

Unberechenbarkeit. Mit Absicht, wie mir scheint. Dies<br />

alles diente dem Ziel, von der wirklichen Auseinander-<br />

142


setzung mit dem Verfahrensgegenstand, dem Wesen der<br />

Budanow’schen Verbrechen, abzulenken. Alles darzustellen,<br />

als werde hier ein ›Vergeltungsschlag gegen einen<br />

russischen Offizier‹ versucht. Außer den bereits erwähnten<br />

gab es noch weitere Verletzungen der Strafprozessordnung<br />

durch das Gericht. So dauerte das Verlesen<br />

der gesamten Prozessmaterialien – immerhin zehn eindrucksvolle<br />

Bände ! – lediglich anderthalb Stunden.«<br />

– »Wie konnte sie der Richter in dieser Zeit verlesen ?«<br />

– »Das ist es ja gerade, er las nicht, sondern blätterte.<br />

Und als er die Bände durchgeblättert hatte, erklärte er<br />

die Beweisaufnahme für beendet. Um sie am nächsten<br />

Tag überraschend fortzusetzen, ohne irgendeinen diesbezüglichen<br />

Beschluss. Das Procedere des Prozessablaufs<br />

wird auf Schritt und Tritt verletzt. Was uns natürlich die<br />

Chance gibt, das spätere Urteil anzufechten.«<br />

– »Stört es Sie nicht, dass Sie als Russe die <strong>In</strong>teressen<br />

einer tschetschenischen Familie vertreten ? Tschetschenen<br />

werden doch vor Gericht üblicherweise von tschetschenischen<br />

Anwälten und Russen von russischen verteidigt.«<br />

– »Ich arbeite im Auftrag der Menschenrechtsgesellschaft<br />

›Memorial‹, die die gesamte Verteidigung der<br />

Familie Kungajew organisiert hat. Die Familie selbst ist<br />

sehr arm und konnte sich keinen Rechtsanwalt leisten.<br />

Anfangs vertrat Rechtsanwalt Chamsajew ihre <strong>In</strong>teressen,<br />

als er jedoch in der Folgezeit schwer erkrankte, standen<br />

die Kungajews völlig ohne juristischen Beistand da, was<br />

das Gericht ausnutzte, indem es den Prozess so schnell<br />

vorantrieb, dass mit einem baldigen Urteilsspruch gerech-<br />

143


net werden musste. Damals, Mitte Mai 2002, wandte<br />

sich ›Memorial‹ an mich. Als ich in Rostow am Don<br />

auftauchte, wurde ich auf dem Gang ganz direkt gefragt,<br />

in welcher Beziehung zur tschetschenischen Diaspora ich<br />

stünde. Ich antwortete : ›Sehen Sie sich mein Gesicht an.<br />

<strong>In</strong> gar keiner.‹ Worauf die zweite Frage lautete : ›Und was<br />

haben Sie für eine Nationalität ?‹ Das fragte mich nicht<br />

nur der eine oder andere von Budanows Sympathisanten<br />

auf den Fluren des Gerichtsgebäudes, sondern auch<br />

Budanow selbst im Gerichtssaal. Er schrie mich übrigens<br />

bei den Sitzungen ständig an, etwa in der Art : ›Was<br />

ereiferst du dich denn so ?‹«<br />

– »Er hat Sie geduzt ?«<br />

– »Natürlich, er ist Offizier und meint, er könne sich<br />

alles herausnehmen. Für sein ungebührliches Benehmen<br />

bei den Verhandlungen wurde er kein einziges Mal vom<br />

Gericht zur Ordnung gerufen oder verwarnt. Er durfte<br />

alles. Mir scheint sogar, der Richter hatte Angst vor ihm.«<br />

– »Und seine Verteidigung, seine drei Rechtsanwälte,<br />

hat er die auch angeschrien ?«<br />

– »Die natürlich nicht. Als mir die Journalisten in<br />

Rostow mit Fragen nach meiner Nationalität zusetzten,<br />

gab ich zur Antwort : ›Ja, ich bin Russe, wie Sie sehen.<br />

Und gerade deshalb finden Sie mich hier in diesem Verfahren.<br />

Weil ich die Rechtsnormen <strong>Russland</strong>s verteidige.‹<br />

Das Gericht aber verteidigte – im Fahrwasser Budanows –<br />

ein Gewohnheitsrecht. Gerade Budanow hatte nämlich<br />

nach den verzerrten Normen mittelalterlichen tschetschenischen<br />

Rechts gehandelt, als er einen Mord beging<br />

144


in der Überzeugung, Rache zu üben. Und Gericht wie<br />

Öffentlichkeit bestärkten ihn darin. Oberst Budanow<br />

verletzte geltendes russisches Recht, das auch für ihn<br />

Gültigkeit besitzt. Was bei diesem Prozess geschah, stellt<br />

unter Beweis : Die Führung des Landes und der gesamte<br />

Staat schreiben gleichsam fest, dass auf dem Territorium<br />

Tschetscheniens nicht das nationale Recht der Russischen<br />

Föderation, sondern ein staatlich sanktioniertes Recht<br />

der Rache gilt.«<br />

ex P e r t e n s P i e l e<br />

Zu einem der wichtigsten Aspekte des Budanow-Prozesses<br />

geriet das Spiel mit diversen gerichtsmedizinischen<br />

Gutachten. Genau das war es : ein Spiel. <strong>In</strong> den drei Jahren,<br />

die das Verfahren insgesamt dauerte, wurden dem<br />

Oberst zunächst vier psychologisch-psychiatrische Begutachtungen<br />

gewährt und später, nach Aufhebung des<br />

ersten Urteils, noch zwei weitere. Fast alle tragen vornehmlich<br />

politischen Charakter. Sie stützen die jeweilige<br />

Linie, die der Kreml im Fall Budanow gerade verfolgte<br />

und dementsprechend von den Richtern einforderte.<br />

Und in dieser Linie gab es jähe Wendungen, je<br />

nach der politischen Konjunktur und dem Image, das<br />

der Präsident brauchte.<br />

Die beiden ersten Gutachten wurden fast unmittelbar<br />

nach der Tat erstellt, im Zuge der Voruntersuchungen im<br />

Mai und August 2000. Die erste Begutachtung erfolgte<br />

durch Psychiater des Armeelazaretts des Militärbezirks<br />

145


Nordkaukasus sowie des Nordkaukasischen Zentrallabors<br />

für forensische Expertisen des Justizministeriums der<br />

Russischen Föderation, allerdings ohne stationäre Unterbringung<br />

Budanows. Die zweite Begutachtung nahmen<br />

Ärzte des zivilen Gebietskrankenhauses für psychoneurologische<br />

Erkrankungen in Nowotscherkassk vor, nun<br />

bereits nach stationärer Einweisung des Obersts.<br />

Die beiden Gutachten erklärten Budanow übereinstimmend<br />

für zurechnungs-, orientierungs- und kontaktfähig.<br />

Was bedeutete, dass er für seine Verbrechen<br />

zur Verantwortung gezogen werden konnte. Dies war<br />

die Zeit, in der Putin allenthalben die »Diktatur des<br />

Gesetzes« beschwor, die in <strong>Russland</strong> durchgesetzt werden<br />

müsse, und dementsprechend verkündete, alle Angehörigen<br />

der Streitkräfte, die in Tschetschenien Verbrechen<br />

begangen hätten, würden ebenso bestraft wie Kriminelle<br />

oder Mitglieder illegaler bewaffneter Formationen. Hinzu<br />

kam, dass <strong>Russland</strong> in dieser Zeit, nach den schweren<br />

Sturmangriffen und Gefechten der Jahre 1999 und 2000,<br />

Versuche einer Annäherung an die Tschetschenen unternahm.<br />

Achmad Kadyrow, ehemaliger Rebellenführer und<br />

Großmufti unter dem 1996 getöteten ersten tschetschenischen<br />

Präsidenten Dshochar Dudajew, wurde in das<br />

höchste Staatsamt gehoben. Zwar hatte er früher zum<br />

Heiligen Krieg gegen <strong>Russland</strong> aufgerufen, dann aber<br />

»alles eingesehen« und sich nun dem Kreml angedient.<br />

Bezeichnenderweise betonen die beiden ersten Gutachten<br />

gleichermaßen einen Umstand : <strong>In</strong> dem Augenblick,<br />

als Budanow Elsa Kungajewa erstickte, habe er sich<br />

146


vermutlich in einer Art Affekt befunden. Der Oberst<br />

offenbare Merkmale, die mit Wahrscheinlichkeit auf eine<br />

organische Schädigung des Gehirns hindeuteten, was<br />

wiederum die Annahme zulasse, der Oberst leide an<br />

einer organischen »Störung der Persönlichkeit und des<br />

Verhaltens«.<br />

Dem Verteidigungsministerium missfielen diese<br />

Schluss folgerungen seinerzeit sehr, weil sie zweierlei bedeuteten<br />

: Erstens musste Budanow entsprechend der Gesetzgebung<br />

der Russischen Föderation mit aller Härte<br />

bestraft werden, wenn er zurechnungsfähig war. Und<br />

zweitens kämpften demnach in den Streitkräften Offiziere<br />

mit organischen Schädigungen des Gehirns und<br />

der Persönlichkeit, wurden von keinem Arzt behandelt<br />

(was absolut der Wahrheit entsprach), befehligten Hunderte<br />

von Menschen, trugen die Verantwortung für modernste<br />

Waffen.<br />

Als der Prozess begann, trat sehr schnell zu Tage, dass<br />

die Schlussfolgerungen der Psychiater auch Richter Kostin<br />

nicht ins Kalkül passten. Zumindest zwei der möglichen<br />

Gründe sind offensichtlich : Erstens war Kostin als Militärrichter<br />

selbst Teil des Verteidigungsministeriums. Das<br />

ist nun einmal der Status quo in <strong>Russland</strong> : Hier gibt es<br />

spezielle Militärgerichte für Verbrechen von Angehörigen<br />

der Streitkräfte, und die Militärrichter, die diese Verbrechen<br />

verhandeln, müssen sich dem Militärsystem bedingungslos<br />

unterordnen, denn sie sind Fleisch von seinem<br />

Fleische und vollkommen abhängig von der Führung der<br />

Truppenteile (sei es nun eine Garnison oder das Vertei-<br />

147


digungsministerium), wenn es um Wohnungen, Gehälter<br />

oder Beförderungen geht. Ein hässliches System, doch es<br />

funktioniert nun einmal so, dass Richter Kostin seine<br />

Wohnung, sein Gehalt und seine Beförderung ausschließlich<br />

vom Stab des Militärbezirks Nordkaukasus zugeteilt<br />

bekommt, von genau jenem Stab also, dem auch Budanow<br />

unterstellt war und der in Bezug auf den angeklagten<br />

Oberst mehrfach verlauten ließ, dieser sei unschuldig und<br />

solle nur für seinen redlichen Dienst am Vaterland büßen.<br />

Der zweite Grund besteht darin, dass zu Beginn des<br />

Budanow-Prozesses eine neue politische Großwetterlage<br />

in <strong>Russland</strong> eintrat. Der Kreml verabschiedete sich peu<br />

à peu von seinen Demokratie-Spielen und der »Diktatur<br />

des Gesetzes«. Nunmehr wurden alle »Tschetschenienkämpfer«<br />

zu Helden erklärt, ganz gleich, wie sie sich dort<br />

aufführten. Der Präsident teilte mit vollen Händen Orden<br />

und Medaillen unter ihnen aus und versicherte bei<br />

jeder Gelegenheit, der Staat werde sie »niemals verraten«.<br />

Im Sprachgebrauch der Macht bedeuteten diese Worte<br />

viel : Bei Kriegsverbrechen in Tschetschenien würde die<br />

politische Führung beide Augen zudrücken und die<br />

Staatsanwaltschaft, wenn sie denn versuchen sollte, gegen<br />

Angehörige der Streitkräfte Strafverfahren wegen<br />

Verbrechen an der tschetschenischen Zivilbevölkerung<br />

einzuleiten, entsprechend an die Kandare nehmen.<br />

Die vom Staat kontrollierten Massenmedien setzten<br />

die neue Losung kreativ um. Über die staatlichen Fernsehkanäle<br />

ergoss sich ein Strom von Berichten, wie rechtschaffen<br />

Budanow seine Pflicht erfüllt habe, General<br />

148


Schamanow (der Verfasser des besagten Briefes an das<br />

Gericht in Rostow am Don) mit seinen patriotischen<br />

Hymnen auf den tapferen Offizier Budanow avancierte<br />

zum Dauergast auf den Bildschirmen, die Behauptung,<br />

die getötete achtzehnjährige Tschetschenin aus Tangi-<br />

Tschu sei eine Heckenschützin oder Rebellin gewesen,<br />

wurde öffentlich nicht mehr in Zweifel gezogen, und alle<br />

vergaßen, dass weder die Ermittler noch die Verteidiger<br />

Budanows auch nur mittelbare Beweise für eine Beziehung<br />

Elsa Kungajewas zu illegalen bewaffneten Formationen<br />

gefunden hatten.<br />

Just in dieser Zeit kamen dem Gericht in Rostow am<br />

Don plötzlich »Zweifel« an der Kompetenz der Gutachter,<br />

die für die beiden ersten psychologisch-psychiatrischen<br />

Expertisen verantwortlich zeichneten, und es wurde ein<br />

weiteres Gutachten – das nunmehr dritte – in Auftrag<br />

gegeben. Die Begutachtung sollte diesmal gemeinsam<br />

durch Militärärzte des Zentrallabors für forensische<br />

Medizin des Verteidigungsministeriums und durch zivile<br />

Experten des Staatlichen wissenschaftlichen Zentrums<br />

für soziale und forensische Psychiatrie »W. P. Serbski«<br />

(im Volksmund kurz Serbski-<strong>In</strong>stitut genannt) in Moskau<br />

erfolgen.<br />

Das Serbski-<strong>In</strong>stitut genießt in <strong>Russland</strong> einen denkbar<br />

schlechten Ruf, der noch aus Sowjetzeiten herrührt. Hier<br />

wurden Dissidenten, die sich gegen den Kommunismus,<br />

gegen totalitäre Lüge und politische Unfreiheit auflehnten,<br />

für verrückt erklärt. Die Mediziner des Serbski-<strong>In</strong>stituts<br />

waren stets willige Erfüllungsgehilfen, wenn ihnen der<br />

149


allmächtige Geheimdienst Aufträge erteilte. <strong>In</strong> dieses<br />

Serbski-<strong>In</strong>stitut überführte man Budanow. Als das bekannt<br />

wurde, zweifelten nur wenige am Zweck der Einweisung<br />

: Es sollte alles unternommen werden, um den Oberst<br />

von der strafrechtlichen Verantwortung zu befreien. Darin<br />

waren sich Sympathisanten wie Gegner Budanows einig.<br />

Offiziell begründete das Gericht die Anforderung eines<br />

dritten Gutachtens mit der »Vagheit, Widersprüchlichkeit<br />

und Unvollständigkeit der Daten« sowie mit dem »Vorliegen<br />

neuer und präzisierter Tatbestände«, die wichtig<br />

seien für die »Bestimmung des wirklichen psychischen<br />

Zustands Budanows«.<br />

Als »Unvollständigkeit« betrachtete Richter Kostin dabei<br />

die im Gerichtsbeschluss wortwörtlich so benannte<br />

»unerwünschte Zurechnungsfähigkeit«, während die<br />

»neuen und präzisierten Tatbestände« sich darauf bezogen,<br />

dass die Strafsache (dank der für die Voruntersuchungen<br />

zuständigen Ermittler) ursprünglich noch<br />

Episoden enthielt, die weitere schwere Verbrechen Budanows<br />

belegten. Diese wurden später faktisch aus den<br />

Verfahrensakten entfernt.<br />

Andere Episoden wiederum, die das Gericht in dem<br />

neuen Gutachten berücksichtigt sehen wollte, existierten<br />

überhaupt nicht, die Mediziner des Serbski-<strong>In</strong>stituts<br />

gingen also schlichtweg von unbewiesenen Behauptungen<br />

aus. Da diese Behauptungen jedoch zu Gunsten des<br />

Obersts sprachen, wurden sie den Gutachtern präsentiert,<br />

und die interpretierten sie dann bereits als absolut<br />

unbestritten und authentisch. Eine unverhohlene Fäl-<br />

150


schung, sowohl von Seiten des Gerichts als auch seitens<br />

des Serbski-<strong>In</strong>stituts.<br />

Welche Fragen stellte Richter Kostin den Gerichtsmedizinern<br />

im Hinblick auf das dritte Gutachten ?<br />

»– Litt Budanow in der Vergangenheit oder leidet er<br />

gegenwärtig an chronischen seelischen Erkrankungen ?<br />

– Befand sich Budanow im Tatzeitraum in einem Zustand<br />

temporärer krankhafter Störung seiner Psyche ?<br />

War er in vollem Umfang fähig, den faktischen Charakter<br />

und die gesellschaftliche Gefährlichkeit seiner Handlungen<br />

zu begreifen und diese zu kontrollieren ?<br />

– Welche individualpsychologischen Besonderheiten<br />

der Persönlichkeit Budanows könnten sein Verhalten in<br />

den strafrechtlich relevanten Situationen befördert oder<br />

wesentlich beeinflusst haben ?<br />

– Befand sich Budanow zur Tatzeit möglicherweise<br />

in einem emotionalisierten Zustand (Stress, Frustration,<br />

A ffekt) ?<br />

– Könnte das Verhalten der Kungajewa eine temporäre<br />

krankhafte psychische Störung bei Budanow ausgelöst<br />

haben ? Provozierten die Handlungen der Kungajewa<br />

Budanows Verhalten ?<br />

– Welchen Einfluss hatte der Genuss von Wodka auf<br />

Budanows Zustand im Tatzeitraum ?<br />

– Wie ist der Zustand Budanows zum Zeitpunkt des<br />

Verbrechens an der Kungajewa im Wohncontainer des<br />

Regimentsstabs in der Nacht vom 26. zum 27. März 2000<br />

zu bewerten unter der Maßgabe, dass (1) Budanow sie für<br />

151


die Tochter einer ›Heckenschützin‹ hielt, die sich weigerte,<br />

den Aufenthaltsort der Mutter preiszugeben, ihn beleidigte,<br />

fliehen wollte und Widerstand leistete sowie (2) die<br />

geladene Waffe an sich zu nehmen versuchte ; und dass<br />

(3) Budanow in Kungajewa selbst eine Heckenschützin<br />

sah und ihr das entlarvende Foto vorlegte ?<br />

– Bedarf Budanow einer zwangsweisen medizinischen<br />

Behandlung ?<br />

– War Budanow im Hinblick auf seinen psychischen<br />

Zustand im Tatzeitraum tauglich für den Armeedienst<br />

und ist er es gegenwärtig ?<br />

– Sind die im Rahmen der Voruntersuchung gezogenen<br />

gerichtsmedizinischen Schlüsse klinisch begründet und<br />

wissenschaftlich haltbar ?«<br />

Gutachten Nr. im des Serbski-<strong>In</strong>stituts für J. D. Budanow<br />

gibt Antwort auf Richter Kostins Fragen. <strong>In</strong> einer Art<br />

und Weise, die mit jedem Detail aus Budanows Lebenslauf,<br />

angefangen von seiner Geburt bis hin zum zweiten<br />

Tschetschenien-Krieg, das »richtige« Bild des Helden<br />

bedient.<br />

»Laut Budanows Darstellung kam er durch eine<br />

schwere Geburt zur Welt, mit einer Asphyxie, die eine<br />

Reanimation notwendig machte. Nach Aussage von Mutter<br />

und Schwester war er sehr verletzlich, konnte aufbrausen,<br />

grobe Antworten geben, eine Prügelei anfangen,<br />

wenn man ihn kränkte ; besonders allergisch reagierte er<br />

auf ungerechte Kritik, wobei er stets versuchte, Schwächere,<br />

Kranke und Arme zu verteidigen.<br />

152


Im April 1982 stufte der Medizinische Dienst des<br />

Wehrkreiskommandos Charzys, Gebiet Donezk, ihn als<br />

wehrtauglich ein. 1983 trat er in die Offiziershochschule<br />

für Kommandeure der Panzertruppen in Charkow ein.<br />

Budanow ist seit 1985 verheiratet, hat einen Sohn und<br />

eine Tochter. Von 1995 bis 1999 absolvierte er ein Fernstudium<br />

an der Militärakademie für Panzertruppen.<br />

<strong>In</strong> dienstlichen Beurteilungen wird Budanow ausschließlich<br />

positiv charakterisiert, als diszipliniert, einsatzfreudig<br />

und beharrlich bezeichnet. Im Januar 1995,<br />

während der ersten Militärkampagne in Tschetschenien,<br />

erlitt Budanow bei der Beteiligung an Kampfhandlungen<br />

eine Gehirnerschütterung mit vorübergehender Bewusstlosigkeit,<br />

nahm jedoch keine medizinische Hilfe in Anspruch.<br />

Nach Aussage von Mutter und Schwester hatte<br />

sich Budanow bei seiner Rückkehr aus dem ersten Tschetschenien-Krieg<br />

in Wesen und Verhalten verändert, war<br />

nervös und reizbar. Im August 1998 erfolgte Budanows<br />

Ernennung zum Regimentskommandeur, im Januar 2000<br />

wurde ihm vorzeitig der Dienstrang eines Obersts verliehen.<br />

<strong>In</strong> den Einheiten schuf Budanow eine Atmosphäre<br />

der Unduldsamkeit gegenüber Unzulänglichkeiten und<br />

passivem Verhalten. Er besaß ein entwickeltes Verantwortungsgefühl.<br />

Budanow ist Träger staatlicher Auszeichnungen,<br />

zweimal wurde ihm der Tapferkeitsorden verliehen.<br />

Alle Kameraden Budanows erklärten, keine Abweichungen<br />

in seiner Psyche bemerkt zu haben. Er befand<br />

sich nicht in psychiatrischer oder neuropathologischer<br />

Behandlung.<br />

153


Budanows Aussagen zufolge nahm sein Regiment nach<br />

der Verlegung aus dem Transbaikal-Militärbezirk nach<br />

Tschetschenien vom 10. Oktober 1999 bis zum 20. März<br />

2000 praktisch ununterbrochen an Kampfhandlungen<br />

teil. Im Oktober und November 1999 erlitt Budanow<br />

zwei mit Bewusstlosigkeit einhergehende Gehirnerschütterungen.<br />

Danach plagten ihn ständig Kopfschmerzen<br />

und Schwindelanfälle einschließlich Sehstörungen, er<br />

konnte keine schrillen, lauten Geräusche ertragen, wurde<br />

aufbrausend, unbeherrscht, reizbar, verfiel in wechselnde<br />

Stimmungen mit Zornesausbrüchen und Wutanfällen,<br />

beging Handlungen, die er hinterher bereute.<br />

Nach Aussagen Budanows waren die Kämpfe in der<br />

Argun-Schlucht zwischen dem 24. Dezember 1999 und<br />

dem 14. Februar 2000 die schwersten. Zwischen dem 12.<br />

und dem 21. Januar verlor das Regiment neun Offiziere<br />

und drei Soldaten. Die meisten starben durch Kopfschüsse<br />

eines Heckenschützen. Am 17. Januar 2000 wurde Budanows<br />

Freund, Hauptmann Rasmachin, von einem Heckenschützen<br />

getötet. Zwei Wochen nach dem Gefecht gelang<br />

es Budanow, die verstümmelte Leiche Major Sorokotjagas<br />

vom Schlachtfeld zu bergen. Sie wies Folterspuren auf.<br />

Am 8. Februar 2000 fuhr Budanow auf Heimaturlaub<br />

in die Republik Burjatien. Nach Aussagen seiner Frau gebärdete<br />

er sich zu Hause gereizt und nervös. Er erzählte<br />

ihr, dass das Regiment in der Argun-Schlucht auf Brigaden<br />

des Rebellengenerals Chattab gestoßen war und in<br />

diesem Gefecht fünfzehn seiner Feldkommandeure vernichtet<br />

hatte. Deshalb nannten die Rebellen Budanows<br />

154


Einheiten fortan, ›das Raubtierregiment‹ und erklärten<br />

ihn zu ihrem Erzfeind, auf dessen Kopf sie eine gewaltige<br />

Summe aussetzten.<br />

Budanow belastete sehr, dass die meisten Offiziere seines<br />

Regiments nicht im offenen Kampf gefallen, sondern<br />

von einem Heckenschützen umgebracht worden waren.<br />

Er erklärte mehrfach, er werde erst nach Hause fahren,<br />

wenn sie den letzten Rebellen totgeschlagen hätten.<br />

Am 15. Februar kehrte Budanow vorzeitig aus dem<br />

Urlaub nach Tschetschenien zurück. Mutter und Schwester<br />

sagten aus, dass Budanow sie auf der Rückreise für<br />

einen Tag besuchte. Er hatte sich bis zur Unkenntlichkeit<br />

verändert, rauchte ununterbrochen, redete kaum<br />

mit ihnen, ging wegen jeder Nichtigkeit in die Luft und<br />

konnte kaum still sitzen. Er zeigte ihnen Fotos der Gefallenen<br />

und ihrer Gräber, weinte dabei. <strong>In</strong> einem derartigen<br />

Zustand hatten sie ihn nie zuvor erlebt.«<br />

An dieser Stelle sei ein kleiner Exkurs erlaubt :<br />

Der Leiter der Sanitätsstelle des 160. Regiments,<br />

Hauptmann Kupzow, der Budanow täglich sah, sagte als<br />

Zeuge aus, dass es Fälle gab, in denen Budanows Stimmung<br />

innerhalb von 10–15 Minuten mehrfach umschlug,<br />

von Ausgeglichenheit und Leutseligkeit zu inadäquater<br />

Wut über Lappalien. Während der Gefechte verstärkten<br />

sich diese Eigenschaften. <strong>In</strong> Momenten des Zorns konnte<br />

Budanow alles, was ihm in die Hände geriet, auf den<br />

Boden schmettern oder jemandem an den Kopf werfen<br />

– eine Wanduhr, Telefonapparate. Budanows psycho-<br />

155


logischer und psychischer Zustand hatte Kupzows Worten<br />

zufolge im Oktober 1999 (also vor dem Tod seiner<br />

Kampfgefährten in der Argun-Schlucht) bereits krankhafte<br />

Formen angenommen.<br />

Doch lassen wir weiter das gerichtsmedizinische Gutachten<br />

sprechen :<br />

»Budanow beteiligte sich selbst mit der Waffe in der<br />

Hand an Sturmangriffen und Nahkämpfen. Nach den<br />

Gefechten in der Argun-Schlucht versuchte er persönlich,<br />

die Leichen der Gefallenen zu bergen. Als seine<br />

Offiziere und Soldaten auf der Höhe 950.8 erschossen<br />

wurden, gab sich Budanow die Schuld an ihrem Tod<br />

und verfiel dauerhaft in eine depressive Stimmung. <strong>In</strong><br />

diesem Zustand schlug er Untergebene oder warf mit<br />

Aschenbechern nach ihnen. Mitte März 2000 verlangte<br />

er von den Offizieren, sie sollten ihre Unterkunft aufräumen,<br />

und schleuderte zur Bekräftigung seiner Forderung<br />

eine Granate ins Feuer.<br />

Ab Mitte Februar befand sich das Regiment in der<br />

Reserve des Oberkommandos und wurde neben der Ortschaft<br />

Tangi stationiert. Budanow erhielt Anordnung,<br />

Aufklärungs- und Erkundungsmaßnahmen durchzuführen,<br />

Hinterhalte anzulegen, in der Siedlung eine erneute<br />

Überprüfung der Meldeordnung sowie der Ausweise der<br />

Dorfbewohner vorzunehmen und verdächtige Personen<br />

zu verhaften.<br />

Budanow und seine Untergebenen sagten aus, die<br />

Situation sei zu der Zeit sehr schwierig gewesen, keiner<br />

156


habe gewusst, wo die gegnerischen und wo die eigenen<br />

Truppen stünden, an welcher Stelle die Frontlinie verlaufe.<br />

Im Zuge von Erkundungs- und Aufklärungsoperationen<br />

wurden zwischen dem 22. und 24. März 2000<br />

einige Häuser in Tangi durchsucht und zwei so genannte<br />

›Sklaven‹ entdeckt, die vor 10–15 Jahren gewaltsam aus<br />

Zentralrussland hierher verbracht worden waren.<br />

Als Budanow davon Kenntnis bekam, beschloss er am<br />

26. März 2000, die Lage in Tangi persönlich zu überprüfen.<br />

Er verhaftete zwei Tschetschenen, ließ sie fesseln und<br />

in einem Schützenpanzer auf das Militärgelände bringen.<br />

Dort bat einer der beiden, laut vorgelegtem Personaldokument<br />

Schamil Sambijew, um ein Vier-Augen-Gespräch<br />

mit dem Regimentskommandeur. 15–20 Minuten später<br />

gab Budanow Befehl, nochmals nach Tangi zu fahren,<br />

was er mit Schamils Bereitschaft begründete, ihnen die<br />

Häuser von Personen zu zeigen, die Rebellen seien oder<br />

diese unterstützten. Bei der Fahrt durch das Dorf identifizierte<br />

Schamil die betreffenden Häuser, unter anderem<br />

auch ein weißes Haus am südöstlichen Dorfrand, in<br />

dem eine Heckenschützin wohnen sollte. Außerdem besaß<br />

Budanow ein Foto, auf dem 2–3 Männer sowie 3–4<br />

Frauen mit Waffen in der Hand zu sehen waren.<br />

Seiner Aussage nach beschloss Budanow, die Heckenschützin<br />

so schnell wie möglich festzunehmen. Am 26.<br />

März gegen 15.00 Uhr trank er in der Offizierskantine<br />

Alkohol. Am 26. März gegen Mitternacht fasste er den<br />

Entschluss, persönlich nach Tangi in die Saretschnaja-<br />

Straße zu fahren. Der Schützenpanzer hielt vor dem<br />

157


Haus Nr. 7, in dem die Familie Kungajew wohnte, und<br />

Budanow ging hinein. Im Haus befanden sich Elsa Wissajewna<br />

Kungajewa, geboren 1982, sowie ihre vier minderjährigen<br />

Geschwister. Budanow befahl, Elsa Kungajewa<br />

festzunehmen. Sie wurde in eine Decke gewickelt und im<br />

Heckraum des Schützenpanzers auf das Militärgelände<br />

gebracht. Nachdem Elsa Kungajewa in Budanows Wohncontainer<br />

getragen und auf den Fußboden gelegt worden<br />

war, gab Budanow der Besatzung des Schützenpanzers<br />

Befehl, sich in der Nähe aufzuhalten und niemanden<br />

hereinzulassen. Als er die Soldaten hinausgeschickt hatte,<br />

verlangte Budanow von Elsa Kungajewa <strong>In</strong>formationen<br />

über die Routen, die die Rebellen nutzten. Elsa lehnte ab,<br />

doch Budanow beharrte auf seiner Forderung.<br />

Er begann sie zu schlagen, versetzte ihr Faustschläge<br />

und Fußtritte ins Gesicht und andere Körperteile, was<br />

zu Ekchymosen an der <strong>In</strong>nenseite des rechten Oberschenkels<br />

sowie Blutergüssen in der Schleimhaut des<br />

Mundvorraums und des Kiefers führte. Die Kungajewa<br />

versuchte sich zu wehren, stieß ihn zurück, wollte aus<br />

dem Wohncontainer fliehen. <strong>In</strong> der Überzeugung, Elsa<br />

Kungajewa gehöre zu einer illegalen bewaffneten Formation<br />

und sei verantwortlich für den Tod seiner Untergebenen,<br />

beschloss Budanow, sie umzubringen. Er packte<br />

die Kungajewa an der Kleidung, warf sie auf die hölzerne<br />

Pritsche und drückte ihr mit Gewalt den Hals zu, bis sie<br />

kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Budanow rief die<br />

Besatzung des Schützenpanzers herein und befahl den<br />

Soldaten, die Leiche fortzubringen und außerhalb des<br />

158


Militärgeländes zu vergraben. Am Morgen des 27. März<br />

meldete der Soldat Grigorjew Budanow die Ausführung<br />

des Befehls.<br />

Nach eigener Darstellung hegte Budanow ursprünglich<br />

keinerlei Absichten, Elsa Kungajewa zu töten, und erst<br />

recht nicht, sie sexuell zu nötigen. Doch als sie begann,<br />

die russischen Streitkräfte, die Russen und ihn persönlich<br />

in übler Weise zu beschimpfen, eskalierte die Situation.<br />

Die Kungajewa drohte, die Tschetschenen würden es<br />

Budanow und seiner Familie heimzahlen. Sie versuchte<br />

aus dem Wohncontainer zu fliehen, und Budanow, der<br />

darauf nicht gefasst war, zog sie mit Gewalt von der Tür<br />

weg, wodurch ihre Kleidung teilweise zerrissen wurde.<br />

Budanows Worten zufolge offenbarte Elsa Kungajewa<br />

erhebliche physische Kräfte, sie zerriss sein Trikot und<br />

ein Goldkettchen mit Kreuz, das er als Geschenk seiner<br />

Tochter um den Hals trug. Dafür riss er Elsa Kungajewa<br />

die Oberbekleidung vom Leib. Die Kungajewa schrie, sie<br />

habe ›noch viel zu wenige von euch abgeknallt‹. Als sie<br />

auf der zweiten Pritsche im hinteren Teil des Wohncontainers<br />

lag, versuchte sie, nach seiner auf dem Nachtschrank<br />

abgelegten Pistole zu greifen. Mit einer Hand<br />

hielt Budanow ihren Arm fest, mit der anderen drückte<br />

er den Körper Elsa Kungajewas durch einen Griff an<br />

ihren Hals auf die Pritsche. Die Kungajewa stieß weiter<br />

Drohungen aus. Vor Budanows Augen tauchten die<br />

Gesichter seiner in der Argun-Schlucht getöteten Soldaten<br />

und Offiziere auf.<br />

An das Weitere kann sich Budanow nicht erinnern. Als<br />

159


er zu sich kam, sah er, dass die Kungajewa reglos auf der<br />

Pritsche lag. Nach Aussage Budanows hatte sie zu dieser<br />

Zeit ihren Rock an, Strickjacke und Büstenhalter lagen<br />

im vorderen Teil des Wohncontainers verstreut. Er selbst<br />

war mit seiner Uniformhose bekleidet. Budanow rief die<br />

Besatzung des Schützenpanzers. Der Soldat Li-en-schou<br />

schlug vor, die Leiche in einem Waldstück zu vergraben.<br />

Budanow trug der Besatzung auf, den Körper wieder in<br />

die Decke zu hüllen und vom Militärgelände zu bringen.<br />

Die Kleidung der Kungajewa wickelten sie mit in das<br />

Plaid. Budanow warnte die Soldaten, sie sollten keinesfalls<br />

einen Kontrollschuss in Elsa Kungajewas Kopf abgeben,<br />

um sich nicht auf eine Stufe mit den tschetschenischen<br />

Rebellen zu stellen. Als die Besatzung losgefahren<br />

war, legte er sich auf die Pritsche und schlief ein.«<br />

An dieser Stelle ist ein Exkurs erforderlich.<br />

Die Soldaten des Regiments, die in der Mordnacht<br />

den Wohncontainer des Kommandeurs bewachten, sagten<br />

bei den Vernehmungen übereinstimmend aus, dass<br />

Budanow, als er sie zu sich befahl, nur eine Unterhose<br />

trug. Das Mädchen lag vollkommen nackt auf der hinteren<br />

Pritsche, auf dem Rücken, mit dem Gesicht nach<br />

oben. Auf dem Fußboden war eine Decke ausgebreitet,<br />

darauf Sachen des Mädchens – ihr Schlüpfer, die Strickjacke.<br />

Budanow fragte die Soldaten : »Wer hat Angst vor<br />

Leichen ?« Nachdem er den Untergebenen befohlen hatte,<br />

den Körper einzuwickeln und in dem Waldstreifen zu<br />

vergraben, zündete er sich eine Zigarette an. Er drohte<br />

160


den Soldaten, sie zu erschießen, wenn sie etwas ausplauderten,<br />

er habe genug Patronen für alle, sie bekämen<br />

eine Kugel in den Körper und eine als Kontrollschuss<br />

in den Kopf.<br />

»Am 27. März gegen 13.30 Uhr hatte Budanow seiner Darstellung<br />

zufolge eine Unterredung mit Generalmajor Gerassimow,<br />

der zeitweilig das Kommando über die Truppengruppierung<br />

›West‹ ausübte. Gerassimow begann sofort,<br />

Budanow Vorhaltungen zu machen, er habe das<br />

halbe Dorf in Brand gesetzt und eine Fünfzehnjährige<br />

vergewaltigt. Gerassimow äußerte sich in beleidigender<br />

Form und beschimpfte Budanow rüde. Budanow zog die<br />

Pistole, hielt den Lauf nach unten und schoss in den Boden,<br />

traf aber den eigenen Fuß. Da richteten die Offiziere<br />

aus Gerassimows Begleitung ihre Waffen auf Budanow,<br />

obwohl er nach dem Schuss seine Pistole freiwillig Gerassimow<br />

übergeben hatte.<br />

Im gleichen Augenblick hörte Budanow Lärm und<br />

sah, dass die Aufklärungskompanie des Regiments näher<br />

kam. Die zwanzig Soldaten und zwei Offiziere nahmen<br />

gegenüber der Eskorte General Gerassimows Aufstellung,<br />

sodass beide bewaffneten Gruppen einander gegenüberstanden.<br />

Budanow befahl seinen Untergebenen, die Waffen<br />

zu strecken. Danach ging Budanow mit den Generälen<br />

Gerassimow und Werbizki in das Stabszimmer.<br />

Anschließend schrieb er eine Selbstanzeige.<br />

Bei einem Verhör im Rahmen der Voruntersuchung<br />

am 5. Oktober 2000 erklärte Budanow die Widersprüche<br />

161


in seinen Aussagen damit, dass er sich bei den Vernehmungen<br />

am 27., 28. und 30. März in einem außerordentlich<br />

depressiven Zustand befunden habe.<br />

Auf der Grundlage obiger Darstellung gelangt die Gutachterkommission<br />

zu dem Schluss, dass Budanow im<br />

Hinblick auf die ihm zur Last gelegten Taten als nicht<br />

zurechnungsfähig zu betrachten ist. Ausgelöst durch die<br />

Handlungen Kungajewas (grobe Beschimpfungen, Versuch,<br />

die Pistole zu ergreifen, Drohungen), trat bei ihm<br />

eine temporäre krankhafte Störung der Psyche ein.<br />

Antwort auf Frage Nr. 5 : Die Handlungen der Geschädigten<br />

Kungajewa stellen einen Faktor für die Entstehung<br />

der temporären psychischen Störung Budanows dar.<br />

Antwort auf Frage Nr. 6 : Die Aussagen bezüglich der<br />

Alkoholisierung Budanows sind widersprüchlich und<br />

schließen sich wechselseitig aus. Überzeugende Angaben<br />

im Hinblick auf einen Alkoholrausch liegen nicht vor.<br />

Antwort auf Frage Nr. 7 : Zum gegenwärtigen Zeitpunkt<br />

ist Budanow im Stande, den Charakter seiner Handlungen<br />

zu begreifen. Er befindet sich in ambulanter psychiatrischer<br />

Behandlung. Budanow ist der Kategorie C – begrenzt<br />

tauglich für den militärischen Dienst – zuzuordnen.«<br />

Die Schlussfolgerungen des dritten Gutachtens gaben<br />

Richter Kostin nach geltendem russischen Recht alle<br />

Möglichkeiten an die Hand, den politischen Auftrag zur<br />

Reinwaschung Budanows zu erfüllen :<br />

Erstens konnte er den Oberst nun von der strafrechtlichen<br />

Verantwortung befreien.<br />

162


Zweitens eine zwar zwangsweise, aber eben nur ambulante<br />

psychiatrische Behandlung anordnen, über deren<br />

Dauer bereits nicht mehr das Gericht, sondern der behandelnde<br />

Arzt entschied, womit alle Unannehmlichkeiten<br />

für den Oberst schon bald nach der Urteilsverkündung<br />

vorüber sein durften. Wenn der Arzt dann nämlich<br />

befand, er sei gesund, musste er nicht einmal mehr in<br />

der Klinik erscheinen.<br />

Und drittens blieb Budanow dadurch das Recht erhalten,<br />

weiterhin in den Streitkräften zu dienen. Auf diesen<br />

Aspekt des Urteils drang besonders die Militärführung –<br />

der Stab des Militärbezirks Nordkaukasus und das Verteidigungsministerium<br />

–, hätte doch sonst der Eindruck<br />

entstehen können, die russischen Regimenter in Tschetschenien<br />

stünden unter dem Kommando nachweislich<br />

Verrückter, die niemand rechtzeitig aus dem Verkehr zog,<br />

die niemand behandelte und die Narrenfreiheit besaßen.<br />

Nach wie vor sind bei der Erstellung gerichtsmedizinischer<br />

Gutachten in <strong>Russland</strong> nicht die Fakten entscheidend,<br />

sondern deren Kompilierung und Aufbereitung.<br />

Das Ergebnis der Begutachtung hängt davon ab, wer sie<br />

durchführt. Im Fall Budanow waren das :<br />

– Prof. Dr. med. habil. T. Petschernikowa, Leiterin<br />

der Gutachterabteilung des Serbski-<strong>In</strong>stituts, namhafte<br />

Medizinerin, psychiatrische Gutachterin der höchsten<br />

Klasse mit mehr als 50 Jahren einschlägiger Erfahrung<br />

(Kommissionsvorsitzende) ;<br />

– Prof. Dr. med. habil. F. Kondratjew, Leiter der Ersten<br />

163


klinischen Abteilung des Serbski-<strong>In</strong>stituts, Verdienter<br />

Arzt der Russischen Föderation ; 42 Jahre als Gutachter<br />

tätig ;<br />

– Dr. med. F. Safujanow, 20 Jahre als Gutachter tätig ;<br />

– Oberst des medizinischen Dienstes A. Gorbatko,<br />

Chefgutachter für forensische Psychiatrie des Verteidigungsministeriums<br />

;<br />

– Oberstleutnant des medizinischen Dienstes G. Fastowzew<br />

;<br />

– G. Burnjaschewa, psychiatrische Gutachterin.<br />

Diese Personen erledigten den Hauptteil der Reinwaschungsarbeit,<br />

indem sie Budanow für die Tatzeit Unzurechnungsfähigkeit<br />

bescheinigten. Und darum ist es<br />

wichtig zu verstehen, um was für eine Gutachterkommission<br />

es sich hier handelt, wer Prof. Dr. med. habil.<br />

Tamara Petschernikowa ist und ob es Zufall sein kann,<br />

dass das Gericht gerade sie mit der Erstellung eines politisch<br />

so brisanten Gutachtens beauftragte.<br />

Meiner Überzeugung nach war hier nichts zufällig.<br />

Solche Zufälle gibt es bei uns in <strong>Russland</strong> nicht. Schon<br />

seit der Sowjetzeit nicht mehr. Wie hatten wir gehofft,<br />

sie wäre unwiederbringlich vorüber, wir seien jetzt frei,<br />

das Phantom der verhängnisvollen Vergangenheit schrecke<br />

uns nicht mehr. Doch nein. Wenn nötig, werden die<br />

Gespenster des Kommunismus wiederbelebt, genau dann<br />

und dort, wo die Macht sie braucht, grausiger als je zuvor.<br />

Tamara Petschernikowa, Psychiatrieprofessorin mit<br />

einem halben Jahrhundert Berufserfahrung, ist keine<br />

164


Unbekannte. Wenn im Folgenden einige Etappen ihres<br />

Wirkens nachvollzogen werden, so um zu zeigen, dass<br />

unter der Präsidentschaft Wladimir <strong>Putins</strong> eines der<br />

abscheulichsten Phänomene unserer Geschichte – die im<br />

Auftrag »von oben« tätige politische Psychiatrie – von<br />

einer ganz unerwarteten Seite wieder in unseren Alltag<br />

zurückkehrt.<br />

Am 25. August 1968 fand auf dem Roten Platz in Moskau<br />

eine Demonstration statt, die in die Geschichte eingehen<br />

sollte. Sieben Personen entfalteten Transparente<br />

mit den Losungen »Für unsere und eure Freiheit !« und<br />

»Schmach den Okkupanten !« <strong>In</strong> einem Land, in dem<br />

schon lange niemand mehr widersprach und sich alle<br />

mit der Linie der KPdSU abgefunden hatten, traten Menschen<br />

aus der Anonymität hervor, um gegen den Einmarsch<br />

sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei<br />

zu protestieren. Die Demonstration dauerte nur wenige<br />

Minuten, dann wurden alle sieben Teilnehmer von KGB-<br />

Mitarbeitern in Zivil, die ständig auf dem Roten Platz<br />

patrouillierten, in Gewahrsam genommen. Das Gericht<br />

verurteilte zwei der Demonstranten zu mehreren Jahren<br />

Arbeitslager, einen zur Zwangseinweisung in eine Nervenheilanstalt,<br />

drei zur Verbannung in Provinzstädte. Unter<br />

den Demonstranten war auch Natalja Gorbanewskaja,<br />

Lyrikerin, Journalistin und Dissidentin. Sie kam zunächst<br />

frei, weil sie ein kleines Kind hatte, wurde jedoch am 24.<br />

Dezember 1969 erneut verhaftet, da sie ihren Kampf als<br />

Menschenrechtlerin fortführte. Und hier, im Jahre 1969,<br />

finden wir die erste Spur Tamara Petschernikowas. Sie<br />

165


war es, die auf Anordnung des KGB die psychiatrischen<br />

Vernehmungen Natalja Gorbanewskajas leitete – in besagtem<br />

Serbski-<strong>In</strong>stitut, das einige Jahrzehnte später auch<br />

Oberst Budanows Begutachtung vornahm.<br />

Petschernikowa sprach das Verdikt aus, das der KGB<br />

verlangte : »Schizophrenie«. Schließlich konnte nicht<br />

normal sein, wer auf den Roten Platz ging, um gegen<br />

»unsere« Panzer in Prag zu demonstrieren. Und sie besiegelte<br />

mit ihrer Unterschrift folgenden weiteren Befund<br />

des KGB : Gorbanewskaja ist ein sozial gefährliches Element,<br />

bedarf der unbefristeten Zwangseinweisung in eine<br />

psychiatrische Spezialklinik.<br />

Für Natalja Gorbanewskaja, Gründerin und erste Redakteurin<br />

des Untergrund-Bulletins der sowjetischen<br />

Menschenrechtler »Chronika tekuschtschich sobytii«<br />

(Chronik der aktuellen Ereignisse), brachen schwere Jahre<br />

an. Von 1969 bis 1972 war sie in einer psychiatrischen<br />

Spezialklinik in Kasan eingesperrt. 1975 konnte Gorbanewskaja<br />

dann emigrieren und lebt heute in Frankreich.<br />

Ich habe mit ihr ein <strong>In</strong>terview geführt :<br />

– »Können Sie sich noch an den Namen Petschernikowa<br />

erinnern ?«<br />

– »Natürlich.«<br />

– »Wie verlief Ihre damalige psychiatrische Begutachtung<br />

?«<br />

– »Der mildeste Ausdruck, den ich dafür gebrauchen<br />

kann, ist : tendenziös. Die Diagnose sollte ›Schizophrenie‹<br />

lauten, das stand bereits vorher fest, und alles wurde darauf<br />

hingetrimmt. Mehr brauchte Petschernikowa nicht zu<br />

166


tun. Sie hatten vom KGB die Direktive erhalten, mich<br />

zur Zwangsbehandlung in eine psychiatrische Spezialklinik<br />

zu schicken, und alle, einschließlich Petschernikowa,<br />

taten, was von ihnen verlangt wurde. Weil sie<br />

wussten, dass das Gericht keine überzeugenden Beweise<br />

für die Diagnose verlangen würde, machten sie sich erst<br />

gar nicht die Mühe, etwas Derartiges im Gutachten anzuführen.<br />

Dort hieß es beispielsweise : ›Zeitweilig ist das<br />

Denken inkonsequent.‹ Worin sich dies äußerte, blieb<br />

offen. Oder : ›Gorbanewskaja offenbart Veränderungen<br />

des Denkens, der emotionalen und kritischen Fähigkeiten,<br />

wie sie für Schizophrenie typisch sind.‹ Welche<br />

Veränderungen ? Wieder kein Wort. Dabei war gerade<br />

dies der Kernsatz, der entscheidende Punkt, denn unmittelbar<br />

danach folgt im Gutachten der Schluss, dass<br />

eine Zwangsbehandlung unabdingbar sei. Während des<br />

gesamten Monats der Begutachtung im Serbski-<strong>In</strong>stitut<br />

wurde ich beispielsweise kein einziges Mal nach meinen<br />

Gedichten gefragt, obwohl ich Lyrikerin bin. Als würde<br />

es diese Gedichte überhaupt nicht geben. Ich hatte Angst,<br />

sie könnten mir vielleicht Größenwahn anhängen wollen,<br />

mich fragen : ›Halten Sie sich etwa für eine Dichterin<br />

?‹ Aber nichts dergleichen, und heute weiß ich auch,<br />

warum. Ihr Konzept der ›emotionalen Kälte und Verhärtung‹<br />

als Folge einer ›Schizophrenie‹ ließ keine Gedichte<br />

zu. ›Die begutachtete Patientin … lässt sich bereitwillig<br />

auf ein Gespräch ein. Sie verhält sich ruhig.<br />

Lächelt.‹ Alles richtig, nur was mich diese Ruhe kostete !<br />

Ich begriff, dass ich Ruhe an den Tag legen musste, ih-<br />

167


nen keinen Vorwand liefern durfte, irgendwelche Symptome<br />

zu erfinden. Mit der Konsequenz, dass nun genau<br />

diese Ruhe zu einem Symptom gemacht wurde, über<br />

das sie im Gutachten schrieben : ›… zeigt keine Beunruhigung<br />

im Hinblick auf die Zukunft und das Schicksal<br />

ihrer Kinder.‹ Und wie ich mich um meine Kinder<br />

sorgte, aber das würde ich doch nicht KGB-Psychiatern<br />

auf die Nase binden ! Ich zitiere weiter : ›Sagt sich nicht<br />

los von ihren Taten. Ist unerschütterlich überzeugt von<br />

der Richtigkeit ihres Handelns. Erklärt beispielsweise,<br />

so gehandelt zu haben, um sich später nicht schuldig<br />

fühlen zu müssen vor ihren Kindern.‹ Ich sage mich<br />

auch heute nicht los von meinen Taten, bin nach wie<br />

vor überzeugt, richtig gehandelt zu haben, und meine<br />

Kinder sind stolz auf mich und mein Schicksal … Doch<br />

lesen wir weiter : ›Kann die gegebene Situation nicht kritisch<br />

einschätzen.‹ Die Psychiater, unter ihnen Petschernikowa,<br />

meinten, mich für verrückt erklären zu müssen,<br />

weil ich meinen eigenen Kopf zum Denken gebrauchte.<br />

Wobei anzumerken ist, dass ich während des gesamten<br />

Monats der Begutachtung lediglich Kontakt hatte mit<br />

Petschernikowa und dem Arzt Martynenko. Nur von<br />

ihnen stammten all diese ›Beobachtungen‹, auf denen<br />

die Kommission ihre endgültigen Schlussfolgerungen<br />

aufbaute. Ich denke, dass sie sehr wohl begriffen, welche<br />

Verdrehungen und Verzerrungen sie da vornahmen,<br />

doch dies hinderte sie nicht, den verwerflichen Auftrag<br />

auszuführen. Petschernikowa hat also Erfahrung mit<br />

solchen kriminellen Missionen. Mir scheint, die Arbeit<br />

168


im Serbski-<strong>In</strong>stitut untergrub zwangsläufig sowohl den<br />

menschlichen Anstand als auch die berufliche Qualifikation<br />

der Psychiater. Wenn die Ärzte dort nicht absolute<br />

Zyniker waren, musste dieser Job zu einer schizophrenen<br />

Persönlichkeitsspaltung fuhren.«<br />

– »Wie ging alles weiter ? Welche Konsequenzen hatte<br />

Petschernikowas Gutachten für Sie ? Wie lange waren Sie<br />

schließlich in der psychiatrischen Spezialklinik ?«<br />

– »Zwei Jahre und zwei Monate. Ich nenne diese Anstalten<br />

psychiatrische Gefängnisse. <strong>In</strong> dem schlimmsten,<br />

in Kasan, verbrachte ich neuneinhalb Monate. Aus<br />

dem Moskauer Butyrka-Gefängnis kam ich im Januar<br />

1971 nach Kasan. 1972 wurde ich, wieder mit Zwischenstation<br />

in der Butyrka, erneut in das Serbski-<strong>In</strong>stitut gebracht,<br />

zu einer weiteren Begutachtung. Noch einmal<br />

drei Monate. Aber es geht nicht um die Zeit, sondern<br />

darum, dass ich zwangsweise schwere Neuroleptika gespritzt<br />

bekam. Haloperidol, dessen Anwendung schon<br />

lange als Folter gilt. <strong>In</strong> der klinischen Praxis wurde es<br />

zur Behandlung von Wahnvorstellungen und Halluzinationen<br />

eingesetzt. Ich hatte weder das eine noch das andere,<br />

sofern man damit nicht meine Anschauungen meint,<br />

aber die habe ich ja auch heute noch. Eine normale Haloperidol-Behandlung<br />

sieht so aus, dass es einen Monat<br />

lang verabreicht wird und dann eine Pause mit Korrektur-Medikamenten<br />

folgt, weil Haloperidol als Nebenwirkung<br />

Parkinsonkrankheit auslöst. Mir wurde Haloperidol<br />

neuneinhalb Monate lang gespritzt, ohne Korrekturmittel,<br />

ohne Unterbrechung. Als sie mich aus Kasan zum<br />

169


zweiten Mal in das Serbski-<strong>In</strong>stitut brachten und wieder<br />

mit Haloperidol behandelten, sagte Petschernikowa zu<br />

mir : ›Sie verstehen doch sicher, dass Sie das Medikament<br />

weiter einnehmen müssen.‹ So eine Scheinheiligkeit !«<br />

– »Und was kam dann ?«<br />

– »Ich emigrierte. Über Wien nach Paris. Und dann<br />

kam das große Gelächter, als ich später französischen<br />

Psychiatern meinen Krankenbericht aus dem Serbski-<br />

<strong>In</strong>stitut zeigte. Einer der französischen Experten sagte<br />

zu mir : ›Na, da müssen wir wohl noch einmal bei den<br />

sowjetischen Psychiatern in die Schule gehen, denn wenn<br />

man ihrer Diagnose traut, haben wir den wunderbaren<br />

Fall einer Heilung von Schizophrenie vor uns.‹«<br />

Natalja Gorbanewskaja gehörte zu den ersten, die in der<br />

UdSSR von psychiatrischen Zwangsmaßnahmen gegen<br />

Andersdenkende betroffen waren. Erst recht entfalten<br />

konnte sich Tamara Petschernikowa, die diese Zwangspsychiatrie<br />

aktiv mit verantwortete, in den bedrückenden<br />

siebziger Jahren, als das kommunistische Regime einen<br />

hartnäckigen Krieg gegen die Bürgerrechtler in unserem<br />

Land führte. Wir hatten damals eine ganz passable Verfassung,<br />

und damit sich der Westen nicht allzu sehr über<br />

den in der UdSSR herrschenden Totalitarismus empörte,<br />

zog es der KGB vor, Andersdenkende mit psychiatrischen<br />

Methoden mundtot zu machen, indem man sie einfach<br />

für psychisch krank erklärte und zur Zwangsbehandlung<br />

in spezielle Nervenheilanstalten einwies.<br />

Allein 1971 wurden, wie Ljudmila Alexejewa, eine be-<br />

170


kannte Menschenrechtlerin und Dissidentin der Sowjetzeit<br />

– durch politische Repressalien zur Emigration in<br />

die USA gezwungen und heute Präsidentin der »<strong>In</strong>ternational<br />

Helsinki Federation for Human Rights« – in ihrem<br />

Buch »Istorija inakomyslija v SSSR« (Die Geschichte<br />

der Dissidentenbewegung in der UdSSR) schreibt, »von<br />

fünfundachtzig politisch Verurteilten vierundzwanzig<br />

für unzurechnungsfähig erklärt, also fast jeder Dritte«.<br />

Wen man absolut nicht als verrückt abstempeln konnte,<br />

der bekam sein Urteil wegen Diffamierung der sowjetischen<br />

Ordnung, und auch das wiederum mit Hilfe besagter<br />

Tamara Petschernikowa.<br />

So ging im Sommer 1978 ein solcher Prozess gegen<br />

den Dissidenten Alexander Ginsburg über die Bühne.<br />

Und nun trat Tamara Petschernikowa bereits als Zeugin<br />

der Anklage in Erscheinung.<br />

Alexander Ginsburg war einer der bekanntesten sowjetischen<br />

Menschenrechtler, Journalist, Mitglied der Moskauer<br />

Helsinki-Gruppe, Herausgeber der im Samisdat verbreiteten<br />

Lyrik-Anthologie »Sintaksis« (Syntax), von 1974<br />

bis 1977 erster Geschäftsführer des von Alexander Solshenizyn<br />

aus seinen Honoraren für den »Archipel GULAG«<br />

gestifteten »Gesellschaftlichen Fonds zur Unterstützung<br />

der politischen Häftlinge in der UdSSR und ihrer Familien«.<br />

Zwischen 1961 und 1969 stand er dreimal als Dissident<br />

vor Gericht und erhielt Haftstrafen, die er in Arbeitslagern<br />

verbüßen musste. 1978 wurde er zu 8 Jahren<br />

Freiheitsentzug verurteilt, jedoch 1979 unter dem Druck<br />

des Westens gegen in den USA inhaftierte sowjetische<br />

171


Spione ausgetauscht. Danach lebte er lange in Frankreich,<br />

in Paris, wo er 2002 starb – an den Krankheiten, die<br />

ihm die Arbeitslager in der Sowjet union beschert hatten.<br />

Auf meine Bitte beschreibt Arina Ginsburg, seine Frau<br />

und Mitstreiterin, die Atmosphäre jenes Prozesses im<br />

mittelrussischen Kaluga, an dem Tamara Petschernikowa<br />

mitwirkte.<br />

»Bei Alexanders Verfahren war es gerade die Psychiatrie,<br />

die große Probleme bereitete. Für die Verhandlungen<br />

pumpten sie ihn mit Neuroleptika voll, und er schaltete<br />

mitten in den Sitzungen völlig ab. Die ganze Zeit<br />

haben sie ihm Spritzen gegeben, Alexander sah seltsam<br />

aus : Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, ging<br />

schlurfend, in der Hand hielt er ein Netz mit Büchern<br />

(Alexander verzichtete auf einen Anwalt, verteidigte sich<br />

selbst), und er trug einen langen grauen Bart. Er konnte<br />

nicht zusammenhängend reden, war unkoordiniert, als<br />

er darum bat, sich setzen zu dürfen, wurde ihm das verweigert,<br />

und er fiel bewusstlos um … Gleich nach der<br />

Verurteilung haben sie ihn dann in Ruhe gelassen, ihm<br />

keine Spritzen mehr gegeben …«<br />

Auszug aus den Protokollen der Gerichtsverhandlung :<br />

»<strong>In</strong> Bezug auf das Dokument Nr. 8 erfolgte die Befragung<br />

von Petschernikowa, Leiterin der Abteilung für<br />

medizinische Gutachten des Serbski-<strong>In</strong>stituts, und Kusmitschewa,<br />

Ärztin der psychiatrischen Klinik Nr. 14 in<br />

Moskau. Sie bestätigten, dass in der UdSSR keinerlei<br />

Missbrauch der Psychiatrie existiert.«<br />

172


Ginsburg hatte während der Verhandlungen nachdrücklich<br />

das Gegenteil zu beweisen versucht : dass es<br />

diesen Missbrauch eben doch gab. Und darüber vor seiner<br />

Verhaftung auch in den Samisdat-Publikationen geschrieben,<br />

die eklatante Zunahme psychiatrischer Repressionen<br />

angeprangert, die Tätigkeit der Petschernikowa<br />

und ihresgleichen beschrieben.<br />

Nachfolgend sei das oben erwähnte »Dokument Nr. 8«,<br />

ein Artikel aus dem Menschenrechts-Bulletin »Chronik<br />

der aktuellen Ereignisse« vom 12. Oktober 1976, auszugsweise<br />

zitiert :<br />

»Vor kurzem wandte sich die Unterstützer-Gruppe zur<br />

Durchsetzung der Helsinki-Verträge an den Obersten<br />

Sowjet der UdSSR und den Kongress der Vereinigten<br />

Staaten mit dem Vorschlag, eine gemeinsame<br />

Kommission zur Untersuchung sämtlicher Fakten eines<br />

Missbrauchs der Psychiatrie ins Leben zu rufen. <strong>In</strong><br />

diesem Dokument führt die Gruppe alle ihr bekannt<br />

gewordenen Fälle psychiatrischer Repressionen aus der<br />

jüngsten Vergangenheit auf.<br />

Pjotr Startschik, Komponist und Sänger, wurde am 15.<br />

September 1976 durch die Miliz in die psychiatrische Klinik<br />

Stolbowaja verbracht. Ihm werden dort hohe Dosen<br />

Haloperidol injiziert … Die Krankenakte für Pjotr Startschik<br />

enthält folgenden Eintrag : ›S. g. E.‹ (sozial gefährliches<br />

Element). War zwangsweise nach Paragraf 70 in<br />

der psychiatrischen Klinik Perm untergebracht. Entlassen<br />

1975. Schreibt in letzter Zeit Lieder antisowjetischen<br />

<strong>In</strong>halts, versammelt in seiner Wohnung 40–50 Personen.<br />

173


Macht bei der Untersuchung einen beherrschten Eindruck.<br />

Bestreitet nicht, dass er Lieder verfasst, ›ich habe<br />

meine eigene Weltanschauung‹ …<br />

Eduard Fedotow war Kirchendiener in Pskow. Als er<br />

von der Verfolgung gläubiger Christen erfuhr … reiste er<br />

nach Moskau. Dort wurde er von der Miliz festgenommen<br />

und in die psychiatrische Klinik Nr. 14 gebracht,<br />

wo er sich bis heute befindet.<br />

Nadeshda Gaidar wollte am 7. Mai 1976 in der Generalstaatsanwaltschaft<br />

der UdSSR eine Beschwerde abgeben,<br />

wurde von Milizionären überwältigt und in die<br />

psychiatrische Klinik Nr. 13 gebracht, wo man ihr sofort<br />

Aminasin-<strong>In</strong>jektionen verabreichte … Die Leiterin der<br />

Abteilung 2 des Krankenhauses, L. I. Fjodorowa, erklärte :<br />

›Damit sie sich nicht mehr beschwert, behalten wir sie<br />

eine Zeit lang hier, dann geht es – über die Spezialsammelstelle<br />

– ab nach Kiew. Dort behält man sie auch eine<br />

Weile da … Das nächste Mal wird sie gründlich nachdenken,<br />

ehe sie sich beschwert.‹<br />

Dr. Tamara Petschernikowa aber behauptete vor Gericht,<br />

derlei gäbe es nicht in der sowjetischen Psychiatrie,<br />

Ginsburg sei ein Verleumder. Ihre Zeugenaussage trug<br />

dazu bei, dass Alexander Ginsburg wegen Diffamierung<br />

des Staates und antisowjetischer Propaganda abgeurteilt<br />

wurde. Das Ergebnis für ihn : acht Jahre Freiheitsentzug,<br />

Gefängnis, Arbeitslager, Tuberkulose, nur noch ein Viertel<br />

eines Lungenflügels, der andere komplett entfernt ; die<br />

gesamten letzten Lebensjahre sechzehn Stunden täglich<br />

angeschlossen an einen Sauerstoffapparat.<br />

174


Um zu begreifen, was gegenwärtig in <strong>Russland</strong> geschieht,<br />

muss man nicht nur wissen, dass die politisch<br />

gelenkte Psychiatrie faktisch zu neuem Leben erweckt<br />

wurde, sondern auch, wie sie heute funktioniert.<br />

Bezeichnenderweise sind die Akten fast aller ›Petschernikowa-Fälle‹<br />

– von Gorbanewskaja bis Budanow – durchsetzt<br />

mit Termini wie ›Suche nach sozialer Gerechtigkeit‹.<br />

Nur, dass sich deren <strong>In</strong>terpretation heute ins Gegenteil verkehrt<br />

hat. <strong>In</strong> den Jahren der Sowjetmacht untermauerte<br />

Tamara Petschernikowa ihr Verdikt der ›Schizophrenie‹<br />

mit dem Argument, diese ›Suche nach sozialer Gerechtigkeit‹<br />

sei das Symptom eines psychischen Gebrechens und<br />

unvereinbar mit einem weiteren Verbleib in der Gesellschaft.<br />

Jetzt aber vertritt sie genau die entgegengesetzte Position,<br />

nach der sogar ein brutaler Mord gerechtfertigt sein<br />

kann durch das ›positive‹ Empfinden ›sozialer Gerechtigkeit‹,<br />

und zwar dann, wenn die Tat ›sozial motiviert‹ ist.<br />

Die entscheidende Frage lautet : Ist es Zufall, dass<br />

gerade Tamara Petschernikowa in den Gerichtsverfahren<br />

gegen Alexander Ginsburg und Natalja Gorbanewskaja<br />

eine Rolle spielte ?<br />

Nein, natürlich nicht. Sie war eine treue Kampfgefährtin<br />

des KGB, die wusste, was man von ihr als ›Auftragsärztin‹<br />

erwartete.<br />

Fragen wir also weiter : Kann es Zufall sein, dass sie<br />

fünfundzwanzig Jahre nach ihrer Rolle als Zeugin im<br />

Ginsburg-Prozess in der Strafsache Juri Budanow wieder<br />

auftaucht ?<br />

Mitnichten. Weil sie eine treue ›Auftragsärztin‹ blieb.<br />

175


<strong>In</strong> den KGB-FSB-Kreisen der letzten drei Jahrzehnte<br />

wusste man, dass auf Tamara Petschernikowa Verlass ist.<br />

Kaum fasst der FSB nach den Jelzin-Jahren unter Putin<br />

wieder Tritt, da wird auch die Petschernikowa erneut<br />

mit Aufträgen versorgt. Keiner kennt sich schließlich in<br />

Sachen Gefälligkeitsgutachten so exzellent aus wie sie.<br />

Unter dem ›späten‹, demokratischen Gorbatschow und<br />

unter Boris Jelzin verhielt sie sich still und unauffällig,<br />

damals war sie nicht gefragt, doch als in <strong>Russland</strong> die<br />

Ära eines KGB-Obersts mit zwanzigjähriger Dienstzeit<br />

anbrach, da schlüpften ehemalige KGB-Leute ihm hinterdrein<br />

auf alle nur möglichen Pöstchen. Sie brauchen<br />

Tamara Petschernikowa wieder, wie früher.<br />

Unabhängige Quellen – offizielle Statistiken existieren<br />

selbstredend nicht – gehen davon aus, dass bereits mehr<br />

als 6000 ehemalige Mitarbeiter von KGB und FSB in<br />

<strong>Putins</strong> Gefolge Machtstrukturen erobern und wichtige<br />

staatliche Ämter besetzen konnten. Darunter in so entscheidenden<br />

Schaltstellen wie der Verwaltung des Präsidenten<br />

(zwei stellvertretende Leiter des Präsidialamts ;<br />

zwei Chefs von Dezernaten – des <strong>In</strong>formationsdienstes<br />

und der Kaderabteilung), im Sicherheitsrat (ein stellvertretender<br />

Sekretär), im Regierungsapparat, im Verteidigungs-<br />

und im Außenministerium, den Ministerien für<br />

Justiz, Atomindustrie, <strong>In</strong>neres, Steuern und Abgaben<br />

sowie Pressewesen, Funk, Fernsehen und Massenmedien,<br />

im Staatlichen Zollkomitee, der Agentur für Staatsreserven<br />

der Russischen Föderation, dem Komitee für finanzielle<br />

Konsolidierung usw. usw.<br />

176


Wie eine chronische Krankheit neigt die Geschichte<br />

zu Rückfällen. Heilung hätte nur eines bringen können :<br />

eine moderne Chemotherapie, die alle todbringenden<br />

Zellen vernichtet. Diese Heilungschance wurde verpasst,<br />

wir haben sämtliche sowjetischen Wanzen aus der UdSSR<br />

in das »neue <strong>Russland</strong>« mit hinübergeschleppt. Das Ende<br />

vom Lied – Staatssicherheit, wohin man blickt, und wieder<br />

Petschernikowa …<br />

Doch um zu unserer zentralen Frage zurückzukehren,<br />

ob das erneute Auftauchen einer Frau Professor Petschernikowa<br />

im Budanow-Prozess rein zufällig ist, was sich<br />

ohne Substanzverlust auch anders formulieren lässt : Ist<br />

der gegenwärtige Höhenflug der Tscheka in <strong>Russland</strong><br />

Zufall ? Oder die Tatsache, dass sich jene <strong>In</strong>frastruktur,<br />

die dem Fortbestand des sowjetischen Unterdrückungs-<br />

und Zwangssystems diente, in das 21. Jahrhundert hinüberretten<br />

konnte ?<br />

All das sind keine Zufälle. Schauen wir zurück in das<br />

Jahr 2000, auf die Zeit vor den Präsidentschaftswahlen.<br />

Damals sagten viele : »Der Teufel wird schon nicht so<br />

schwarz sein, wie man ihn an die Wand malt. Und<br />

was macht es schon, dass er aus dem sowjetischen KGB<br />

kommt ? Das schleift sich ab.«<br />

Hat es aber nicht. Und heute sehen wir uns umringt<br />

von Putin-Freunden und -Freundesfreunden, die nur<br />

ihresgleichen vertrauen. Also sind die Schaltzentralen<br />

der Macht wie die machtnahen Strukturen im neuen<br />

<strong>Russland</strong> voll von Bürgern mit sehr speziellen Traditionen,<br />

einer ausgeprägt repressiven Mentalität und der<br />

177


entsprechenden Art, die Probleme des Staates zu lösen.<br />

Was nun Tamara Petschernikowa anbelangt, so hat sie<br />

es verstanden, in zwanzig Jahren Praxis »zur Verteidigung<br />

der sowjetischen Staats- und Gesellschaftsordnung«<br />

den Mechanismus dieser Verteidigung in ihrem Fach zu<br />

perfektionieren, die Psychiatrie auf die Erfordernisse der<br />

Staatssicherheit auszurichten. Was Wunder, wenn ein<br />

Jahrzehnt nach dem äußeren Zusammenbruch des Sowjetsystems<br />

ihre spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />

wieder gefragt sind.<br />

Es geht hier nicht um graue politische Theorie. Im Fall<br />

Budanow konnten Tamara Petschernikowas Entscheidungen<br />

Leben oder Tod bedeuten. Wie in den siebziger<br />

und achtziger Jahren.<br />

Ob Budanow freigesprochen oder verurteilt wurde,<br />

war eine prinzipielle Frage. Vor allem für die Armee, die<br />

sich in Tschetschenien zu einer repressiven politischen<br />

Struktur entwickelt hatte und nun darauf wartete, welches<br />

Präjudiz das Gericht in Rostow am Don schaffen<br />

würde. Schuldurteil oder Freispruch ? Hing doch davon<br />

ab, ob man auch »durfte« wie Budanow.<br />

Man durfte, befand Petschernikowa. Und spielte damit<br />

Richter Kostin die juristische Möglichkeit zu, gleichfalls<br />

zu befinden : Man darf.<br />

Dieses Signal wurde in Tschetschenien richtig verstanden.<br />

Die Offiziere, die in der »Anti-Terror-Operation« im<br />

Einsatz waren, machten dort weiter, wo Budanow aufgehört<br />

hatte. Die entsprechenden Beispiele reichen für ein<br />

weiteres Buch. Ende Mai 2002 gab es erneut eine Serie<br />

178


von Entführungen und Ermordungen junger Frauen. Am<br />

22. Mai wurde in Argun, in der Schali-Straße Nr. 125,<br />

die hübsche sechsundzwanzigjährige Grundschullehrerin<br />

Swetlana Mudarowa frühmorgens von Militärs aus ihrem<br />

Haus verschleppt, in Hausschuhen und Nachthemd verfrachtete<br />

man sie in einen Schützenpanzer. Zwei Tage<br />

lang taten die Militärs alles, um zu verschleiern, wo sie<br />

die Entführte versteckt hielten. Und am 31. Mai wurde<br />

der verstümmelte Leichnam Swetlana Mudarowas in die<br />

Ruinen eines zerstörten Hauses geworfen.<br />

Mehr als ein Jahr verging. Die Strafsache Budanow<br />

wuchs um drei weitere gerichtsmedizinische Gutachten,<br />

die Tamara Petschernikowas Schlussfolgerungen als unhaltbar<br />

widerlegten. Der Oberste Gerichtshof verwies daraufhin<br />

den Fall Budanow zur Neuverhandlung an das<br />

Militärgericht zurück, die nunmehrigen Richter gaben<br />

ein weiteres Gutachten in Auftrag, Staatsanwalt Nasarow<br />

wurde faktisch aus dem Verfahren hinausexpeditiert.<br />

Und Tamara Petschernikowa ? Erhielt sie eine Strafe<br />

für ihre Lügen ? Oder wenigstens die Entlassung aus<br />

dem Serbski-<strong>In</strong>stitut ? Natürlich nicht. Petschernikowa<br />

ist immer mit uns. Man hält sie in Reserve, bis ihre<br />

Dienste wieder vonnöten sind.<br />

Kommen wir nun zu einer Seite des Falls Budanow, die<br />

Professor Tamara Petschernikowa vollkommen außer<br />

Acht ließ. Es ist die widerwärtigste, die abscheulichste<br />

und schmutzigste Seite, an der man am liebsten nicht<br />

rühren würde. Doch es muss sein. Zum einen um der<br />

179


Wahrheit willen. Zum anderen, damit wir verstehen, was<br />

sich in Tschetschenien unter dem Getöse der offiziellen<br />

Lüge und Propaganda abspielt.<br />

Die achtzehnjährige Elsa Kungajewa wurde nicht nur<br />

brutal ermordet, sie wurde auch vergewaltigt. Worüber<br />

das Protokoll der gerichtsmedizinischen Vor-Ort-Untersuchung<br />

vom 28. März 2000 Auskunft gibt :<br />

»Die Fundstelle befindet sich in einem Waldstreifen,<br />

950 m von der Kommandozentrale des Panzerregiments<br />

entfernt. Aufgefunden wurde eine vollkommen nackte<br />

Frauenleiche, die in eine Decke (Plaid) gewickelt war.<br />

Die Leiche lag auf der linken Seite, die Beine waren<br />

an den Bauch gezogen, die Arme gebeugt und an den<br />

Oberkörper gepresst. Das Perineum im Bereich der äußeren<br />

Genitalien war blutverschmiert, die Decke an dieser<br />

Stelle ebenfalls blutig.<br />

Die gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche<br />

Elsa Kungajewas erfolgte am 28. März 2000 von 12.00<br />

bis 14.00 Uhr am Ortsrand von Tangi-Tschu bei ausreichendem<br />

Tageslicht durch den Leiter der medizinischen<br />

Abteilung des 124. Labors, Hauptmann des medizinischen<br />

Dienstes W. Ljanenko. Die Körpergröße der<br />

Frauenleiche beträgt 164 cm … An den äußeren Genitalien,<br />

den Hautdecken des Perineums, dem oberen Drittel<br />

der hinteren Oberschenkelfläche finden sich feuchte<br />

dunkelrote Schmierstellen, die mit Schleim vermischtem<br />

Blut ähneln … Das Hymen weist eine kreisförmige Öffnung<br />

von ca. 0,6 cm Durchmesser auf. Im Hymen wurden<br />

ekchymotische, strahlenförmig verlaufende lineare<br />

180


Risse festgestellt. <strong>In</strong> der Gesäßfalte sind angetrocknete<br />

Spuren mit rötlicher, schwarzbrauner und gräulicher<br />

Färbung nachweisbar. 2 cm vom Afterausgang entfernt<br />

befindet sich eine bis zu 3 cm lange Schleimhautruptur.<br />

Der Einriss ist mit geronnenem Blut gefüllt, was seine<br />

prämortale Entstehung beweist. Die Decke hat auf der<br />

dem Körper zugewandten Seite einen feuchten schwarzbraunen,<br />

18 × 20 × 21 cm großen Fleck, der wie Blut aussieht.<br />

Der Fleck befindet sich auf dem Teil der Decke,<br />

der unter dem Perineumsbereich der Leiche lag.<br />

Neben der Leiche wurden sichergestellt : 1. eine Wollstrickjacke,<br />

Rückenteil über die gesamte Länge hinweg<br />

vertikal zerrissen (zerschnitten) ; … 3. ein getragenes T-<br />

Shirt, Rückenteil über die gesamte Länge zerrissen (zerschnitten)<br />

; 4. ein getragener Büstenhalter, hinten links<br />

über die gesamte Breite zerrissen (zerschnitten) ; 5. ein<br />

getragener Schlüpfer, an der Außenseite im Bereich des<br />

Perineums mit trockenen dunkelbraunen und gelben Flecken,<br />

die wie Spuren von Kot und Harn aussehen. Eine<br />

Entnahme von Material für eine histologische Untersuchung<br />

erfolgte auf Grund fehlender Voraussetzungen<br />

für die Aufbewahrung und Konservierung nicht. Entnommen<br />

wurden Abstriche aus Vagina und Rektum<br />

auf Gazetampons, ein Blutabstrich auf Mulltupfer. Die<br />

genannten Objekte sowie die Bekleidungsteile, die zusammen<br />

mit der Leiche geborgen werden konnten, wurden<br />

dem Untersuchungsführer übergeben.<br />

Die an der Leiche Elsa Kungajewas nachgewiesenen<br />

Einrisse des Hymens und der Schleimhaut des Rektums<br />

181


entstanden durch Einführung eines stumpfen, festen<br />

Gegenstands (stumpfer, fester Gegenstände). Es ist nicht<br />

auszuschließen, dass es sich dabei um einen erigierten<br />

Penis gehandelt haben könnte. Ebenso kommt auch der<br />

Schaft eines kleinen Pionierspatens in Frage. Die Gutachter<br />

sind sich jedoch darin einig, dass die bei der Untersuchung<br />

der Leiche festgestellte Verletzung des Hymens<br />

sowie des Rektums prämortaler Natur ist.«<br />

Budanow bestritt von Anfang an vehement, Elsa Kungajewa<br />

vergewaltigt zu haben. Wer war es dann, der sie<br />

missbrauchte ? Und nicht nach, sondern vor ihrem gewaltsamen<br />

Tod. Immerhin haben wir noch in Erinnerung,<br />

dass in Elsas letzten Stunden Budanow mit ihr allein<br />

war und die Soldaten den Wohncontainer erst betraten,<br />

als das Mädchen bereits nicht mehr lebte.<br />

Außer den psychologisch-psychiatrischen Gutachten<br />

für Budanow wurden im Rahmen der Voruntersuchung<br />

noch zwei gerichtsmedizinische Expertisen erstellt, und<br />

zwar in Rostow am Don, von den Sachverständigen des<br />

dem Verteidigungsministerium unterstellten 124. Zentrallabors<br />

für medizinisch-forensische Identifizierung.<br />

Beide Dokumente ließen keinen Zweifel am Tatbestand<br />

der Vergewaltigung.<br />

Als das Gericht mit der großen Reinwaschung des<br />

Angeklagten begann, forderte es eine dritte gerichtsmedizinische<br />

Untersuchung. Die ebenso wie die neuerliche<br />

Begutachtung Juri Budanows im Moskauer Serbski-<strong>In</strong>stitut<br />

endlich die »richtigen«, dem Kreml und der Militär-<br />

182


führung genehmen Schlussfolgerungen erbringen sollte.<br />

Schließlich konnte ein Offizier, zweifach dekoriert mit<br />

dem Tapferkeitsorden, nicht in den Verfahrensakten als<br />

Vergewaltiger dastehen.<br />

Zu welchen Feststellungen gelangten nun die neuen<br />

Sachverständigen im Unterschied zu Hauptmann Ljanenko,<br />

der seine Schlussfolgerungen im Zuge der unmittelbaren<br />

<strong>In</strong>augenscheinnahme traf ?<br />

»Die Einrisse des Hymens und der Darmschleimhaut<br />

entstanden postmortal, als die für lebendes Gewebe typische<br />

Kontraktionsfähigkeit vollkommen erloschen war.«<br />

Was nur heißen konnte, dass zwar zweifelsfrei irgendjemand<br />

das Mädchen missbraucht hatte, aber dafür keinesfalls<br />

Budanow in Frage kam, denn der besaß ein<br />

Alibi : Nach dem Mord war er seelenruhig schlafen gegangen.<br />

Um dem Ganzen noch mehr Glaubhaftigkeit zu verleihen,<br />

verwandeln die Sachverständigen die von Hauptmann<br />

Ljanenko konstatierten massiven Blutergüsse in<br />

ein »Vorhandensein von Blutmarkierungen im Bereich<br />

der äußeren Genitalien, was der Annahme eines postmortalen<br />

Ursprungs der Schädigungen nicht widerspricht …«<br />

Und sie finden auch noch eine »objektive« Handhabe,<br />

um von »Nichtvergewaltigung« zu sprechen : »Der unbegründete<br />

Verzicht des gerichtsmedizinischen Gutachters<br />

auf die Entnahme von Material für eine forensisch-histologische<br />

Untersuchung erlaubt zum gegenwärtigen Zeitpunkt<br />

keine stichhaltigeren Ausführungen …«<br />

Was wahr ist, ist wahr. Im Krieg lassen sich histolo-<br />

183


gische Proben nirgendwo aufbewahren (was nicht das<br />

Geringste zu tun hat mit »unbegründetem Verzicht«),<br />

und so verhilft dieser Krieg Budanow zu einem Alibi.<br />

Ohne histologisches Material, darin waren sich später<br />

die Experten der anatomischen Pathologie einig, sind alle<br />

Versuche, den Tatbestand einer Vergewaltigung nachzuweisen<br />

und Budanow als Täter zu überführen, zum<br />

Scheitern verurteilt.<br />

Nun konnte die »richtige« Schlussfolgerung präsentiert<br />

werden :<br />

»Es gibt keine Anhaltspunkte für die Vermutung, dass<br />

die postmortalen Schädigungen von einem im erigierten<br />

Zustand befindlichen männlichen Geschlechtsteil stammen.<br />

Die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung<br />

der Leiche sowie der Beweisstücke bieten keine<br />

Grundlage für den Schluss, dass an E. Kungajewa ein<br />

gewaltsamer Geschlechtsakt verübt wurde.«<br />

Die Vergewaltigung hat also nicht stattgefunden.<br />

Und wer war es diesmal, der mit seiner Unterschrift<br />

Budanows »reinwusch« ?<br />

– Dr. med. habil. I. Gedyguschew, stellvertretender<br />

Direktor des Gerichtsmedizinischen Zentrums des Gesundheitsministeriums<br />

der Russischen Föderation, Verdienter<br />

Arzt <strong>Russland</strong>s ;<br />

– Dr. med. A. Issajew, Leiter der Abteilung für komplexe<br />

Expertisen des genannten Gerichtsmedizinischen<br />

Zentrums, Gutachter der höchsten Klasse ;<br />

– Dr. med. O. Budjakow, Facharzt für Gerichtsmedizin<br />

in der Abteilung für komplexe Expertisen des genann-<br />

184


ten Gerichtsmedizinischen Zentrums, Verdienter Arzt<br />

<strong>Russland</strong>s.<br />

Sicher glaubten sie, mit ihren Bemühungen die russische<br />

Armee reinzuwaschen von einem Schandfleck. Mag<br />

sein, dass dieser Fleck auf den Uniformjacken nicht mehr<br />

zu sehen ist. Auf den Uniformhosen allemal.<br />

Was aber bedeutet dies alles für <strong>Russland</strong> ? <strong>In</strong> den<br />

drei Jahren, die der Budanow-Prozess dauerte, konnte<br />

ich mich nur wundern über die Reaktion der russischen<br />

Frauen, die ja immerhin in unserem Land mehr als die<br />

Hälfte der Bevölkerung ausmachen und bereits von ihrer<br />

Geschlechtszugehörigkeit her eigentlich abgrundtiefen<br />

Hass gegen Vergewaltiger empfinden müssten. Doch<br />

offenbar nicht.<br />

Außerdem haben Millionen von Eltern heranwachsende<br />

Töchter. Und müssten deshalb, wie mir schien,<br />

den Schmerz der Familie Kungajew verstehen und teilen.<br />

Aber nein.<br />

Das staatliche Fernsehen zeigte ein <strong>In</strong>terview mit<br />

der Ehefrau Budanows. Sie schwafelte etwas von ihrem<br />

armen Mann, der, gepeinigt von Begutachtungen und<br />

Gerichtsverhandlungen, Mitgefühl verdiene, von Mitleid<br />

mit ihrer kleinen Tochter, die das vergebliche Warten auf<br />

den Papa leid sei. Und das Land bekundete Anteilnahme,<br />

bedauerte sie. Nicht aber die Kungajews, die ihre Tochter<br />

nie wiedersehen werden.<br />

Es gab keinen gesellschaftlichen Aufschrei, als das<br />

Gutachten Oberst Budanow für die Tatzeit Unzurechnungsfähigkeit<br />

bescheinigte. Keine einzige Protestkund-<br />

185


gebung einer Frauenorganisation, als der Vorwurf der<br />

Vergewaltigung fallen gelassen wurde. Kein Menschenrechtsaktivist<br />

demonstrierte auf der Straße.<br />

Nach der offiziellen gerichtsmedizinischen »Rechtfertigung«<br />

Juri Budanows im Jahr 2002 witterten alle diejenigen<br />

Morgenluft, die unter dem Deckmantel des Krieges<br />

und der wechselseitigen Grausamkeit beider Konfliktparteien<br />

in Tschetschenien Kriegsverbrechen begingen.<br />

Während Richter Kostin im Militärgericht von Rostow<br />

am Don mit monotoner Stimme die Reinwaschungsgutachten<br />

vortrug, gab es das ganze Jahr über in Tschetschenien<br />

brutale Massensäuberungen. Dörfer wurden<br />

umzingelt, die Männer abgeführt, die Frauen vergewaltigt,<br />

viele kamen um, noch mehr verschwanden spurlos.<br />

Rache erhielt den Status einer Rechtfertigung für Mord,<br />

Vergeltung zu üben war recht und billig, wenn es nur<br />

im Namen der »richtigen« Sache geschah. Vom Kreml<br />

abgesegnet, durfte Lynchjustiz geübt werden – Auge um<br />

Auge, Zahn um Zahn. Wir fanden uns wieder im typischen<br />

Mittelalter, oder besser : im nicht ganz so weit zurückliegenden<br />

Bolschewismus. Der Gerichtsprozess gegen<br />

Oberst Juri Budanow wurde zu einer Offenbarung – für<br />

die Entwicklungsstufe, auf der sich die russische Gesellschaft<br />

im Jahr 2002 befand. Nicht dort, wo wir uns<br />

hingedacht hatten, als wir Gorbatschow begrüßten und<br />

mit Jelzin Meetings abhielten, sondern irgendwo zwischen<br />

Stalin und Breshnew. Nur dass es diesmal rückwärts<br />

ging, von der Breshnew’schen Stagnation hin zur<br />

Stalin’schen Willkür. Es war furchtbar, begreifen zu müs-<br />

186


sen, was für eine Führung wir haben und wie wir sind.<br />

Genauer gesagt : dass die Regierung ist, wie wir sind.<br />

Das Gericht in Rostow am Don hatte für den 1. Juli<br />

2002 das Schlusswort Juri Budanows vorgesehen. Wenn<br />

der Angeklagte die Möglichkeit zu einer letzten Erklärung<br />

erhält, bedeutet dies, dass der Prozess vorbei ist.<br />

Das juristische Spektakel namens Budanow-Prozess ging<br />

also seinem Ende zu. Die Eltern Elsa Kungajewas und<br />

ihre Verteidiger verließen den Gerichtssaal, unfähig,<br />

die Lügen, die Gesetzesverdrehung und Pervertierung<br />

von Ethik und Moral zu ertragen. Die Sympathisanten<br />

Budanows sowie seine Armeekameraden triumphierten<br />

angesichts der Aussicht, schon in wenigen Tagen mit<br />

Budanow auf den Sieg anstoßen zu können.<br />

Da geriet ganz oben etwas in Bewegung. Das Schlusswort<br />

wurde plötzlich abgesetzt, der für den 3. Juli erwartete<br />

Urteilsspruch blieb aus. Stattdessen verkündete der<br />

Richter überraschend eine Prozesspause bis Anfang Oktober.<br />

Und Budanow wurde nach Moskau gebracht, zu einer<br />

neuerlichen – der nunmehr vierten – Begutachtung, in<br />

das nämliche Serbski-<strong>In</strong>stitut. Weshalb ? Um ein weiteres<br />

Mal zu beweisen, dass Tamara Petschernikowas<br />

Schlussfolgerungen »stichhaltig« waren, und damit alle<br />

Chancen auf Anfechtung des Urteils zunichte zu machen ?<br />

Welche Winde in diesem Augenblick über dem Kreml<br />

geweht haben mögen, weiß keiner. Man kann nur mutmaßen<br />

und indirekte Hinweise heranziehen. So ist es beispielsweise<br />

kein Geheimnis, dass der Deutsche Bundestag<br />

starken Druck auf Putin ausübte, in Form von Briefen<br />

187


und Appellen, die sich direkt an ihn richteten. Auf alles,<br />

was aus Deutschland kommt, reagiert Putin bekanntlich<br />

aktiver als auf die Meinungsbekundungen der russischen<br />

Parlamentarier und Vertreter gesellschaftlicher Organisationen,<br />

von den normalen Bürgern ganz zu schweigen.<br />

Auch Bundeskanzler Schröder versäumte nicht, sich<br />

bei seinen Gipfeltreffen mit dem Präsidenten danach zu<br />

erkundigen, warum im Kriegsverbrecherprozess gegen<br />

Budanow alles auf einen einzigen Ausgang gepolt zu<br />

sein schien. Quellen in der Umgebung des Präsidenten<br />

wollen wissen, dass Putin die Antwort schuldig blieb.<br />

So erstaunlich es klingt, in unserem Land mit seinen<br />

byzantinischen Sklaventraditionen reichen derartige Kleinigkeiten,<br />

um den Gang der Geschichte zu verändern<br />

und ein Gericht zu einem Urteilsspruch zu bewegen, mit<br />

dem sich Putin auf dem internationalen Parkett wohler<br />

fühlen konnte.<br />

Erst am 3. Oktober wurde der Prozess fortgesetzt, und<br />

im Mittelpunkt des <strong>In</strong>teresses standen dabei wiederum<br />

die Ergebnisse des psychologisch-psychiatrischen Gutachtens.<br />

Wie würden sie lauten – »unzurechnungsfähig«,<br />

»zurechnungsfähig« oder »begrenzt zurechnungsfähig« ?<br />

Viele erwarteten eine Sensation, doch es blieb alles<br />

beim Alten : »zeitweilig unzurechnungsfähig«. Womit<br />

auch der Ausgang des Verfahrens vorhersagbar schien :<br />

keine strafrechtliche Verantwortung, stattdessen eine<br />

gerichtlich angeordnete medizinische Behandlung, über<br />

deren Dauer der zuständige Arzt entschied, und ein sauberer<br />

Lebenslauf ohne Vorstrafe.<br />

188


Die Urteilsverkündung erfolgte am 31. Dezember,<br />

einem Tag, der in <strong>Russland</strong> kein Tag wie jeder andere<br />

ist. Am 31. Dezember arbeitet fast niemand mehr, und<br />

man findet nur wenige, die am letzten Tag des Jahres<br />

noch über ernsthafte Dinge nachdenken wollen. Das ist<br />

beinahe ein heiliges Datum, an diesem Tag empören<br />

sich selbst die letzten Verfechter der Zivilgesellschaft<br />

und die demokratisch eingestellten Parlamentarier über<br />

nichts mehr, geben keine politischen Erklärungen ab.<br />

Alle erwarten das Neue Jahr.<br />

<strong>In</strong> dieser Hinsicht war das Datum der Urteilsverkündung<br />

klug gewählt. Der gesellschaftliche Aufschrei blieb<br />

aus, komplett und relativ lange. Nach Silvester folgen in<br />

<strong>Russland</strong> nämlich noch zwei weitere denkfreie Wochen,<br />

in denen das Fernsehen nichts als Festkonzerte überträgt,<br />

keine Zeitungen erscheinen.<br />

Natürlich legten die Anwälte der Familie Kungajew<br />

beim Militärkollegium des Obersten Gerichts Berufung<br />

ein. Sie hofften zwar, den Ausgang des Verfahrens dadurch<br />

noch ändern zu können, doch, ehrlich gesagt,<br />

nicht allzu sehr. Deshalb erklärte Abdula Chamsajew unmittelbar<br />

nach der Urteilsverkündung, seine Hoffnungen<br />

würden fast ausschließlich auf dem Europäischen Gerichtshof<br />

für Menschenrechte und nicht auf dem Rechtssystem<br />

der Russischen Föderation ruhen, der Antrag auf<br />

Kassation beim Obersten Gericht sei folglich eher nur<br />

eine prozedurale Voraussetzung für das Einreichen einer<br />

Klage in Straßburg.<br />

189


Und da plötzlich die Sensation : Anfang März 2003 hebt<br />

das Militärkollegium des Obersten Gerichts unerwartet<br />

das Urteil auf, räumt Verstöße in der Prozessführung<br />

ein und ordnet neue Verhandlungen an, dort, wo das<br />

Verfahren seinen Ausgang genommen hatte – im Bezirksmilitärgericht<br />

von Rostow am Don, allerdings nicht mehr<br />

unter dem Vorsitzenden Richter Viktor Kostin.<br />

Wenn man weiß, dass das Oberste Gericht seit langem<br />

weniger als höchstes Organ einer unabhängigen<br />

Justiz denn als Abteilung der Präsidialverwaltung gilt,<br />

konnte diese Entscheidung im politischen Koordinatensystem<br />

<strong>Russland</strong>s nur bedeuten, dass der Wind im Kreml<br />

gedreht hatte und nun bereits kräftig in die entgegengesetzte<br />

Richtung blies.<br />

Der entscheidende Grund dafür lag auf der Hand : Es<br />

blieb nur noch ein Jahr bis zu den Präsidentschaftswahlen.<br />

Und bei den Parlamentswahlen im Dezember 2003<br />

musste <strong>Putins</strong> Partei »Jedinaja Rossija« (Einiges <strong>Russland</strong>)<br />

– deren Generalsekretär unter Verletzung geltenden<br />

Rechts <strong>In</strong>nenminister Boris Gryslow war – um jeden<br />

Preis gewinnen. Schon tüftelte die Kreml-Führung an<br />

der zentralen Losung für die Wahlkampagnen von Partei<br />

und Präsident : »Recht und Gesetz über alles.«<br />

Am 9. April 2003 wurde der Prozess in Rostow am<br />

Don fortgesetzt. Der Angeklagte Juri Budanow, der seit<br />

dem 27. März 2000 in Haft saß, war nicht wiederzuerkennen.<br />

Von dem unverschämten Offizierstyp, der dem<br />

Gericht über den Mund fuhr und die Eltern der von<br />

ihm ermordeten Elsa Kungajewa fortwährend anpöbelte,<br />

190


spürte der Prozessbeobachter nur noch wenig. Budanow<br />

fühlte sich verraten, war sichtlich nervös, verlangte ein<br />

Geschworenengericht, was abgelehnt wurde. Danach<br />

beantwortete er keine einzige Frage mehr, stopfte sich<br />

demonstrativ Watte in die Ohren, saß lesend in der vergitterten<br />

Anklagekabine.<br />

Den Richterstuhl nahm nun der stellvertretende Vorsitzende<br />

des Bezirksmilitärgerichts Oberst Wladimir<br />

Bukrejew ein. Zum ersten Mal in zwei Jahren wurden<br />

von der Verteidigung benannte Zeugen zur Vernehmung<br />

geladen, was einer Revolution gleichkam.<br />

Zunächst sagte General Gerassimow aus, der im März<br />

2000 die Truppengruppierung »West« der russischen<br />

Streitkräfte in Tschetschenien befehligt hatte. Er erklärte,<br />

Budanow habe als Kommandeur eines Panzerregiments<br />

keinerlei Befugnis besessen, die Siedlung Tangi-Tschu<br />

zu inspizieren, in die Ortschaft zu fahren und dort eine<br />

»Heckenschützin« zu suchen. Dies ginge aus den entsprechenden<br />

Befehlen des Generalstabs hervor. Das Aufspüren<br />

und Verhaften von Personen, die im Verdacht<br />

stünden, illegalen bewaffneten Formationen anzugehören,<br />

obliege den Ermittlern der Staatsanwaltschaft, den<br />

Mitarbeitern des FSB sowie der Miliz, nicht aber einem<br />

Oberst der Panzertruppen.<br />

Mehr noch, General Gerassimow führte aus, von Februar<br />

bis März 2000 sei das Regiment »überhaupt nicht<br />

vor die Aufgabe gestellt gewesen, Erkundungsmaßnahmen<br />

durchzuführen«. »Budanow war nicht berechtigt,<br />

in Ortschaften die Meldeordnung zu überprüfen oder<br />

191


Wohngebäude zu kontrollieren, hatte kein Recht, dort<br />

Aufklärungsaktivitäten zu entfalten.«<br />

Im Weiteren lud das Gericht den Leiter der Ortsverwaltung<br />

von Duba-Jurt, Jachjajew, vor. Von ihm wollte<br />

Budanow das Foto bekommen haben, das mehrere Personen,<br />

darunter zwei Frauen mit Scharfschützengewehren,<br />

zeigte. Dieses Foto sei dann, so Budanow, der Hauptauslöser<br />

dafür gewesen, dass er eine der Heckenschützinnen<br />

in Tangi-Tschu suchte. Jachjajew erklärte vor Gericht,<br />

er habe Budanow keinerlei Foto übergeben. Seine Aussage<br />

bestätigte der FSB-Mitarbeiter Pankow, der sich<br />

Ende Dezember 1999 und Anfang Januar 2000 – dem<br />

von Budanow angegebenen Zeitraum für das Treffen<br />

mit Jachjajew – als Chefermittler einer FSB-Abteilung<br />

in Tschetschenien aufhielt. Pankow sagte aus, Budanow<br />

sei damals tatsächlich mehrfach in seiner Gegenwart<br />

mit dem Leiter der Ortsverwaltung zusammengetroffen,<br />

jedoch habe Jachjajew Budanow dabei kein Foto übergeben<br />

und auch nichts von einer Heckenschützin erzählt.<br />

Ebenso wie Budanow auch ihm, Pankow, gegenüber weder<br />

ein Foto noch eine Heckenschützin erwähnt habe.<br />

Sämtliche Schutzbehauptungen des Angeklagten Budanow<br />

waren damit widerlegt.<br />

Am 25. Juli 2003 fällte das Gericht seinen Schuldspruch<br />

: zehn Jahre Arbeitskolonie mit strengen Haftbedingungen.<br />

Erst am 27. März 2010 wird Budanow wieder<br />

auf freien Fuß kommen.<br />

Zweifellos hat Budanow bekommen, was er verdient.<br />

Selbst wenn sie in erster Linie einem Wahlkampfmanöver<br />

192


oder einer kurzzeitigen politischen Konjunktur geschuldet<br />

sein sollte, kann man die gerechte Entscheidung der<br />

Richter nur begrüßen. Dies kommt in <strong>Russland</strong> selten<br />

vor. Das Gericht des Militärbezirks Nordkaukasus und<br />

der Vorsitzende Richter Wladimir Bukrejew offenbarten<br />

großen Mut. Der Stimmungswandel in Moskau war ja<br />

schön und gut, aber hier in Rostow am Don befand man<br />

sich mitten in der Hochburg der Militärs und bot der<br />

in Armeekreisen vorherrschenden Stimmung die Stirn.<br />

Der Schuldspruch gegen Budanow wurde von der militärischen<br />

Führung mehrheitlich und von der Offizierskaste<br />

ausnahmslos kategorisch abgelehnt. Die Offiziere,<br />

insbesondere im Nordkaukasus, fühlten sich angegriffen<br />

durch das Urteil, waren überzeugt, Budanow büße allein<br />

dafür, dass er die Heimat entschlossen verteidigt habe.<br />

Zehn Jahre Haft unter Aberkennung aller Auszeichnungen<br />

und Dienstränge empfanden sie als einen Schlag ins<br />

Gesicht.<br />

Und die anderen Kriegsverbrecher ?<br />

So dramatisch die <strong>In</strong>teressenkollisionen in diesem Prozess<br />

auch gewesen sein mögen, der Schuldspruch gegen<br />

Budanow bleibt eine Ausnahme von der allgemeinen Regel.<br />

Die politischen Umstände rückten Budanows Verbrechen<br />

ins Blickfeld einer breiten Öffentlichkeit, was<br />

wiederum weitreichende politische Konsequenzen hatte,<br />

die die Führung letztendlich dazu zwangen, ihr Plazet<br />

193


zur Verurteilung des Obersts zu geben. Doch das waren<br />

Zufälle. Alle anderen Verfahren wegen Kriegsverbrechen,<br />

begangen von Angehörigen der Streitkräfte, liegen zumeist<br />

auf Eis, und die Rechtsschutzorgane arbeiten nur<br />

in eine Richtung : die Angeklagten von der juristischen<br />

Verantwortung zu befreien, selbst wenn sie Ungeheuerliches<br />

getan haben.<br />

Am 12. Januar 2002 setzte ein Hubschrauber in der<br />

Nähe der tschetschenischen Bergsiedlung Dai sechs russische<br />

Erkundungstrupps ab, die Rebellen und unter ihnen<br />

vornehmlich den Feldkommandeur Chattab suchen sollten.<br />

Operativen <strong>In</strong>formationen des FSB zufolge war Chattab<br />

kurz zuvor verwundet worden und hielt sich in der<br />

Umgebung von Dai auf. Was nun geschah, erhielt später<br />

die Bezeichnung »Budanow II«. Die Angehörigen eines<br />

der Erkundungstrupps – zehn Kämpfer einer Spezialeinheit<br />

der Hauptverwaltung Aufklärung des Generalstabs<br />

der Russischen Föderation – sahen nach der Landung<br />

auf einer Gebirgsstraße einen kleinen Linienbus, hielten<br />

ihn an, befahlen den sechs <strong>In</strong>sassen auszusteigen,<br />

folterten sie zunächst, um herauszubekommen, wo sich<br />

die Rebellen befanden, erschossen dann alle sechs und<br />

verbrannten die Leichen.<br />

Die offiziellen Nachrichtenagenturen beeilten sich,<br />

diese brutale, sinnlose Hinrichtung als »Zusammenstoß<br />

mit einer illegalen bewaffneten Formation« darzustellen,<br />

doch fanden sich Zeugen, die diese Lüge bald widerlegten.<br />

Sämtliche <strong>In</strong>sassen des Kleinbusses waren Zivilpersonen,<br />

die aus der Kreisstadt Schatoi nach Hause fuhren.<br />

194


Unter ihnen die vierzigjährige Sainap Dshawatchanowa,<br />

Mutter von sieben Kindern zwischen zwei und siebzehn<br />

Jahren und mit dem achten schwanger. Von ihr blieb<br />

nur eine Sohle übrig, ihr Mann und die ältesten Kinder<br />

identifizierten sie anhand ihres Schuhs. An diesem Tag<br />

war Sainap zur gynäkologischen Untersuchung in Grosny<br />

gewesen. Ebenso unter den Getöteten : der Direktor der<br />

Dorfschule von Nochtschi-Keloi, der neunundsechzigjährige<br />

Said-Magomed Alaschanow und Abdul-Wachab Satabajew,<br />

der Geschichtslehrer der Schule. Sie kamen von<br />

einer pädagogischen Konferenz in Schatoi zurück. Der<br />

vierte Tote war Schachban Bachajew, der Forstwart von<br />

Nochtschi-Keloi. Der fünfte Dshamalaili Mussajew, ein<br />

Neffe der kinderreichen Sainap, der nach hiesiger Sitte<br />

seine Tante auf der Fahrt begleitete. Und der sechste der<br />

Fahrer Chamsat Tuburow, Vater von fünf Kindern und<br />

weithin bestens bekannt, weil er mit seinem Linienbus<br />

jeden Tag Fahrgäste aus Schatoi in die Bergdörfer und<br />

zurück beförderte.<br />

Am Abend des 12. Januar wurden die Mörder festgenommen.<br />

Dank der Aussage eines Zeugen, des Majors<br />

der Militäraufklärung Vitali Newmershizki, der sich zufällig<br />

am Ort des Geschehens aufgehalten hatte, konnte<br />

die Staatsanwaltschaft des Kreises Schatoi bei der militärischen<br />

Führung die Verhaftung durchsetzen. Ein beispielloses<br />

Ereignis für Tschetschenien. Bald darauf wurden<br />

die Kämpfer der Sondereinheit der Militärstaatsanwaltschaft<br />

überstellt, es folgte die Eröffnung des Strafverfahrens<br />

Nr. 76002.<br />

195


Alles schien seinen geregelten juristischen Gang zu<br />

gehen. Ich traf mich mit Oberst Andrej Werschinin, dem<br />

Militärstaatsanwalt des Kreises Schatoi, der die Ermittlungen<br />

in diesem spektakulären Fall leitete. Damals, im<br />

Frühjahr 2002, war er noch voller Optimismus, betonte,<br />

es gäbe mehr als genug Beweise, die Sache käme unbedingt<br />

vor Gericht, das Verfahren könne gar nicht gekippt<br />

werden. Obwohl das auf Schritt und Tritt geschieht, Hunderte<br />

ähnlicher Strafsachen nicht vor dem Richter landen,<br />

sondern bei den Staatsanwaltschaften aller Ebenen<br />

schmoren. Zumeist, weil die Kommandeure der Einheiten<br />

beschuldigte Untergebene schnellstmöglich aus<br />

Tschetschenien herausbefördern. Die Ermittlungen geraten<br />

ins Stocken, der Staatsanwaltschaft werden Knüppel<br />

zwischen die Beine geworfen, es gibt Einschüchterungen,<br />

Drohungen.<br />

Staatsanwalt Werschinin aber schaffte das beinahe Unmögliche<br />

: Er setzte durch, dass die Kämpfer der Sondereinheit<br />

während der Voruntersuchung in der Arrestanstalt<br />

des 291. Regiments blieben. Auf dem Gelände dieses<br />

Regiments befindet sich auch die Militärstaatsanwaltschaft<br />

des Kreises Schatoi, sodass der Oberst die <strong>In</strong>haftierten<br />

quasi rund um die Uhr unter Kontrolle hatte.<br />

Werschinin trifft keine Schuld an dem, was geschah,<br />

nachdem die Beschuldigten doch aus Schatoi in ein<br />

Gefängnis außerhalb Tschetscheniens überfuhrt und<br />

damit der Befugnis des Militärstaatsanwalts entzogen<br />

wurden. Die unmittelbaren Vollstrecker der Exekution<br />

von Dai – Leutnant Alexander Kalaganski und Fähn-<br />

196


ich Wladimir Wojewodin – kamen nach neunmonatiger<br />

Haft in Pjatigorsk auf freien Fuß, weil die Oberste<br />

Militärstaatsanwaltschaft <strong>Russland</strong>s nicht einmal einen<br />

Antrag auf Verlängerung ihrer <strong>In</strong>haftierung bei Gericht<br />

einreichte, womit die beiden automatisch entlassen werden<br />

mussten, mit der schriftlichen Auflage, »den Kreis<br />

Schtscholkowo, Gebiet Moskau, nicht zu verlassen«.<br />

Warum sollten sich die beiden Verbrecher gerade in<br />

dem bei Moskau gelegenen Kreis Schtscholkowo aufhalten<br />

? Das kam einer Belobigung, ja Beförderung gleich.<br />

Vor Tschetschenien und dem Massaker in Dai hatten Kalaganski<br />

und Wojewodin in Burjatien gedient, am Ende<br />

der Welt, nun fanden sie sich in der Nähe der Hauptstadt<br />

wieder. So etwas konnte in <strong>Russland</strong> nur bedeuten, dass<br />

die Hauptverwaltung Aufklärung und der Generalstab<br />

die beiden auszeichnen wollten für ihren treuen Dienst<br />

am Vaterland, den dieses Vaterland ungerechterweise<br />

nicht genügend würdigte. Wie bei Budanow.<br />

Hinter Gittern blieb nur Hauptmann Eduard Ulman,<br />

der am 12. Januar 2002 den Befehl zur Erschießung der<br />

sechs Zivilisten gegeben hatte. Während der Anstifter<br />

des Mordes, Major Alexej Perelewski, damals stellvertretender<br />

Kommandeur der Abteilung 641 der Hauptverwaltung<br />

Aufklärung des Generalstabes und Leiter des Sondereinsatzes,<br />

frei herumläuft. Dabei war er es gewesen,<br />

der Ulman befohlen hatte, aus allen sechs Businsassen<br />

eine »Fracht 200« – im Armeejargon die Bezeichnung<br />

für Leichen – zu machen.<br />

Ich stelle mir vor, was geschehen wäre, hätte irgendein<br />

197


Rebell in Tschetschenien sechs russische Armeeangehörige<br />

erschossen und ihre Leichen verbrannt. Auf freiem<br />

Fuß würde er sich garantiert nicht befinden. Wie sagte<br />

doch Abdula Chamsajew, der Verteidiger der Familie<br />

Kungajew ? »<strong>In</strong> den einundvierzig Jahren meiner Tätigkeit<br />

bei den Justizorganen, der Staatsanwaltschaft und<br />

als Rechtsanwalt habe ich kein einziges Mal erlebt, dass<br />

eine Person, die wegen vorsätzlichen Mordes unter strafverschärfenden<br />

Umständen zur Verantwortung gezogen<br />

wurde, einfach freigekommen ist mit der Auflage, einen<br />

bestimmten Ort nicht zu verlassen.«<br />

Damals fragte ich Chamsajew :<br />

– »Wenn die vom Europarat diskutierte Idee eines internationalen<br />

Tschetschenien-Tribunals in die Tat umgesetzt<br />

werden sollte, könnten Sie diesem Gremium dann<br />

Material zur Verfügung stellen über Fälle, wo Rechtsschutzorgane<br />

der Russischen Föderation nicht gewillt<br />

waren, gegen Kriegsverbrecher zu ermitteln, die Untersuchungen<br />

nach Kräften behinderten und die Täter laufen<br />

ließen ?«<br />

– »Soviel Sie wollen. Es gibt Hunderte derartiger Fälle.«<br />

Was also sind sie, die Offiziere und Soldaten, die täglich<br />

morden, rauben, foltern und vergewaltigen ? Helden<br />

im Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder<br />

gewöhnliche Kriegsverbrecher ? Ein Zeitgenosse mit westlichem<br />

Erfahrungshintergrund wird sofort sagen : Wozu<br />

haben wir Gerichte, die sind verpflichtet, alles Beweismaterial<br />

zu sichten und dann ein objektives Urteil zu fällen.<br />

198


Unser Zeitgenosse in <strong>Russland</strong>, der in der Ära von<br />

Präsident Putin und seinem Propagandaapparat lebt,<br />

doch das unter Jelzin erlaubte selbständige Denken noch<br />

nicht wieder ganz verlernt hat, wird erst einmal nachdenklich.<br />

Hinter uns liegen vier lange Jahre des brutalen<br />

zweiten Tschetschenien-Kriegs, den mehr als eine<br />

Million Soldaten und Offiziere durchlaufen haben und<br />

noch durchlaufen, Soldaten und Offiziere, die, vergiftet<br />

durch diesen Krieg auf eigenem Territorium, zu einem<br />

Faktor im zivilen Leben werden, der sich nicht mehr<br />

einfach abtun lässt.<br />

Fragen über Fragen. Die wichtigste aber lautet : Wofür<br />

haben sie eigentlich gekämpft ? Wofür kämpfen sie ?


PROVINZGESCHICHTEN oder<br />

WIE STAATSORGANE HELFEN, STAATLICHES<br />

EIGENTUM KRIMINELL UMZUVERTEILEN<br />

Februar 2003. Moskau. So überraschend wie ein Schneesturm<br />

aus heiterem Winterhimmel ernennt Präsident<br />

Putin einen neuen Mann zum stellvertretenden <strong>In</strong>nenminister<br />

und Leiter der Hauptverwaltung zur Bekämpfung<br />

der organisierten Kriminalität (GUBOP) : Nikolai<br />

Owtschinnikow, ein unscheinbarer Duma-Abgeordneter,<br />

der im öffentlichen Wirken des Parlaments kaum<br />

wahrgenommen wurde, nie bei den Sitzungen das Wort<br />

ergriff, sich in keinerlei gesetzgeberische <strong>In</strong>itiative einbrachte<br />

und politisch eine blasse Figur war. Außerdem<br />

kam er nicht aus St. Petersburg, was bei der gegenwärtigen<br />

Kaderpolitik eigentlich als entschiedenes Manko<br />

gelten durfte. Unmittelbar nach seiner Ernennung gab<br />

Owtschinnikow ein <strong>In</strong>terview, in dem er erklärte, er<br />

wolle das Vertrauen des Präsidenten rechtfertigen und<br />

sähe seine Aufgabe darin, »die Korruption auf ein Minimum<br />

zu reduzieren«, dafür zu sorgen, dass »der gesunde<br />

Teil der Gesellschaft« nicht länger abhängig sei »vom<br />

Handeln einer kleinen kriminellen Minderheit«. Eine<br />

sehr gute, respektable Aufgabenstellung. Doch warum<br />

konnten im Ural so viele über die Versprechungen des<br />

stellvertretenden Ministers nur lachen ?<br />

Die Kaderentscheidung des Präsidenten war natürlich<br />

201


kein Zufall. Amt und Person fanden zueinander, weil<br />

sie im Putin’schen <strong>Russland</strong> einfach zueinander finden<br />

mussten.<br />

Zunächst einige Bemerkungen über das Amt. Welchen<br />

Platz nimmt es ein in der Behördenhierarchie <strong>Russland</strong>s<br />

? Und warum wird so aufmerksam registriert, wer<br />

es innehat ?<br />

Leiter der GUBOP zu sein ist nicht irgendein Posten.<br />

Dieser Chefsessel gilt als Schlüsselposition, als grundlegende<br />

Schaltstelle innerhalb der militärischen Führungsstrukturen<br />

des Landes.<br />

Zum einen, weil die organisierte Kriminalität nicht<br />

mehr wegzudenken ist aus unserem Alltagsleben, das<br />

bestimmt wird durch eine beispiellose Korruption, bei<br />

der sich alles regelt nach dem Prinzip : mit Geld darf<br />

man alles. Zum anderen hat die Bedeutsamkeit dieses<br />

Postens quasi »historische« Wurzeln, die zurückgehen auf<br />

Wladimir Ruschailo, ein Urgestein unter den hochrangigen<br />

Militärkadern ; sowohl in der Jelzin- als auch in der<br />

Putin-Zeit fest im politischen Sattel, vormals <strong>In</strong>nenminister<br />

und heute Chef des Sicherheitsrates der Russischen<br />

Föderation. Ruschailo hatte seine Karriere als Leiter der<br />

GUBOP begonnen und dieses Tätigkeitsfeld auch als<br />

<strong>In</strong>nenminister nicht aus dem Auge verloren. Auf sein<br />

Betreiben hin wurden überall in <strong>Russland</strong> die Abteilungen<br />

zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens<br />

personell aufgestockt und verstärkt. Sie erhielten nicht<br />

nur mehr Stellen, sondern auch weitreichende Kompetenzen<br />

zur Durchführung militärischer Operationen unter<br />

202


Waffeneinsatz und außerhalb des gesetzlich vorgegebenen<br />

Rahmens, was sie deutlich von den anderen Milizstrukturen<br />

abhob. Und natürlich sorgte Ruschailo für den<br />

Aufstieg früherer Kollegen aus den Reihen der Mafia-<br />

Bekämpfer in hohe staatliche Ämter. Mit der Konsequenz,<br />

dass heute die Anzahl der »Ruschailo-Leute« in den zentralen<br />

militärischen Führungsapparaten höchstens noch<br />

übertroffen wird von den »Petersburgern«, denjenigen<br />

also, die seinerzeit mit Putin in St. Petersburg arbeiteten<br />

und in seinem Schlepptau in Moskau zu Amt und<br />

Würden kamen, sowie den »Tschekisten« – ehemaligen<br />

Angehörigen von KGB und FSB.<br />

Nun zur Person Nikolai Owtschinnikow : Äußerlich<br />

betrachtet wirkte seine Ernennung durchaus angebracht<br />

und von der Beamtenlogik her folgerichtig. Er hat, betrachtet<br />

man die offizielle Biografie des neuen Amtsinhabers,<br />

den Posten verdient. Vor seiner Wahl zum<br />

Duma-Abgeordneten arbeitete der Milizionär Owtschinnikow<br />

dreißig Jahre lang in der Provinz, in verschiedenen<br />

Leitungsfunktionen der Rechtsschutzorgane. Sein<br />

Abgeordneten-Mandat erhielt er als Chef der Milizverwaltung<br />

von Jekaterinburg. Und Jekaterinburg ist nicht<br />

irgendeine Stadt in <strong>Russland</strong>, kein Allerweltsort. Die<br />

»Hauptstadt des Ural«, wie man bei uns sagt, ist das<br />

Zentrum des Gebiets Swerdlowsk, der größten <strong>In</strong>dustrieregion<br />

des Ural, wo man in den Jahren der Jelzin-<br />

Herrschaft den berühmten Appell des ersten russischen<br />

Präsidenten an die einzelnen Landesteile »Nehmt euch<br />

Souveränität, soviel ihr wollt !« sehr wörtlich verstan-<br />

203


den und über die Gründung einer Ural-Republik mit<br />

Jekaterinburg als Hauptstadt nachgedacht hatte. Wer in<br />

dieser Stadt die Miliz leitet, steht im Blickfeld des gesamten<br />

Landes, verfügt der Ural doch über reichste Bodenschätze,<br />

metallurgische Kombinate, ein Potential an<br />

natürlichen Ressourcen und industrieller Kapazität, mit<br />

dem ein jeder Staat überleben könnte. Außerdem ist Jekaterinburg<br />

traditionell die Hochburg einer der größten<br />

kriminellen Vereinigungen – anfangs der Sowjetunion,<br />

dann der Russischen Föderation –, der so genannten<br />

Uralmasch-Gruppe. Was bedeutet, dass der oberste Milizionär<br />

der Stadt schon von Haus aus mit der Bekämpfung<br />

der Mafia befasst sein musste.<br />

Doch die offizielle Darstellung des Werdegangs Nikolai<br />

Owtschinnikows sagt nicht alles, sie lässt außer Betracht,<br />

was im Hinblick auf den neuen Mann an der Spitze<br />

der GUBOP vielleicht sogar am wichtigsten gewesen<br />

wäre : Wie versah Owtschinnikow im heimatlichen Jekaterinburg<br />

sein Amt ? Womit befasste er sich ? Welche<br />

Mitglieder der Mafia verfolgte er, welche protegierte er<br />

möglicherweise ? Welche Heldentaten in Sachen Verbrechensbekämpfung<br />

gehen auf sein Konto ? Welche Größen<br />

aus <strong>In</strong>dustrie und Wirtschaft genossen seine Gunst ? <strong>In</strong><br />

welche Ereignisse war er unmittelbar involviert ? Wie sah<br />

das Jekaterinburg der Owtschinnikow-Zeit überhaupt<br />

aus ? Und was für eine Stadt ist es heute geworden ?<br />

Natürlich erzähle ich hier nicht die persönliche Erfolgsstory<br />

des Milizionärs aus dem fernen Ural, der es in der<br />

Hauptstadt Moskau zu einem Chefsessel brachte. Mich<br />

204


interessiert etwas anderes : ein Phänomen russischen<br />

Lebens namens Korruption. Was ist das – Korruption ?<br />

Welche Mechanismen halten sie in Gang, obwohl alle<br />

Welt sie verurteilt ? Wie muss man sich die neue russische<br />

Mafia vorstellen, die nicht mehr zu Jelzins Zeiten,<br />

sondern unter Putin ihr Unwesen treibt ? Wie gelangt sie<br />

heute in höchste Staatsämter ? Welche <strong>In</strong>teressen stehen<br />

dahinter, wenn der Präsident bestimmte Personen protegiert<br />

? Am Beispiel der Ernennung Nikolai Owtschinnikows<br />

zum ranghöchsten Mafia-Bekämpfer im Land<br />

lässt sich die Kaderpolitik Wladimir <strong>Putins</strong> und seines<br />

Apparats demonstrieren.<br />

Diese Geschichte von Putin, Owtschinnikow und der<br />

Mafia wird lang. Ich muss dazu weit ausholen.<br />

FEDULEW<br />

Eine Nachricht machte im ganzen Land die Runde :<br />

Am 13. September 2000 – der Tschetschenien-Krieg war<br />

bereits im Gange und Putin, der im Unterschied zu allen<br />

anderen Kandidaten einen zweiten tschetschenischen<br />

Waffengang gutgeheißen hatte, saß nun im Sessel des<br />

Staatsoberhaupts – wurde in Jekaterinburg das Kombinat<br />

Uralchimmasch, einer der größten <strong>In</strong>dustriebetriebe und<br />

ein Chemiemaschinenbau-Unternehmen von nationaler<br />

Bedeutung, besetzt.<br />

Unterstützt von einer örtlichen Milizabteilung, drangen<br />

mit Baseballschlägern bewaffnete Männer in das<br />

205


Gebäude der Kombinatsverwaltung ein, richteten ein<br />

unglaubliches Chaos an und versuchten, Kombinatsdirektor<br />

Sergej Glotow durch ihren eigenen »Boss« zu ersetzen.<br />

Die Fernsehsender im Ural zeigten damals, wie die<br />

Kommunisten den Sieg feierten und proklamierten :<br />

»Hurra ! Das Volk übernimmt die Macht ! Nieder mit<br />

dem Kapitalismus !« Die gleichen Losungen verkündeten<br />

auch die Gewerkschaftsführer vor Ort. Sie erklärten<br />

die Besetzung von Uralchimmasch zur »Arbeiterrevolution«,<br />

bekundeten ihre Unterstützung und versprachen,<br />

derartige »Revolutionen« in Bälde über das ganze Land<br />

auszubreiten.<br />

Altpräsident Jelzin schwieg, was allerdings niemanden<br />

verwunderte, wussten doch alle, dass er krank und<br />

kaum arbeitsfähig war. Doch auch der neue Staatschef<br />

Putin schwieg – und ebenso die gesamte übrige Führung<br />

des Landes. <strong>In</strong>nenminister Ruschailo kommentierte die<br />

Beteiligung einer Milizabteilung an der Erstürmung des<br />

Kombinats mit keinem einzigen Wort.<br />

Ein vielsagendes Schweigen, denn derartige Ereignisse<br />

kommen in <strong>Russland</strong> nicht von ungefähr, und einfach so,<br />

aus purer Solidarität mit den für ihre Rechte kämpfenden<br />

Arbeitern, unterstützen die bewaffneten Sondereinheiten<br />

niemand. Am Abend des 13. September, als die »Arbeiterrevolution«<br />

ein wenig abgeflaut war, verbarrikadierte<br />

sich die Kombinatsleitung, die der Ablösung des Direktors<br />

nicht zustimmen wollte, im Verwaltungsgebäude.<br />

Da kam eine wahre Panzerkolonne – eine Armada aus<br />

nagelneuen schwarzen Jeeps – auf das Kombinatsgelände<br />

206


gerollt. Respektvoll gaben die Kämpfer der Sondereinheiten<br />

den Weg frei, die Fahrzeuge stießen auf keinerlei<br />

Widerstand.<br />

Aus einem Jeep stieg ein mittelgroßer, unscheinbarer<br />

Mann, in feinem Anzug, mit teurer Brille und Goldkettchen<br />

an Hals und Handgelenken. Dem Augenschein<br />

nach ein typischer neuer Russe mit den Spuren eines<br />

mehrtägigen Gelages im Gesicht. Auf dem Weg zum<br />

Arbeitszimmer des Direktors umringte den Herrn eine<br />

vielköpfige Leibwache, die aus Jekaterinburger Milizionären<br />

bestand. Wenig zimperlich schoben die Angehörigen<br />

der Sondereinheit die Betriebsangehörigen beiseite.<br />

»Paschka macht mal wieder Randale. Der rechnet hier<br />

mit wem ab«, zischten die alten Hasen unter den Uralchimmasch-Arbeitern<br />

durch die Zähne.<br />

»Der führende <strong>In</strong>dustrielle unserer Region und Abgeordnete<br />

des Gebietsparlaments Pawel Anatoljewitsch<br />

Fedulew unternimmt alle Anstrengungen, um auf der<br />

Grundlage entsprechender Gerichtsentscheidungen Recht<br />

und Gesetz wiederherzustellen«, vermeldeten die Jekaterinburger<br />

Fernsehsender und zeigten die besorgte Miene<br />

des »führenden <strong>In</strong>dustriellen« im bunten Wechsel mit<br />

den blutüberströmten Gesichtern der Kombinatsverteidiger,<br />

zwischen Baseballschlägern sah man Stahlruten<br />

blitzen.<br />

Der Herr mit Brille aber betrat das Gebäude und präsentierte<br />

der abgesetzten Kombinatsleitung einen Stoß<br />

Papiere : Gerichtsurteile, die besagten, dass er und kein<br />

anderer nunmehr Mitbesitzer des Unternehmens sei, und<br />

207


in dieser Eigenschaft sowie als Mitglied des Aufsichtsrats,<br />

erklärte der Herr, werde er einen Direktor seiner Wahl<br />

einsetzen, weshalb er alle Unbefugten ersuchen müsse,<br />

das Zimmer zu räumen.<br />

Betont lässig ließ sich der feine Herr in einem Sessel<br />

nieder. Doch einige Zeit später, als die abgesetzte<br />

Kombinatsleitung die Papiere gesichtet hatte, musste er<br />

nicht nur einen Schwall wenig feiner Bemerkungen über<br />

sich ergehen lassen, sondern auch mehrere gerichtliche<br />

Dokumente zur Kenntnis nehmen, aus denen hervorging,<br />

dass der bisherige Direktor rechtmäßig amtierte und der<br />

Aufsichtsrat hinter ihm stand, mit Ausnahme einiger<br />

weniger Mitglieder, deren Unterschrift auf den Papieren<br />

des Herrn Mitbesitzers prangte.<br />

Um zu verstehen, was hier vor sich ging, ist ein weiterer<br />

Exkurs in die jüngere Geschichte Jekaterinburgs<br />

nötig. Damit wir uns ein Bild machen können, welche<br />

Gesetze in den zehn Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion<br />

in dieser Stadt herrschten und wie sich eine<br />

Gesellschaft entwickeln konnte, in der die Besetzung<br />

eines so gigantischen Kombinates wie Uralchimmasch<br />

möglich war, warum es in dieser Geschichte mehrere verschiedene<br />

Gerichtsurteile gibt – und wer eigentlich dieser<br />

»Paschka«, wer Pawel Anatoljewitsch Fedulew ist. Wen<br />

auch immer ich damals in Jekaterinburg ansprach – Fußgänger<br />

auf der Straße, Diensthabende auf dem Bahnhof,<br />

Mitarbeiter der Gebietsverwaltung, Prostituierte, die im<br />

Hotelfoyer flanierten, Richter, Milizionäre, Lehrer, auf<br />

meine Frage »Was geht denn bloß hier bei euch vor ?«,<br />

208


erhielt ich stets die gleiche Antwort : »Das ist alles der<br />

Fedulew.« Der einzige Unterschied bestand darin, dass<br />

ihn einige schlicht Paschka nannten, während ihn andere<br />

ehrfurchtsvoll Pawel Anatoljewitsch titulierten.<br />

De r an f a n g<br />

Vor zehn Jahren, als sich das gesamte heutige Leben auszuprägen<br />

begann, Jelzin die Macht innehatte und überall<br />

die Demokratie »brodelte«, wie wir seinerzeit witzelten,<br />

war Paschka Fedulew nur ein kleiner Rowdy, Erpresser<br />

und Gewalttäter. <strong>In</strong> Swerdlowsk, so hieß Jekaterinburg zu<br />

Sowjetzeiten, herrschten allenthalben kriminelle Banden<br />

und teilten die Einflusssphären unter sich auf. Paschka<br />

gehörte nicht dazu, er betrieb sein kleines Gaunergeschäft<br />

auf eigene Kosten. Und obwohl er bereits ein beeindruckendes<br />

Vorstrafenregister besaß, ließ ihn die Miliz<br />

weitgehend in Ruhe, als kleiner Fisch war er uninteressant.<br />

Solche wie er landeten zu der Zeit nur hinter Gittern,<br />

wenn es sein musste, d. h. wenn sie fremde Kreise<br />

störten oder maßlos wurden. Das stand bei Paschka Fedulew<br />

nicht zu befürchten, damals konnte er sich noch<br />

arrangieren.<br />

Paschka war Anfang der neunziger Jahre in das kriminelle<br />

Geschäft eingestiegen, wie wohl die meisten seiner<br />

Gaunerbrüder nicht nur in Swerdlowsk, sondern in ganz<br />

<strong>Russland</strong>. Er besaß nichts, und zum »Gemeinschaftstopf«<br />

der Verbrecher, dem »Obschtschak« – in Swerdlowsk,<br />

das bekannt war für seine Unterwelt, gab es einen der<br />

209


größten »Gemeinschaftstöpfe« des Landes –, hatte er als<br />

kleiner Ganove keinen Zugang und musste sich deshalb<br />

sein Startkapital selbst besorgen.<br />

Das erste große Geld verdiente Fedulew leicht und<br />

schnell mit illegal abgefülltem Wodka, der in <strong>Russland</strong><br />

»Ballerwasser« hieß. Der Mechanismus war simpel. Im<br />

Gebiet Swerdlowsk mit seinen gottverlassenen Provinzstädtchen<br />

und kleinen Dörfern hatten ein paar Spirituosenfabriken<br />

die Sowjetära überlebt. <strong>In</strong> den ersten Jahren<br />

der Jelzin-Herrschaft waren sie dann, wie alle anderen<br />

Betriebe auch, so heillos heruntergewirtschaftet, dass<br />

jeder, der dem Direktor ein symbolisches Sümmchen<br />

in die Hand drückte, so viel Alkohol bekam, wie er nur<br />

transportieren konnte.<br />

Natürlich handelte es sich dabei um eine unverhohlene<br />

Ausplünderung der kleinen Staatsbetriebe, doch im<br />

damaligen postsowjetischen Leben war das normal. Die<br />

Menschen hungerten, um über die Runden zu kommen,<br />

und die eine Hälfte plünderte die andere aus, niemand<br />

nahm daran Anstoß. Jeder überlebte so gut er konnte,<br />

und wir meinten, das sei genau das Business, von dem<br />

wir geträumt hatten.<br />

Der fast umsonst erstandene Alkohol wurde dann<br />

in irgendwelchen Kellern in Flaschen abgefüllt und als<br />

billiger Wodka verkauft. Er ging weg wie warme Semmeln.<br />

Es gab damals noch keine Verbrauchssteuer für<br />

Alkohol, keine einschlägige Gesetzgebung, und die Miliz<br />

war machtlos, selbst wenn sie gegen den illegalen Vertrieb<br />

des »Ballerwassers« hätte angehen wollen. Doch sie<br />

210


wollte es erst gar nicht, sondern versuchte lieber, gleichfalls<br />

zu überleben so gut es ging : durch Beteiligung an<br />

dem illegalen Geschäft. Die Wodka-Händler bezahlten<br />

die Milizionäre dafür, dass sie ihnen Konkurrenten und<br />

Schutzgelderpresser vom Leibe hielten.<br />

<strong>In</strong> dieser Zeit lernte der Gauner und Schwarzhändler<br />

Paschka Fedulew den Milizionär Nikolai Owtschinnikow<br />

kennen. Wie alle damals wollte Owtschinnikow<br />

Geld verdienen, denn die Gehälter bei der Miliz waren<br />

lächerlich gering und wurden nur unregelmäßig ausgezahlt.<br />

Paschka und Owtschinnikow verstanden einander<br />

also. Owtschinnikow »übersah« Paschkas Geschäfte,<br />

und Paschka, der eine Goldader aufgetan hatte, ließ sich<br />

nicht lumpen. Das Hungerleben war für den Milizionär<br />

vorbei.<br />

Schließlich reichte Paschkas Startkapital, um größer<br />

einzusteigen. Und, worauf es ihm besonders ankam, legal.<br />

Ein bezeichnender Zug unserer Gesellschaft : Wie ein<br />

Soldat davon träumt, General zu werden, träumt jeder<br />

Verbrecher in <strong>Russland</strong> vom großen legalen Geschäft.<br />

Ein Spezifikum der russischen Wirtschaft – unter Jelzin<br />

wie unter Putin – besteht nun darin, dass jeder, der an diesem<br />

großen Geschäft teilhaben und sich darin behaupten<br />

will, drei Spielregeln respektieren muss. Die erste lautet :<br />

Erfolg hat in der Regel, wer ein Stück des Staatskuchens,<br />

also des staatlichen Eigentums, an sich reißen kann. Deshalb<br />

kommt ja auch die Mehrzahl der Geschäftsleute in<br />

<strong>Russland</strong> aus der sowjetischen Nomenklatura, aus den<br />

Reihen der Partei- und Komsomolfunktionäre. Sie kamen<br />

211


am leichtesten an den Kuchen heran. Die zweite Spielregel<br />

besteht darin, dass man auch nach der erfolgreichen<br />

Einverleibung des staatlichen Kuchenstücks immer im<br />

Dunstkreis der Macht bleiben, die Staatsdiener regelmäßig<br />

füttern (schmieren) muss, weil das die beste Garantie<br />

ist für ein Prosperieren des privaten Geschäfts. Und die<br />

dritte Spielregel : Ohne die (erkaufte) Freundschaft der<br />

Rechtsschutzorgane geht nichts.<br />

Da Fedulew keine Möglichkeit besaß, die erste Erfolgsbedingung<br />

zu erfüllen, konzentrierte er sich auf die beiden<br />

anderen.<br />

Die re c h t s s c h ü t z e r<br />

Damals lebte in Jekaterinburg ein gewisser Wassili Rudenko,<br />

seines Zeichens stellvertretender Leiter der städtischen<br />

Kriminalpolizei und Arbeitskollege Nikolai Owtschinnikows.<br />

Alle wussten, dieser Rudenko war nicht gerade<br />

der <strong>In</strong>begriff eines sympathischen Menschen, sondern<br />

käuflich und aalglatt, doch auf Grund seiner Stellung<br />

kam keiner, der im Business nach Erfolg strebte, an<br />

ihm vorbei. Rudenko hielt bei jedem Banditen, der seine<br />

kriminelle Vergangenheit hinter sich lassen wollte, die<br />

Hand auf und frisierte als Gegenleistung die Führungsakten<br />

der neuen Unternehmer, indem er ihre Verbrecherbiografie<br />

aus der Milizkartei verschwinden ließ.<br />

Unter denen, die Rudenkos Gunst suchten, war auch<br />

Pascha Fedulew. <strong>In</strong> Jekaterinburg galt er bereits als vermögender<br />

Schnapskönig, wurde als Sponsor in örtliche<br />

212


Altenheime und Waisenhäuser eingeladen, flog von Zeit<br />

zu Zeit über das Wochenende nach Moskau, um die<br />

hauptstädtischen Nachtclubs zu besuchen, wobei er (ein<br />

besonderes Privileg, das ihn als Günstling der Macht<br />

ausweist) auch Beamte der Gebietsverwaltung mit auf<br />

Tour nahm. Die richtige Zeit also für eine Bereinigung<br />

des eigenen Lebenslaufs. Paschka befand, dass er seine<br />

kriminelle Vergangenheit, die ihre dokumentarische Spur<br />

in den Milizarchiven von Jekaterinburg hinterlassen<br />

hatte, nicht mehr brauchte, und er ließ sie verschwinden.<br />

Paschka besaß, wie man zugeben muss, ein glückliches<br />

Händchen, und er hielt es auch später so : Was er sich<br />

vornahm, setzte er hundertprozentig um.<br />

Kennen gelernt hatten sich Rudenko und Fedulew über<br />

einen gewissen Juri Altschul, von dem alle, die ihm je<br />

begegneten, mit Sympathie, ja sogar mit Begeisterung<br />

sprechen. Altschul stammte nicht aus dem Ural, nach<br />

Jekaterinburg hatte es ihn fast zufällig verschlagen – auf<br />

Befehl des Vaterlandes. Er war Kommandeur einer Spezialeinheit<br />

der Hauptverwaltung Aufklärung des Generalstabs<br />

der Russischen Föderation und kam hierher, als<br />

seine Kompanie im Zuge der Auflösung der Gruppe<br />

West der russischen Streitkräfte nach dem Fall der Berliner<br />

Mauer aus Ungarn in den Ural versetzt wurde. Er<br />

quittierte den Dienst und blieb in der Stadt. Geld zahlte<br />

die Armee damals ihren ehemaligen Angehörigen nicht,<br />

also stürzte sich der nunmehrige Zivilist Altschul in<br />

die Wirtschaft. Wie viele entlassene Militärs gründete<br />

er einen privaten Sicherheitsdienst, eine Detektei sowie<br />

213


einen gemeinnützigen Verein für ehemalige Mitglieder<br />

der Sondereinheiten.<br />

Derartige Unternehmen und Organisationen, entstanden<br />

auf den Ruinen der Armee, gibt es in <strong>Russland</strong> massenhaft.<br />

Jede große Stadt hat ihre ehemaligen Militärs,<br />

deren wichtigster Broterwerb im Personenschutz für Geschäftsleute<br />

besteht. So arbeitete auch Altschul für Fedulew,<br />

und er, der frühere Offizier der Hauptverwaltung<br />

Aufklärung, war es, der Paschka half, mit Rudenkos Unterstützung<br />

seine kriminellen Spuren in der Datenbank<br />

der Jekaterinburger Miliz zu löschen.<br />

Schon bald stieg Altschul von Fedulews Bodyguard zu<br />

dessen Vertrautem auf. <strong>In</strong>telligent, entscheidungsfreudig<br />

und gebildet, führte er Pascha, der über keinerlei Berufsausbildung<br />

verfügte, in den Wertpapiermarkt ein, wo<br />

Pascha allerdings bald heimisch wurde und Spielerqualitäten<br />

entwickelte. Da das eigene Geld nicht reichte, tat<br />

er sich mit Andrej Jakuschew zusammen, der Mitte der<br />

neunziger Jahre als Chef der weit über den Ural hinaus<br />

bekannten Firma »Goldenes Kalb« eine Kapazität war.<br />

Gemeinsam kauften sie erfolgreich die Aktien mehrerer<br />

Unternehmen auf. So auch des Jekaterinburger<br />

Fleischkombinats, des größten seiner Art im Ural. Dieser<br />

»Fleischcoup« war von einem solchen Kaliber, dass<br />

er Paschka beinahe zum König von Jekaterinburg gemacht<br />

hätte, zu einem Oligarchen, vor dem sich selbst<br />

die Türen im Amtssitz des Gebietsgouverneurs Eduard<br />

Rossel öffneten. Wenn, ja wenn Pascha nicht den Erfolg<br />

für sich allein gewollt hätte. Er konnte mit anderen zu-<br />

214


sammen gegen Schwierigkeiten ankämpfen, doch den finanziellen<br />

und gesellschaftlichen Erfolg teilen konnte er<br />

nicht. <strong>In</strong> diese Zeit fällt der erste und sehr bezeichnende<br />

Auftragsmord in Fedulews Karriere. Genauer gesagt, der<br />

erste, der bekannt wurde. Und bezeichnend deshalb, weil<br />

danach alle Pawel Fedulew zu fürchten begannen, begriffen<br />

sie doch, dass er nun tatsächlich über seine eigenen<br />

Grenzen hinausgewachsen und kein kleiner Ganove und<br />

Erpresser mehr war. So ist das nun einmal in <strong>Russland</strong> :<br />

Bringst du einen um, respektiert man dich.<br />

Fedulew hatte sich bei Jakuschew eine gewaltige Menge<br />

Geld geliehen für die nächste Transaktion. Er hatte<br />

es erfolgreich angelegt und die Summe um ein Vielfaches<br />

vermehrt. Nur zurückzahlen wollte er seine Schulden<br />

plötzlich partout nicht mehr. Jakuschew zeigte sich<br />

anfangs eher kulant … und dann kam er nicht mehr<br />

dazu, das Geld einzufordern. Am 9. Mai 1995 wurde er<br />

vor den Augen von Frau und Kind im Vestibül seines<br />

Hauses erschossen.<br />

Und die juristische Konsequenz ? Es wurde Strafantrag<br />

gestellt, das Verfahren erhielt sogar eine Nummer –<br />

772801. Und in diesem Dokument figurierte Fedulew,<br />

Kompagnon und Schuldner des Ermordeten, als Hauptperson.<br />

Und dann ? Die Strafsache 772801 liegt bis heute in<br />

den Archiven. Unberührt in dem Sinne, dass es keinerlei<br />

Ermittlungen gab oder gibt. Es sollten noch viele<br />

derartige Strafsachen folgen, jedes Mal mit dem gleichen<br />

Ergebnis, oder besser : mit gar keinem. Zu dieser Zeit<br />

215


wusste in Jekaterinburg bereits jeder, der es wissen wollte,<br />

dass Paschka sein Geld äußerst vorteilhaft investierte :<br />

Er hatte die Miliz gekauft, und die hielt ihm zuverlässig<br />

jegliche Unannehmlichkeit vom Leibe.<br />

Tatsächlich, ein cleverer Coup. Und sehr sicher. Paschka<br />

hatte sie ausgezeichnet gelernt, die Spielregeln des neuen<br />

Geschäftslebens in <strong>Russland</strong>, deren wichtigste lautet :<br />

Du bist nichts, wenn du nicht zweierlei Connec tions besitzt.<br />

Zum einen die erkaufte Freundschaft hochrangiger<br />

Staatsbeamter, die du als unabdingbare Voraus setzung<br />

für dein eigenes Überleben fortwährend schmieren musst,<br />

ihre Abhängigkeit von deiner Brieftasche ist wie eine<br />

Lebensversicherung. Und zum anderen das Wohlwollen<br />

der oberen Milizchargen, die nach deinen Dollars süchtig<br />

werden müssen wie nach Heroin. Eine ebenso unverzichtbare<br />

Voraussetzung für geschäftlichen Erfolg.<br />

Seit dieser Zeit sind Rudenko und Owtschinnikow<br />

Paschkas beständige »Partner«. Sie helfen ihm, zu einem<br />

der »neuen <strong>In</strong>dustrieunternehmer des Ural« aufzusteigen<br />

und sein Vermögen zu vervielfachen. Natürlich mit den<br />

gleichen, im Falle Jakuschew erprobten Methoden, denn<br />

andere beherrschen sie nicht.<br />

Eines Tages schlägt Fedulew vor, mit Andrej Sosnin,<br />

einem weiteren Jekaterinburger Oligarchen, zu kooperieren.<br />

Fedulew und Sosnin legen ihre Geldmittel zusammen<br />

und bewerkstelligen auf dem Wertpapiermarkt des<br />

Ural eine beispiellose, alles bisher Dagewesene übersteigende<br />

Spekulation. Sosnin hält nun die beherrschende<br />

Aktienmehrheit an den lukrativsten Unternehmen der<br />

216


Region, ist praktisch Herr über das gesamte industrielle<br />

Potential, das mehrere Generationen von Sowjetbürgern<br />

geschaffen haben, angefangen von der Zeit des Zweiten<br />

Weltkriegs, als die größten und leistungsfähigsten<br />

Betriebe aus dem europäischen Teil der UdSSR hierher<br />

in den Ural verlagert wurden. Zu den Unternehmen, über<br />

die Sosnin und Fedulew dank des Deals Kontrolle erlangen,<br />

zählen das Hüttenkombinat Nishni Tagil und die<br />

Erzaufbereitungswerke von Katschkanar, die Kombinate<br />

Uralchimmasch und Uraltelekom, die Grubenverwaltung<br />

Bogoslowskoje sowie drei Hydrolysewerke in den Städten<br />

Tawda, Iwdel und Lobwa.<br />

Es war ein riesiger Erfolg. Für die Spekulanten natürlich.<br />

Doch auch für den Staat ? Sosnin und Fedulew<br />

hatten ja keinerlei unternehmenspolitisches Konzept für<br />

diese Betriebe, sie spielten einfach ihr spekulatives Spiel.<br />

Und die Staatsdiener an der Spitze der Gebietsverwaltung<br />

trugen die beiden auf Händen, ohne zu fragen, was sie<br />

denn mit den Werken anzufangen gedächten, nur daran<br />

interessiert, möglichst viel abzubekommen. Korruption<br />

von Amts wegen. Und die Kompagnons zeigten sich<br />

nicht kleinlich, reichten etwas herüber von dem Zusammengeraubten,<br />

schließlich ging es hier um Gönner, die<br />

nicht verprellt werden durften.<br />

Nun mussten die beiden Geschäftspartner nur noch<br />

das Eigentum unter sich aufteilen. Und da wiederholte<br />

sich die alte Geschichte. Fedulew hatte kein Problem<br />

damit, Staatsdiener und Milizoberste zu bedenken, weil<br />

er das für eine <strong>In</strong>vestition hielt, die sich für ihn aus-<br />

217


zahlen würde, doch mit seinem Partner wollte er nicht<br />

teilen : Andrej Sosnin starb durch eine verirrte Kugel,<br />

es wurde Strafanzeige erstattet, der Fall Sosnin am 22.<br />

November 1996 als Strafsache Nr. 474802 aktenkundig<br />

gemacht, die Hauptrolle darin spielte wiederum Fedulew<br />

und … nichts weiter.<br />

Man hat schließlich Verbindungen, damit sie funktionieren.<br />

Als Sosnin ermordet wird, sind Fedulews Miliz-<br />

Freunde – sowohl Rudenko als auch Owtschinnikow –<br />

schon keine armen Leute mehr, und alle in Jekaterinburg<br />

sehen, dass ihr Wohlstand proportional zum Geschäftserfolg<br />

des Patrons wächst. Keine Frage, Strafsache Nr.<br />

474802 wird geschlossen, nicht einmal archiviert, nein,<br />

einfach vergessen.<br />

sc h n a P s k r i e g e<br />

Die Zahl der Unternehmen, die Fedulew bis Ende der<br />

neunziger Jahre in der Ural-Region hatte an sich reißen<br />

können, ist allein schon beeindruckend, doch ihm gelang<br />

ein noch viel größerer Wurf. Jekaterinburg, das ist<br />

vor allem Uralmasch. Uralmasch dominiert den Ural.<br />

Nicht der bekannte Maschinenbaubetrieb, sondern die<br />

organisierte kriminelle Vereinigung (OKV) gleichen Namens,<br />

die weitläufigste und mächtigste Mafia <strong>Russland</strong>s,<br />

ein vieltausendköpfiger, streng hierarchisch gegliederter<br />

Apparat, dessen Repräsentanten in sämtlichen Bereichen<br />

der Macht zu finden sind. Staatsdiener zu kaufen und<br />

Geschäftspartner umbringen zu lassen war also für Pa-<br />

218


scha Fedulew das eine, sich mit den Banditen von Uralmasch<br />

zu arrangieren jedoch etwas ganz anderes. Aber<br />

1997 gelang ihm auch das. Er tat sich mit den Uralmasch-<br />

Bossen zusammen, um die Aktien des Hydrolysewerks<br />

in Tawda in seinen Besitz zu bringen. Die Elefantenhochzeit<br />

machte Sinn. Fedulew, der bereits damals einen<br />

luxuriösen, aufwendigen Lebensstil pflegte, brauchte<br />

Bargeld, um auf dem Markt mitzumischen, und dieses<br />

Geld lag im »Gemeinschaftstopf« der Uralmasch-Banditen.<br />

Und das Erstaunlichste ist, dass sich Uralmasch<br />

auf einen Deal mit Fedulew einließ, obwohl die Gangsterbosse<br />

wussten, wen sie vor sich hatten.<br />

Noch eine kurze Erläuterung : Warum übten gerade<br />

die Hydrolysewerke einen so großen Reiz auf Fedulew<br />

und Uralmasch aus ? Einen so unwiderstehlichen Reiz,<br />

dass sich um dieser Werke willen Kriminelle ganz unterschiedlichen<br />

Kalibers, hinter denen darüber hinaus verschiedene<br />

Rechtsschutzstrukturen standen, zu einem<br />

Bündnis zusammenschlossen.<br />

Der Hintergrund ist folgender : Die Hydrolysewerke<br />

produzierten Spiritus, und aus dem ließ sich »Ballerwasser«,<br />

ein in <strong>Russland</strong> viel getrunkener minderwertiger<br />

Wodka, herstellen und zu Dumpingpreisen verkaufen.<br />

Ein Geschäft, das fantastische Gewinne abwarf, Gewinne<br />

in bar, in richtigem, nicht »kreditiertem« Geld, das über<br />

keine Bank floss und für die Steuerbehörde unauffindbar<br />

war. Etwas Besseres als dieses Bare konnte es gar nicht<br />

geben.<br />

Also kauften Fedulew und die Uralmasch-Bosse 97 %<br />

219


der Aktien des Hydrolysewerks Tawda. Es folgte das<br />

bewährte Konzept : Beide Kooperationspartner gründeten<br />

Nebenfirmen, denen die Gewinne zuflossen, die Aktien<br />

wurden aufgeteilt, danach ließ man diese Firmen entweder<br />

wieder erlöschen, oder sie übernahmen die gesamten<br />

Produktionsprozesse des Hauptunternehmens, und<br />

irgendwann gab es dann das Hydrolysewerk als solches<br />

gar nicht mehr, alles war nunmehr im Besitz der besagten<br />

Firmen. Kein Zweifel, das Unternehmen wurde regelrecht<br />

gefleddert, systematisch ausgeplündert.<br />

Was nach dem Deal kam, kennen wir schon : Bei der<br />

Aufteilung der Aktien vergaß Fedulew den ursprünglich<br />

vereinbarten Verteilungsmodus, und er nahm auch<br />

keinen Uralmasch-Vertreter in den neuen Vorstand auf,<br />

beließ dort nur Direktoren, die unter seiner Kontrolle<br />

standen.<br />

Warum dieses Gebaren ? Fedulew strebte noch weiter<br />

nach oben, wollte es zum Ural-Oligarchien, zum Ersten<br />

unter den ganz Großen bringen, keine Rücksicht mehr<br />

nehmen müssen auf Kompagnons, selbst wenn sie so<br />

einflussreich waren wie Uralmasch. Und er erreichte<br />

sein Ziel : Die Uralmasch-Banditen erschossen ihn nicht,<br />

wie zu erwarten gewesen wäre, sondern zogen sich erst<br />

einmal zurück. Denn zum Zeitpunkt des Tawda-Coups<br />

besaß Fedulew nicht mehr einfach nur gute Beziehungen<br />

zur Miliz, deren Chefs mit ihm gemeinsame kriminelle<br />

Sache machten. Fedulew kontrollierte praktisch die<br />

gesamte Miliz des Gebiets Swerdlowsk – dank seiner ausgezeichneten<br />

persönlichen Kontakte zu Gouverneur Edu-<br />

220


ard Rossel – und traf sogar interne Kaderentscheidungen.<br />

So hievte er beispielsweise in das Amt des Gebietsleiters<br />

der Verwaltung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens<br />

(UBOP) ebenjenen Rudenko, der ihm seinerzeit<br />

beim Frisieren seiner Führungsakte geholfen hatte, und<br />

zum Chef der Jekaterinburger Miliz machte er Nikolai<br />

Owtschinnikow.<br />

Doch die Uralmasch-Banditen hatten auch ihre Beziehungen,<br />

die sie gegen Fedulews Verbindungen aufbieten<br />

konnten. Der Augenblick der direkten Konfrontation war<br />

gekommen, als die Uralmasch-Bande das Hydrolysewerk<br />

in Tawda kurzerhand besetzte. Fedulew zahlte mit gleicher<br />

Münze : Ein Anruf genügte, und schon erschien<br />

eine schnelle Eingreiftruppe der Gebietsverwaltung zur<br />

Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Die in staatlichen<br />

Diensten stehenden Kämpfer wendeten Gewalt<br />

an. Aber gegen wen ? Gegen andere Kämpfer, die auch<br />

im Staatsdienst standen. Im Hydrolysewerk von Tawda,<br />

im Hauen und Stechen um seinen profitablen Alkohol<br />

bekriegten sich also in erster Linie nicht die beiden lokalen<br />

kriminellen Vereinigungen – Fedulews Leute und die<br />

Uralmasch-Banditen –, sondern diejenigen, die hinter<br />

ihnen standen. Auf Fedulews Seite waren das Rudenko<br />

und Owtschinnikow mit einem Trupp bewaffneter Milizionäre,<br />

auf Seiten von Uralmasch stand General Krajew,<br />

der Milizchef des Gebiets Swerdlowsk, mit seinen<br />

Untergebenen. Eine direkte Konfrontation von Kräften<br />

der Rechtsschutzorgane mit dem Ziel, die rechtswidrige<br />

Umverteilung staatlichen Eigentums gewaltsam durchzu-<br />

221


setzen ; nachdem die einen wie die anderen »Hintermänner«<br />

bereits zuvor nach besten Kräften dazu beigetragen<br />

hatten, dass sich die kriminellen Gruppen immer neuen<br />

Besitz aneignen konnten.<br />

Und wie reagierte das <strong>In</strong>nenministerium in Moskau ?<br />

Dort wurde der unerhörte Vorfall einfach als interner<br />

Konflikt der Jekaterinburger Miliz hingestellt, als persönliche<br />

Animosität zwischen General Krajew auf der<br />

einen sowie Rudenko-Owtschinnikow auf der anderen<br />

Seite. Krajew und Rudenko mussten ihre Posten räumen,<br />

wobei man Ersteren öffentlich beschuldigte, in engem<br />

Kontakt zur Uralmasch-Bande zu stehen, während Letzterer<br />

zum Opfer seines unversöhnlichen Kampfes gegen<br />

die gefährlichste Verbrechervereinigung des Ural hochstilisiert<br />

wurde. Rudenko, das »Opfer«, erhielt eine Versetzung<br />

nach Moskau, wo man ihn auf Beschluss des<br />

<strong>In</strong>nenministers Wladimir Ruschailo an die Spitze der<br />

für das Gebiet Moskau zuständigen UBOP-Verwaltung<br />

stellte. Seither hat sich ihr »Ruhm« bis in die Hauptstadt<br />

herumgesprochen : Nirgendwo gibt es ein so kriminogenes,<br />

korruptes Milieu, in dem Banditen von Staats wegen<br />

protegiert werden und gedungene Killer im Auftrag verfeindeter<br />

krimineller Gruppierungen brutal morden.<br />

Währenddessen drehte sich nach Rudenkos Versetzung<br />

in Jekaterinburg das Kaderkarussell. Den Mitarbeiterstab<br />

der für das Swerdlowsker Gebiet zuständigen UBOP-Verwaltung<br />

wählte Fedulew höchstpersönlich entsprechend<br />

seinen kommerziellen <strong>In</strong>teressen aus. Faktisch ernannte<br />

er diejenigen, in deren Händen die Befehlsgewalt über<br />

222


die bewaffneten Milizabteilungen lag, damit er diese<br />

staatlichen Truppen, falls nötig, zu seiner Verteidigung<br />

mobilisieren konnte. Als Ersatz für Rudenko bestimmte<br />

er beispielsweise Juri Skworzow, der nicht nur die rechte<br />

Hand seines Amtsvorgängers gewesen war, sondern viele<br />

Jahre auch als eine Art Geschäftsträger Fedulews fungiert<br />

hatte. Zu Skworzows erstem Stellvertreter machte<br />

er einen gewissen Andrej Taranow, im gesamten Ural<br />

bekannt als Patron des hiesigen Schnapskönigs Oleg<br />

Fleganow. Fleganow, über dessen Netz von Einzelhandelsverkaufsstellen<br />

ein Großteil des Alkoholumsatzes<br />

erfolgte, bot die Chance, gepanschten Wodka unter das<br />

Volk zu bringen.<br />

Zum zweiten Stellvertreter Skworzows wurde – wiederum<br />

nicht ohne Fedulews Zutun – Wladimir Putjaikin<br />

ernannt. Ihm fiel die Aufgabe zu, die Reihen der Gebietsmiliz<br />

zu säubern, weshalb er sofort damit begann, Missliebige,<br />

die noch gegen die Mafia aufzubegehren wagten<br />

oder sich nicht von Fedulew kontrollieren ließen, aus den<br />

Rechtsschutzorganen zu verdrängen. Wie das geschah,<br />

zeigt das folgende Beispiel : Eines Tages forderte Skworzow<br />

von Putjaikin eine Aufstellung, wer von den Milizionären<br />

gegen Fedulew und seine Leute opponierte ; womit<br />

er Putjaikin in die Bredouille brachte, denn der emsige<br />

Stellvertreter hatte gerade keine entsprechenden <strong>In</strong>formationen<br />

parat. Also verfrachtete er kurzerhand in der<br />

Nacht einen Milizoffizier zu sich nach Hause, pumpte<br />

ihn mit Wodka voll und verlangte, er solle sofort alle<br />

Fedulew-Gegner unter seinen Miliz-Kollegen benennen.<br />

223


Doch der junge Offizier wollte nicht zum Denunziant<br />

werden. Also zwang ihn Putjaikin, sich mit der eigenen<br />

Dienstpistole zu erschießen, indem er ihm androhte, er<br />

habe keine andere Wahl, Fedulews Leute würden ihn<br />

sowieso aus dem Weg räumen.<br />

»Das kann doch gar nicht sein !«, höre ich den vollkommen<br />

konsternierten Leser rufen. »So etwas ist einfach<br />

nicht möglich !«<br />

Immer schön ruhig, es ist möglich – und wie es möglich<br />

ist. Genau so entstanden und erstarkten unter Jelzin<br />

die stabilen kriminellen Strukturen, die heute, unter<br />

Putin, das Leben des Staates bestimmen. Genau sie,<br />

die allmächtigen, einflussreichen, im Gelde schwimmenden<br />

Verbrecherbünde, hat der jetzige Präsident im Auge,<br />

wenn er erklärt, eine Umverteilung des Eigentums sei<br />

unmöglich, alles solle so bleiben, wie es ist. Nun mag<br />

Putin zwar in Tschetschenien Zar und Gott sein, nach<br />

Gutdünken strafen und begnadigen, aber die Mafiosi<br />

rührt er lieber nicht an. Denn da stehen Summen auf<br />

dem Spiel, von denen wir nicht einmal zu träumen wagen.<br />

Der Preis eines Lebens, der Wert eines Versprechens,<br />

Anstand und Ehre – all das wird absolut nichtig, wenn<br />

es um Millionenprofite geht.<br />

Die un a n ta s t B a r e n<br />

Als Fedulews Mafia an die Macht gekommen war, ging<br />

das Leben im Ural nicht mehr »nach den Regeln« vonstatten<br />

(ein Ausdruck der Gaunersprache, die sich in<br />

224


unserem Alltag so festgesetzt hat, dass sie selbst der<br />

Präsident bei seinen öffentlichen Auftritten gebraucht),<br />

im Gebiet Swerdlowsk herrschte nun die blanke kriminelle<br />

Willkür, die totale Abwesenheit jeglicher Regel :<br />

der Fedulew-Stil.<br />

Ich fragte in Jekaterinburg Passanten auf der Straße :<br />

»Vor wem empfinden Sie Respekt ? Vor Gouverneur Rossel<br />

? Vor Fedulew ? Vor Bürgermeister Tschernezki ?« Und<br />

sie antworteten : »Vor denen von Uralmasch.« Also vor<br />

den Kriminellen alter Schule, aus den Zeiten vor Fedulew.<br />

Ich war entgeistert. Wie kann man Banditen achten ?<br />

Wofür ? Die Erklärung war einfach : »Weil sie zwar nach<br />

ihrem Ganovengesetz leben, aber immerhin haben sie<br />

eins. Die neuen Banditen achten nicht einmal mehr die<br />

Gesetze der Unterwelt.«<br />

So weit haben wir es gebracht. Der kleine Mann auf<br />

der Straße schenkt sein Herz der einen Mafia, nur weil<br />

die andere unvergleichlich schlimmer ist.<br />

Doch kehren wir zurück zum Jahr 1997. Fedulew<br />

hatte die Jekaterinburger Miliz und den illegalen Wodka-<br />

Markt erobert und agierte weiter auf dem Wertpapiermarkt.<br />

Jetzt war das Objekt seiner Begierde eine Moskauer<br />

Firma. Und nicht irgendeine. Sie gehörte zum Konsortium<br />

eines bekannten hauptstädtischen Oligarchen,<br />

der Jelzin und seinen Familienclan sponserte. Hier betrügerische<br />

Spielchen anzuzetteln kam in jenen Zeiten<br />

einem Selbstmord gleich. Zweimal erstattete die Firma<br />

denn auch bei der für das Gebiet Swerdlowsk zuständigen<br />

UBOP-Verwaltung Strafanzeige wegen Betrugs, doch<br />

225


dort saß Owtschinnikow, und der blockte alle <strong>In</strong>formationen<br />

ab, die Fedulews Geschäfte stören konnten. Die<br />

Ermittlungen wurden auf Eis gelegt.<br />

Erst nach einer <strong>In</strong>tervention von Seiten der Generalstaatsanwaltschaft<br />

und der Untersuchungskommission<br />

des Parlaments erfolgte die Eröffnung des Strafverfahrens<br />

Nr. 142114 gegen Fedulew. <strong>In</strong> Moskau, nicht in Jekaterinburg.<br />

Fedulew tauchte unter und wurde 1998 russlandweit<br />

zur Fahndung ausgeschrieben.<br />

Erinnern Sie sich noch an Juri Altschul, den ehemaligen<br />

Armeeaufklärer und späteren Bodyguard Fedulews ?<br />

Den alle, die mit ihm zu tun hatten, für einen grundehrlichen<br />

Menschen hielten, für einen, der zu seinem Wort<br />

stand, nichts fürchtete. Altschul hatte in Jekaterinburg<br />

ein Detektivbüro und einen Sicherheitsdienst gegründet<br />

und verhalf den Rechtsschutzorganen zu mancher<br />

vertraulichen <strong>In</strong>formation. Auf Grund der von ihm an<br />

Staatsanwaltschaft und FSB übermittelten Daten landeten<br />

beispielsweise einige Unterweltbosse des Ural hinter<br />

Gittern. Dieser Altschul nun hatte eine Idee fixe, die<br />

sein gesamtes Leben nach dem Ausscheiden aus den<br />

Streitkräften bestimmte. Er wollte die kriminelle Vereinigung<br />

Uralmasch bekämpfen. Man mag das für ein<br />

bizarres Ansinnen halten, kann darüber lachen, doch<br />

ebendieses Ziel brachte Altschul Fedulew nahe, zog ihn<br />

in dessen Dunstkreis : Fedulew bekriegte die Uralmasch-<br />

Gangster ebenfalls.<br />

Der untergetauchte Fedulew kannte Altschuls fixe Idee<br />

und bestellte ihn deshalb zu einer Unterredung. Fedulew<br />

226


efürchtete nämlich, dass während seiner erzwungenen<br />

Abwesenheit die Uralmasch-Bosse die beiden anderen<br />

Hydrolysewerke des Gebiets Swerdlowsk, auf die<br />

er gleichfalls ein Auge geworfen hatte, unter ihre Kontrolle<br />

bringen würden. Darum bat er Altschul bei dem<br />

Gespräch, mit allen Mitteln seine, Fedulews, <strong>In</strong>teressen<br />

gegenüber Uralmasch zu verteidigen, wofür er ihm eine<br />

fünfzigprozentige Beteiligung am Gewinn des Hydrolysewerks<br />

Lobwa versprach.<br />

Altschul stimmte zu und fuhr nach Lobwa, einem Ort,<br />

in dem es außer besagter Hydrolysefabrik kaum etwas<br />

gibt. Er fand das Werk in einem katastrophalen Zustand<br />

vor, es war völlig heruntergewirtschaftet, die Produktion<br />

so gut wie zum Erliegen gekommen. Altschul musste sich<br />

also fragen, wozu Fedulew so viele Aktien von Betrieben<br />

aufkaufte, was er mit diesen Werken anfangen wollte.<br />

Vor Fedulew hatte das Hydrolysewerk Lobwa eine<br />

gesunde wirtschaftliche Grundlage. Doch kaum war er<br />

der Boss, umgab er den Betrieb nach bewährter Manier<br />

mit einer Vielzahl eigener Minifirmen (offiziell nur für<br />

Vertriebszwecke gegründet), die die Produktion von<br />

Lobwa übernahmen – die Herstellung von Spiritus, den<br />

sie dann entweder verkauften oder schwarz weiterverarbeiteten.<br />

Der Rückfluss der Gewinne erfolgte ebenfalls<br />

nur über die Konten dieser Firmen, und natürlich nicht<br />

in vollem Umfang. Monat für Monat, Prozent um Prozent<br />

saugte Fedulew das Werk aus.<br />

Als Altschul nach Lobwa kam, hatten die Arbeiter<br />

bereits sieben Monate keinen Lohn mehr bekommen,<br />

227


das gesamte Kapital kreiste in Fedulews Nebenfirmen,<br />

die Betriebskasse war absolut leer, kein Geld vorhanden,<br />

um Steuern zu zahlen, Strom- und Gasrechnungen zu<br />

begleichen. Der Bankrott schien nur noch eine Frage<br />

der Zeit. Und das bei einem Betrieb, der im Grunde die<br />

ganze Stadt ausmachte : Alle in Lobwa waren auf die eine<br />

oder andere Weise mit dem Hydrolysewerk verbunden.<br />

Starb das Werk, starb auch die Stadt.<br />

<strong>In</strong> dieser Situation beschloss Altschul, auf eigene Faust<br />

zu handeln – und distanzierte sich damit von der Absprache<br />

mit Fedulew. Er gab den Arbeitern sein Offiziersehrenwort,<br />

dass er Ordnung schaffen werde, und warf<br />

als Erstes Fedulews Statthalter Sergej Tschupachin und<br />

Sergej Leschukow hinaus. Sie waren im Auftrag ihres<br />

Herrn für die gezielte Misswirtschaft verantwortlich, und<br />

sie waren interessanterweise vor nicht allzu langer Zeit<br />

noch Milizionäre gewesen : ehemalige Milizoffiziere, Mitarbeiter<br />

der Abteilung zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität<br />

in der Gebietsverwaltung für <strong>In</strong>neres und<br />

obendrein persönliche Freunde Wassili Rudenkos und<br />

Nikolai Owtschinnikows. Sie hatten die Milizuniform an<br />

den Nagel gehängt, um nun die finanziellen <strong>In</strong>teressen<br />

der Miliz in Fedulews Business zu vertreten.<br />

Doch Altschul machte ihnen einen Strich durch die<br />

Rechnung. Kurz darauf traf Wassili Rudenko aus Moskau<br />

in Jekaterinburg ein : Das Geld war in Gefahr ! Man bat<br />

Altschul zu einer Unterredung in das Büro der UBOP-<br />

Gebietsverwaltung, wo Rudenko von ihm verlangte, er<br />

solle sich aus dem Werk in Lobwa zurückziehen : was<br />

228


Altschul kategorisch ablehnte. Wenige Tage später, am<br />

30. März 1999, wurde der ehemalige Militäraufklärer in<br />

seinem Wagen erschossen. Danach folgte die übliche Prozedur<br />

: Eröffnung des Strafverfahrens Nr. 528006, wieder<br />

mit Fedulew als Hauptperson. Es ist nun bereits seine<br />

dritte Strafsache wegen eines Auftragsmords. Und wie<br />

gehabt landet auch Nr. 528006 bei den Akten.<br />

Fedulew kalkulierte banditenhaft geradlinig : Ohne<br />

Altschul war der Weg in das Hydrolysewerk wieder frei.<br />

Doch der Ermordete hatte dort noch seinen Freund und<br />

Stellvertreter Wassili Leon, früher ebenfalls Aufklärer<br />

und Angehöriger einer Spezialeinheit. Er lehnte alle Forderungen<br />

der Fedulew-Clique, seinen Posten zu räumen,<br />

rundheraus ab. Sollte man ihn auch noch erledigen ?<br />

Das Trio Rudenko-Tschupachin-Leschukow schlägt<br />

Leon lieber einen Deal vor : Er bleibt Direktor, doch die<br />

Kontrolle über den Großhandelsverkauf – also das Kerngeschäft<br />

– geht wieder an Tschupachin und Leschukow.<br />

Leon wird nicht um sein Einverständnis gebeten, sondern<br />

unter massiven Druck gesetzt. Die Mafia spielt Vabanque<br />

: Skworzow, der von Fedulew ins Amt gehievte<br />

Leiter der Gebietsverwaltung zur Bekämpfung des organisierten<br />

Verbrechens, lädt Leon vor und drängt ihn zu<br />

dem Kompromiss. Aus Moskau ruft pausenlos Wassili<br />

Rudenko an, der in der Hauptstadt weiter Karriere gemacht<br />

hat und nun im Kriminalamt des <strong>In</strong>nenministeriums<br />

arbeitet. Der Dritte, der Leon terrorisiert, ist Leonid<br />

Fesko, ein Freund Rudenkos und ranghoher Milizoffizier,<br />

der die Abteilung für operative Ermittlungen<br />

229


in der Gebietsverwaltung leitet, bald darauf jedoch wie<br />

Rudenko nach Moskau übersiedelt, dort den Dienst quittiert<br />

und die Leitung des so genannten »Fonds zur Verteidigung<br />

und Unterstützung von Mitarbeitern der Verwaltung<br />

zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens<br />

im Gebiet Swerdlowsk« übernimmt. <strong>In</strong> Fedulews Mafia<br />

fungiert Fesko als Buchhalter, denn dieser Hilfsfonds ist<br />

ein typischer Kanal zum legalen Transfer illegaler Barreserven,<br />

Bestechungsgelder und »Zuwendungen«. Offiziell<br />

sieht alles respektierlich aus : Sponsoren stiften Geld für<br />

die Nöte der Miliz. <strong>In</strong> Wirklichkeit aber handelt es sich<br />

um das zweite Gehalt der Milizangehörigen in Fedu lews<br />

Mafia-Diensten.<br />

Der Gerechtigkeit halber sei angemerkt, dass nicht<br />

Fedulew die »Verteidigungs- und Unterstützungsfonds«<br />

erfand, sondern andere Herren gleichen Kalibers, Mitte<br />

der neunziger Jahre. Derartige Einrichtungen gibt es<br />

heute in <strong>Russland</strong> wie Sand am Meer, jedes Gebiet hat<br />

gleich mehrere davon, und faktisch pumpen sie alle<br />

Bestechungsgelder in die Rechtsschutzorgane, ohne dass<br />

auch nur irgendjemand daran Anstoß nehmen kann.<br />

Noch später macht Fedulew diesen Leonid Fesko zu<br />

seinem Stellvertreter im Bereich der Wach- und Ordnungsdienste<br />

in den von ihm kontrollierten Unternehmen.<br />

Fesko sorgt dafür, dass bei Bedarf, bei Konflikten<br />

mit den Konkurrenten, sofort Sonderabteilungen der<br />

Miliz anrücken. Und Fesko ist es auch, der im September<br />

2000 die Besetzung des Kombinats Uralmasch leitet.<br />

Doch jetzt schreiben wir das Jahr 1999, und Wassili<br />

230


Leon lässt sich von den Erpressern nicht unter Druck<br />

setzen. Da erschießt im Dezember des gleichen Jahres ein<br />

Mann aus der unmittelbaren Umgebung des Leiters der<br />

UBOP-Gebietsverwaltung, der Sonderermittler Jewgeni<br />

Antonow, Leons Stellvertreter, der für den Großhandelsabsatz<br />

des produzierten Alkohols zuständig gewesen war,<br />

also genau den Posten innegehabt hatte, den Tschupachin<br />

und Leschukow beanspruchten.<br />

<strong>In</strong> der Gebietsverwaltung Swerdlowsk des <strong>In</strong>landsgeheimdienstes<br />

FSB liegt eine schriftliche Eingabe Leons<br />

vor, in der er unmittelbar nach der Erschießung seines<br />

Stellvertreters die Vorgeschichte des Mordes schildert :<br />

»Mitte Januar hatte ich ein Gespräch mit dem Abteilungsleiter<br />

der UBOP-Gebietsverwaltung Sergej Wassiljew.<br />

<strong>In</strong> scharfer Form hielt er mir vor, ich hätte durch<br />

mein Verbleiben im Hydrolysewerk in Lobwa der UBOP<br />

den Geldhahn zugedreht. Außerdem sagte er : ›Du hast<br />

dich am gemeinsamen Finanzpolster des FSB, der UBOP<br />

und der anderen bewaffneten Organe des Gebiets vergriffen.‹<br />

Wassiljew verlangte ultimativ von mir, ich solle<br />

mit ihnen zusammenarbeiten. Als ich fragte, worin diese<br />

Zusammenarbeit bestünde, sagte er : ›Du schaffst das<br />

Geld heran !‹«<br />

<strong>In</strong> dieser Aussage schreit förmlich jede Zeile nach einem<br />

Strafverfahren, nach der Aufnahme von Ermittlungen.<br />

Doch wieder versackt alles im Sumpf der Rechtsschutzstrukturen,<br />

die unter gar keinen Umständen publik<br />

werden lassen möchten, was sich in Jekaterinburg<br />

abspielt. Auch Leons Eingaben an die Generalstaatsan-<br />

231


waltschaft und das <strong>In</strong>nenministerium sowie an Präsident<br />

Putin persönlich verhallen vollkommen ungehört.<br />

Zu der schrankenlosen kriminellen Willkür gesellt sich<br />

absolute Gleichgültigkeit. Während Fedulews weiterem<br />

Geschick größte Aufmerksamkeit zuteil wird.<br />

Im Januar 2000 wird Pawel Fedulew auf persönliche<br />

Anordnung des stellvertretenden Generalstaatsanwalts<br />

der Russischen Föderation, Wassili Kolmogorow, aus<br />

dem Gefängnis entlassen. Einfach so – ohne Freispruch<br />

durch ein Gericht, ohne Amnestierung. Als er nach Jekaterinburg<br />

zurückkehrt, empfangen ihn die Gebietsobersten<br />

wie einen Sieger. Gouverneur Rossel lässt ihn zum<br />

»Unternehmer des Jahres« in der Ural-Region ausrufen.<br />

Nach seinem Aufenthalt im Gefängnis, nach der Erschießung<br />

Juri Altschuls, der Erpressung Wassili Leons und<br />

dem Mord an dessen Stellvertreter hat Fedulew endgültig<br />

aufgehört, der Kriminelle Paschka zu sein. Nun<br />

wird er in den Rang des »führenden Unternehmers der<br />

Stadt Jekaterinburg« erhoben, nur als solcher noch von<br />

den lokalen Massenmedien dargestellt. Binnen kurzem<br />

bringt er es zum Abgeordneten des Gebietsparlaments<br />

und erhält parlamentarische Immunität. Jetzt ist es noch<br />

schwerer, dem Unantastbaren etwas anzuhaben.<br />

Sehen wir einmal von den Details ab, wer ist dann<br />

dieser Pawel Fedulew ? Oligarch der Ural-Region. Parlamentarier.<br />

Großkapitalist. Und Begründer eines VER-<br />

BRECHERSYNDIKATS. Die bekannte italienische Bezeichnung<br />

dafür lautet MAFIA. Das Strafgesetzbuch der<br />

Russischen Föderation nennt sie OKV – organisierte kri-<br />

232


minelle Vereinigung. Im Herbst 2000, zum Zeitpunkt<br />

der Besetzung der Uralchimmasch-Werke, ist Fedulews<br />

Cosa Nostra nach bestem Mafia-Standard organisiert.<br />

Sie hat ihre jahrelang gemästeten Rechtsschutzorgane.<br />

Sie hat ihre Richter. Sie hat ihre Gewährsleute auf allen<br />

Ebenen der Macht, bis hin zur Spitze. Sie hat nur<br />

ein kleines Problem : Der Pate ist für ein Weilchen hinter<br />

Gittern gewesen, und während er einsaß, sind ihm<br />

seine Fabriken und Kombinate außer Kontrolle geraten.<br />

Panik packt das Syndikat : Was wird mit unserem Geld ?<br />

<strong>In</strong> dieser Situation erfolgte Fedulews Entlassung aus dem<br />

Gefängnis.<br />

umV e r t e i l u n g nu m m e r z W e i<br />

Natürlich waren Fedulews neue Regalien und Würden<br />

nur die Spitze des kriminellen Eisbergs. Denn seine Entlassung<br />

aus dem Gefängnis bedeutete für die Ural-Region<br />

einen Wendepunkt. Als Fedulew noch gar nicht<br />

in Jekaterinburg eingetroffen, sondern nur die Nachricht<br />

von seiner Freilassung bis hierher vorgedrungen<br />

war, wussten die Jekaterinburger bereits, was die brüderlichen<br />

Umarmungen mit Gouverneur Eduard Rossel<br />

bald darauf nur bestätigen sollten : Im Ural stand eine<br />

neuerliche Umverteilung der Pfründe bevor, und Fedulew<br />

würde dabei die Rolle des Bahnbrechers zukommen.<br />

Schließlich hatte man ihn nicht einfach so aus dem Gefängnis<br />

entlassen, sondern zu einem ganz bestimmten<br />

Zweck : Damit er sich seinen Besitz zurückholte, wodurch<br />

233


auch sämtliche Gewährsleute wieder in den Genuss ihrer<br />

Anteile kämen.<br />

Die Rechnung ging auf. Das Erste, was Fedulew nach<br />

der Haftentlassung in Angriff nahm, war die Rückeroberung<br />

des Hydrolysewerkes Lobwa. Denn Lobwa bedeutete<br />

Alkohol : großes, schnelles und bares Geld.<br />

Ein Bild von der Art und Weise, wie Fedulew dabei<br />

vorging, vermittelt die Eingabe des amtierenden Direktors<br />

Wassili Leon an die FSB-Gebietsverwaltung : »Fedulew<br />

erklärte mir, früher wären solche Fragen auf juristischem<br />

Wege gelöst worden, durch Privatisierung oder<br />

Aktienkauf … Jetzt werde alles mit Methoden der Gewalt<br />

entschieden.«<br />

Diese Aussage stammt vom Februar 2000. Leon hatte<br />

sich damals schriftlich an den FSB gewandt mit der<br />

Bitte um Unterstützung im Kampf gegen die Mafia. Die<br />

Kraft des Gesetzes sollte ihn schützen vor der organisierten<br />

kriminellen Erpressung. Zum einen von Seiten der<br />

UBOP-Gebietsverwaltung, die ihn nötigen wollte, seinen<br />

Platz im Hydrolysewerk Lobwa zu Gunsten Fedulews zu<br />

räumen. Und zum anderen durch Fedulew selbst, der<br />

nicht einfach nur Leons Rücktritt von seinem Posten,<br />

sondern obendrein noch 300 000 Dollar als Kompensation<br />

forderte.<br />

Leons Hilfeersuchen blieb unbeantwortet. Der Staat<br />

ließ Gesetz Gesetz sein und warf das Hydrolysewerk der<br />

Mafia zum Fraß vor. Und die »Methoden der Gewalt«,<br />

von denen Fedulew gesprochen hatte, ließen nicht lange<br />

auf sich warten.<br />

234


Am 14. Februar 2000 rief Fedulew das Gläubigerkomitee<br />

des Hydrolysewerks zusammen, einfach so, auf persönliche<br />

Einladung, ohne jegliche juristische Berechtigung,<br />

mit dem Ziel, die Leitung des Betriebes durch ein<br />

von ihm kontrolliertes Direktorium zu ersetzen. <strong>In</strong>teressant,<br />

was nun geschieht : Von den fünf Hauptgläubigern<br />

gelang es Fedulew nur zwei auf seine Seite zu ziehen,<br />

für ein Quorum waren aber drei nötig. Also präsentierte<br />

er die gefälschte Vollmacht eines dritten Kredit<br />

gebenden Unternehmens, und das »Komitee« traf<br />

die Entscheidung, die Gläubigerversammlung nicht am<br />

Firmensitz in Lobwa durchzuführen, sondern in Fedulews<br />

Büro in der Jekaterinburger Malyschew-Straße 36.<br />

Warum gerade dort, war allen klar. Es könnten ja die<br />

wirklichen Gläubiger auftauchen, und dann müsste man<br />

sie aufhalten ; was in dem wie eine Festung gesicherten<br />

Fedulew’schen Büro ein Leichtes sein würde, nicht aber<br />

in Lobwa. Wozu sich unnötige Probleme aufhalsen ? Es<br />

ging um zu viel Geld, als dass man sich einen Misserfolg<br />

leisten konnte.<br />

Kurz vor der Versammlung traf auch Rudenko aus<br />

Moskau ein. Er und Fedulew mussten noch die wichtigste<br />

Frage klären : Was wird mit Leon, dem sturen unbotmäßigen<br />

Direktor ? Und sie fanden eine Lösung.<br />

Am 17. Februar, einen Tag vor dem Termin, schickte<br />

Fedulew zwei seiner Leute, Pilschtschikow und Naimuschin,<br />

zur UBOP-Verwaltung. Die beiden Herren waren<br />

dort gut bekannt, wurde doch seit mehreren Jahren<br />

– sehr gemächlich – gegen sie ermittelt, weil sie als<br />

235


Auftragsmörder einen Kompagnon Fedulews aus dem<br />

Weg geräumt haben sollten. Diesmal aber erstatteten<br />

sie schriftlich Anzeige gegen Leon, der angeblich 10 000<br />

Dollar von ihnen erpresst hatte. <strong>In</strong> der für die russische<br />

Justiz schier unglaublichen Geschwindigkeit von<br />

einer Stunde wurde ein entsprechendes Strafverfahren<br />

eröffnet. Selbstredend ohne Voruntersuchung, Tonbandaufzeichnung<br />

oder Überprüfung, allein auf Grund einer<br />

Denunziation. Und schon kurvte ein Milizfahrzeug<br />

durch Lobwa und verteilte Flugblätter ( !) : Direktor Leon<br />

werde polizeilich gesucht, sei flüchtig und als suspendiert<br />

zu betrachten.<br />

Am 18. Februar versammelten sich die Gläubiger in<br />

Fedulews Büro. Wie üblich erfolgte zunächst die Registrierung.<br />

Eingangsbereich, Korridore und Arbeitsräume<br />

wurden von bewaffneten Sicherheitskräften in Milizuniform<br />

überwacht. Alles schien nach Plan zu laufen. Doch<br />

plötzlich geschah, was keinesfalls geschehen sollte und<br />

der eigentliche Grund für die Verlegung der Sitzung<br />

nach Jekaterinburg gewesen war : Galina Iwanowa, Vorsitzende<br />

der Betriebsgewerkschaftsleitung und als <strong>In</strong>teressenvertreterin<br />

der Beschäftigten teilnahmeberechtigt,<br />

zog überraschend ein Papier aus der Handtasche. Diese<br />

Frau, von der niemand ernstlich Schwierigkeiten erwartet<br />

hatte, präsentierte die alles entscheidende Vollmacht des<br />

Hauptgläubigers, die der zur Fahndung ausgeschriebene<br />

Direktor Leon besorgt hatte – und hinter der ein Stimmanteil<br />

von vierunddreißig Prozent stand. Alles hing<br />

also davon ab, wie Galina Iwanowa stimmte.<br />

236


Fedulew erteilte Order, und die Iwanowa wurde unverzüglich,<br />

noch vor der Abstimmung, verhaftet. Von wem ?<br />

Von Mitarbeitern der UBOP in Zivil, die sich unter die<br />

Versammlungsteilnehmer gemischt hatten. Sie hielten<br />

Galina Iwanowa genau drei Stunden und zwanzig Minuten<br />

in der UBOP-Verwaltung fest, bis Fedulew anrief und<br />

mitteilte, die Registrierung sei abgeschlossen.<br />

Die Nacht nach der Gläubigerversammlung. Was nun<br />

geschah, schildert Alexander Naudshjus, Wassili Leons<br />

Stellvertreter, in seiner schriftlichen Stellungnahme an<br />

die Gebietsverwaltung des FSB folgendermaßen :<br />

»Ich traf gegen 22.30 Uhr im Betrieb ein. Gegen<br />

1.30 Uhr legte ich mich schlafen. Um 4.30 Uhr wurde<br />

ich wach … Die Tür zum Gebäude der Betriebsleitung<br />

war bereits eingeschlagen, die Gitter vor den Fenstern<br />

hatte man herausgerissen. Überall standen Bewaffnete,<br />

außerdem sah ich ungefähr dreißig PKW sowie einen<br />

Bus. Sie ließen uns durch zur Betriebsleitung, dort stand<br />

der Werkschutz mit erhobenen Händen, bewacht von Soldaten<br />

in Milizuniform. Hinter dem Schreibtisch saß der<br />

Oberleutnant der UBOP Oleschkewitsch. Ich ging in das<br />

Zimmer des kaufmännischen Geschäftsführers, wo ich<br />

Fedulew sah. Ich fragte : ›Auf welcher Grundlage erfolgte<br />

die Betriebsübernahme ?‹ Sie zeigten mir das Protokoll<br />

der Gläubigerversammlung und den Arbeitsvertrag des<br />

neuen Direktors. Der Vertrag war gefälscht.«<br />

Die gemeinsame Operation Fedulews und der UBOP-<br />

Gebietsverwaltung zur rechtswidrigen Übernahme des<br />

Hydrolysewerks Lobwa endete erfolgreich und unter ekla-<br />

237


tanter Missachtung geltender Gesetze und fortgesetztem<br />

Amtsmissbrauch durch Staatsbedienstete. Das organisierte<br />

Verbrechen, das die UBOP eigentlich bekämpfen<br />

soll, wurde von dieser UBOP nach besten Kräften selbst<br />

organisiert.<br />

Gab es Bestrafungen ? Bis heute, bis zum vierten Jahr<br />

der von Präsident Putin ausgerufenen »Diktatur des<br />

Gesetzes«, keine einzige.<br />

»Ich bitte mich vor weiteren Provokationen durch<br />

UBOP-Mitarbeiter zu schützen«, hatte Wassili Leon seinerzeit<br />

an den FSB geschrieben und auf fünf Seiten die<br />

Situation ausführlich dargestellt. Das Ergebnis – gleich<br />

Null. Am 18. Februar war er ein Direktor ohne Werk und<br />

musste den Fedulew-Leuten an jedem darauf folgenden<br />

Tag Tausende Dollar in bar abliefern. Lobwa, das war<br />

Spiritus, Spiritus war »Ballerwasser«, und »Ballerwasser«,<br />

das war Fedulew mitsamt seinem Syndikat. Die Neuaufteilung<br />

des Alkoholmarkts im Ural hatte wunschgemäß<br />

stattgefunden.<br />

Heute fristet das Hydrolysewerk Lobwa eine traurige<br />

Existenz, von Fedulew restlos ausgeplündert und dann<br />

fallen gelassen. Was zu erwarten war. Doch damals, im<br />

Jahr 2000, konnte Pawel Fedulew aus dem Unternehmen<br />

so viel Bargeld herauspressen, dass er sieben Monate<br />

nach der Betriebsbesetzung bereits ungehindert die Eroberung<br />

eines neuen Marktes in Angriff nahm. Jetzt hatte<br />

es ihm die Metallurgie angetan, und als Erstes ein Filetstück<br />

namens Katschkanar.<br />

238


kat s c h k a n a r<br />

Die Erzaufbereitungswerke (EAW) Katschkanar waren<br />

ein nationales Vorzeigeobjekt und in der ganzen Welt berühmt.<br />

Das einzige Unternehmen weltweit, das Eisen erz<br />

förderte, anreicherte und Vanadium produzierte. Ohne<br />

das EAW gäbe es keine Hochofenschmelze, zumindest<br />

nicht in unserem Land, und keine einzige Eisenbahnschiene.<br />

Mitte der neunziger Jahre wurde das EAW Katschkanar<br />

wie viele andere wirtschaftstragende Unternehmen<br />

mehrfach privatisiert, was zur Folge hatte, dass es ökonomisch<br />

völlig herunterkam. Besonders kritisch war die<br />

Lage 1997–1998. <strong>In</strong> dieser Zeit übernahm Fedulew die<br />

Leitung des Direktoriums und tat, was er immer tat,<br />

wenn er ein Unternehmen in seine Macht gebracht hatte :<br />

Er plünderte es restlos aus, indem er eine Reihe kleiner<br />

Vertriebsfirmen gründete, die die produzierten Waren<br />

abzogen, die Verkaufserlöse aber nicht zurückfließen<br />

ließen. Ende 1998 hatte Fedulew das EAW Katschkanar<br />

ruiniert, nur die Verhaftung des »besten Unternehmers<br />

der Ural-Region« wendete den Bankrott ab und sicherte<br />

einen Neuanfang, indem nunmehr die anderen Aktionäre<br />

aktiv wurden. Sie holten ein Team fähiger Manager<br />

unter Leitung von Dshalol Chaidarow nach Katschkanar,<br />

mit ihm kamen zahlungskräftige <strong>In</strong>vestoren.<br />

1999 hatte sich das Kombinat verändert : Die Produktionskapazität<br />

war voll ausgelastet, der Nettowert der<br />

Aktiva stieg, die Beschäftigten erhielten wieder Lohn. Ein<br />

239


wichtiger Faktor, wenn man bedenkt, dass ganz Katschkanar<br />

abhing von seinem EAW, in dem 10 000 Menschen<br />

arbeiteten, fast die gesamte erwerbsfähige Bevölkerung.<br />

Mit der Gesundung des Unternehmens stieg auch das<br />

<strong>In</strong>teresse an EAW-Aktien auf dem Wertpapiermarkt.<br />

An dieser Stelle ist ein politischer Exkurs notwendig.<br />

Wie jeder Gouverneur in <strong>Russland</strong>, hatte auch Eduard<br />

Rossel im Gebiet Swerdlowsk einen Mann, der dieselbe<br />

Rolle spielte wie Putin für Jelzin : einen potentiellen<br />

Nachfolger, ausgesprochen loyal und intelligent, zum<br />

Kronprinzen gekürt für den Tag X, an dem seine Loyalität<br />

und <strong>In</strong>telligenz notwendig sein würden, um den<br />

Ersten Mann finanziell abzufedern und seine persönliche<br />

Sicherheit zu gewährleisten, wenn er die politische<br />

Arena verließ.<br />

Für Gouverneur Eduard Rossel war dieser Mann<br />

Andrej Kosizyn, der »Kupferkönig« des Ural, dem die<br />

Kupferhütten im Gebiet Swerdlowsk gehörten. Je näher<br />

die nächsten Gouverneurswahlen heranrückten, umso<br />

deutlicher spürte man in Jekaterinburg, dass Kosizyn<br />

sein Geschäftsfeld nunmehr auch auf die Metallurgie<br />

ausweitete, unter Rossels Patronage, versteht sich.<br />

Doch wieso der Vergleich von Rossel und Kosizyn<br />

mit Jelzin und Putin und der Verweis auf <strong>Putins</strong> Rolle<br />

als Garant der finanziellen Sicherheit des Präsidenten ?<br />

Weil Rossel nicht ewig Gouverneur sein würde und im<br />

Hinblick auf den möglichen Ausgang der nächsten Gouverneurswahlen<br />

Schritte unternahm, um die leistungsstärksten<br />

<strong>In</strong>dustrieunternehmen der Uralregion in einer<br />

240


Hand zu konzentrieren – in der Kosizyns, was so viel<br />

bedeutete wie in seiner eigenen.<br />

Wenn wir auf Fedulew zurückkommen, so hatte der<br />

unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Moskauer<br />

Gefängnis Gouverneur Rossel in Jekaterinburg einen<br />

Besuch abgestattet. Was dabei besprochen wurde, ist<br />

nicht bekannt, doch sofort nach der Audienz übertrug<br />

Fedulew Kosizyn die von ihm gehaltenen Aktien zweier<br />

Kombinate – der Eisenerzaufbereitungswerke Katschkanar<br />

und des Hüttenkombinats Nishni Tagil – zur treuhänderischen<br />

Verwaltung. Offenbar hatte Fedulew mit<br />

dem Gouverneur gekungelt ; sich dadurch das Recht erkauft,<br />

im Gebiet Swerdlowsk nach Gutdünken schalten<br />

und walten zu können, während Kosizyn Katschkanar<br />

an die Angel bekam.<br />

Damals hielt Fedulew allerdings nur neunzehn Prozent<br />

der Aktien, und auch die waren weitgehend wertlos,<br />

wie wir im Folgenden sehen werden. Damit besaß<br />

Kosizyn nicht die bestimmende Aktienmehrheit, und<br />

es würde schwer sein, in dieser Lage einen »eigenen«<br />

Direktor durchzubringen. Außerdem widersetzte sich das<br />

Management unter Leitung von Dshalol Chaidarow den<br />

Expansionsplänen des Duos Fedulew-Kosizyn, und hinter<br />

den Managern standen immerhin siebzig Prozent der<br />

Aktienhalter. Was konnten Fedulew und Kosizyn tun ?<br />

Am 28. Januar 2000 wurden die Eisenerzaufbereitungswerke<br />

Katschkanar gewaltsam besetzt, mit einer Schießerei,<br />

gefälschten Dokumenten und unter Beteiligung<br />

der Miliz. Also das gleiche Szenario wie in Lobwa. Und<br />

241


die gleiche beredte <strong>In</strong>aktivität des Gouverneurs Eduard<br />

Rossel. Am Morgen des 29. Januar erschien der neue<br />

Direktor Andrej Kosizyn, und durch die leeren Arbeitsräume<br />

der Werksleitung schritt geschäftig und ganz Herr<br />

des Hauses ein Mann namens Pawel Fedulew.<br />

Allerdings würde diese Gewaltherrschaft nicht lange<br />

währen, höchstens bis zur ersten Aktionärsversammlung.<br />

Das wussten Kosizyn und Fedulew nur zu gut. Hier hatten<br />

sie es nicht mit den Gläubigern von Lobwa zu tun,<br />

die Aktionäre von Katschkanar würden die Besetzer<br />

schlichtweg hinauswerfen. Also beschloss das Duo : Erstens<br />

durfte es keine Aktionärsversammlung geben. Und<br />

zweitens musste das EAW ein zweites Mal in den Ruin<br />

getrieben werden, weil darin die einzige Chance bestand,<br />

die Aktionäre um ihre weitreichenden Vollmachten zu<br />

bringen. Denn nach russischer Rechtsprechung werden<br />

aus Aktionären eines insolventen Unternehmens stille<br />

Teilhaber.<br />

Fedulew und Kosizyn agierten nun nach einem Schema,<br />

das der Staat bereits in Tschetschenien erprobt hat.<br />

Es besteht darin, die Ein- und Ausreise in eine Stadt zu<br />

unterbinden. Die Aktionäre und das abgesetzte Management<br />

wollten an der Aktionärsversammlung teilnehmen,<br />

doch an den Zufahrtsstraßen wurden sie von Milizposten<br />

aufgehalten. Wie so etwas möglich ist ? Ganz einfach.<br />

Bürgermeister Suchomlin erließ auf Betreiben Fedulews<br />

und Kosizyns im Eilverfahren die Anordnung Nr.<br />

14, die »auswärtigen Bürgern« die Einfahrt in die Stadt<br />

Katschkanar verwehrte. Und sämtliche Aktionäre sowie<br />

242


das Management des EAW waren für Herrn Suchomlin<br />

eben solche »Auswärtigen«. <strong>In</strong> der gleichen Anordnung<br />

wurde zudem jede »Zusammenrottung auswärtiger Bürger«<br />

verboten, für den Fall, dass es einigen Feinden Fedulews<br />

und Kosizyns dennoch gelingen sollte, in die Stadt<br />

vorzudringen, und man sie festnehmen musste, wenn<br />

sie versuchen würden, eine Aktionärsversammlung abzuhalten.<br />

Die konnte man dann als »Zusammenrottung<br />

auswärtiger Bürger« definieren. Eine absurde Geschichte,<br />

die wie eine Satire auf das wahre Leben klingt. Aber es<br />

ist das wahre Leben. Die Aktionärsversammlung fand<br />

nicht statt, und das verbrecherische Duo machte sich<br />

an den zweiten Teil des Plans, das EAW Katschkanar<br />

bewusst in den Bankrott zu treiben.<br />

Aber die Eisenerzaufbereitungswerke arbeiteten doch<br />

gewinnbringend. Wie konnten die beiden es schaffen,<br />

das Unternehmen zu ruinieren ?<br />

Kosizyn nahm bei der Moskauer Geschäftsbank »Moskowski<br />

delowoi mir« einen Kredit in Höhe von 15 Millionen<br />

Dollar auf, verbürgt durch das Vermögen des Kombinats.<br />

Natürlich bekam er das Geld, wer würde sich<br />

nicht gern das EAW Katschkanar unter den Nagel reißen<br />

? Und mit diesem Kredit brachte er Wechsel des Unternehmens<br />

in Umlauf, wobei er den Erlös nicht in das<br />

EAW investierte, sondern in sein Werk Swjatogor, ebenfalls<br />

im Gebiet Swerdlowsk. Angeblich mit der Absicht,<br />

ein Joint Venture zu gründen. Als nächsten Schritt übertrug<br />

Kosizyn dann die Wechsel sozusagen von Katschkanar<br />

auf Swjatogor.<br />

243


Warum dieses »angeblich« und »sozusagen« ? Weil<br />

sich im Endeffekt herausstellte, dass nichts dergleichen<br />

passierte, alles nur virtuell geschah und die Wechsel in<br />

Wirklichkeit in der Hand einer winzigen Firma konzentriert<br />

worden waren, einer Scheinfirma natürlich. Registriert<br />

unter der Adresse einer bescheidenen Jekaterinburger<br />

Privatwohnung, auf den Namen einer Dame, die<br />

sich trotz größter Bemühungen später als unauffindbar<br />

erweisen sollte. Diese virtuelle Dame wurde nun über<br />

Nacht zur Hauptgläubigerin eines Unternehmens, das<br />

auf dem Weltmarkt eine Monopolstellung in der Produktion<br />

von Vanadium innehatte. Wie das ? <strong>In</strong>dem ihre<br />

Eintagsfirma die Wechsel des EAW zu vierzig Prozent<br />

des Nennwerts aufkaufte, den Eisenerzaufbereitungswerken<br />

aber zur einhundertprozentigen Auszahlung präsentierte<br />

und das Kombinat für bankrott erklärte, weil<br />

es seine eigenen Wechsel nicht für hundert Prozent des<br />

Nennwerts zurückkaufen konnte. Auf diesem Wege verschaffte<br />

sich die unbekannte Dame neunzig Prozent der<br />

Stimmen für die Gläubigerversammlung. Ein offenkundiger<br />

Betrug, unter den Augen von Gebietsverwaltung<br />

und Gouverneur.<br />

Die wahren Eigentümer aber, die Millionen Dollar in<br />

das Unternehmen investiert hatten, wurden vollkommen<br />

entrechtet, um ihre Einlagen gebracht. Und damit sich<br />

solche unliebsamen Zwischenfälle wie das Auftauchen<br />

der Betriebsratsvorsitzenden Galina Iwanowa bei der<br />

Gläubigerversammlung des Hydrolysewerks Lobwa in<br />

Katschkanar nicht wiederholten, ließ die UBOP-Gebiets-<br />

244


verwaltung das Werksgelände rund um die Uhr bewachen.<br />

Von derselben Spezialeinheit wie bei dem Handstreich<br />

in Lobwa.<br />

Hält man einen Dieb nicht auf, wird er dreist. Nach<br />

Lobwa folgte Katschkanar, nach Katschkanar – Uralchimmasch.<br />

Im September 2000 wurde das Kombinat<br />

mit Waffengewalt besetzt, nach dem bewährten Schema.<br />

Und dann folgte wieder die Entmachtung der Aktionäre<br />

durch virtuellen Bankrott, begünstigt und befördert<br />

durch die Behörden.<br />

<strong>Putins</strong> so genannte »gelenkte Demokratie« ist auf dem<br />

Vormarsch. Oder besser : ein Wildwest-Kapitalismus unter<br />

der Führung mafioser Gruppierungen, die sich alle<br />

und alles dienstbar gemacht haben, die Rechtsschutzorgane,<br />

die korrumpierte Staatsmacht und … die Justiz.<br />

Die k o r r u P t e s t e Ju s t i z D e r We lt<br />

Genau so ist es. Schließlich wurde bei der Besetzung<br />

von Uralchimmasch, der bewaffneten Übernahme von<br />

Katschkanar und Lobwa nicht mit gefälschten Unterlagen<br />

gewedelt. Studiert man die Dokumente etwas eingehender,<br />

stellt man fest, dass in allen drei Fällen Bescheinigungen<br />

von Gerichten des Gebiets Swerdlowsk vorlagen.<br />

Nur dass die eine Seite stets die einen Richter und<br />

die andere ebenso beständig andere hatte, so als gäbe<br />

es keine Gesetze, keine Verfassung. Im Grunde vollzog<br />

sich im Ural parallel zur Aufteilung der Einflusssphären<br />

unter den kriminellen Vereinigungen ein Bürgerkrieg<br />

245


innerhalb des Rechtsprechungssystems. Die Gerichte<br />

wurden – und werden bis heute – missbraucht als Organe<br />

zur Absegnung von Entscheidungen, die bestimmten<br />

<strong>In</strong>teressengruppen nützen.<br />

Im Folgenden zitiere ich aus einem Schreiben, das<br />

I. Kadnikow, renommierter Jurist und ehemaliger Vorsitzender<br />

des Jekaterinburger Stadtbezirksgerichts Oktjabrski,<br />

gemeinsam mit dem ehemaligen Vorsitzenden<br />

des Stadtbezirksgerichts Leninski, W. Nikitin, an den<br />

Obersten Richter <strong>Russland</strong>s, Wjatscheslaw Lebedew, richtete.<br />

Darin geht es um Iwan Owtscharuk, der bereits seit<br />

Sowjetzeiten dem Swerdlowsker Gebietsgericht vorsteht :<br />

»Owtscharuk nimmt seit Jahren unmittelbaren Einfluss<br />

auf die Zusammensetzung und Ausrichtung der<br />

Richterschaft im Ural, bestimmt und kontrolliert die<br />

Auswahl der Kandidaten für jedes Richteramt. Ohne<br />

seine persönliche Zustimmung wird kein einziger Bewerber<br />

bestätigt, die Bestallung für keinen von uns verlängert.<br />

Alle Richter, die ihm persönlich nicht genehm sind,<br />

werden nach und nach aus ihren Positionen gedrängt,<br />

schikaniert oder zur Kündigung gezwungen, während<br />

dafür Personen in das Richterkollegium gelangen, denen<br />

oft die entsprechende Qualifikation und Berufserfahrung<br />

fehlt, die aber Schwachstellen besitzen und damit manipulierbar<br />

sind. Außerordentlich viele hoch qualifizierte<br />

Richter, die lange Jahre im Justizsystem gearbeitet haben<br />

und über eine reiche Erfahrung verfügen, über solche<br />

wichtigen Qualitäten wie Prinzipienfestigkeit, Unabhängigkeit,<br />

Konsequenz in der Entscheidungsfindung, Unbe-<br />

246


stechlichkeit und Mut, wurden gezwungen, ihr Amt aufzugeben.<br />

Aus einem einzigen Grund : Wer unbestechlich<br />

ist, kann unter Owtscharuk als Oberstem Richter nicht<br />

normal arbeiten.«<br />

Sehen wir uns einmal an, wer diesem Iwan Owtscharuk<br />

genehm und wer ihm missliebig ist, wen er für gut<br />

und wen für schlecht hält.<br />

De r »B e s t e ri c h t e r« im ur a l<br />

Anatoli Kriski, Vorsitzender des Jekaterinburger Stadtbezirksgerichts<br />

von Werch-Issetski, ist nicht nur ein »guter<br />

Richter«, er ist der »beste Richter« des Ural. Lange Zeit<br />

war gerade Kriski ein treuer Hüter der <strong>In</strong>teressen Iwan<br />

Owtscharuks. Und wie hütete er die <strong>In</strong>teressen seines<br />

Herrn ?<br />

Das Gericht im Bezirk Werch-Issetski gilt als das<br />

schwierigste der Stadt, denn in seinem Einzugsbereich<br />

liegt das Gefängnis von Jekaterinburg. Was nach geltendem<br />

Recht bedeutet, dass hier sämtliche Anträge verhandelt<br />

werden, die mit einer Veränderung des Strafmaßes<br />

für die <strong>In</strong>sassen dieses Gefängnisses im Zusammenhang<br />

stehen. Und alle in Jekaterinburg wissen : Entscheidend<br />

für die Beurteilung eines solchen Antrags ist nicht, welches<br />

Verbrechen der <strong>In</strong>haftierte begangen hat, ob er möglicherweise<br />

eine soziale Gefahr darstellt, sondern einzig<br />

und allein – Geld. Am schnellsten landen Angehörige<br />

mächtiger krimineller Gruppierungen wieder auf freiem<br />

Fuß, sie werden einfach freigekauft.<br />

247


Dem Werch-Issetsker Stadtbezirksgericht verhalf das<br />

zu Wohlstand. Üblicherweise sind Stadtbezirksgerichte<br />

arm wie Kirchenmäuse, haben nicht einmal genug Geld<br />

für Papier, sodass die rechtsuchenden Bürger ihr eigenes<br />

mitbringen müssen, und die Gehälter der Richter reichen<br />

mit Ach und Krach zum Überleben. Das Werch-Issetsker<br />

Stadtbezirksgericht bietet da ein ganz anderes Bild. Um<br />

das Gebäude herum stehen viele tausend Dollar teure<br />

Jeeps, Wagen der Marken Mercedes und Ford. Und morgens<br />

entsteigen ihnen die Halter : bescheidene Stadtbezirksrichter<br />

mit wenigen tausend russischen Rubeln Monatsgehalt.<br />

Den besten Wagen besaß stets Anatoli Kriski.<br />

Auf besonders gutem Fuß stand Kriski mit Pawel<br />

Fedulew. Über Jahre hinweg wurden sämtliche Verfahren,<br />

die auch nur irgendwie mit Fedulew zu tun hatten,<br />

von Kriski höchstpersönlich bearbeitet. Er war sozusagen<br />

Fedulews Hausrichter. Oder besser : Auftragsrichter.<br />

Niemals hätte sich Kriski im Hinblick auf Fedulews Fälle<br />

eine Verzögerung oder Verschleppung erlaubt, sie wurden<br />

stets im Eilverfahren verhandelt. Ohne Vorladung<br />

von Zeugen, ohne Rücksicht darauf, ob die getroffenen<br />

Entscheidungen den Rechtsgrundsätzen entsprachen.<br />

Wollte Fedulew von Kriski gerichtlich bestätigt haben,<br />

dass bestimmte Aktien ihm gehörten, machte sich dieser<br />

nicht die Mühe, die vom Gesetz vorgeschriebenen<br />

Beweise oder zumindest Nachweise für den Besitzanspruch<br />

Fedulews zu fordern, der Richter stempelte einfach<br />

ab : Diese Aktien gehören dem Kläger. Mit derartigen<br />

Gerichtsbescheiden in der Hand erschien Fedulew<br />

248


dann auch im Kombinat Uralchimmasch, nachdem er<br />

es mit Waffengewalt hatte besetzen lassen.<br />

Bemerkenswerterweise fand die Verhandlung der Fedulew-Fälle<br />

manchmal sogar in »häuslicher Umgebung«<br />

statt, indem Kriski die richterlichen Bescheide nicht an<br />

dem einzig vom Gesetz dafür vorgesehenen Ort – im<br />

Gerichtssaal – aufsetzte, sondern direkt in Fedulews Büro.<br />

Und es kam sogar vor, dass er das nicht einmal selbst<br />

tat, sondern nur die von Fedulews Anwalt verfassten<br />

Papiere unterschrieb.<br />

Als im Sommer 1998 die Staatsanwaltschaft Fedulew<br />

zusetzte, weil ihn eine Moskauer Firma wegen Betrugs<br />

angezeigt hatte, flog Kriski zusammen mit Fedulews<br />

Anwalt in die Hauptstadt, zum damaligen Generalstaatsanwalt<br />

Juri Skuratow, um die Einstellung des Strafverfahrens<br />

zu erwirken. Skuratow, ein Jugendfreund Kriskis,<br />

empfing den Vorsitzenden des Werch-Issetzker Stadtbezirksgerichts<br />

natürlich, und es kam, wie es kommen<br />

musste : Das damalige Verfahren wurde eingestellt. Bei<br />

seiner Rückkehr nach Jekaterinburg überreichte Fedulews<br />

Frau Kriski dafür eine lustigbunte Plastiktüte mit<br />

Rubeln im Gegenwert von 20 000 Dollar. Als Dank für<br />

seine Bemühungen, was sie gar nicht verhehlte. Und auch<br />

Kriski zeigte seine Freude darüber ganz offen : Einige<br />

Tage später kaufte er sich einen Ford Explorer.<br />

Mancher Leser im Westen mag das für normal halten.<br />

Schließlich ist ein Richter kein Hungerleider, und ein<br />

Luxusschlitten ist ein Ford Explorer nach westlichem<br />

Verständnis nun auch wieder nicht. Kauft sich in Russ-<br />

249


land der Vorsitzende eines Stadtbezirksgerichts ein solches<br />

Auto, kann das nur zweierlei bedeuten : Entweder<br />

er hat eine reiche Erbschaft gemacht oder er nimmt<br />

Bestechungsgelder. Eine andere Möglichkeit gibt es für<br />

ihn nicht. Denn in <strong>Russland</strong> entspricht ein Ford Explorer<br />

dem Standard eines Unternehmers, unternehmerische<br />

Tätigkeit aber ist dem Vorsitzenden eines Gerichts<br />

per Gesetz untersagt. Für den Kaufpreis eines Wagens<br />

Marke Ford Explorer muss ein Richter zwanzig Jahre<br />

lang arbeiten.<br />

Aber damit hören die Wunder um Anatoli Kriski<br />

noch nicht auf. Bereits einen Monat nach der Auto-Geschichte<br />

hatte Fedulew wieder Probleme mit der Staatsanwaltschaft,<br />

Kriski flog erneut zu Skuratow, diesmal<br />

nicht nach Moskau, sondern nach Sotschi am Schwarzen<br />

Meer, wo der Generalstaatsanwalt gerade Urlaub<br />

machte. Die dunklen Wolken über Fedulews Haupt zerstreuten<br />

sich ein weiteres Mal, und Kriski tauschte seinen<br />

Ford Explorer – ohnehin Stadtgespräch in ganz Jekaterinburg<br />

– gegen einen Mercedes 600. Der Mercedes<br />

600, das Aushängeschild der »neuen Russen«, ist nun<br />

wahrhaftig kein Auto mehr, das dem Lebensniveau eines<br />

Richters entspricht.<br />

Und erst Kriskis berühmte Geburtstagspartys ! Diese<br />

dreiste Herrenmanier, die keine Grenzen mehr kannte,<br />

dieser Pomp, als würde ein reich und maßlos gewordener<br />

Kaufmann im alten <strong>Russland</strong> seinen Namenstag feiern.<br />

Wenn Kriski Geburtstag hatte, wurde auf seine Weisung<br />

das ganze Gericht geschlossen, die Sprechstunden fielen<br />

250


aus, Kriski mietete ein Restaurant im Zentrum von Jekaterinburg,<br />

die Geldscheine flogen nur so nach links<br />

und rechts, der Alkohol floss in Strömen, Jekaterinburgs<br />

Staatsdienerschaft feierte, was das Zeug hielt – vor den<br />

Augen der mehrheitlich armen Jekaterinburger, die nur<br />

staunen konnten. Die Geburtstagsgäste pfiffen darauf,<br />

dass sich ein Richter in der Öffentlichkeit eigentlich nicht<br />

so aufführen darf, weil es ihm nicht nur die ungeschriebenen<br />

Regeln des Anstands, sondern auch die Buchstaben<br />

des Gesetzes verbieten. So verlangt beispielsweise das<br />

Gesetz Ȇber den Status der Richter in der Russischen<br />

Föderation« Richtern nachdrücklich eine besonders asketische<br />

Lebensweise ab, außerhalb des Dienstes (vom<br />

Dienst ganz zu schweigen) darf ein Richter keine persönlichen<br />

Beziehungen unterhalten, die seinen Ruf schädigen<br />

könnten, muss seine Handlungen sorgsam abwägen,<br />

um die Autorität der ihm anvertrauten Gerichtsbarkeit<br />

auf höchstem moralischen Niveau zu wahren.<br />

Gerade dieser Kriski nun mit seinem mafiösen Hintergrund<br />

war der Liebling von Gebietsrichter Iwan Owtscharuk.<br />

Bei allen beruflichen Zusammenkünften hieß<br />

es : Kriski ist einer der besten Richter des Ural. Wieso<br />

gerade er ? Eine legitime Frage. Stand Owtscharuk als<br />

Oberster Richter vielleicht auch auf der Gehaltsliste der<br />

Mafia ? Oder konnte er einfach gut und schlecht nicht<br />

unterscheiden ?<br />

Weder das eine noch das andere. Wir alle, die wir<br />

heute in <strong>Russland</strong> leben, kommen aus der Zeit der Sowjetmacht<br />

und haben die sowjetische Lebensweise mehr<br />

251


oder weniger verinnerlicht. Owtscharuk war ein Richter<br />

alter sowjetischer Schule und Prägung. Eine typische<br />

sowjetische Führungskraft – in seinem Falle des Rechtswesens<br />

–, ein »Ehemaliger«, wie man jetzt in <strong>Russland</strong><br />

sagt. Während seiner gesamten Tätigkeit im sowjetischen<br />

Justizsystem hatte er gelernt, sich unter gar keinen<br />

Umständen mit Vorgesetzten anzulegen, sondern nur<br />

ihre Weisungen auszuführen und die jeweilige Stimmung<br />

des Chefs daran abzulesen, wohin sich dessen Braue<br />

bewegt. Er konnte nur deshalb Karriere machen, weil er<br />

niemals das Ansinnen eines Höherstehenden in Zweifel<br />

gezogen hatte, ganz gleich, wie ungesetzlich oder unsinnig<br />

es auch sein mochte.<br />

Als die neuen Zeiten anbrachen, mit ihnen Demokratie<br />

und Kapitalismus Einzug hielten, da geriet Owtscharuk,<br />

wie Augenzeugen berichten, in Panik. Wem sollte er<br />

jetzt dienen, wo die gewohnte Hierarchie zerfiel ? Denn<br />

nicht dienen, das konnte er nicht. Doch die Verwirrung<br />

war nur von kurzer Dauer, sein besonderes sowjetisches<br />

Feeling für Macht- und Kräfteverhältnisse gab<br />

ihm bald die optimale Lösung ein. Owtscharuk wählte<br />

zwei neue Herren : Zum einen das Geld (die Welt des<br />

aufkommenden Unternehmertums ; den Kreis der Akkumulierer<br />

von Kapital), zum anderen die administrative<br />

Macht (die Schicht der Verwaltungsbürokratie, die trotz<br />

aller Ausrottungsversuche traditionell monolithisch und<br />

unverrückbar wie ein Granitblock geblieben war und für<br />

Owtscharuk durch Gouverneur Eduard Rossel verkörpert<br />

wurde). Und da in Jekaterinburg beide Herrschafts-<br />

252


kreise in Freundschaft zueinander gefunden hatten und<br />

neben dem alten Uralmasch-Syndikat eine neue Mafia<br />

entstanden war, musste Owtscharuk nicht lange überlegen,<br />

wem er dienen sollte : Er wurde zum Erfüllungsgehilfen<br />

sowohl für Rossel als auch für Fedulew. Denn er<br />

sah sehr wohl, wie freundschaftlich Rossel mit Fedulew<br />

verkehrte, und dass Anatoli Kriski wiederum Fedulews<br />

Mann war. Also musste er Kriski unterstützen und über<br />

dessen »kleine Schwächen« hinwegsehen.<br />

Erst Ende 2001 gelang es, Richter Kriski als Vorsitzenden<br />

des Jekaterinburger Stadtbezirksgerichts von Werch-<br />

Issetski abzulösen. Aber wie und letztendlich mit welchem<br />

Ausgang.<br />

Die Bezirksverwaltung des FSB wusste seit Jahren, dass<br />

Kriski die kriminellen Aktivitäten Fedulews im Ural juristisch<br />

absicherte, doch beweisen konnten es ihm die<br />

Ermittler nicht. Also ließ man ihn schließlich (gesetzeswidrig)<br />

rund um die Uhr überwachen, und der Stadtbezirksrichter<br />

wurde überführt … als Pädophiler. Die<br />

Beweise legte der FSB sowohl Kriski als auch seinen<br />

Gönnern Owtscharuk und Rossel vor. Mit dem Ergebnis,<br />

dass Kriski sein Amt niederlegte. Ohne öffentliche<br />

Schande. Ohne Aberkennung seiner richterlichen Vollmacht.<br />

Ohne erniedrigende Erklärungen. Von Entlassung<br />

keine Rede, und erst recht nicht von so unschönen Einträgen<br />

in der Kaderakte wie »im Zusammenhang mit<br />

Handlungen, die die Ehre und Würde der Gerichtsbarkeit<br />

beflecken«. Kriski wurde versetzt, arbeitete nunmehr<br />

als juristischer Berater des Jekaterinburger Bürgermeis-<br />

253


ters. Das war alles. Vielleicht hatte wirklich jemand den<br />

Filz aus Mafia und Justiz im Stadtbezirk Werch-Issetski<br />

bekämpfen wollen, doch dabei kam nur heraus, dass<br />

aus dem korrumpierten Richter ein allseits angesehener<br />

Rechtsberater wurde.<br />

Nun zu den Missliebigen, die nicht mit Owtscharuk<br />

und Kriski zusammenarbeiteten, nicht zulassen wollten,<br />

dass sich ein unabhängiges Gericht in die totale Abhängigkeit<br />

von Kriminellen begibt. Zu den Richtern, die<br />

versuchten, Richter zu bleiben – in einer Region unter<br />

Mafia-Diktat. Und die wegen ihrer Kompromisslosigkeit<br />

aus dem Justizdienst entlassen wurden, mit ebenjener<br />

Begründung, die Kriski erspart blieb : »im Zusammenhang<br />

mit Handlungen, die die Ehre und Würde der<br />

Gerichtsbarkeit beflecken«.<br />

Die »s c h l e c h t e n« ri c h t e r<br />

Olga Wassiljewa arbeitete elf Jahre lang als Richterin.<br />

Eine solide Dienstzeit. Äußerlich ist sie eine ruhige, ausgeglichene,<br />

besonnene Frau. Eine Richterin, die sich aus<br />

prinzipiellen Gründen kategorisch weigerte, Fedulews<br />

gerichtliche »Wunschpapiere« durch ihre Unterschrift<br />

abzusegnen. Obwohl sie in demselben Werch-Issetsker<br />

Stadtbezirksgericht arbeitete und Kriski direkt unterstand.<br />

Olga Wassiljewa wurde massivem Druck ausgesetzt,<br />

es hagelte Drohungen gegen sie und ihre Familie,<br />

doch sie gab kein einziges Mal nach. Und nicht nur,<br />

wenn es um Fedulew ging, sondern auch bei so genann-<br />

254


ten »einfachen« dienstlichen Weisungen, in denen Kriski<br />

von ihr verlangte, das Haftmaß zu ändern, damit der<br />

eine oder andere seiner kriminellen Proteges aus dem<br />

Gefängnis freikam.<br />

Der Konflikt eskalierte, als Olga Wassiljewa eine Klage<br />

zuließ, die sie auf Verlangen Kriskis unbedingt hätte<br />

abweisen sollen, denn er wollte keinen Präzedenzfall. Der<br />

Beklagte war der Vorsitzende des Swerdlowsker Gebietsgerichts<br />

Iwan Owtscharuk höchstpersönlich, dem die<br />

Kläger – mehrere Einwohner Jekaterinburgs – vorwarfen,<br />

die Prüfung ihres Gesuchs an das Gebietsgericht absichtlich<br />

zu verschleppen, weil es sich gegen die <strong>In</strong>teressen<br />

bestimmter Bürokraten im Apparat des Gouverneurs<br />

Eduard Rossel richtete. Für Jekaterinburg – eine Stadt fest<br />

in der Hand der Mafia, in der jeder weiß, dass Unbotmäßigkeiten<br />

dieser Art nicht mit einem lautstarken Krach,<br />

sondern mit Erschießung enden – war die Zulassung<br />

eine Art Revolution, eine Ungeheuerlichkeit. Andere<br />

Stadtbezirksgerichte nahmen, um sich aus der Schusslinie<br />

zu halten, so etwas nicht einmal zur Registrierung an,<br />

wiesen derartige Klagen – unberechtigterweise – bereits<br />

ab, wenn sie eingereicht wurden.<br />

Das System rächte sich an Olga Wassiljewa, weil sie<br />

die Gesetze respektierte. Man entließ sie nicht nur aus<br />

dem Richteramt, sondern überschüttete sie auch noch<br />

mit Schmutz. Dem Antrag zur Aberkennung ihrer richterlichen<br />

Vollmachten waren in der Personalakte die<br />

Beschwerden der Kriski-Proteges, deren vorzeitige Haftentlassung<br />

Olga Wassiljewa abgelehnt hatte, beigeheftet.<br />

255


Eine ungeheure Frechheit, hatten die Gefängnisinsassen<br />

diese Beschwerden doch auf offiziellen Formblättern des<br />

Gerichts verfasst, in deren Besitz sie gar nicht gelangen<br />

konnten, es sei denn, Kriski hätte sie ihnen direkt in die<br />

Haftanstalt gebracht.<br />

Nun begann ein langer Weg durch die <strong>In</strong>stanzen. Olga<br />

Wassiljewa musste beweisen, dass das alles ein abgekartetes<br />

Spiel war. Erst ein Jahr später erhob sie das<br />

Oberste Gericht der Russischen Föderation wieder in<br />

den Richterstand. Aber damit hatte ihr Leidensweg noch<br />

längst kein Ende, denn das Oberste Gericht blieb in Moskau,<br />

ihr aber stand die Rückkehr nach Jekaterinburg<br />

bevor, und dort war sie vollkommen schutzlos. Zu Hause<br />

angekommen, legte sie Kriski das Urteil des Obersten<br />

Gerichts vor, doch der verwehrte ihr den Zutritt zu<br />

ihrem Arbeitsplatz und richtete einen offiziellen Antrag<br />

an den für das Gebiet zuständigen Qualifikationsausschuss.<br />

Darin betonte Kriski : »… trotz ihrer Wiedereinsetzung<br />

beschreitet sie nicht den Weg der Besserung«,<br />

eine typische Formulierung aus Häftlingsbeurteilungen,<br />

die bezogen auf eine Richterin nur als Verhöhnung und<br />

Demütigung gemeint sein konnte.<br />

Kriskis Anliegen fand die Unterstützung Iwan Owtscharuks,<br />

und der Qualifikationsausschuss beschloss,<br />

Olga Wassiljewa nicht mehr zur Wiederbestätigung als<br />

Richterin vorzuschlagen. <strong>In</strong> <strong>Russland</strong> müssen nämlich<br />

Richter in bestimmten Zeitabständen im Amt bestätigt<br />

werden, sich quasi neu bestallen lassen. Diese Prozedur<br />

besteht darin, dass die Qualifikationsausschüsse auf Ge-<br />

256


iets- und Republikebene entsprechende »Empfehlungen«<br />

abgeben, die dann die Grundlage für einen Wiederbestallungserlass<br />

des Präsidenten bilden.<br />

Niemand in diesem von Iwan Owtscharuk, dem Obersten<br />

Richter des Gebiets Swerdlowsk, beherrschten und gesteuerten<br />

Qualifikationsausschuss machte sich natürlich<br />

die Mühe nachzuprüfen, welche Fakten Kriski denn zur<br />

Begründung seines Antrags anführte. Es waren dieselben<br />

auf offiziellen gerichtlichen Formblättern verfassten<br />

Häftlingsbeschwerden, die das Oberste Gericht in Moskau<br />

gerade als nicht stichhaltig verworfen hatte.<br />

Olga Wassiljewa ist ein mutiger Mensch mit Prinzipien.<br />

Sie wandte sich wieder an das Oberste Gericht,<br />

forderte die Durchsetzung der Gerechtigkeit. Doch das<br />

sollte Jahre dauern, ermüdende, frustrierende Jahre, in<br />

denen Olga Wassiljewa die Möglichkeit genommen war,<br />

als Richterin zum Wohle des Staates zu arbeiten.<br />

Kann man von der Mehrheit fordern, dass sie den von<br />

Olga Wassiljewa gewählten Weg geht ? Nein. <strong>In</strong> Jekaterinburg<br />

sagten mir viele Richter (die unter allen Umständen<br />

ungenannt bleiben wollen) : »Lieber die Urteile fällen, die<br />

Owtscharuk verlangt, als dass es uns so ergeht wie der<br />

Wassiljewa.« Und zur Bekräftigung erzählten sie zahllose<br />

Geschichten über das Schicksal von Kollegen, die versucht<br />

hatten, sich der Mafia zu widersetzen. Eine davon,<br />

die Geschichte des Jekaterinburger Richters Alexander<br />

Dowgi, soll hier angeführt werden.<br />

Dowgis »Schuld« bestand einzig und allein darin, dass<br />

er Kriskis Forderung, einen seiner kriminellen Proteges<br />

257


aus der Haft zu entlassen, nicht nachkam. Wenige Tage<br />

später wurde der Richter auf der Straße mit Stahlruten<br />

zusammengeschlagen. Die Miliz suchte nicht einmal<br />

nach den Tätern, obwohl sie sonst bei Übergriffen auf<br />

Richter gewöhnlich große Aktivität entwickelt. Dowgi<br />

lag lange im Krankenhaus, arbeitet jetzt zwar wieder als<br />

Richter, verhandelt jedoch nur Scheidungssachen, andere<br />

Fälle will er nicht mehr übernehmen.<br />

»Der gegenwärtige Status quo ist so, dass Professionalität<br />

das Vorurteil weckt, keine eigene Meinung zu haben,<br />

dass Menschen, die sich nicht von bolschewistischen<br />

Methoden trennen können, Befugnisse des Staates auf<br />

dem Gebiet der Rechtsprechung wahrnehmen. Sie drohen<br />

mit hoch erhobenem Zeigefinger und sehen nichts<br />

Verwerfliches darin, ein bestimmtes Urteil zu fordern<br />

und Richter vor das Parteiaktiv (den Qualifikationsausschuss)<br />

zu zitieren, ebenso wenig wie in der Möglichkeit,<br />

in unserem Namen und mit unseren Händen zu begnadigen<br />

oder hinzurichten …« Das schrieb ein junger, sehr<br />

aussichtsreicher Jurist (der ebenfalls ungenannt bleiben<br />

will). Wie Olga Wassiljewa sah er sich massivem Druck<br />

von Seiten Kriskis und Owtscharuks ausgesetzt. Er hielt<br />

diesem Druck nicht stand, hatte keine Kraft zu kämpfen,<br />

sondern ging lieber. Die obigen Zeilen stammen aus<br />

einem Brief an Kriski, in dem er um seine Entlassung<br />

ersuchte und bat, »die Frage in meiner Abwesenheit zu<br />

behandeln«. Er verließ Jekaterinburg für immer.<br />

Dieser junge Richter hätte nie an eine Entlassung aus<br />

dem Justizdienst gedacht. Wäre nicht eines Tages gesche-<br />

258


hen, was immer geschah : Er bekam ein Verfahren auf<br />

den Tisch, in dem es um verbrecherische Machenschaften<br />

einer kriminellen Gruppierung ging. Stadtbezirksrichter<br />

Kriski verlangte die sofortige Einstellung. Als sich<br />

der junge Richter Bedenkzeit erbat, erhielt er anonyme<br />

Anrufe und Drohbriefe, wurde vor seinem Haus verprügelt,<br />

noch nicht ernsthaft, eher als Warnung. Von »unbekannten<br />

Tätern«, die man nicht fand. Der junge Richter<br />

schrieb sofort ein Entlassungsgesuch. Der besagte Fall<br />

wurde ihm entzogen und einem anderen Richter übertragen.<br />

Am Vorabend der Prozesseröffnung erhielt dieser<br />

ein vom Obersten Richter Iwan Owtscharuk persönlich<br />

unterzeichnetes Fax aus dem Gebietsgericht, mit der<br />

Aufforderung, das Verfahren einzustellen. Am nächsten<br />

Tag wurde der Fall geschlossen.<br />

Sergej Kasanzew, Richter am Kirowsker Stadtbezirksgericht,<br />

traf die Anordnung, dass ein gewisser Uporow,<br />

gegen den ein Strafverfahren wegen Raubes und Diebstahls<br />

lief, auf Grund seiner Allgemeingefährlichkeit bereits<br />

vor der eigentlichen Verhandlung in Vorbeugehaft<br />

zu nehmen sei. Danach bearbeitete er einen anderen Fall<br />

und zog sich in das Beratungszimmer zurück, um das<br />

Urteil zu diesem Verfahren aufzusetzen. Nach russischem<br />

Recht darf in dieser Zeit niemand den Richter stören, das<br />

hätte die sofortige Kassation des Urteils durch die übergeordnete<br />

<strong>In</strong>stanz zur Folge. Doch Gebietsrichter Iwan<br />

Owtscharuk ließ sich in das Beratungszimmer zu Kasanzew<br />

durchstellen und verlangte kategorisch, er solle unverzüglich<br />

Uporow aus der Vorbeugehaft entlassen. Als<br />

259


Kasanzew die Forderung ablehnte, erklärte Owtscharuk,<br />

dann müsse er mit seiner Entlassung rechnen.<br />

Und Sergej Kasanzew wurde entlassen.<br />

Es gibt viele derartige Geschichten in Jekaterinburg.<br />

Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Und die<br />

Richter, die diese Geschichten kennen und weiter im<br />

Justizdienst arbeiten, gleichen einander ebenfalls. Sie sind<br />

vor allem absolut manipulierbar, bereit, alles abzusegnen,<br />

nur um keine Schwierigkeiten mit den Vorgesetzen<br />

zu bekommen. Das Wort Widerstand kennen sie nicht.<br />

Eine Herrschaft der Doppelmoral unter der Losung der<br />

Diktatur des Gesetzes. Sind das die Richter, die <strong>Russland</strong><br />

braucht ?<br />

Bei der Besetzung des Kombinates Uralchimmasch<br />

präsentierten beide Seiten gegensätzliche Entscheidungen<br />

verschiedener Richter zu ein und derselben Sache, gefällt<br />

auf ein und derselben Rechtsgrundlage. Wenn jahrelang<br />

jegliche richterliche <strong>In</strong>itiative unterdrückt und die Ausprägung<br />

einer Sklavenmentalität unter den Männern<br />

in den schwarzen Roben befördert wird, wenn Berufserfahrungen<br />

aus der Zeit der gelenkten sowjetischen<br />

Gerichtsbarkeit hoch geschätzt werden, welche kühnen<br />

und gerechten Urteile kann man da erwarten ? Wer sich<br />

diesem System entgegenstellte und entschieden verweigerte,<br />

ist längst nicht mehr im Justizdienst. Diejenigen,<br />

die sofort strammstehen, wenn von oben die Missachtung<br />

von Recht und Gesetz befohlen wird, sind in Amt<br />

und Würden, machen Karriere.<br />

260


Die »g u t e n« ri c h t e r<br />

Hinter jedem »Erfolg« Fedulews stehen seine exzellenten<br />

Beziehungen zu den Richtern der Ural-Region. Er ist<br />

ihr Freund, sie sind mit ihm befreundet. Alles beruht<br />

auf Gegenseitigkeit. Am bekanntesten dürften in diesem<br />

Zusammenhang die Namen der Herren Rjasanzew<br />

und Balaschow sein. Ersterer bekleidet das bescheidene<br />

Amt eines Richters am Stadtgericht von Katschkanar, das<br />

gleichfalls Gebietsrichter Iwan Owtscharuk untersteht.<br />

Dieser Rjasanzew versorgte Fedulew mit den nötigen<br />

Gerichtsurteilen in Bezug auf die Eisenerzaufbereitungswerke<br />

Katschkanar, indem er bestätigte, dass der billige<br />

Aufkauf der Betriebswechsel durch eine Scheinfirma und<br />

die anschließende Einlösung zum einhundertprozentigen<br />

Nennwert rechtmäßig gewesen waren. Damit besiegelte er<br />

das Schicksal eines Unternehmens von Weltrang. Auch<br />

Richter Balaschow ist ein sehr bescheidener Mann. Er<br />

arbeitet am Kirowsker Stadtbezirksgericht in Jekaterinburg<br />

und traf im Fall Uralchimmasch – sowie in anderen<br />

Fällen – für Fedulew vorteilhafte Entscheidungen.<br />

Richter Balaschow wurde zum Auslöser für das, was<br />

sich im Kombinat Uralchimmasch abspielen sollte, indem<br />

er an einem Freitagabend Fedulews Klage gegen<br />

das Direktorium des Kombinats entgegennahm und ihm<br />

bereits am Montagmorgen die gewünschten Gerichtsbeschlüsse<br />

aushändigte. Ein für russische Verhältnisse einfach<br />

unglaubliches Tempo, bei dem natürlich von Zeugenanhörungen,<br />

dem Einholen weiterer Auskünfte oder<br />

261


der Befragung Dritter keine Rede sein konnte. Balaschow<br />

segnete einfach ab, was Fedulew verlangte.<br />

Und Richter Balaschow bewegte sich dabei, wie man<br />

festhalten muss, nicht einmal außerhalb des Gesetzes,<br />

er nutzte nur geschickt die Schlupflöcher in unserer<br />

Gesetzgebung, die Schnellverfahren gestattet. Und erließ<br />

eine einstweilige Verfügung unter Berufung auf Fedulews<br />

Darstellung, dass die Kombinatsleitung angeblich<br />

Managemententscheidungen getroffen und Maßnahmen<br />

eingeleitet habe, die eine Verschleuderung des Betriebsvermögens<br />

zur Folge hätten. Das primäre Ziel eines solchen<br />

Antrags auf einstweilige Verfügung besteht darin,<br />

den Status quo zu sichern. Und das Gericht darf tatsächlich<br />

intervenieren und dem Management jegliche<br />

Aktivitäten untersagen, bis prinzipiell geklärt ist, wer<br />

das Verfügungsrecht über das Betriebsvermögen besitzt.<br />

Äußerlich betrachtet berührte Balaschows Verfügung im<br />

Schnellverfahren also den grundsätzlichen Streit um die<br />

Eigentumsverhältnisse nicht, sondern verbot nur Handlungen<br />

des Managements in Bezug auf dieses Eigentum,<br />

scheinbar alles im Rahmen von Recht und Gesetz. Doch<br />

unter diesem glatten äußeren Schein verbirgt sich ein<br />

eklatanter Rechtsbruch.<br />

Nach geltendem Gesetz kann ein Gericht der Russischen<br />

Föderation in einem Verfahren keine neue Entscheidung<br />

fällen, solange dieser Streitfall bei einem anderen<br />

Gericht anhängig ist. Doch Richter Balaschow<br />

tat so, als sei ihm nicht bekannt, dass der Rechtsstreit<br />

um das Kombinat Uralchimmasch noch gar nicht ent-<br />

262


schieden, die Verhandlung vor dem für derartige Fälle<br />

zuständigen Schiedsgericht nicht abgeschlossen war. Und<br />

er hatte auch gleich eine Rechtfertigung parat : Wenn es<br />

im Gebiet Swerdlowsk kein einheitliches <strong>In</strong>formationssystem<br />

gibt (was ja stimmte), wie soll ein Stadtbezirksrichter<br />

da immer auf dem Laufenden sein ?<br />

Natürlich spielte er hier ein infames Spiel : Balaschow<br />

wusste alles. Und beschloss gerade deshalb, Fedulews<br />

Antrag stattzugeben, ohne ihn im Detail zu prüfen. Er<br />

hätte Zeugen aufrufen, dokumentarische Beweise fordern,<br />

die Entscheidung bis zur Klärung sämtlicher Umstände<br />

vertagen können, was er jedoch nicht tat. Weil Fedulew<br />

die einstweilige Verfügung wollte, um damit bereits<br />

wenige Stunden später, kaum dass die Tinte auf dem<br />

Papier getrocknet war, vor den Nasen der Direktoren von<br />

Uralchimmasch, nach der gewaltsamen Besetzung des<br />

Kombinats durch bewaffnete Brigaden, herumzuwedeln.<br />

Wir erkennen hier ein Charakteristikum der Rechtsprechung<br />

im heutigen <strong>Russland</strong> : Begünstigt und bevorteilt<br />

das Gericht eine Partei, so hat es dabei das Gesetz<br />

auf seiner Seite. Denn angeblich sind unsere Gerichte<br />

ja unabhängig. Der Richter muss sich also lediglich der<br />

entsprechenden Unterstützung »von oben« versichern.<br />

Ist ihm die gewiss, favorisiert die richterliche Obrigkeit<br />

also auch eine bestimmte Entscheidung, kann die Basis<br />

schalten und walten, wie sie will. Nach der gewaltsamen<br />

Besetzung des Kombinats Uralchimmasch rief Balaschows<br />

unmittelbarer Dienstvorgesetzter, der Vorsitzende<br />

des Kirowsker Stadtbezirksgerichts Valeri Baidukow, den<br />

263


Richter zu sich und verlangte eine Stellungnahme. Als<br />

Richter Balaschow erklärte, das Gebietsgericht habe »eine<br />

solche Entscheidung gewünscht«, alles sei mit Iwan Owtscharuk<br />

abgestimmt, wurde der Tagesordnungspunkt auf<br />

der Stelle fallen gelassen.<br />

Und die Öffentlichkeit ? Immerhin löste die dreiste Besetzung<br />

des Kombinats eine Welle von Anfragen aus. Bei<br />

Uralchimmasch arbeiteten Tausende Menschen, alle hatten<br />

Familien. Womit wurden sie abgespeist ? Damit, dass<br />

Baidukow das Geschehen als humanitären Akt in ihrem<br />

ureigensten <strong>In</strong>teresse hinstellte : Wenn Betriebsvermögen<br />

verloren zu gehen droht, zählt jede Minute, das wissen<br />

wir Richter und haben deshalb im Sinne der Beschäftigten<br />

wie der Eigentümer operativ entschieden.<br />

Richter Baidukow, von dem diese Erklärung stammt,<br />

ist übrigens Vorsitzender des Richterrates des Gebiets<br />

Swerdlowsk. Der Hüter der Ehre des Berufsstands sozusagen.<br />

Dieser Richterrat bildet – genauso wie der Qualifikationsausschuss<br />

– ein Organ der Richterschaft einer<br />

Region. <strong>In</strong> Jekaterinburg stehen beide Gremien unter der<br />

absoluten Kontrolle von Gebietsrichter Iwan Owtscharuk.<br />

<strong>In</strong> diese <strong>In</strong>teressenvertretungen wird nur gewählt, wer<br />

sein Vertrauen genießt, deshalb segnen die Mitglieder<br />

jeden Antrag Owtscharuks kritiklos ab.<br />

Valeri Baidukow, der Vorsitzende des Richterrates, ist<br />

ein so eingeschüchterter, angepasster Mensch, dass er den<br />

eigenen Schatten fürchtet. Kaum vorstellbar, er könne<br />

auch nur irgendjemanden verteidigen. Wenn er sich über-<br />

264


haupt eine eigene Meinung erlaubt, dann nur hypothetisch.<br />

Zwar hört man ihn theoretisieren, die Stadtbezirks-<br />

und Stadtgerichte seien »das wichtigste Glied im judikatorischen<br />

System <strong>Russland</strong>s«, doch wenn es um konkrete<br />

Fakten geht oder das Gespräch auf Handlungen seines<br />

Vorgesetzten Owtscharuk kommt, verstummt er augenblicklich.<br />

Auch der Fall Olga Wassiljewa ging natürlich<br />

mehrfach über Baidukows Schreibtisch, und jedes Mal<br />

entschied Baidukow in der vom Obersten Richter Iwan<br />

Owtscharuk gewünschten Richtung.<br />

Ein kurzer, aber unumgänglicher Exkurs : Die Stadtbezirks-<br />

und Stadtgerichte der allgemeinen Jurisdiktion<br />

verhandeln fünfundneunzig Prozent der Straf- und Zivilrechtsfälle<br />

und sind in diesem Sinne tatsächlich das<br />

wichtigste Glied im judikatorischen System <strong>Russland</strong>s –<br />

aber eben nur im Prinzip. <strong>In</strong> Wirklichkeit ist ein Stadtbezirks-<br />

oder Stadtgericht außerordentlich manipulierbar<br />

und abhängig. Der Grund dafür liegt vor allem darin,<br />

dass die übergeordneten <strong>In</strong>stanzen – die Gebiets- und<br />

Republiksgerichte – kein <strong>In</strong>teresse an einer Reform des<br />

Rechtsprechungssystems haben, weil ihnen dadurch die<br />

Möglichkeit der Einflussnahme auf die erstinstanzlichen<br />

Gerichte genommen würde. Letztere sind nur konstitutionell<br />

unabhängig. Die Verfassung besitzt in <strong>Russland</strong><br />

zwar die rechtliche Prärogative, doch dies ändert nichts<br />

an der wirklichen Sachlage, dass die Stadtbezirks- und<br />

Stadtgerichte eben keine verfahrensrechtliche Souveränität<br />

genießen.<br />

265


Was hat man sich nun vorzustellen unter einer derartigen<br />

verfahrensrechtlichen Unabhängigkeit, ohne die<br />

ein Gericht nicht eigenverantwortlich arbeiten kann ?<br />

Die gegenwärtig geltende Gesetzgebung verlangt von den<br />

übergeordneten <strong>In</strong>stanzen (Gebietsgerichten), die Prozessaufsicht<br />

über die untergeordneten (Stadtbezirks- und<br />

Stadtgerichte) auszuüben, sie in ihrer Rechtsprechungspraxis<br />

anzuleiten. Was de facto so aussieht, dass die<br />

unteren gerichtlichen Ebenen Urteile fällen und die übergeordneten<br />

<strong>In</strong>stanzen darüber befinden, ob diese Urteile<br />

richtig oder falsch sind. Daraus erwächst eine Praxis der<br />

Rechtsprechung, bei der über die prozessuale Abhängigkeit<br />

hinaus auch eine Subordination im Blick auf organisatorische<br />

Aspekte und Karrierebelange entsteht. Ein<br />

Richter der untergeordneten Ebenen ist absolut schutzlos<br />

gegenüber den übergeordneten <strong>In</strong>stanzen – und damit<br />

vollkommen abhängig. Die »Obrigkeit« kann ihn kritisieren,<br />

schikanieren und vernichten, ohne sich dafür vor<br />

dem Gesetz verantworten zu müssen. Hebt ein Gebietsgericht<br />

das Urteil eines Stadtbezirks- oder Stadtgerichts<br />

auf, argumentiert es nicht, warum dieses Urteil unrichtig<br />

ist und wie es hätte lauten sollen, sondern stellt sein<br />

Prädikat »falsch« einfach unkommentiert in den Raum.<br />

Das Gebietsgericht übernimmt keinerlei Verantwortung<br />

für die Richtersprüche der unteren <strong>In</strong>stanzen, führt<br />

aber eine Statistik, wie viele Urteile welches subordinierten<br />

Gerichts als »falsch« eingestuft wurden. Im Endeffekt<br />

bestimmt diese Statistik darüber, welche Prämien und<br />

Zusatzleistungen die Richter bekommen oder ihnen gege-<br />

266


enenfalls vorenthalten werden, ob ihnen im Sommer<br />

Urlaub gewährt wird oder vielleicht nur im Winter, ob<br />

sie bei der nächsten Evaluierung zur Wiederbestallung<br />

empfohlen werden oder eben nicht, wie schnell sie auf<br />

der Warteliste für eine Wohnung voranrücken (den staatlichen<br />

Wohnungsfonds verwaltet das Gebietsgericht, eine<br />

Eigentumswohnung aber ist für die meisten Richter zu<br />

teuer). Dadurch sind die Richter der unteren Ebenen, der<br />

»wichtigsten Glieder des judikatorischen Systems«, noch<br />

abhängiger von den Vorsitzenden der Gebietsgerichte, als<br />

sie es zu sowjetischen Zeiten waren. Wobei die Existenz<br />

einer derartigen Hierarchie ja eigentlich im Widerspruch<br />

steht zur Verfassung, die alle Richter als gleich und gleichermaßen<br />

unabhängig ansieht, allein schon deshalb,<br />

weil sie ausnahmslos per Erlass des Präsidenten bestallt<br />

werden. Im Leben aber ist damit die Gleichheit auch<br />

bereits wieder zu Ende. Keine Spur mehr davon, wenn<br />

es etwa um Entlassungen geht. Will der Vorsitzende des<br />

Gebietsgerichts einen missliebigen Richter der unteren<br />

Ebene loswerden, hat er alle Trümpfe in der Hand. Gibt<br />

es hingegen bei den Richtern der unteren <strong>In</strong>stanzen Vorbehalte<br />

gegenüber dem Vorsitzenden des Gebietsgerichts,<br />

so ist das ihre persönliche Angelegenheit, sie verfügen<br />

über keinerlei Hebel, um seine Absetzung zu bewirken.<br />

Diesen Prinzipien und Regeln der Rechtsprechungspraxis,<br />

die sich nach dem Zerfall der UdSSR, nach der<br />

Proklamierung der Demokratie herausgebildet haben,<br />

verdankt Oberrichter Iwan Owtscharuk, dass er werden<br />

konnte, was er wurde : der Wachhund des Richterkorps,<br />

267


der alle diejenigen wegbeißt, die zu eigenständigen, für<br />

ihn nicht kalkulierbaren Urteilen fähig wären. Das judikatorische<br />

System ist selbst juristisch schutzlos gegenüber<br />

der Willkür selbstherrlicher Vorgesetzter. Die Verpflichtungen,<br />

die der richterlichen Obrigkeit im Umgang mit<br />

der Basis auferlegt sind, tragen lediglich den Charakter<br />

von moralischen Empfehlungen. Dieses System würde<br />

nur dann der Gesellschaft nicht schaden, wenn an Owtscharuks<br />

Stelle ein Vorgesetzter mit anderen ethischen<br />

Qualitäten stände. Doch darauf sollten wir uns lieber<br />

nicht verlassen.<br />

Kehren wir zurück zu Stadtbezirksrichter Balaschow.<br />

Konnte er im Fall Fedulew anders handeln ? Wie hätte er<br />

handeln sollen im Sinne von Objektivität und Unvoreingenommenheit<br />

? Gab es eine solche Handlungsalternative<br />

überhaupt ? Natürlich. Sie hätte darin bestanden, die<br />

Entscheidung zu vertagen. Das wäre Richter Balaschows<br />

gutes Recht gewesen.<br />

Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass Fedulew<br />

und seine Komplizen im Vorfeld der Besetzung von<br />

Uralchimmasch bei mehreren Stadtbezirksgerichten in<br />

Jekaterinburg anklopften, um zu eruieren, ob sich die<br />

jeweiligen Richter vereinnahmen lassen würden oder<br />

nicht. Und alle, alle waren bereit, so zu handeln wie<br />

Balaschow. Nur ein einziges Gericht – das des Stadtbezirks<br />

Tschkalowski – lehnte es ab, Fedulews Antrag im<br />

Eilverfahren zu prüfen. Was dem Vorsitzenden dieses<br />

Gerichts, Richter Sergej Kijaikin, eine Versetzung nach<br />

Magadan, in den äußersten Nordosten des Landes, ein-<br />

268


trug. Das bedeutet im traditionellen russischem Sprachgebrauch<br />

»verbannt nach Magadan«. Und stellen Sie sich<br />

vor, dieser einzige unbotmäßige Richter, ein waschechter<br />

Jekaterinburger übrigens, der selbst bei Uralchimmasch<br />

gelernt, dann eine Fachschule für Chemiemaschinenbau<br />

absolviert und später wieder im Kombinat gearbeitet<br />

hatte, Richter Sergej Kijaikin also, war auch noch<br />

glücklich darüber, seine Heimatstadt so weit wie möglich<br />

hinter sich lassen zu können. Um aus der Schusslinie zu<br />

sein, damit der Familie nichts passierte.<br />

Fedulews »Auftragsrichter« Balaschow hingegen erwies<br />

sich nicht nur im Fall Uralchimmasch als verlässlicher<br />

juristischer Verbündeter seines Patrons. Gerichtsurteile<br />

im <strong>In</strong>teresse Fedulews verstanden sich bei ihm von selbst.<br />

So entschied er beispielsweise am 28. Februar 2000 einen<br />

Rechtsstreit, in dem es um eine Verkaufsoperation<br />

Fedulews ging : Fedulew hatte seine wichtigste geschlossene<br />

Aktiengesellschaft, Uralelektromasch, veräußert, ein<br />

Unternehmen, bei dem es sich nicht, wie der Name vielleicht<br />

vermuten lässt, um einen Produktionsbetrieb handelte,<br />

sondern einfach um eine Firma zur Abwicklung<br />

von Fedulews Wertpapiergeschäften. Zu ihren Aktiva<br />

hatten auch die Aktien des EAW Katschkanar und des<br />

Kombinats Uralchimmasch gehört. Einige Zeit nach dem<br />

Verkauf mussten die Käufer feststellen, dass sie trotz Entrichtung<br />

des Kaufpreises keinerlei Zugang zu den Unternehmensdokumenten<br />

und -beständen erhielten. Warum ?<br />

Weil Fedulew sie ihnen nicht übergab, die Aktien faktisch<br />

selbst behielt. Die Käufer wollten den Betrug nicht<br />

269


hinnehmen, setzten Fedulew unter Druck. Doch der erklärte<br />

kurzerhand, er habe es sich anders überlegt und<br />

wolle alles wiederhaben. Die Käufer waren fassungslos :<br />

»Wie – wiederhaben ? Der Kaufpreis ist doch bereits bezahlt.<br />

Also zuerst das Geld zurück und dann die Firma !«<br />

Doch Fedulew fertigte sie ab : »Das Geld kriegt ihr nicht.<br />

Und die Dokumente habe ich. Ihr könnt mir gar nichts.<br />

Seht zu, wo ihr bleibt. Auf Wiedersehen.«<br />

Mit dem Aktienpaket des Kombinats Uralchimmasch<br />

verhielt es sich ähnlich. Als Fedulew aus dem Moskauer<br />

Gefängnis freikam, holte er sich auch hier zurück, wofür<br />

er bereits mehrere Millionen Dollar eingestrichen hatte.<br />

<strong>In</strong>dem er schlichtweg behauptete, es läge keine ordnungsgemäße<br />

Registrierung vor und deshalb sei der Wertpapierverkauf<br />

ungültig. Was ihm Richter Balaschow eilfertig<br />

in einer entsprechenden Gerichtsentscheidung bestätigte.<br />

Fedulew erhielt damit Recht, das verkaufte Aktienpaket<br />

wurde ihm zugesprochen, der neue Besitzer musste<br />

es zurückgeben, ohne sein Geld wiederzuerhalten.<br />

Das ist keine Übertreibung, sondern reine Wahrheit.<br />

Um zu begreifen, wie ein derartig abenteuerliches Geschäftsgebaren<br />

möglich sein kann, muss man wissen,<br />

dass <strong>Russland</strong>s Gesetzgebung Schwachstellen aufweist.<br />

Und die machte sich Fedulew geschickt zu Nutze. Jedes<br />

Unternehmen, ganz gleich, ob geschlossene oder offene<br />

Aktiengesellschaft, hat die Pflicht, seine Aktienemissionen<br />

registrieren zu lassen. Anfangs wusste jedoch niemand<br />

in <strong>Russland</strong>, wie das geht, hatte es doch in der<br />

Sowjetunion weder Aktien noch einen Wertpapiermarkt<br />

270


gegeben. Nach dem Zerfall der UdSSR konnten die entsprechenden<br />

staatlichen Behörden in dieser Frage lange<br />

Zeit keine Klarheit schaffen, sich nicht auf eine allgemein<br />

gültige Prozedur verständigen. Mit der Konsequenz, dass<br />

in zahlreichen Aktiengesellschaften die Ausgabe von Aktien<br />

unregistriert blieb, die Wertpapiere aber trotzdem<br />

auf dem Markt gehandelt wurden.<br />

Wie konnte so etwas funktionieren ? Einfach, indem man<br />

das schweigende Einverständnis des Handelspartners voraussetzte<br />

und auf seine Redlichkeit baute. Der Betrüger<br />

und Erpresser Fedulew aber war von ganz anderem<br />

Schrot und Korn. Für den Uralelektromasch-Deal schloss<br />

er zunächst den Kaufvertrag, erst danach beantragte er<br />

die Registrierung der bereits veräußerten Aktien bei der<br />

zuständigen Behörde, der Föderalen Wertpapier-Kommission<br />

FWPK. Dort fehlte eine einheitliche Verfahrensordnung,<br />

was unzählige Nachfragen, Präzisierungen und<br />

Abstimmungen nötig machte, und die wiederum brauchten<br />

ihre Zeit. Als die Aktien endlich registriert waren,<br />

ließ Fedulew die Käufer wissen, die Veräußerung von<br />

Uralelektromasch sei vor der ordnungsgemäßen Registrierung<br />

der Wertpapiere erfolgt, deshalb fordere er sein<br />

Eigentum zurück. Und das Geld ? Das Geld würde er<br />

ebenfalls behalten, schließlich läge der Fehler bei den<br />

Käufern, also müssten sie dafür geradestehen. Das Gericht<br />

schloss sich dieser Argumentation an und lieferte<br />

Fedulew wie gewünscht die juristische Rechtfertigung<br />

für seinen Coup.<br />

271


Das sind nur einige von vielen betrügerischen Aktivitäten<br />

Fedulews, bei denen er Schwachstellen in der Gesetzgebung<br />

der Russischen Föderation zu seinen Gunsten<br />

nutzte. Was bedeutet denn ein einheitliches System der<br />

Jurisdiktion ? Dass es gleiche Gesetze gibt, die mit den<br />

gleichen Begriffen operieren, deren Auslegung ebenfalls<br />

gleich ist. Nicht so in <strong>Russland</strong>. Hier versuchen verschiedene<br />

<strong>In</strong>teressengruppen der Wirtschaft unterschiedliche<br />

gesetzgeberische <strong>In</strong>itiativen durchzusetzen. Jede Gruppe<br />

verfolgt dabei eigene Ziele, fokussiert ihre Lobbyarbeit<br />

auf das Gesetz, von dem sie sich für den gegenwärtigen<br />

Zeitpunkt die größten Vorteile verspricht.<br />

War nun Fedulew so viel klüger als andere, dass er<br />

diese Mechanismen durchschaute und zu nutzen wusste ?<br />

Keineswegs. Er war einfach reich genug, um sich die<br />

gewieftesten Juristen leisten zu können, Anwälte und<br />

Richter, die jedes gesetzgeberische Schlupfloch kannten<br />

und ihm rieten, wie es sich umgehen ließ. Außerdem<br />

hatte er, wie wir uns erinnern, ein Syndikat aufgebaut,<br />

eine oligarchische Pyramide, die alle Beteiligten zu<br />

einem reibungslos funktionierenden <strong>In</strong>teressenverband<br />

zusammenschweißte.<br />

Doch wie kann ein Richter, dem Unabhängigkeit und<br />

Objektivität abverlangt werden, die Schwachstellen des<br />

Gesetzes zu Gunsten eines Betrügers auslegen, damit<br />

dieser redliche Käufer um das prellen kann, was sie in<br />

bestem Glauben erworben haben ? Das juristische Prozedere<br />

lief im Fall von Uralelektromasch und Uralchimmasch<br />

nach dem gleichen Muster ab : Fedulews Anträge<br />

272


wurden im Eilverfahren – über Nacht – geprüft. Komplizierteste<br />

Sachverhalte des russischen Wertpapierhandelsrechts,<br />

die nur hoch spezialisierte Experten durchschauten,<br />

entschied Stadtbezirksrichter Balaschow quasi<br />

im Handumdrehen. Ohne dass sein leichthin gefälltes<br />

Urteil für ihn auch nur je die geringsten dienstlichen<br />

Konsequenzen nach sich gezogen hätte. So geriet Balaschows<br />

Entscheidung im Hinblick auf die Uralelektromasch-Aktien<br />

zum Prolog für die blutigen Ereignisse im<br />

Kombinat Uralchimmasch.<br />

Und ein »zweiter Balaschow« namens Rjasanzew sorgte<br />

beim Stadtgericht von Katschkanar dafür, dass sich Fedulew<br />

die dortigen Eisenerzaufbereitungswerke einverleiben<br />

konnte. Nachdem Fedulews bewaffnete Brigaden<br />

das Kombinat am 28. Januar 2000 besetzt hatten, landete<br />

der Fall vor dem Stadtgericht Katschkanar, wo Richter<br />

Rjasanzew am 1. Februar 2000 keinerlei Rechtsverletzung<br />

darin zu erkennen vermochte, dass ein Direktorium vor<br />

Maschinengewehrläufen hatte tagen müssen. Natürlich<br />

wurde die Gegenseite, das im Handstreich entmachtete<br />

Management des Kombinats, nicht gehört, die Entscheidung<br />

bereits am nächsten Tag verkündet. Am 15. Februar<br />

bestätigte die Zivilrechtskammer des Swerdlowsker Gebietsgerichts<br />

– also Iwan Owtscharuks Erbhof- das Urteil<br />

des Stadtgerichts Katschkanar. Ebenfalls ohne ordentliche<br />

Verhandlung und nur vierzehn Tage nach der erstinstanzlichen<br />

Entscheidung. Schier unglaublich, wenn man<br />

bedenkt, dass die Bearbeitungsfrist für Kassationsverfahren<br />

in <strong>Russland</strong> üblicherweise ein halbes Jahr beträgt.<br />

273


Doch damit hatte die Verhöhnung Justitias noch kein<br />

Ende. Kaum war das Urteil des Gebietsgerichts bekannt,<br />

da untermauerte das Stadtgericht, wiederum in Person<br />

von Richter Rjasanzew, noch am gleichen Tag die eigene<br />

Entscheidung, indem es nunmehr verfügte, dass auch<br />

keine Versammlung der Aktionäre des EAW Katschkanar<br />

mehr einberufen werden durfte, ganz gleich, von<br />

wem eine solche <strong>In</strong>itiative ausgehen sollte. Dieses Urteil,<br />

das die Position der Besetzer stärkte, hätte einem Stadtbezirksgericht<br />

allgemeiner Jurisdiktion rechtlich überhaupt<br />

nicht zugestanden. Mehr noch, das Stadtbezirksgericht<br />

fällte eine Entscheidung, die es überhaupt nicht<br />

geben durfte, denn ein Handlungsverbot für dritte Personen,<br />

die nicht beteiligte Seiten des Rechtsstreits sind,<br />

ist in der Zivilprozessordnung der Russischen Föderation<br />

überhaupt nicht vorgesehen. Aber kümmert das die<br />

Hüter von Recht und Gesetz im Gebiet Jekaterinburg ?<br />

Keineswegs. Wurde Richter Rjasanzew für seine gesetzwidrigen<br />

Handlungen zur Verantwortung gezogen ? Aus<br />

dem Amt entlassen ? Mitnichten. Wer die Macht hat, hat<br />

das Recht, das ist der entscheidende Punkt. Der mächtige<br />

Fedulew bekam maßgeschneiderte Urteile, ohne dass<br />

sich die Richter der Mühe unterzogen, die Berechtigung<br />

seiner Besitzansprüche überhaupt zu prüfen. Beispielsweise<br />

gehörten ihm die neunzehn Prozent der Aktien<br />

der Eisenerzaufbereitungswerke Katschkanar, die Fedulew<br />

so gern als seine eigenen ausgab, in Wirklichkeit<br />

gar nicht mehr. Sie waren seit langem beschlagnahmt<br />

im Zusammenhang mit Ermittlungen, die der Untersu-<br />

274


chungsausschuss des <strong>In</strong>nenministeriums der Russischen<br />

Föderation gegen Fedulew führte. Wie Sie sich erinnern,<br />

hatte ihn eine Moskauer Firma wegen Betrugs angezeigt<br />

und – wenn auch nur für kurze Zeit – hinter Gitter gebracht.<br />

Und seine betrügerischen Aktivitäten hatten eben<br />

gerade darin bestanden, dass er seinen Anteil in Höhe<br />

von neunzehn Prozent der EAW-Katschkanar-Aktien an<br />

unterschiedliche Firmen und Personen verkaufte.<br />

Nach dem Februar 2000 sollte noch so manches geschehen.<br />

Das Oberste Gericht der Russischen Föderation<br />

legte gegen die Willkür des Gebietsgerichts Kassationsprotest<br />

ein, und das mehrfach. Doch in der Realität änderte<br />

sich dadurch nichts. Fedulew saß weiter im EAW<br />

Katschkanar. Diejenigen, die er aus der Unternehmensleitung<br />

verdrängt hatte, verließen die Stadt und versteckten<br />

sich im Ausland. Die Rechtsprechungspraxis des Stadtgerichts<br />

Katschkanar wie des Swerdlowsker Gebietsgerichts<br />

hingegen wurde bereichert durch zahlreiche weitere Prozesse<br />

im Zusammenhang mit dem faktischen Bankrott<br />

des Unternehmens, den Fedulew nach bewährtem Schema<br />

betrieben hatte. Und die willfährigen Richter fällten<br />

auch hier die gewünschten Entscheidungen.<br />

Im Dienste der Fedulew-Mafia beförderten die Gerichte<br />

des Gebiets Swerdlowsk eine Reihe krimineller Machenschaften,<br />

die in ihrer Gesamtheit die <strong>In</strong>solvenz der<br />

Eisenerzanreicherungswerke herbeiführten. Ein Straftatbestand.<br />

Doch wen kümmerte das schon ? Im Gegenteil,<br />

als Putin an die Macht kam, schlug er sich auch noch auf<br />

die Seite von »Entscheidungsträgern« vom Schlage eines<br />

275


Pawel Fedulew oder Eduard Rossel, indem er erklärte, er<br />

werde keine Umverteilung des Eigentums zulassen. Was<br />

nur bedeuten konnte : Wer sich etwas unter den Nagel<br />

gerissen hat, steht unter dem Schutz des Gesetzes, muss<br />

nichts wieder herausrücken. Am 14. Juli 2000, kurz nach<br />

seinem ersten Wahlsieg, flog Putin nach Jekaterinburg,<br />

um an der feierlichen Grundsteinlegung für das »Walzwerk<br />

5000« im Hüttenkombinat Nishni Tagil, dem weltweit<br />

größten seiner Art, teilzunehmen. <strong>In</strong> diesem Kombinat<br />

agierten dieselben Personen, dieselben Darsteller<br />

wie in Katschkanar. Auch Fedulew mischte wieder kräftig<br />

mit. Und der Bau des »Walzwerks 5000« bildete das<br />

größte <strong>In</strong>vestitionsprojekt Eduard Rosseis. Das Spektakel<br />

namens »Grundsteinlegung durch Präsident Putin« war<br />

die beste PR-Aktion, die Fedulew sich für seine weitere<br />

kriminelle Expansion nur denken konnte. <strong>In</strong> der Folge<br />

floss neues Geld heran, weshalb Fedulew und Rossel aus<br />

Dankbarkeit für all diese Wohltaten jetzt aktive Anhänger<br />

des Präsidenten sind. Sie sponsern die Putin-Partei<br />

»Einiges <strong>Russland</strong>« in der Ural-Region und machten nie<br />

einen Hehl daraus, dass sie Putin bei den Präsidentschaftswahlen<br />

im Frühjahr 2004 unterstützten.<br />

Was bleibt noch zu sagen ? Oberflächlich betrachtet<br />

ist in <strong>Russland</strong> alles wunderbar und maximal demokratisch.<br />

Vollmundig wurde das Prinzip der absoluten<br />

Unabhängigkeit der Judikative proklamiert und jegliche<br />

Einmischung in die Rechtsprechung unter Strafe gestellt.<br />

Es gibt ein fortschrittliches föderales Gesetz »Über den<br />

Status der Richter«, das deren Souveränität quasi recht-<br />

276


lich festschreibt. Doch im wirklichen Leben werden die<br />

verfassungsmäßig garantierten demokratischen Prinzipien<br />

zynisch mit Füßen getreten. Ohne die geringsten<br />

Folgen. Wer sich über diese Gesetze stellen kann,<br />

der ist stärker als Recht und Gesetz. Wie die Mühlen<br />

der Justiz mahlen, hängt davon ab, welcher Klasse man<br />

angehört. Die oberste Schicht, die VIP-Klasse, besteht<br />

aus Mafia und Oligarchie. Und diejenigen, die keine<br />

Mafiosi, keine Oligarchen sind ? Wo kein Geld ist, ist<br />

auch kein Richter.<br />

Wo wir nun einmal den Kapitalismus aufbauen, muss<br />

es Eigentum geben. Wenn es Eigentum gibt, findet sich<br />

stets einer, der es besitzen möchte. Und ein anderer,<br />

der es ihm nicht abtreten will. Alles nur eine Frage der<br />

Methoden, der Spielregeln, an die man sich in einem<br />

Staat zu halten hat. <strong>In</strong> unserem durch und durch korrupten<br />

<strong>Russland</strong> leben wir nach den Gesetzen eines Paschka<br />

Fedulew. Einst kleiner Gauner und Erpresser in Jekaterinburg,<br />

heute Oligarch des Ural.<br />

Noch eine Episode zum Abschluss. März 2003. Jekaterinburg.<br />

Das Leben in der Provinz geht langsam, als sei es<br />

noch nicht aus der Winterstarre erwacht. Doch bereits<br />

mehrere Tage hintereinander, vom 25. bis zum 28. März,<br />

wird auf dem zentralen Platz der Stadt ununterbrochen<br />

demonstriert. Die Aktivisten der Rechtsschutzorganisationen<br />

des Gebiets Swerdlowsk machen mobil : das <strong>In</strong>ternationale<br />

Zentrum für Menschenrechte, das Bürgerkomitee<br />

zum Schutz der Rechte <strong>In</strong>haftierter, die Vereinigung<br />

277


gesellschaftlicher Organisationen »Die Union – ein Territorium<br />

der Volksmacht«. Sie sammeln Unterschriften<br />

für einen sofortigen Rücktritt Iwan Owtscharuks, stellen<br />

ihn als Helfershelfer der kriminellen Autoritäten, als<br />

Hauptverursacher der Willkürjustiz im Ural, als Bremsklotz<br />

für eine Reform des Rechtsprechungssystems an<br />

den Pranger. Owtscharuk, klären sie die Öffentlichkeit<br />

auf, unterdrückt noch immer jede Form von Demokratie<br />

und leistet erbitterten Widerstand gegen die Einführung<br />

von Geschworenengerichten, die er als »nicht den<br />

<strong>In</strong>teressen der Menschen im Gebiet Swerdlowsk entsprechend«<br />

abqualifiziert. Und das alles nur, um das von ihm<br />

geschaffene korrumpierte Justizsystem uneingeschränkt<br />

funktionstüchtig zu erhalten – im <strong>In</strong>teresse der Unterwelt<br />

des Ural.<br />

Immer noch derselbe März 2003. Nun allerdings nicht<br />

mehr in Jekaterinburg, sondern in Moskau. Iwan Owtscharuk<br />

wird vom Präsidenten der Russischen Föderation<br />

erneut in seinem Amt als Vorsitzender des Gebietsgerichts<br />

Swerdlowsk bestätigt. Wer wollte da noch bestreiten,<br />

dass die Mafia unsterblich ist ?


TANJA, MISCHA, LENA, RINAT …<br />

WAS IST AUS UNS GEWORDEN ?<br />

Tatsächlich, wo sind wir hingeraten ? Wir, die wir in der<br />

Sowjetunion lebten. Zumeist eine feste Arbeitsstelle besaßen<br />

und an stets dem gleichen Tag unser Gehalt bekamen.<br />

Wir mit unserem grenzenlosen, unerschütterlichen<br />

Vertrauen in das Morgen, das für uns so gewiss war wie<br />

das Heute. Unserem Glauben, dass uns die Ärzte ganz<br />

sicher heilen, die Lehrer klüger machen würden. Und wir<br />

dafür nicht eine Kopeke ausgeben müssten. Wie leben<br />

wir jetzt, wo es das alles nicht mehr gibt ? Oder anders<br />

gefragt : Welches Los ist uns beschieden ? Wohin hat es<br />

uns verschlagen im postsowjetischen Raum, als die neue<br />

Zeit begann, die dreifach neue ?<br />

Dreifach neu, weil wir zuerst neben der gesellschaftlichen<br />

unsere persönliche Revolution erlebten mit dem Fall<br />

der Sowjetunion, in den Jahren der Jelzin-Herrschaft, als<br />

binnen kurzem alles verschwand : die Ideologie, die billige<br />

Wurst in den Läden, das Geld, der Glaube, irgendwo<br />

dort im Kreml säße ein Übervater, der – mochte er noch<br />

so schlecht und despotisch sein – für uns die Verantwortung<br />

trug.<br />

Zum zweiten Mal brach eine neue Zeit an, als infolge<br />

der Wirtschaftskrise des Jahres 1998 viele von uns das<br />

verloren, was sie sich erarbeitet hatten seit 1991, als die<br />

279


Marktwirtschaft Einzug hielt und ein russischer Mittelstand<br />

zu entstehen begann (der zwar kaum vergleichbar<br />

war mit einem westlichen, aber doch die Basis für die<br />

Demokratie und den Markt darstellte). Alles löste sich<br />

in Rauch auf, man musste noch einmal ganz von vorn<br />

anfangen. Viele aber hatte der Lebenskampf schon so<br />

zermürbt, dass sie es nicht mehr schafften, auf die Beine<br />

zu kommen, und ins soziale Abseits fielen.<br />

Und schließlich die dritte Umbruch-Zeit unter Putin.<br />

Vor dem Hintergrund einer neuen Phase des russischen<br />

Kapitalismus mit unübersehbar postsowjetischem Anstrich.<br />

Eines ökonomischen Modells, das der Herrschaftszeit<br />

des zweiten Präsidenten <strong>Russland</strong>s ganz und gar entspricht<br />

und gekennzeichnet ist durch einen eklektischen<br />

Mix aus Markt und Dogma, eine Vermischung von allem<br />

mit allem. Wo es beträchtliche Mengen an disponiblem<br />

Kapital gibt und ebenso viel typisch sowjetische Ideologie,<br />

die diesem Kapital Vorschub leistet, sowie noch mehr<br />

Verarmte und Mittellose. Außerdem erlebte die alte Führungskaste<br />

der Nomenklatura einen neuen Aufschwung.<br />

Diese breite Schicht sowjetischer Staatsfunktionäre, die<br />

wieder in ihre Funktion eingesetzt wurde und sich an<br />

die neuen ökonomischen Bedingungen sehr schnell und<br />

nur allzu gern anpasste. Die Nomenklatura will jetzt<br />

genauso üppig leben wie die »neuen Russen«, und das<br />

bei verschwindend geringen offiziellen Gehältern ; sie<br />

will um keinen Preis der Welt die neue Ordnung gegen<br />

die alte sowjetische eintauschen, doch so ganz geheuer<br />

ist ihr diese neue Ordnung mit ihrem – von der Gesell-<br />

280


schaft immer nachdrücklicher eingeklagten – Streben<br />

nach Recht und Ordnung nun auch wieder nicht, also<br />

verwendet sie einen Großteil ihrer Zeit darauf, sich unter<br />

Umgehung von Recht und Ordnung persönlich zu bereichern.<br />

Mit dem Ergebnis, dass die Korruption unter<br />

Putin ein beispielloses Ausmaß erreichte, von der neuen,<br />

alten Putin’schen Nomenklatura zu einer Blüte geführt,<br />

wie sie weder zur Zeit der Kommunisten noch unter Jelzin<br />

denkbar war. Diese Korruption verschlingt das kleine<br />

und mittlere Unternehmertum, also den Mittelstand,<br />

lässt nur das große und supergroße Kapital überleben,<br />

Monopole und staatsnahe Unternehmen, denn in <strong>Russland</strong><br />

sind gerade sie es, die nicht nur für ihre Eigentümer<br />

und Manager hohe, stabile Gewinne abwerfen, sondern<br />

auch für die jeweiligen Protektoren in den staatlichen<br />

Verwaltungsstrukturen, ohne die bei uns kein einziges<br />

Großunternehmen existieren kann. <strong>In</strong> diesem Sumpf, der<br />

nichts mit Marktwirtschaft zu tun hat, kann die neue<br />

russische Parteinomenklatura (wie sie wieder wie in alten<br />

Sowjetzeiten genannt wird) ihre Sehnsucht nach der<br />

UdSSR, nach ihren Mythen und Phantomen ausleben.<br />

Putin versammelt recht gern »Ehemalige«-Leute aus den<br />

sowjetischen Führungsstäben – unter seinen Fahnen, da<br />

nimmt es nicht Wunder, dass der ideologische Überbau<br />

des Putin’schen Kapitalismus immer stärker Züge der<br />

späten Breshnew-Zeit annimmt, die Ende der siebziger,<br />

Anfang der achtziger Jahre von extremster wirtschaftlicher<br />

Stagnation gekennzeichnet war.<br />

281


Tanja, Mischa, Lena und Rinat sind reale Personen, keine<br />

erfundenen Helden. Gesichter in der Menge, normale<br />

Menschen, die wie wir alle in der neuen Zeit zu überleben<br />

versuchten, es aber nicht unbedingt schafften. Ich<br />

nenne keine Familiennamen, weil sie meine Freunde<br />

waren oder sind, weil ich sie sehr gut kenne. Würde<br />

ich ihre Nachnamen erwähnen, könnte ich nicht ehrlich<br />

und rückhaltlos über sie schreiben, mich nicht offen und<br />

unumwunden ausdrücken. Doch um zu begreifen, wie<br />

sich unser Überleben gestaltete, bedarf es gerade dieser<br />

schonungslosen Offenheit.<br />

TANJA<br />

Wir schreiben das Jahr 2002. Es ist Winteranfang. Die<br />

Geiselnahme im Musicaltheater »Nord-Ost« liegt gerade<br />

hinter uns, die Öffentlichkeit steht noch immer unter<br />

Schock, besonders hier in Moskau. Während der dramatischen<br />

Ereignisse wurde ich im Fernsehen gezeigt,<br />

weil ich ein wenig beteiligt war, und das brachte alte<br />

Bekannte dazu, sich wieder bei mir zu melden. So auch<br />

Tanja.<br />

»Na, kennst du mich noch ?«<br />

»Wie hast du mich gefunden ?«<br />

»Wollen wir uns treffen ?«<br />

»Natürlich.«<br />

Ich hatte Tanja, meine alte Freundin und ehemalige<br />

Nachbarin, vielleicht zehn Jahre nicht mehr gesehen.<br />

282


Damals war sie eine abgekämpfte junge Frau, heute stand<br />

eine Königin vor mir. Sie sah großartig aus. Nicht einmal<br />

so sehr wegen ihrer Aufmachung, obwohl auch die<br />

natürlich stimmte, vor allem aber wirkte sie selbstsicher<br />

und ruhig, was man weder vor zehn noch vor fünfzehn<br />

oder zwanzig Jahren von ihr hätte behaupten können.<br />

Zu sowjetischen Zeiten war Tanjas Leben einfach bedrückend,<br />

und sie kam fast jeden Abend zu mir (ich<br />

wohnte im Erdgeschoss, sie im obersten Stock eines alten<br />

Hauses), um sich auszuweinen über ihr verpfuschtes<br />

Dasein, das uns beiden damals unabänderlich schien.<br />

Tanja arbeitete als <strong>In</strong>genieurin in einem Forschungsinstitut,<br />

gehörte also zur technischen <strong>In</strong>telligenz : in der<br />

Sowjetunion eine breite soziale Schicht, die es heute so<br />

nicht mehr gibt, weil sie zusammen mit der UdSSR verschwand.<br />

Seinerzeit verstand es sich von selbst, dass ein Mädchen<br />

aus »guter Familie« (aus einer solchen kam Tanja,<br />

sie war die einzige Tochter achtbarer Eltern) an einer<br />

Hochschule studierte, und wenn bei Abschluss der Mittelschule<br />

keine bestimmten Neigungen oder Talente zu<br />

erkennen waren, bot sich eben eine der unzähligen technischen<br />

Hochschulen an. Ein Abschluss als <strong>In</strong>genieur.<br />

Weil jeder Absolvent nach dem Studium zunächst drei<br />

Jahre lang dort arbeiten musste, wohin ihn die Lenkungskommission<br />

der Hochschule schickte, gab es im<br />

ganzen Land Heerscharen unzufriedener junger <strong>In</strong>genieure,<br />

die ohnehin nicht von diesem Beruf geträumt<br />

hatten, nun ihre Arbeitszeit in irgendeinem Forschungs-<br />

283


institut absaßen und im Grunde nicht das Geringste<br />

produzierten. Wie Tanja.<br />

Als <strong>In</strong>genieurin für kommunale Dienste in Atomkraftwerken<br />

war sie eine typische Soldatin dieser Armee.<br />

Tagelang zeichnete Tanja in ihrem Forschungsinstitut<br />

für ein lächerliches Gehalt Wasserleitungs- und Kanalisationsnetze,<br />

die niemals gebaut wurden. Sie ärgerte<br />

sich grün und blau, weil das Geld nie reichte, versuchte<br />

die Familie anständig zu verköstigen und zu kleiden,<br />

zerriss sich zwischen zwei ewig kränkelnden kleinen<br />

Kindern und ihrem Ehemann, einem etwas seltsamen<br />

Typen namens Andrej, der es zwar bereits in jungen<br />

Jahren zum Dozenten an einer renommierten Technischen<br />

Universität der Hauptstadt gebracht hatte, aber<br />

auch nicht viel zum Familienbudget beitrug.<br />

Dieses Leben ließ Tanja zur typischen Neurasthenikerin<br />

werden. Ständig malträtierte sie sich, Andrej und<br />

die Kinder mit schlechter Laune, hysterischen Anfällen,<br />

Depressionen und permanenter Frustration.<br />

Obendrein stammte Tanja aus dem südrussischen<br />

Rostow am Don, nach Moskau (das Auswärtige nicht<br />

gerade freundlich empfing und sie nur als »begrenzt zuzugsberechtigte«<br />

Arbeitskräfte für bestimmte wenig attraktive<br />

Bereiche aufnahm) kam sie erst Mitte der siebziger<br />

Jahre, als sie Andrej heiratete. Sie hatte ihn an<br />

einem Schwarzmeerstrand kennen gelernt. Solche mit<br />

Moskauern verheirateten <strong>In</strong>genieurinnen aus der Provinz<br />

gab es damals sehr viele. Die armen, heruntergekommenen<br />

Regionen besaßen keinerlei Wert, und Mädchen aus<br />

284


»guten Familien« versuchten, den Sprung in die Hauptstadt<br />

zu schaffen.<br />

Wo Tanja dann kreuzunglücklich wurde, weil sie nicht<br />

wusste, was sie wollte. Nur was sie nicht wollte, das<br />

wusste sie genau : nicht als <strong>In</strong>genieurin arbeiten, nicht<br />

arm sein an der Seite eines ebenso armen Andrej. Wir<br />

sprachen oft darüber : Es machte Tanja rasend, dass es<br />

keinen Ausweg gab. Sie musste bei Andrej bleiben und<br />

weiter als miserabel bezahlte <strong>In</strong>genieurin die Arbeitszeit<br />

im Forschungsinstitut absitzen.<br />

Als die neue Ära anbrach, waren es gerade die Frauen,<br />

die zu ihrer Triebkraft wurden, die sich selbständig machten,<br />

sich von ihren Partnern trennten. Viele Männer drifteten<br />

ab in die Unterwelt, etliche kamen um in den Bandenkämpfen<br />

der frühen Jelzin-Jahre. Vor der Perestroika<br />

hatten viele Frauen gedacht wie Tanja, nicht mehr darauf<br />

gehofft, ihrem Leben jemals eine andere Richtung geben<br />

zu können, und plötzlich diese Riesenchance …<br />

Doch kehren wir zurück in die Mitte der achtziger<br />

Jahre. Bei Tanja zu Hause gab es oft Krach. Wie in sowjetischen<br />

Zeiten üblich, hatte Andrej keine eigene Bleibe,<br />

und als er und Tanja heirateten, zog sie mit in die große<br />

Altbauwohnung seiner Eltern, wo außerdem auch noch<br />

seine beiden älteren Brüder mit ihren Frauen und je<br />

zwei Kindern lebten. Ein richtiger Bienenstock, eine typisch<br />

sowjetische Gemeinschaftsbehausung eben. Und<br />

keinerlei Aussicht, jemals allein wohnen und unabhängig<br />

sein zu können. Zudem handelte es sich bei Andrej<br />

nicht um einen Herrn Jedermann, er stammte aus einer<br />

285


alten Moskauer Adelsfamilie, in der es alle zu etwas gebracht<br />

hatten. Andrejs Eltern waren Professoren für Physik<br />

und Mathematik. Die Großmutter – Professorin für<br />

Violine am Staatlichen Konservatorium der Hauptstadt,<br />

ihr zweiter Mann ebenfalls ein berühmter Violin-Pädagoge.<br />

Andrejs älterer Bruder machte als Professor für<br />

Chemie an der Moskauer Universität eine Entdeckung<br />

nach der anderen, was sich in materieller Hinsicht allerdings<br />

kaum auszahlte.<br />

Tanja nervte dieser familiäre Hintergrund immer<br />

mehr. Sie hielt Andrejs Sippe für lebensuntüchtig, für<br />

Versager, trotz aller wissenschaftlichen Meriten, und die<br />

Familie zahlte es ihr mit gleicher Münze heim, mochte<br />

sie nicht und fand ewig etwas an ihr auszusetzen.<br />

Wie gesagt, Tanja war ein Mädchen aus dem russischen<br />

Süden, wo selbst zu Sowjetzeiten jeder, der nur<br />

irgendwie konnte, mit irgendetwas handelte. Dort gab es<br />

nicht genehmigte Kleinbetriebe, die illegal Waren herstellten,<br />

viele reiche Männer vertrieben sich mit derartigen<br />

Geschäften die Zeit zwischen Freiheit und Gefängnis,<br />

und das war nicht ehrenrührig ; auch wenn sie in den<br />

Zeitungen nur als »Spekulanten« und »illegale Geschäftemacher«<br />

bezeichnet wurden, galten diese Männer unter<br />

den Schönen von Rostow doch als lukrative Partie.<br />

Mitte der achtziger Jahre, als wir uns kennen lernten,<br />

glaubte Tanja bereits fest, dass ihre Ehe mit Andrej ein<br />

Reinfall war, obwohl sie ihn aus Liebe geheiratet hatte.<br />

Oder einfach, weil Moskau lockte, weil es als Glückstreffer<br />

galt, einen Hauptstädter abzubekommen, und sie<br />

286


anders nicht aus ihrer Provinz fortkam. Und nun saß<br />

sie in diesem lockenden Moskau, war bettelarm und litt<br />

fürchterlich. Tanja blühte nur auf, wenn sie irgendwo<br />

hübsche Sachen aufgetrieben hatte, die sie mir vorführen<br />

und zum Kauf anbieten konnte. Sie besaß zweifelsohne<br />

ein ganz besonderes Verkaufstalent, man nahm Tanja<br />

einen unsäglichen Pullover zu einem Wucherpreis ab,<br />

nur weil sie so glaubhaft versicherte : »Das trägt man jetzt<br />

in Europa«, und wenn der Schwindel aufflog, schämte<br />

sie sich kein bisschen, wurde nicht einmal rot. Andrejs<br />

traditionsbewusste <strong>In</strong>telligenzlerfamilie betrachtete Tanjas<br />

Hang zum Kaufen und Verkaufen als etwas, das den<br />

eigenen Lebensvorstellungen völlig fremd war, und verachtete<br />

sie dafür.<br />

Nun also, im Frühwinter des Jahres 2002, lud mich<br />

Tanja zu sich nach Hause ein, in ebenjene große Altbauwohnung<br />

im Zentrum von Moskau, in der Nähe<br />

des Kreml.<br />

Die Wohnung war ungewöhnlich leer, überhaupt ganz<br />

anders als früher. Komplett renoviert und umgebaut,<br />

überall modernste Haustechnik, an den Wänden gekonnte<br />

Reproduktionen berühmter Gemälde, die Möbel<br />

– geschmackvoll auf antik getrimmt. Tanja ist jetzt<br />

fast fünfzig, ihre Haut wirkt jugendlich frisch, sie trägt<br />

leuchtende Farben, spricht laut, selbstbewusst und frei<br />

heraus. Wenn sie lacht, was sie oft tut, sieht man keine<br />

Fältchen, sie hat sich also liften lassen, schlussfolgere<br />

ich. Also geht es ihr gut, schließe ich weiter, sie muss<br />

reich sein, denn arme Leute haben bei uns kein Geld für<br />

287


sündhaft teure Schönheitsoperationen, deshalb sieht man<br />

einer armen Frau auch gleich ihr Alter an.<br />

»Ob es Andrej zu Wohlstand gebracht hat ?«, überlege<br />

ich. Tanja bewegt sich ungezwungen in der Wohnung,<br />

früher, vor zehn Jahren, flüsterte sie meist und hockte<br />

am liebsten in einem Zimmer, bloß um der angeheirateten<br />

Verwandtschaft nicht zu begegnen.<br />

»Wo sind denn deine Leute ?«<br />

»Erzähl ich dir gleich, aber fall nicht um – das hier<br />

gehört jetzt alles mir.«<br />

»Dir ? Gratuliere ? Und wo sind sie hin ?«<br />

»Wirst du gleich erfahren. Immer der Reihe nach.«<br />

Das Zimmer betritt leise ein schöner junger Mann.<br />

So alt müssten Tanjas Söhne jetzt sein, überschlage ich.<br />

Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, waren sie kleine<br />

Jungs. Deshalb kann ich nicht an mich halten :<br />

»Mich trifft der Schlag … bist das wirklich du, Igor ?«<br />

Igor ist der ältere der beiden Söhne von Tanja und<br />

Andrej, er müsste jetzt vierundzwanzig oder fünfundzwanzig<br />

sein.<br />

Tanja lacht schallend, wie über einen guten Witz. Melodiös,<br />

kokett, klangvoll. Ein junges Lachen. Gar nicht<br />

so wie früher.<br />

»Ich heiße David«, haucht der dunkel gelockte, sanftäugige<br />

Schöne und küsst Tanjas gepflegte Hand. Die<br />

habe ich anders in Erinnerung, rot und aufgequollen vom<br />

stundenlangen Wäscherubbeln für die ganze Familie,<br />

an eine Waschmaschine war nicht zu denken. Ich weiß<br />

noch, wie sich Tanja mit diesen Händen die Tränen aus<br />

288


dem Gesicht wischte in meiner Küche. »Also, ihr Hübschen,<br />

ich will euch nicht stören«, David entschwindet<br />

gemächlich in den Weiten der Wohnung.<br />

Wie »Hübsche« sehen wir ja nun wirklich nicht aus.<br />

»Nun erzähl doch endlich ! Lass deine alte Freundin<br />

wissen, wie du das alles hingekriegt hast, diese Jugend,<br />

diesen Reichtum. Und wo deine Leute sind.«<br />

»Das sind nicht mehr meine Leute.«<br />

»Und Andrej ?«<br />

»Wir haben uns getrennt, die Qual ist vorbei.«<br />

»Hast du wieder geheiratet ? Diesen David etwa ?«<br />

»David ist mein Liebhaber, nicht auf Dauer, bloß so,<br />

fürs Wohlbefinden. Ich halte ihn aus. Solange es mir<br />

gefällt.«<br />

»Großer Gott … Für wen arbeitest du denn jetzt ?«<br />

»Für niemanden. Ich arbeite allein für mich«, versetzt<br />

Tanja hart, und der metallische Ton in ihrer Stimme<br />

passt so gar nicht zu dem gepflegten Luxusgeschöpf mit<br />

dem jungen Liebhaber, das mir gegenübersitzt. Tanja ist<br />

ein glückliches Produkt der neuen Zeit. Im Sommer 1992,<br />

als die »marktwirtschaftlichen Reformen« oder besser<br />

gesagt : die Schocktherapie des damaligen Premierministers<br />

Jegor Gaidar dazu führte, dass die meisten Moskauer<br />

Haushalte nichts mehr zu essen hatten, hielt sich<br />

Tanja mit den Kindern und der übrigen Verwandtschaft<br />

außerhalb der Stadt auf, im alten »Erbsommerhaus« der<br />

Professorensippe.<br />

Jeder Moskauer, der auch nur so etwas wie eine Datscha<br />

sein Eigen nannte, hockte in diesem Hungersom-<br />

289


mer auf dem Lande und baute Gemüse an, um über<br />

den Winter zu kommen. Das Forschungsinstitut, in dem<br />

Tanja arbeitete, war für den ganzen Sommer geschlossen<br />

worden, die Mitarbeiter hatten ohnehin schon seit<br />

Monaten keinen Lohn mehr bekommen, und Arbeit<br />

gab es auch nicht, also fuhren sie, die Städter, zu ihren<br />

Kleingärten und verkauften die Erträge auf den Märkten,<br />

die im hungernden Moskau wie Pilze aus dem Boden<br />

schossen. Tanja baute Gemüse an und kümmerte sich<br />

um die Kinder. Andrej blieb oft in der Stadt, weil seine<br />

Technische Hochschule im Gegensatz zu den meisten<br />

Forschungsinstituten nicht geschlossen worden war, der<br />

Lehrbetrieb lief, es mussten Prüfungen abgenommen<br />

werden ; also gingen die Mitarbeiter weiter zur Arbeit,<br />

aus purem Enthusiasmus und aus Pflichtgefühl, denn<br />

Gehalt bekamen auch sie schon lange nicht mehr.<br />

Eines Morgens, als Tanja etwas zu besorgen hatte und<br />

unangekündigt zurück nach Moskau fuhr, ertappte sie<br />

Andrej mit einer Studentin – in ihrem Ehebett. Wo er<br />

doch eigentlich in der Universität sein sollte. Tanja hatte<br />

ein lautes, südliches Temperament, und an dem Tag<br />

schrie sie, dass es das ganze Haus hörte. So sähen also<br />

seine »Seminare« aus, und noch manches andere mehr.<br />

Andrej stritt erst gar nichts ab, sagte, er liebe diese<br />

Studentin. Die verlor kein Wort, zog sich an, ging in<br />

die Küche, wo sie Tee kochte, sehr routiniert, offenbar<br />

nicht das erste Mal.<br />

Dieses Schweigen und die gute Ortskenntnis der Konkurrentin<br />

gaben Tanja den Rest. Sie begriff, dass sie nicht<br />

290


ihr ganzes Eheleben lang die Professorensippe ertragen<br />

hatte, um sich jetzt von einer anderen aus der Wohnung<br />

vergraulen zu lassen. Da sollte sich Andrej erst gar keine<br />

Hoffnungen machen. Das sagte ihm Tanja klipp und klar.<br />

Andrej packte ein paar Sachen und verschwand, mitsamt<br />

seiner Studentin. Der Tee blieb unausgetrunken stehen.<br />

Im Grunde begann an diesem Tag Tanjas neues Leben :<br />

das absolut selbständig und in nichts mit dem früheren<br />

vergleichbar war. Andrej zeigte sich von der übelsten<br />

Seite, zahlte weder für die Kinder noch für sie auch nur<br />

eine Kopeke Unterhalt. Zu keinem Zeitpunkt. Im Gegenteil,<br />

später war er auch noch so schäbig, sich von ihr<br />

aushalten zu lassen. Ein paar Jahre nach der Trennung –<br />

Tanja hatte es schon zu ein bisschen Geld gebracht – gab<br />

sie ihm hin und wieder etwas zu essen, kleidete ihn<br />

sogar ein. Nicht aus Herzensgüte oder Mitleid mit dem<br />

nunmehrigen Professor der Technischen Hochschule, der<br />

noch immer bettelarm war, seiner beruflichen Orientierung<br />

aber treu blieb und bewusst darauf verzichtete, sich<br />

ein einträglicheres Auskommen auf dem freien Markt zu<br />

suchen, wie es viele seiner Kollegen taten.<br />

Tanja fütterte Andrej durch, weil darin ihre Revanche<br />

lag. Immer wieder sprach sie laut vor sich hin : »Du hast<br />

gedacht, du könntest mich demütigen ? Jetzt bin ich es,<br />

die dich demütigt !« Und servierte ihm roten Kaviar – zu<br />

Sowjetzeiten der <strong>In</strong>begriff für Luxus. Den konnte sie sich<br />

jetzt leisten. Und Andrej stopfte sich den Mund voll mit<br />

diesem Kaviar, wurde nicht einmal rot vor Scham und<br />

Erniedrigung, der Hunger setzte ihm so sehr zu, dass<br />

291


er manchmal in den Suppenküchen der Kirchen nach<br />

einem Mittagessen anstand, wobei er so tat, als sei er<br />

gläubig, und sogar lernte, sich zu bekreuzigen.<br />

Natürlich war er da schon lange nicht mehr mit seiner<br />

wortkargen Studentin zusammen, hauste wer weiß wo<br />

und wer weiß wie, sah abgerissen aus, völlig heruntergekommen,<br />

man konnte ihn für einen Penner halten.<br />

Doch kehren wir zurück in das Jahr 1992, in den Sommer<br />

des Aufbruchs zur Marktwirtschaft. Nach einer Woche,<br />

als Tanja überhaupt nicht mehr wusste, was sie den<br />

Kindern zu essen geben sollte, und ihre Schwiegermutter<br />

verlangte, sie solle Andrej verzeihen, ihn zurückholen,<br />

da kroch sie vor niemandem zu Kreuze, sondern ging<br />

auf den nahe gelegenen Markt arbeiten.<br />

Die Schwiegermutter greinte : »Was für eine Schande !<br />

Was für eine Schande !«, legte sich hin und wurde krank.<br />

Aber später fand sie sich damit ab – als ihr Tanja für das<br />

»schändliche« Geld vom Markt Medikamente kaufte. Die<br />

konnten sich weder ihr Mann, der Mathematik-Professor,<br />

noch ihre Professoren-Söhne nebst Ehefrauen leisten,<br />

weil sie allesamt keine Kopeke besaßen. Aber der Dünkel<br />

war ihnen noch nicht abhanden gekommen : Der Familienrat<br />

tagte nämlich und beschloss (mit nachdrücklicher<br />

Zustimmung der bettlägerigen Schwiegermutter, die lieber<br />

sterben als »diese Schande« ertragen wollte), dass<br />

die Erbstücke – wertvolle Möbel, seit Generationen in<br />

Familienbesitz, seltene Noten, Bilder russischer Meister<br />

des 19. Jahrhunderts – unter gar keinen Umständen<br />

292


verkauft werden dürften. Obwohl viele ähnliche Sippen<br />

Anfang der neunziger Jahre ihre glücklich über die Stalin-Zeit<br />

hinweggeretteten Erbstücke verscherbelten, »für<br />

ein Mittagbrot«, wie es damals hieß.<br />

Tanja stand auf dem Markt. Von sechs Uhr morgens<br />

bis dreiundzwanzig Uhr nachts. Das war keine Arbeit,<br />

das war reinste Sklavenfron. Und es gab nichts, was diese<br />

endlose Qual aufwiegen konnte, außer einem : Sie brachte<br />

reales Geld ein, das in ihrer Tasche knisterte, das sie<br />

jeden Tag bar auf die Hand erhielt. Sie stand einen Tag<br />

und wurde abends ausbezahlt. Nicht irgendwann, sondern<br />

gleich, das war die Hauptsache. Tanja kam täglich<br />

mit Geld nach Hause. Mit so dicken Beinen, dass sie<br />

kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte,<br />

mit krebsroten, geschwollenen Händen, zu müde, sich<br />

noch zu waschen oder irgendwie in Ordnung zu bringen.<br />

Und doch – beinahe glücklich !<br />

»Du wirst es nicht glauben, aber ich war glücklich,<br />

von niemandem mehr abhängig zu sein. Weder vom<br />

Direktor dieses <strong>In</strong>stituts, das einem keinen Lohn zahlt,<br />

noch von Andrej, der einem nichts gibt, oder von der<br />

Schwiegermutter mit ihren Familienerbstücken und Traditionen.<br />

Alles hing nur noch von mir selbst ab«, erzählt<br />

die schöne, reiche Tanja von heute über die Tanja von<br />

damals, vor zehn Jahren. »Die Schwiegermutter ? Eines<br />

schönen Tages habe ich ihr einfach gesagt, sie solle mir<br />

den Buckel runterrutschen. Und was glaubst du ? Zum<br />

ersten Mal hat sie mir keine Moralpredigt gehalten. Das<br />

war eine Offenbarung für mich. Vor meinen Augen voll-<br />

293


zog sich eine Revolution : Diese alte Moskauer <strong>In</strong>telligenzija,<br />

die immer so prinzipienfest und unbestechlich<br />

getan hatte, sie kuschte auf einmal. Kuschte wegen des<br />

Geldes, das ich der Schwiegermutter gab. Und die hörte<br />

auf zu meckern, weil ich es war, die für ihren Lebensunterhalt<br />

sorgte. Ich, die ihr nie etwas hatte recht machen<br />

können. Die ganze Professorensippe, die mich jahrelang<br />

verachtet hatte, weil ich keinen Stammbaum besaß, weil<br />

meine Vorfahren Bauern waren, weil ich ihrer Meinung<br />

nach Andrej nur geheiratet hatte, um nach Moskau zu<br />

kommen, diese ganze Horde von Verwandten also lernte<br />

auf einmal, mich anzulächeln und sogar zu liebedienern<br />

vor mir. Nur weil ich sie alle unterhielt mit meinem Geld<br />

vom Markt. Ich triumphierte. Und war bereit, dort rund<br />

um die Uhr zu schuften, bloß um noch mehr zu verdienen.<br />

Damit ich ihnen eine lange Nase zeigen konnte.«<br />

Wenn Tanja gegen Mitternacht nach Hause kam, fiel<br />

sie ins Bett wie ein Stein, hatte keinen Blick mehr für<br />

die beiden Söhne, kontrollierte ihre Hausaufgaben nicht.<br />

Sie fiel ins Bett und schlief sofort ein. Und am nächsten<br />

Morgen fing alles von vorne an. Tanjas Schwiegermutter<br />

übernahm es, sich um die Kinder zu kümmern, zum<br />

ersten Mal, seit sie unter einem Dach lebten. Tanja kam<br />

aus dem Staunen nicht heraus.<br />

Mitte der neunziger Jahre erreichte bei uns die Drogensucht<br />

unter den Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen ein<br />

solches Ausmaß, dass morgens, wenn wir die Wohnung<br />

verließen und die Treppe hinuntergingen, die Spritzen<br />

unter unseren Sohlen knackten. Sie waren Kinder von<br />

294


Müttern, die zur Arbeit auf dem Markt hasteten, die<br />

Geld verdienen wollten. Kinder, um die sich den ganzen<br />

Tag niemand kümmerte, die nicht zur Schule gingen<br />

(weil es damals auch keinen regelmäßigen Unterricht<br />

gab), die Leidtragenden des Runs auf das große Geld.<br />

Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, gibt es viele Mütter<br />

zwischen vierzig und fünfzig, die ihre Kinder verloren<br />

haben. Schätzungen besagen, dass die Hälfte der Jungen<br />

und Mädchen der Geburtenjahrgänge 1978 bis 1982 Mitte<br />

der neunziger Jahre an einer Überdosis starb.<br />

Tanjas Chef auf dem Markt war ein umtriebiger junger<br />

Bursche, ein »Pendler«, wie man damals sagte. Dieser<br />

Nikita schleppte aus der Türkei billige Kleidung heran,<br />

aus Usbekistan billige Melonen, aus Georgien billiges<br />

Gemüse, fuhr sonstwo hin, um billige Ware aufzutreiben,<br />

die Tanja und die anderen Frauen aus Nikitas Truppe<br />

dann verkauften. Steuern gab es ebenso wenig wie andere<br />

staatliche Abgaben. Auf dem Markt herrschten die Sitten<br />

eines Straflagers, Streitigkeiten wurden mit dem Messer<br />

ausgetragen, die Fäuste saßen locker, Schutzgelderpressung<br />

hatte Hochkonjunktur, und dazwischen Tanja und<br />

ihre Kolleginnen, die meisten alleinerziehend wie sie,<br />

ehemalige Vertreterinnen der technischen <strong>In</strong>telligenz<br />

aus <strong>In</strong>stituten, Verlagen und Redaktionen, die hatten<br />

schließen müssen.<br />

Bald ging Tanja mit Nikita ins Bett, er hatte ein Auge<br />

auf sie geworfen, trotz des Altersunterschieds, und nahm<br />

sie sogar ein paar Mal mit in die Türkei, zur Waren-<br />

295


eschaffung. Nach zwei Monaten hatte Tanja mit ihrer<br />

besonderen Ader für das Kommerzielle den Bogen raus<br />

und wurde selbst Pendlerin. Auch weil es keinen Chef<br />

mehr gab, denn eines Morgens fanden sie Nikita tot auf<br />

dem Markt, mit einem Loch im Kopf. Nikitas Verkäuferinnen<br />

freuten sich, dass sie bei Tanja unterkamen. Die<br />

war noch geschäftstüchtiger als Nikita und außerdem<br />

menschlich nicht so ein Dreckstück wie ihr ehemaliger<br />

Chef. Das Geschäft boomte.<br />

Ein halbes Jahr später fuhr Tanja nicht mehr in die<br />

Türkei. Zum einen, weil sie es leid war, denn diese Arbeit<br />

war kein Zuckerlecken, die Pendler schleppten die eingekauften<br />

Waren in riesigen Bündeln auf dem Rücken,<br />

buckelten sie selbst durch Flughäfen und Bahnhöfe, um<br />

das Geld für einen Gepäckkarren zu sparen. Und zum<br />

anderen, weil sie es nicht mehr nötig hatte : Was Tanja<br />

mit ihrem besonderen Riecher für gängige Ware einkaufte,<br />

ging auf dem Markt weg wie warme Semmeln.<br />

Die Geschäfte liefen so gut, dass Tanja zunächst einen,<br />

dann noch einen zweiten Fünf-Mann-Trupp von Pendlern<br />

anheuerte und damit zu einer Art Großhändlerin<br />

avancierte. Die Pendler holten Waren heran, die Verkäuferinnen<br />

verkauften sie auf dem Markt, und Tanja lenkte<br />

das Ganze. Jetzt kleidete sie sich schon nicht mehr »türkisch«,<br />

sondern europäisch, war ständig in Restaurants<br />

zu finden, wo sie aß und trank, mit Geld um sich warf<br />

und ein bisschen Spaß haben wollte nach dem Markt.<br />

Trotzdem reichte es noch für sie, ihre Familie und die<br />

Angestellten. <strong>In</strong> jenen Jahren ließ sich irrsinniges Geld<br />

296


verdienen. Also entsprachen auch Tanjas Liebhaber – allesamt<br />

Typ leidenschaftlicher Draufgänger – ihren Einnahmen<br />

und dem Zeitgeschmack. Tanja wechselte sie nach<br />

Belieben. Denn ehrlich gesagt war Andrej auch in dieser<br />

Hinsicht nicht viel wert gewesen, Tanja hatte oft geweint<br />

deswegen, damals, vor dem neuen Leben.<br />

Im Jahr darauf beschloss sie, die Wohnung auf Vordermann<br />

bringen zu lassen. Natürlich musste ihr dazu<br />

alles erst einmal gehören. Also kaufte Tanja mehrere<br />

kleine Wohnungen – für Andrej, den Schwiegervater, die<br />

Schwäger, die gar nicht schnell genug umziehen konnten.<br />

Die Schwiegermutter aber ließ sie weiter bei sich wohnen,<br />

irgendetwas regte sich in ihrer Seele, Tanja hatte Mitleid<br />

mit der einsamen alten Frau, deren Mann, der Mathematik-Professor,<br />

sie längst verlassen hatte. Außerdem<br />

musste sich jemand um die Kinder kümmern, Igor, der<br />

Ältere, war in der Pubertät und entsprechend schwierig,<br />

der Jüngere kränkelte oft.<br />

Aber die Renovierung war auch ein Teil von Tanjas<br />

Revanche.<br />

»Ich wollte denen zeigen, wer jetzt hier das Sagen hat !«<br />

Sie warf alles weg. Restlos alles. Verkaufte die Familienerbstücke,<br />

den Plunder der adligen Vergangenheit aus<br />

sämtlichen Ecken und Winkeln. Und niemand hinderte<br />

sie daran. Die Schwiegermutter fuhr in das Sommerhaus<br />

und ließ sich die ganze Zeit nicht blicken. So bekam<br />

Tanja eine supermoderne Wohnung, eingerichtet nach<br />

dem neuesten europäischen Standard. Danach entschloss<br />

sie sich, noch einen Schritt nach vorn zu wagen. Sie<br />

297


wollte nicht länger im Pendlergeschäft bleiben, sondern<br />

zur richtigen Businessfrau werden. Also kaufte Tanja<br />

mehrere Geschäfte in Moskau.<br />

»Nein, das gibt es doch nicht ! Diese Läden gehören<br />

dir ?« Ich traue meinen Ohren nicht. Tanja ist die Besitzerin<br />

der beiden guten Supermärkte, in denen ich nach<br />

der Arbeit einkaufe. »Gratuliere. Aber Preise sind das<br />

vielleicht bei dir !«<br />

»Das Land ist reich«, pariert Tanja bestimmt, aber mit<br />

einem Lachen.<br />

»Es ist überhaupt nicht reich. Du bist einfach eine<br />

imperialistische Hyäne geworden. Gnadenlos …«<br />

»Na klar. Die Jelzin-Zeiten sind vorbei, und damit<br />

auch die des leicht verdienten Geldes und der Romantik.<br />

Jetzt herrschen bei uns die unersättlichen Pragmatiker,<br />

wie ich sie nenne. Und ich gehöre dazu. Du bist gegen<br />

Putin, ich – für ihn. Er könnte mein Verwandter sein,<br />

genau so ein unersättlicher Pragmatiker, dem unser vergangenes<br />

Leben hart mitgespielt hat und der nun seine<br />

Revanche will.«<br />

»Was meinst du mit ›unersättlich‹ ?«<br />

»Die Bestechungsgelder. Diese ewigen Bestechungsgelder,<br />

die man überall zahlen muss. Damit ich die Läden<br />

behalten kann, zahle ich. Was meinst du, wem ich alles<br />

etwas geben muss. Den Beamten in der Stadtverwaltung,<br />

den Feuerwehrleuten, den Ärzten vom Gesundheitsamt,<br />

der Moskauer Regierung … natürlich auch den Gangstern,<br />

auf deren Territorium meine Läden stehen. Und<br />

denen ich sie eigentlich abgekauft habe.«<br />

298


»Hast du keine Angst, dich mit denen einzulassen ?«<br />

»Nein. Ich habe ein Ziel : Ich will reich sein. Und das<br />

heißt unter unseren heutigen Bedingungen, dass ich zahlen<br />

muss, tue ich es nicht, knallen sie mich sofort ab und<br />

setzen einen anderen an meine Stelle.«<br />

»Übertreibst du nicht ein bisschen ?«<br />

»Ich untertreibe.«<br />

»Und die Beamten ?«<br />

»Einen Teil von ihnen bezahle ich direkt, die anderen<br />

kriegen ihren Anteil über die Gangster. Denen gebe ich<br />

das Geld, und die einen Gangster werden sich dann mit<br />

den anderen Gangstern in den staatlichen Diensten einig.<br />

Das ist sogar bequemer für mich.«<br />

»Und Andrej ?«<br />

»Ist gestorben, hat es wohl doch nicht ausgehalten, dass<br />

ich mich hochgearbeitet und ihn mit meinem roten Kaviar<br />

gefüttert habe. Er wollte zu mir zurückkommen, aber<br />

ich habe ihn nicht gelassen. Such dir doch eine neue Studentin,<br />

habe ich gesagt. Außerdem mag ich keine hässlichen<br />

Männer mehr … wenn man sich einmal an Schönheit<br />

gewöhnt hat. Also gehe ich zu Stripshows, suche mir<br />

dort meine Partner aus. Viele sagen nicht nein.«<br />

»Mannomann, so kenne ich dich gar nicht. Hast du<br />

keine Sehnsucht nach dem Familienleben ? Nach einem<br />

häuslichen Herd ?«<br />

»Nein, das kannst du mir glauben. Ich habe gerade<br />

erst angefangen zu leben. Vielleicht ist nicht alles ideal,<br />

vielleicht findest du mein Leben schmutzig … aber habe<br />

ich früher sauber gelebt ?«<br />

299


»Was machen deine Kinder ?«<br />

»Schade, Igor ist nach seinem Vater geraten, ist ein<br />

schwacher Mensch, ganz wie Andrej, nimmt Drogen, und<br />

ich musste ihn schon zum fünften Mal zum Entzug bringen.<br />

Ich kann nur hoffen … Stas studiert in London. Mit<br />

ihm bin ich sehr zufrieden. Wirklich sehr ! Er ist dort<br />

überall der Beste. Meine Schwiegermutter schaut nach<br />

ihm, ich habe in London eine Wohnung für sie gemietet.<br />

Die Woche über lebt Stas im Wohnheim, und am Wochenende<br />

ist er bei ihr. Sie hat sich operieren lassen in<br />

der Schweiz, alles von meinem Geld. Mit ihrem neuen<br />

Hüftgelenk geht es ihr prächtig, sie springt herum wie ein<br />

junges Reh … und vergöttert mich. Weißt du, ich glaube,<br />

sie meint das sogar ehrlich. Geld ist etwas Großartiges.«<br />

David kommt elegant hereingetänzelt. Mit einem Tablett.<br />

»It’s teatime, ihr Hübschen.« Er lässt sich den Teeduft<br />

in die Nase steigen. »Darf ich euch Gesellschaft leisten ?<br />

Sag ja, Tanjalein.«<br />

Tanja nickt und erklärt, sie sei gleich zurück, wolle<br />

sich nur schnell umziehen zum Tee. David verströmt<br />

einen Ruch von Laster und Müßiggang. Ich fühle mich<br />

nicht ganz wohl in dieser Umgebung. Doch bald darauf<br />

kommt Tanja zurück. Im Glanz ihrer Brillanten. Die<br />

Ohren glitzern, das Dekolletee schimmert, sogar im Haar<br />

funkelt es. Das ist natürlich für mich. Und ich tue ihr<br />

den Gefallen, finde alles wunderschön. Warum nicht<br />

einem Menschen etwas Angenehmes sagen ? Und Tanja<br />

genießt es unübersehbar, sie strahlt mit den Brillanten<br />

300


um die Wette, zufrieden, dass ihr der Auftritt so gut<br />

gelungen und die alte Freundin beeindruckt ist.<br />

Dann trinken wir schnell den Tee aus – wir haben es<br />

beide eilig – und verabschieden uns.<br />

»Wir sehen uns doch hoffentlich nicht erst in zehn<br />

Jahren wieder ?«, meint Tanja zum Schluss.<br />

»Geben wir uns Mühe«, antworte ich und denke, als<br />

ich die Treppe hinuntergehe, dass sich heute, in der Putin-Zeit,<br />

tatsächlich alle wieder häufiger treffen. Die alten<br />

Freunde, meine ich. Es gab eine Phase am Ende von<br />

Jelzins Regierungszeit, da hatten alle so furchtbar viel<br />

zu tun mit dem Überlebenskampf und Geldverdienen,<br />

dass sie einander jahrelang nicht anriefen, sich genierten,<br />

die einen wegen ihrer Armut, die anderen wegen ihres<br />

Reichtums, viele waren überhaupt weggegangen und lebten<br />

im Ausland, mancher hatte sich eine Kugel in den<br />

Kopf gejagt vor Verzweiflung darüber, nicht mehr gebraucht<br />

zu werden, mancher schnupfte Kokain, um die<br />

Erinnerung an die eigenen schlimmen Taten ertragen zu<br />

können. Doch jetzt trafen sich die Überlebenden wieder<br />

häufiger als früher. Die Gesellschaft hatte Struktur gewonnen,<br />

es gab Freizeit.<br />

Eine Woche später nahm ich an einer Pressekonferenz<br />

teil. Wenn ich mich recht erinnere, ging es um Nachwahlen<br />

für das Stadtparlament, wo ein Sitz frei geworden<br />

war. Zu meiner größten Überraschung traf ich Tanja.<br />

Die <strong>In</strong>haberinnen von Supermärkten gehen in unserer<br />

durchstrukturierten, wie zu Sowjetzeiten nach Clanzu-<br />

301


gehörigkeit organisierten Gesellschaft eigentlich nicht zu<br />

politischen Pressekonferenzen.<br />

Tanja präsentierte sich der Medienwelt absolut stilsicher<br />

– im klassischen schwarzen Business-Kostüm, ohne<br />

einen einzigen Brillanten. David war auch da, gab den perfekten<br />

Sekretär ab, taktvoll und immer im Hintergrund.<br />

Seine Sprüche von den »Hübschen« schenkte er sich hier.<br />

Ich saß unter den Journalisten, Tanja auf der anderen<br />

Seite der Barrikade. Sie trat als Letzte vor das Mikrofon.<br />

Wie sich herausstellte, kandidierte sie für den vakanten<br />

Sitz in der Stadtduma und erläuterte deshalb den Medienvertretern,<br />

wie sie die Probleme der Obdachlosen in<br />

Moskau sah und deren <strong>In</strong>teressen zu vertreten gedachte,<br />

wenn die Wähler ihr das Vertrauen erweisen und sie in<br />

das Stadtparlament wählen würden.<br />

»Großer Gott, Tanja, wozu hast du das nötig ? Du bist<br />

doch reich genug«, sagte ich, als wir uns nach der Pressekonferenz<br />

begegneten.<br />

»Wie du schon weißt, will ich noch reicher werden.<br />

Ist doch ganz einfach : Ich habe keine Lust, unserem<br />

Abgeordneten Bestechungsgeld zu zahlen.«<br />

»Das soll der ganze Grund sein ?«<br />

»Und kein geringer, nebenbei gesagt. Simples Management.<br />

Du verstehst einfach nicht, auf welchem Niveau<br />

sich die Korruption jetzt bewegt. Das hätten die Gangster<br />

zu Jelzins Zeit sich nicht vorzustellen gewagt. Wenn ich<br />

selbst Abgeordnete bin, macht das eine ›Steuer‹ weniger.<br />

Eine Menge Geld, das darfst du mir glauben.«<br />

»Und warum muss es gerade der Schutz der Obdach-<br />

302


losen sein ?« Wir waren inzwischen in das französische<br />

Café nebenan hinübergewechselt. Tanja hatte es ausgesucht,<br />

ich verkehre nicht in solchen Etablissements, sie<br />

sind mir zu teuer.<br />

»Ich glaube, das nützt meinem Image. Außerdem kann<br />

ich ihnen wirklich helfen, da rauszukommen.«<br />

»Weshalb hast du dir das mit Putin nicht verkniffen<br />

am Schluss ? Wie sehr du ihn liebst und achtest, an ihn<br />

glaubst. Da haben dich deine Imagemaker aber schlecht<br />

beraten. Das ist unfeiner Stil.«<br />

Ȇberhaupt nicht. Das erwartet man heute einfach.<br />

Ich brauche keine Imagemaker …«, hier verschluckte<br />

sich Tanja an dem schwierigen englischen Wort, das mit<br />

dem neuen Leben in unsere Sprache geschwappt war,<br />

»… keine Imagemaker, um eines zu wissen : Erwähne<br />

ich Putin nicht, kommt morgen der FSB-Mann unseres<br />

Stadtteils zu mir ins Geschäft und reibt mir unter die<br />

Nase, dass ich nicht gesagt habe, was alle sagen. So leben<br />

wir Unternehmer heutzutage.«<br />

»Lass ihn ruhig kommen und dir was unter die Nase<br />

reiben. Das kostet dich doch nichts.«<br />

»Nein. Bloß ein Bestechungsgeld.«<br />

»Wof ür ?«<br />

»Dafür, dass er ›vergisst‹, was ich vergessen habe zu<br />

sagen.«<br />

»Sag mal, hast du das alles nicht satt ?«<br />

»Nein. Wenn es nötig ist, Putin den Arsch zu küssen,<br />

um noch ein paar Läden abzukriegen, dann küsse ich<br />

ihm den Arsch.«<br />

303


»Was meinst du mit ›abkriegen‹ ? Du kaufst die Läden<br />

doch, bezahlst dafür, wie es sich gehört.«<br />

»Nein, heute geht das anders. ›Abkriegen‹ heißt, sich<br />

bei den Staatsdienern in den Behörden das Recht zu<br />

verdienen, für das eigene Geld einen Laden kaufen zu<br />

dürfen. Das ist russischer Kapitalismus. Mir persönlich<br />

gefällt er. Sollte er mir einmal nicht mehr gefallen, kaufe<br />

ich mir irgendeine andere Staatsangehörigkeit und – weg<br />

bin ich …«<br />

Wir gingen auseinander. Natürlich wurde Tanja ins<br />

Stadtparlament gewählt. Es heißt, sie soll keine schlechte<br />

Abgeordnete sein, zugänglich, immer bereit, sich für die<br />

Armen in die Bresche zu werfen, noch eine Suppenküche<br />

für Obdachlose und Flüchtlinge in Moskau zu organisieren.<br />

Sie hat drei weitere Supermärkte gekauft. Oft<br />

hört man sie im Fernsehen die heutigen Zeiten rühmen.<br />

Vor kurzem rief sie an und bat mich, etwas über sie zu<br />

schreiben. Was ich auch getan habe. Das Ergebnis sehen<br />

Sie vor sich. Tanja, die das Material vor der Veröffentlichung<br />

lesen wollte, war entsetzt. »Es stimmt alles«, sagte<br />

sie nur und verbot mir, auch nur eine Zeile davon zu<br />

ihren Lebzeiten in <strong>Russland</strong> zu veröffentlichen. Was ich<br />

ihr versprach.<br />

»Und im Ausland ?«<br />

»Im Ausland meinetwegen. Sollen sie dort ruhig wissen,<br />

wonach unser Geld riecht.«<br />

304


MISCHA<br />

Mischa war der Mann meiner alten Freundin Lena, die<br />

ich seit frühester Schulzeit kenne. Lena hatte Mischa<br />

geheiratet, als sie beide noch studierten. Das liegt schon<br />

lange zurück, Ende der siebziger Jahre. Mischa war ein<br />

unheimlich kluger, begabter Bursche – Dolmetscher und<br />

Übersetzer für Deutsch, schon während des Studiums am<br />

Fremdspracheninstitut wurde er bei Konferenzen eingesetzt,<br />

alle sagten ihm eine glänzende Zukunft voraus,<br />

und nach dem Diplom rissen sich die verschiedensten<br />

<strong>In</strong>stitutionen um ihn, machten ihm lukrative Angebote,<br />

was damals selten vorkam.<br />

Mischa wählte das Außenministerium. Das war ein<br />

Glückstreffer, denn in sowjetischen Zeiten, besonders in<br />

den späten Jahren, schaffte kaum ein junger Mann ohne<br />

Beziehungen den Einstieg in eine so geschlossene Welt<br />

wie die unseres Außenministeriums. Und Beziehungen<br />

konnte Mischa nicht vorweisen, seine Oma, eine einfache<br />

Reinemachfrau, hatte ihn großgezogen, nachdem<br />

die Mutter früh an einem Hirntumor gestorben und der<br />

Vater kurz darauf zu einer anderen Frau gezogen war.<br />

Mischa arbeitete also im Außenministerium. Er, Lena<br />

und ich klebten zusammen wie Pech und Schwefel. Oft<br />

fuhren wir zum Picknick in den Wald, grillten Schaschliks<br />

über dem offenen Feuer und waren glücklich. Lena<br />

und ich standen uns sowieso sehr nahe, nun wollte<br />

Mischa unbedingt der Dritte im Bunde sein.<br />

Die Basis für unsere Freundschaft war eher ungewöhn-<br />

305


lich : Ich hatte zwei kleine Kinder, und wenn Mischa<br />

kam, konnte er sie einfach stundenlang mit Begeisterung<br />

betrachten, ganz gleich, was für Albernheiten sie<br />

anstellten, konnte sich endlos mit ihnen unterhalten,<br />

mit ihnen spielen. Alle Freunde wussten, dass Mischa<br />

geradezu verrückt war nach Kindern und so gern Nachwuchs<br />

wollte. Doch meine Freundin Lena, eine begabte<br />

Sprachwissenschaftlerin, schrieb gerade ihre Doktorarbeit<br />

und verschob das Kinderkriegen immer wieder<br />

auf den Zeitpunkt, wenn sie die Dissertation verteidigt<br />

haben würde.<br />

Mischa machte es sehr zu schaffen, dass sie keine<br />

Kinder hatten, er bekam einen regelrechten Komplex,<br />

litt selbst und malträtierte seine Umgebung, vor allem<br />

Lena. Aber Lena war eine Frau mit starkem Charakter,<br />

wenn sie etwas für richtig hielt, setzte sie es in jedem<br />

Fall durch. Und sie wollte nun einmal promovieren und<br />

erst dann schwanger werden.<br />

Lena hatte ihre Wahl getroffen, Mischa aber fing an<br />

zu trinken. Vor Kummer. Zuerst trank er nicht viel, alle<br />

belächelten ihn nur und machten sich ein bisschen lustig.<br />

Dann dauerten seine Zechtouren schon mehrere Tage, an<br />

denen er irgendwohin verschwand, wer weiß wo nächtigte.<br />

Noch später kam er wochenlang aus dem Rausch<br />

nicht heraus. Lena überlegte schon nachzugeben und<br />

die Dissertation sausen zu lassen. Doch wie konnte sie<br />

ein Kind von einem Mann bekommen, der nur noch<br />

tra nk ?<br />

<strong>In</strong>zwischen waren neue Zeiten angebrochen : Gorba-<br />

306


tschow, Jelzin … und Mischa wurde nur deshalb nicht<br />

wegen chronischer Trunksucht entlassen (was ihm unter<br />

den Kommunisten sofort gedroht hätte), weil es niemanden<br />

mehr gab, der ihn ersetzen konnte. Alle guten Leute,<br />

die mehrere Sprachen beherrschten und Erfahrungen mit<br />

Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs hatten, waren<br />

plötzlich Gold wert. Sie verließen das finanziell wenig<br />

einträgliche Außenministerium, verstreuten sich über<br />

die neu entstandenen Firmen und die Niederlassungen<br />

ausländischer Unternehmen. Um Mischa riss sich jetzt<br />

natürlich keiner mehr, auch wenn die Deutschen die Ersten<br />

waren, die auf den russischen Markt drängten, und<br />

Deutsch-Dolmetscher händeringend gesucht wurden.<br />

Aber auch im Außenministerium waren Mischas Tage<br />

gezählt, er wurde entlassen. Eines späten Abends ganz<br />

am Ende des Jahres 1996 klingelte es an der Tür. Draußen<br />

stand Lena, im Nachthemd, und das bei fast dreißig<br />

Grad Frost. So läuft in Moskau keiner herum, das dürfen<br />

Sie mir glauben. Am allerwenigsten Lena, eine sehr<br />

gepflegte, beherrschte, wohl erzogene und intelligente<br />

Dame. Ein Fuß war nackt wie bei der allerletzten Pennerin,<br />

der andere steckte in einem halb offenen Stiefel,<br />

dessen Schaft beim Gehen schlappte. Meine Freundin<br />

bibberte, als sei sie im Eis eingebrochen und gerade halb<br />

tot aus dem Wasser gezogen worden. Etwas musste sie<br />

zu Tode erschreckt haben, und der Schock hatte ihr die<br />

Sprache verschlagen.<br />

»Mischa, Mischa«, wiederholte sie wie ein Roboter, der<br />

nur ein einziges Wort beherrscht, und schluchzte laut,<br />

307


völlig außer sich und ohne auch nur das Geringste um<br />

sich herum wahrzunehmen.<br />

<strong>In</strong>zwischen waren meine Kinder aufgewacht von dem<br />

eigenartigen Lärm, kamen leise aus ihrem Zimmer und<br />

blieben neben Lena stehen, wie gebannt von dem für<br />

sie unbegreiflichen Leid. Da kam Lena endlich zu sich,<br />

die Kinder waren das Einzige, auf das sie reagierte. Wir<br />

flößten ihr ein Beruhigungsmittel ein, und sie begann<br />

zu erzählen.<br />

Mischa war schon die dritte Nacht nicht nach Hause<br />

gekommen. Lena erwartete ihn eigentlich auch gar nicht<br />

mehr, weil sie sich an seine Sauftouren gewöhnt hatte.<br />

Deshalb war sie zu Bett gegangen, denn sie musste bereits<br />

zeitig im <strong>In</strong>stitut sein. Doch kurz nach Mitternacht<br />

tauchte Mischa plötzlich auf, was ungewöhnlich war,<br />

denn wenn er irgendwo trank, kam er immer erst morgens<br />

zurück.<br />

So wie er war, in Mantel und schmutzigen Stiefeln,<br />

stinkend und ungewaschen, ging er gleich von der Wohnungstür<br />

aus ins Schlafzimmer, baute sich vor Lena auf<br />

und betrachtete sie im Halbdunkel, ohne das Licht einzuschalten.<br />

Er schien stockbetrunken und völlig von Sinnen.<br />

Die schwarzen Pupillen glänzten unnatürlich und<br />

warfen silbrige Reflexe auf seine Wangen. Das Gesicht,<br />

noch vor gar nicht allzu langer Zeit so sympathisch und<br />

anziehend, war jetzt von einer hässlichen Grimasse verzerrt,<br />

die Muskeln arbeiteten krampfhaft. Lena sagte<br />

nichts, zog nur die Bettdecke hoch bis zum Kinn. Das<br />

Zusammenleben mit einem Alkoholiker hatte sie gelehrt,<br />

308


dass in diesem Zustand jedes Wort zwecklos war, Mischa<br />

würde sowieso nichts hören. Sie musste einfach warten,<br />

bis er einschlief. Mehr konnte sie nicht tun.<br />

Doch Mischa kam ganz nahe an das Bett heran und<br />

sag te :<br />

»Schluss und aus … Du bist schuld daran … dass ich<br />

trinke … Ich bringe dich um.«<br />

Lena hörte in Mischas Stimme eine stille Entschlossenheit,<br />

die ihr jede Hoffnung nahm. Sie sprang auf und<br />

floh vor ihm durch das Zimmer. Mischa drängte sie<br />

auf den Balkon, jetzt hatte sie kaum noch eine Chance.<br />

Doch Betrunkene sind schwerfällig, Lena konnte ihm<br />

seitwärts entwischen, im Korridor griff sie nach dem<br />

erstbesten Kleidungsstück und lief los durch den Schnee,<br />

zu irgendjemandem in der Nähe – zu mir.<br />

Dann kam die Scheidung, und danach saßen Lena<br />

und Mischa, sonst alles andere als weinerlich, jeder für<br />

sich in meiner Küche und heulten sich aus, beichteten,<br />

wie sehr sie den anderen liebten, aber zusammenleben<br />

könnten sie nicht mehr.<br />

Eine Weile sahen Mischa und ich uns noch, obwohl<br />

die Begegnungen immer seltener wurden, doch manchmal<br />

kam er zu Besuch. Meist natürlich, um sich Geld<br />

zu borgen, weil er weiter trank und ständig blank war.<br />

Nach seiner Entlassung lebte er nur von Gelegenheitsübersetzungen,<br />

die er mitunter noch bekam.<br />

Erschien Mischa einmal nüchtern, erzählte er von seinen<br />

Versuchen, ein neues Leben anzufangen und das<br />

Trinken aufzugeben. Er sei gläubig geworden, läse reli-<br />

309


giöse Bücher, habe sich taufen lassen, einen verständnisvollen<br />

orthodoxen Priester gefunden, bei dem er beichten<br />

und zum Abendmahl gehen könne, das schenke ihm<br />

Ruhe, und überhaupt sei es ihm Ernst mit der Religion,<br />

sie könne ihn retten. Obwohl Mischa äußerlich nicht gerade<br />

aussah wie einer, der seiner Rettung entgegengeht :<br />

Er war abgerissen, das Haar fettig und wirr, die ganze<br />

Erscheinung mehr als ungepflegt, ein Typ, über den man<br />

in <strong>Russland</strong> sagt : »Der lebt ohne Frau.« Er lief in einem<br />

schwarzen, speckigen Mantel herum, der hinten und<br />

vorn nicht passte und offenbar von fremden Schultern<br />

stammte. Fragte man Mischa nach seiner Bleibe, ließ er<br />

krause Tiraden vom Stapel, ihn verstehe sowieso keiner,<br />

und wie solle er irgendwo eine Bleibe finden, wenn ihn<br />

niemand verstünde.<br />

Unter Jelzin stach einer wie Mischa nicht einmal besonders<br />

ins Auge, auf den Straßen gab es viele Bettler. Vormals<br />

ordentliche Bürger, intelligente Menschen, die ihre<br />

Arbeit verloren hatten und zu Trinkern geworden waren,<br />

in der neuen Realität keinen Platz für sich fanden. Diese<br />

zu Sowjetzeiten hoch geschätzten und hoch qualifizierten<br />

Kader verbreiteten tiefe Unzufriedenheit darüber, nicht<br />

mehr gebraucht zu werden, ja überflüssig zu sein, bildeten<br />

den Nährboden für den massenhaften Zulauf, den<br />

die russisch-orthodoxe Kirche erlebte. Jeder, den es aus<br />

der gewohnten Lebensbahn warf, der die Arbeit verlor,<br />

von Frau oder Mann verlassen wurde, nicht mehr auf<br />

sein Glück vertraute, jeder dieser Verlierer rannte in die<br />

310


Kirche, obwohl er bei weitem nicht immer gläubig war.<br />

<strong>In</strong> dieser Masse von Leidensgenossen fiel Mischa nicht<br />

weiter auf.<br />

Eines Tages kam er nüchtern und trotzdem gut gelaunt,<br />

erzählte, wir könnten ihm gratulieren : Am Tag<br />

zuvor sei er Vater eines Sohnes geworden. Wir freuten<br />

uns für ihn, schließlich hatte sich sein Traum endlich<br />

erfüllt. Doch irgendwie schien Mischa nicht gerade im<br />

siebten Himmel vor Glück, wie wir, die wir seine frühere<br />

fast närrische Kinderliebe kannten, es eigentlich<br />

erwartet hätten.<br />

Der Junge hieß Nikita. Schon damals, als Mischa noch<br />

mit Lena zusammen war, hatte er immer gesagt, sein<br />

Sohn müsse unbedingt Nikita heißen.<br />

»Und Nikitas Mutter ?«, fragte ich vorsichtig.<br />

»Ein junges Ding.«<br />

»Lebst du mit ihr zusammen ? Seid ihr verheiratet ?<br />

Oder wollt ihr erst ?«<br />

»Nein, ihre Eltern sind dagegen.«<br />

»Dann nehmt euch doch einfach eine Wohnung und<br />

lebt zusammen, mit eurem Sohn. Das ist so wichtig.«<br />

»Kein Geld.«<br />

»Dann geh arbeiten und verdiene was.«<br />

»Das will und kann ich nicht. Ich bringe sowieso<br />

nichts mehr zu Stande, der Zug ist abgefahren.«<br />

Damit blockte er jede weitere Nachfrage ab.<br />

Mehr als ein Jahr verging. Jelzin hatte die Macht abgegeben<br />

und Putin zu seinem Nachfolger ernannt, der<br />

zweite Tschetschenien-Krieg war bereits im Gange, jeden<br />

311


Tag bekam man im Fernsehen Putin vorgeführt : wie er<br />

ein Armeeflugzeug steuerte oder in Tschetschenien Anordnungen<br />

traf. Die Präsidentschaftswahlen standen kurz<br />

bevor. Da rief eines späten Abends Lena an.<br />

»Weißt du was«, sagte sie mit ganz fremder Stimme,<br />

die so heiser klang wie bei einer Sängerin nach dem Konzert,<br />

»ich habe gerade einen Anruf bekommen : Mischa<br />

hat eine Frau umgebracht, die, bei der er wohnt. Sie hat<br />

noch einen vierzehnjährigen Sohn aus erster Ehe, der<br />

gerade in der Wohnung war. Mischa hatte getrunken.<br />

Die Frau soll älter sein als er, hat Mischa bedauert und<br />

deshalb mit ihm getrunken, bloß damit er sich nicht<br />

so einsam und verloren fühlt. Gestern auch. Und dann<br />

nimmt er ein Messer und sagt ›Ich bringe dich um‹, dasselbe<br />

wie zu mir.«<br />

Lena begann zu weinen.<br />

»Das hätte ich sein können«, sagte sie. »Weißt du<br />

noch ? Und ihr habt alle gesagt, ich soll mich nicht scheiden<br />

lassen, er würde sich bessern, müsste nur behandelt<br />

werden … Der hätte mich einfach umgebracht.«<br />

Das Gericht war gnädig mit Mischa. Besonders, nachdem<br />

es seine Lebensgeschichte zur Kenntnis genommen<br />

hatte. Er erhielt viereinhalb Jahre, nicht viel für einen<br />

Mord, wenn der Täter psychisch normal und trotz seiner<br />

Alkoholprobleme zurechnungsfähig ist.<br />

Mischa kam in eine Arbeitskolonie in Mordwinien,<br />

wo es ringsum nichts gab als dichten, endlosen Wald.<br />

Ein halbes Jahr später tauchte bei Lena und ihrem<br />

Mann – sie hatte wieder geheiratet, einen Sohn bekom-<br />

312


men – der Leiter dieser Arbeitskolonie auf. Offenbar<br />

nicht gerade eine <strong>In</strong>telligenzbestie, aber gutherzig. Da<br />

er dienstlich in Moskau war, hielt er es für seine Pflicht,<br />

Lena aufzusuchen und davon in Kenntnis zu setzen,<br />

dass »ihr Michail« – Lenas Mann fiel bei diesen Worten<br />

beinahe in Ohnmacht – der <strong>In</strong>sasse seiner Kolonie<br />

sei. Der Direktor, offenbar nicht ohne pädagogisches<br />

Talent, hatte Mischa zum Verantwortlichen für die Lagerbibliothek<br />

ernannt, die dieser nicht nur vorbildlich<br />

in Ordnung brachte, sondern auch fleißig selbst nutzte.<br />

Mit den Häftlingen gehe er um wie ein studierter Psychologe,<br />

so der Vorsteher. Und dann habe Mischa auch<br />

noch im Lager eigenhändig eine Holzkapelle gebaut<br />

und wolle Mönch werden, weshalb er in Briefkontakt<br />

mit einem Kloster stünde und von dort Unterweisung<br />

erhalte. Und dann berichtete der Direktor noch, dass<br />

er als Leiter Mischas Wunsch Mönch zu werden unterstütze,<br />

weil er sich davon nur positive Einflüsse auf<br />

seine aus Mördern, Gewaltverbrechern und unverbesserlichen<br />

Rückfalltätern bestehende <strong>In</strong>sassenschaft verspreche.<br />

Aus diesem Grunde werde er auch Mischas<br />

Bitte erfüllen, im Devotionaliengeschäft der Moskauer<br />

Kirchenleitung bestimmte religiöse Gerätschaften kaufen<br />

und mit in die mordwinische Arbeitskolonie nehmen.<br />

Der Vorsteher beendete seine Lobesrede mit dem<br />

Versprechen, sich unbedingt dafür einsetzen zu wollen,<br />

dass Mischa wegen beispielhafter Führung vorzeitig aus<br />

der Haft entlassen werde.<br />

»Freuen Sie sich denn gar nicht, Lena ?«, fragte er, als<br />

313


er sah, dass die ehemalige Frau seines vorbildlichen Häftlings<br />

den Tränen nahe war.<br />

»Ich habe Angst«, entgegnete sie.<br />

»Das brauchen Sie nicht«, beruhigte sie der Direktor.<br />

»Er ist ein anderer geworden, viel ruhiger. Trinkt auch<br />

nicht mehr. Der bringt keinen mehr um, glaube ich.«<br />

Dann strich er sich über das Haar, nahm einen<br />

Schluck Tee, rieb energisch die Handflächen aneinander,<br />

so als gelte es, ein Feuer zu entfachen, und fuhr im<br />

Vollgefühl seiner Verantwortung für die Umerziehung<br />

der Gestrauchelten fort :<br />

»Wenn ich ehrlich bin, tut es mir ein bisschen leid,<br />

dass Mischa bald geht. Er ist der Beste … wirklich mein<br />

allerbester Häftling.«<br />

Von diesem Augenblick an waren wir darauf gefasst, dass<br />

Mischa jeden Tag wieder in Moskau auftauchen konnte.<br />

Doch er kam erst 2001, nachdem seine Reststrafe aufgehoben<br />

worden war. Einige Wochen lang trieb er sich<br />

in der Hauptstadt herum, ohne Bleibe, ohne eine Menschenseele,<br />

die sich um ihn kümmerte. Sein Deutsch<br />

hatte er vergessen, zu dem neuen Leben, das inzwischen<br />

herrschte, fand er nicht den geringsten Zugang.<br />

Ich wusste schon lange, dass Mischa wieder in Moskau<br />

war. Doch wir begegneten uns ganz zufällig, auf dem<br />

Twerskoi-Boulevard, er kam mir entgegen, und beinahe<br />

hätten wir einander nicht erkannt. Wir setzten uns auf<br />

eine Bank, redeten und redeten, drei Stunden lang. Ich<br />

fragte nach seinem Nikita, nach meinen Kindern fragte<br />

314


Mischa nicht. Eigentlich brauchte er nur einen Zuhörer,<br />

der ihm Aufmerksamkeit schenkte.<br />

Er sprach die ganze Zeit vom Mönchtum, vom rechten<br />

Weg ins Kloster – und ich betrachtete ihn. Von dem<br />

jungen Mischa war fast nichts mehr geblieben, der Mann<br />

vor mir sah grau, alt und aufgedunsen aus. Nicht der<br />

geringste Abglanz seines früheren Talents, der besonderen<br />

Begabung. Nur noch Verbitterung über das Leben.<br />

Und jede Menge Lagerjargon. Zudem schwafelte er noch<br />

irgendwelchen banalen Unsinn über den Sinn des Lebens,<br />

von der Art, wie man ihn in primitiven Groschenheften<br />

für halbe Analphabeten findet. Ich konnte mir vorstellen,<br />

wie die Häftlingsbibliothek in der mordwinischen<br />

Strafkolonie ausgesehen hatte.<br />

»Hast du dir Arbeit gesucht ?«<br />

»Wo denn ? Die zahlen doch überall wenig und verlangen<br />

viel.«<br />

»So geht es uns allen jetzt … Man muss sich bescheiden<br />

lernen …«, fing ich an. Doch Mischa schnitt mir<br />

das Wort ab :<br />

»Ich will aber nicht sein wie alle.«<br />

Wenn er etwas reichlich auf Lager hatte, dann dieses<br />

»nicht wie alle«.<br />

»Wie steht’s bei dir mit dem Kloster ?«<br />

»Ich hab’s noch nicht geschafft. Dort gibt es auch eine<br />

Warteschlange und Kungelei. Man braucht Beziehungen.<br />

Mir hängt an, dass ich gesessen habe.«<br />

»Das verstehst du doch sicher … Du bist ja wirklich<br />

gerade erst entlassen worden.«<br />

315


»Gar nichts verstehe ich.« Mischa wurde aggressiv.<br />

»Und was willst du jetzt machen ?«<br />

»Ich versuche es dort, in der kleinen Kirche«, Mischa<br />

wies mit der Hand hinter sich. Dort stand tatsächlich<br />

eines der ältesten Gotteshäuser Moskaus. »Ich verdinge<br />

mich als Wächter. Für das Kloster braucht man Profilerfahrungen.«<br />

Hier mussten wir beide lachen. Nur wer in der Sowjetunion<br />

geboren ist und dort zumindest einen Teil seines<br />

bewussten Lebens zugebracht hat, weiß, was diese<br />

»Profilerfahrungen« bedeuten : Wollte man eine gute Arbeitsstelle<br />

finden, in ein gutes <strong>In</strong>stitut hineinkommen<br />

und hatte keine Beziehungen, konnte man nur auf seine<br />

einschlägigen »Profilerfahrungen« bauen. Jetzt aber sprachen<br />

wir über Klöster, Religion, Glauben und Gebote,<br />

also etwas, was den Realien der sowjetischen Lebensart<br />

so diametral entgegengesetzt war wie sonst nichts. Wir<br />

lachten immer noch.<br />

»Das ist wirklich zum Lachen«, meinte Mischa. »<strong>In</strong><br />

unserem Heute haben sich orthodoxe Kirche und sowjetische<br />

Realität plötzlich vereint.«<br />

Unter den schweren, ungesund geröteten Lidern hervor,<br />

die entweder auf eine Nieren- oder auf eine Herzkrankheit<br />

schließen ließen, blickte mich für einen Augenblick<br />

der Mischa von früher an, fröhlich, immer für einen<br />

Spaß gut, schalkhaft, ein bisschen übermütig.<br />

»Das kann man wohl sagen. Du warst lange weg. Hast<br />

du keine Angst, die Kirche, in die es dich so sehr drängt,<br />

könnte dasselbe Kreiskomitee des Komsomol sein, vor<br />

316


dem du immer abgehauen bist ? Einfach nur aufgepeppt<br />

mit einem neuen Anstrich ? Dann sitzt du in deinem<br />

Kloster, wirst bitter enttäuscht sein und …«<br />

Ich stockte, suchte nach dem passenden Ausdruck,<br />

verstummte.<br />

»Du willst sagen, dass ich dann wieder jemanden umbringe,<br />

weil ich ihm die Schuld zuschiebe für meine<br />

Probleme ?«<br />

»Na ja, nicht so …«, stotterte ich, obwohl es gerade das<br />

gewesen war, was mir auf der Zunge lag. Mischa und ich<br />

hatten uns wieder einmal nur zu gut verstanden.<br />

»Doch, doch, genau so … Du brauchst gar nicht drum<br />

herum zu reden … Natürlich habe ich Angst. Aber was<br />

soll ich machen ? Bleibe ich hier draußen, lande ich früher<br />

oder später wieder dort. Im Gefängnis habe ich es<br />

besser – es ist ein geschlossener Raum. Und das Kloster<br />

ist wie ein Arbeitslager, nur dass die Wachen anders<br />

sind. Ich muss unter Bewachung leben. Ich komme mit<br />

mir selbst nicht klar, bei dem Leben, was ich ringsum<br />

sehe.«<br />

»Und was für ein Leben siehst du ?«<br />

»Ein zynisches. Und Zynismus kann ich nicht ertragen.<br />

Deshalb habe ich ja auch angefangen zu trinken.«<br />

»Und warum hast du diese Frau umgebracht ? War<br />

sie zynisch ?«<br />

»Nein, im Gegenteil, sie war ein guter Mensch. Ich<br />

weiß nicht mehr, wie ich sie umgebracht habe. Ich war<br />

betrunken.«<br />

»Also gehst du auf jeden Fall ins Kloster ?«<br />

317


»Auf jeden Fall. Hier draußen halte ich es nicht aus.«<br />

Danach habe ich Mischa nicht wieder gesehen, weiß<br />

aber, dass er es nicht geschafft hat, ins Kloster einzutreten.<br />

Die Aufnahmeprozedur zog sich endlos hin : Die<br />

Gottesdienerschaft der russischorthodoxen Kirche arbeitet<br />

nicht anders als unsere Staatsdiener, dieselbe Gleichgültigkeit<br />

gegenüber allem, was nicht unmittelbar die<br />

eigenen <strong>In</strong>teressen betrifft. Mischa wurde immer wieder<br />

bei der Verwaltung des Moskauer Patriarchen vorstellig,<br />

reichte Bescheinigungen ein, arbeitete als Kirchenwächter<br />

und hauste in einem Verschlag neben dem Gotteshaus.<br />

Allmählich begann er wieder zu trinken, tauchte<br />

mehrmals bei Lena auf, um sich Geld zu borgen. Das<br />

erste Mal gab sie ihm hundert Rubel, dann nichts mehr.<br />

Völlig richtig, sie und ihr Mann arbeiteten schließlich<br />

nicht dafür, dass Mischa nach Herzenslust saufen konnte.<br />

Natürlich, das versteht man.<br />

Mischa warf sich in der Metro vor einen Zug. Wir<br />

erfuhren davon erst viel später, rein zufällig. Was wir<br />

dann noch herausfinden konnten, war nicht viel : Mischa,<br />

einer der begabtesten Menschen, die ich je gekannt habe,<br />

wurde in einem anonymen Armengrab beigesetzt. Eine<br />

Adresse hatte er nicht, und Verwandte fragten ebenfalls<br />

nicht im Leichenschauhaus nach. Solche Toten, nach<br />

denen keiner sucht, werden bei uns verbrannt. Wo genau<br />

seine Asche beigesetzt ist, weiß keiner.<br />

318


RINAT<br />

Man kann direkt auf den Eingang zumarschieren oder<br />

außen herumgehen. Die Garnison des Spezialregiments<br />

für militärische Aufklärung des Verteidigungsministeriums<br />

– einer absoluten Eliteeinheit – ist immerhin kein<br />

Platz, an dem Zivilpersonen wie ich herumspazieren sollten.<br />

Aber manchmal lässt es sich eben nicht vermeiden.<br />

Rinat hat mich hergebracht. Er ist einer der Offiziere<br />

des Regiments, sein Dienstrang – Major. Wo er geboren<br />

wurde, weiß Rinat nicht, er kennt weder Vater noch<br />

Mutter, wuchs im Waisenhaus auf. Rinats Gesicht mit<br />

den schräg stehenden Augen sieht asiatisch aus, und er<br />

spricht auch mehrere seltene zentralasiatische Sprachen.<br />

Sein Spezialgebiet ist die militärische Aufklärung, er hat<br />

viele Orden und Medaillen dafür bekommen. Rinat war<br />

im Krieg in Afghanistan, hat sich dann in tadschikische<br />

Banden in den Bergen und an der afghanisch-tadschikischen<br />

Grenze einschleusen lassen, jahrelang ihren Drogenhandel<br />

ausgekundschaftet und viel dazu beigetragen,<br />

die Rauschgiftgangster dingfest zu machen. Danach verhalf<br />

er – wiederum in geheimer Mission im Auftrag der<br />

Regierung <strong>Russland</strong>s – mehreren heutigen Präsidenten<br />

ehemaliger Sowjetrepubliken zur Macht. Natürlich war<br />

er oft in Tschetschenien. Sowohl während des ersten als<br />

auch während des zweiten Tschetschenien-Kriegs.<br />

Wir suchen ein Schlupfloch im Zaun der »streng geheimen«<br />

Garnison. Rinat will mir zeigen, in was für einer<br />

Baracke er, ein hoch dekorierter Offizier, auf dem Mili-<br />

319


tärgelände haust, und im Kontrast dazu einen Neubau<br />

im Offiziersstädtchen, in den er so gern gezogen wäre,<br />

wenn …<br />

Rinats Spezialeinheit mag zwar berühmt, exzellent<br />

gedrillt und elitär sein, aber das Loch im Zaun, das wir<br />

entdecken, reicht nicht nur für uns beide, sondern für<br />

einen ganzen Panzer.<br />

Nach fünf Minuten sind wir bei den Wohnblocks. Es<br />

ist früh am Morgen. Ringsum wenig freundliche Gesichter<br />

von Offizieren, die heute dienstfrei haben. Auch das<br />

Wetter ist nicht gerade einladend, der Lehm unter unseren<br />

Füßen schmatzt, wir gehen nicht, sondern schlittern<br />

mehr, schauen vor unsere Füße, damit wir nicht<br />

ausrutschen.<br />

Ich hebe den Blick und sehe – o Wunder ! – vor mir<br />

ein neues, wunderschönes Hochhaus, das grüngrau zwischen<br />

den öden Fünfgeschossern emporragt.<br />

»Mit diesem Haus hat alles angefangen«, sagt Rinat.<br />

»Natürlich wollte ich auch hier wohnen. Ich kann doch<br />

nicht ewig herumzigeunern … Mein Sohn wird groß …<br />

und ich stecke bloß immerzu in Kriegen.«<br />

Major Rinat verstummt abrupt, zieht den Kopf ein,<br />

beugt den Oberkörper vor, als wären wir unter Beschuss<br />

geraten und müssten einen Schützengraben suchen zu<br />

unserer Rettung. Leise flüstert er mir zu, ich solle so<br />

tun, als würden wir uns nicht kennen, und besser auch<br />

nicht neugierig nach vorn schauen, mit den Armen fuchteln<br />

oder sonst irgendwie Aufmerksamkeit erregen. Eine<br />

Aufklärer-Marotte ?<br />

320


»Was ist denn passiert ?«, frage ich. »Wir sind doch<br />

nicht etwa in einen Hinterhalt geraten ?«<br />

Was natürlich völliger Unsinn ist, wie kann es in der<br />

streng bewachten Garnison einer Spezialeinheit einen<br />

Hinterhalt geben ?<br />

»Man darf ihn nicht reizen«, sagt Rinat leise und setzt<br />

sein Ablenkungsmanöver fort. Unauffällig wie die Kundschafter,<br />

zielstrebig und zügig, doch ohne verräterische<br />

Eile, schlagen wir einen anderen Kurs ein.<br />

»Wenn darf man nicht reizen ?«, will ich wissen, als<br />

Rinat den Kopf hebt und erleichtert aufatmet. Die Gefahr<br />

ist vorüber.<br />

»Petrow, unseren stellvertretenden Regimentskommandeur.«<br />

Wie sich herausstellt, war das ganze Manöver nur deshalb<br />

nötig, weil uns dieser Petrow gerade in seinem Auto<br />

entgegen kam. Er hielt vor dem schönen Haus, in dem<br />

er natürlich wohnte. Erst als Petrow im Treppenaufgang<br />

verschwunden war, beruhigte sich Rinat. Wir spazierten<br />

weiter über das Garnisonsgelände, kreuz und quer, hierhin<br />

und dorthin – und landeten doch immer wieder bei<br />

dem wunderschönen Hochhaus, das Rinat sehnsüchtig<br />

und mit unverhohlenem Neid betrachtete.<br />

Ich konnte mir, ehrlich gesagt, keinen richtigen Reim<br />

auf das Ganze machen. Schließlich kannte ich Rinats<br />

militärischen Werdegang ein wenig und wusste, wie<br />

furchtlos und verwegen er war. Und jetzt dieses Versteckspiel.<br />

Wovor hatte er, der erfahrene Kundschafter und<br />

Krieger, überhaupt noch Angst ? Vor dem Tod ?<br />

321


»Nein, dem habe ich schon zu oft ins Auge geblickt.<br />

Das ist keine Aufschneiderei.«<br />

»Vor der Gefangenschaft ?«<br />

»Ja, die fürchte ich natürlich, weil ich weiß, sie werden<br />

mich foltern. Das habe ich selbst gesehen bei den Banden.<br />

Aber auch davor habe ich nicht die größte Angst.«<br />

»Wovor dann ?«<br />

»Vor dem Frieden wahrscheinlich. Vor dem zivilen<br />

Leben. Damit kenne ich mich nicht aus. Bin darauf nicht<br />

vorbereitet.«<br />

Rinat ist siebenunddreißig Jahre alt. Er hat in seinem<br />

bewussten Leben nichts anderes getan, als sich in Kriegen<br />

herumzutreiben. Hat dabei eine Menge Verwundungen<br />

abgekriegt. Hat ein Magengeschwür, ein Geschwür am<br />

Zwölffingerdarm, ein zerrüttetes Nervensystem, schmerzende<br />

Gelenke und nach mehreren Kopfverletzungen oft<br />

Hirnspasmen.<br />

Vor kurzem beschloss er, dass es nun Zeit wäre für ein<br />

sesshafteres Leben, für die Rückkehr in unsere normale<br />

Welt. Doch er musste schnell feststellen, wie wenig er von<br />

dieser Welt verstand. Wer würde ihm beispielsweise eine<br />

Wohnung geben ? Stand die ihm nicht zu, nach allem,<br />

was er durchgemacht hatte im Dienste des Staates, bei<br />

der Verteidigung der nationalen <strong>In</strong>teressen ? Und wie<br />

sah es aus mit Geld ?<br />

Als er diese Fragen seinem stellvertretenden Regimentskommandeur<br />

Petrow stellte, klärte sich recht bald, dass<br />

ihm nicht das Geringste zustand. Woraus Rinat den<br />

Schluss zog : Solange er die Spezialaufträge seiner Regie-<br />

322


ung erfüllte, in den Bergen herumkroch, sich in Ländern,<br />

auf Kontinenten herumtrieb, brauchte ihn der Staat,<br />

behängte ihn dafür mit Orden und Medaillen. Jetzt aber,<br />

wo er seine Gesundheit geopfert hatte, wo er sesshaft<br />

werden wollte, war kein Platz für ihn da. Seine Vorgesetzten<br />

konnten ihn einfach auf die Straße setzen, sogar<br />

aus dem jämmerlichen Winkel in der Offizierskaserne<br />

verjagen, wo er jetzt hauste. Mit seinem Sohn.<br />

Rinats Sohn heißt Edik. Edik hat nur seinen Vater, die<br />

Mutter kam vor ein paar Jahren ums Leben, und lange<br />

Zeit lebte der Junge ganz allein in dem kleinen Kämmerchen<br />

in der Kaserne und wartete darauf, wann der<br />

Vater aus den vielen Kriegen und verantwortungsvollen<br />

Kampfeinsätzen zurückkommen würde.<br />

»Ich weiß, wie man einen Gegner so tötet, dass er<br />

keinen Mucks von sich gibt«, erklärt Rinat. »Ich kann<br />

lautlos und schnell einen Felsen ersteigen und diejenigen<br />

unschädlich machen, die oben sitzen. Ich bin ein<br />

hervorragender Alpinist. Die Berge sind wie ein offenes<br />

Buch für mich, ich erkenne an Zweigen und Ästen, wer<br />

sich dort versteckt hält. Ich kann die Berge fühlen, das<br />

ist eine besondere Gabe, heißt es. Aber eine Wohnung<br />

erkämpfen kann ich nicht. Ich kann überhaupt nichts<br />

erkämpfen im zivilen Leben.«<br />

Vor mir sitzt ein hilfloser professioneller Mörder, vom<br />

Staat dazu ausgebildet. Es gibt viele wie ihn. Dieser Staat<br />

schickt sie in den x-ten Krieg, jahrelang leben sie in<br />

einem Ausnahmezustand, kehren zurück und verstehen<br />

nicht mehr, wie die normale Welt funktioniert, welche<br />

323


Gesetze und Regeln hier gelten. Sie flüchten sich in den<br />

Alkohol oder driften ab in Banden, wo sie Berufskiller<br />

werden, und ihre neuen Bosse zahlen gut und erklären<br />

ihnen, diesen und jenen aus dem Weg zu räumen sei<br />

wiederum nötig im <strong>In</strong>teresse des Staates.<br />

Und der Staat ? Den scheren solche wie Rinat einen<br />

Dreck. Unter Putin hat der Staat aufgehört, sich um aus<br />

den Kriegen heimkehrende Offiziere zu kümmern. So<br />

als käme ihm gar nicht ungelegen, dass es viele hoch<br />

qualifizierte Killer in der Unterwelt gibt.<br />

»Rinat, denken Sie auch über diese Perspektive<br />

nach ?«<br />

»Nein, ich will das nicht. Aber wenn sie Edik und<br />

mich auf die Straße setzen, dann vielleicht … Ich kann<br />

nur, was ich kann.«<br />

Durch Schmutz und Schlamm watend, landen wir<br />

schließlich vor einem trostlosen, heruntergekommenen<br />

Gebäude, im Garnisonsjargon »Doppeldecker« genannt.<br />

Das ist die besagte Offiziersunterkunft. Wir steigen die<br />

Treppe zum zweiten Stock hinauf. Hinter einer ramponierten<br />

Tür – ein armseliges möbliertes Kasernenzimmer.<br />

Major Rinat hat nie im Leben ein eigenes Zuhause besessen.<br />

Erst das Kinderheim in Nishni Tagil, im Ural, dann<br />

die Kaserne der Offiziersschule, in die er gleich nach dem<br />

Kinderheim eintrat, danach die Zelte der Feldlager. Sechzehn<br />

Jahre ist Rinat jetzt bei der aktiven Truppe, immer<br />

unterwegs, getreu seinem Fahneneid. Ein wandernder<br />

Stein, der kein Moos ansetzt. Die letzten elf Jahre hat er<br />

nichts anderes getan als von einem Kampfeinsatz zum<br />

324


nächsten zu fahren. Wie soll da ein Hausstand zusammenkommen<br />

?<br />

»Ich war glücklich mit diesem Leben, wollte gar nicht<br />

fort aus dem Krieg … Ich dachte, das geht immer so<br />

weiter …«<br />

Alles, was Rinat besitzt, passt in eine Fallschirmspringertasche.<br />

Der Major öffnet die Tür des Schrankes, auf<br />

dessen abgenutztem Furnier an der Seite eine <strong>In</strong>ventarnummer<br />

prangt. Er zeigt mir die Tasche.<br />

»Die Tasche über die Schulter – und ab zum nächsten<br />

Einsatz«, erklärt er mir knapp seine Lebensphilosophie.<br />

Auf dem Sofa sitzt ein Junge und schaut irgendwie<br />

kummervoll zu uns herüber. Das muss Edik sein. Ich<br />

gebe dem Gespräch eine andere Wendung :<br />

»Aber Sie waren doch verheiratet ? Irgendwann hatten<br />

Sie also ein Zuhause ?«<br />

»Nein, nie. Die Zeit war zu kurz.«<br />

Während Rinat in geheimer militärischer Mission in<br />

Tadschikistan den heutigen Präsidenten Rachmonow bei<br />

der Machtergreifung unterstützte, wartete seine Frau<br />

in Kirgisien auf ihn. Er hatte sie bei seinem vorherigen<br />

Kampfeinsatz kennen gelernt, als es in der Stadt Osch,<br />

wo sie wohnte, zu blutigen ethnischen Auseinandersetzungen<br />

gekommen und Rinat dorthin abkommandiert<br />

worden war. Noch während der Unruhen heirateten die<br />

beiden. Es war eine stürmische, leidenschaftliche Liebe,<br />

aufgeflammt zwischen Blut und Leid. Rinat nahm die<br />

junge Frau mit zu seinem Kommandeur und erklärte<br />

geradeheraus : »So, wir sind jetzt verheiratet.« Der Kom-<br />

325


mandeur schlug entgeistert die Hände zusammen und<br />

bat Rinat nur, seine Frau in Osch zu lassen. Für einen<br />

Kundschafter ist die Nähe der Herzallerliebsten eine<br />

Achillesferse. Also ging Rinat allein zurück nach Tadschikistan.<br />

Später erfuhr Rinat von seinem Kommandeur, dass er<br />

Vater geworden war und dass sein Sohn Edik hieß. Im<br />

Juni 1995 dann wurde Rinats junge Frau umgebracht –<br />

von denjenigen, gegen die sich seine Aktivitäten in Tadschikistan<br />

richteten. Sie war erst einundzwanzig Jahre alt,<br />

studierte am Konservatorium von Osch. Am Tag ihrer<br />

Ermordung wollte sie gerade die Prüfungen für das 3.<br />

Studienjahr ablegen.<br />

Edik blieb zunächst bei der Großmutter in Kirgisien,<br />

der Junge war noch zu klein, um einem Leben in ständig<br />

wechselnden Unterkünften gewachsen zu sein. Außerdem<br />

hatte Rinat ohnehin kaum Gelegenheit, sich in den<br />

wenig einladenden, unsauberen Offizierswohnheimen<br />

aufzuhalten, er erfüllte seine militärischen Missionen,<br />

war in den Bergen im Einsatz, wurde zweimal schwer<br />

verwundet, lag lange im Lazarett.<br />

»Trotzdem wollte ich kein anderes Leben«, sagt Major<br />

Rinat. »Aber Edik war schon ein großer Junge.« Rinat<br />

beschloss, den Sohn zu sich zu nehmen, und seither fährt<br />

Edik nur noch zu seiner Großmutter, wenn Rinats Einsätze<br />

mehr als sechs Monate dauern. Für eine so lange<br />

Zeit will Rinat den Jungen nicht allein in der Obhut von<br />

Nachbarn zurücklassen.<br />

Wir sitzen in dem kalten, ungemütlichen Zimmer.<br />

326


Edik ist ein schweigsamer Junge mit klaren, alles verstehenden,<br />

sehr erwachsenen Augen. Er sagt nur etwas,<br />

wenn der Vater das Zimmer verlässt und man ihn direkt<br />

fragt. Der Sohn eines Kundschafters eben. Der Junge<br />

versteht, dass es sein Vater jetzt sehr schwer hat und er,<br />

Edik, deshalb im nächsten Schuljahr in ein Kadettenkorps<br />

soll, aber die Idee gefällt ihm nicht.<br />

»Ich will zu Hause bleiben«, sagt er ruhig, ganz Mann.<br />

Ohne Wehleidigkeit. Und doch wiederholt er die Worte<br />

mehrmals.<br />

»Zu Hause will ich bleiben. Zu Hause …«<br />

»Ist das dein Zuhause ? Fühlst du dich hier daheim ?«<br />

Edik ist ein ehrlicher Junge. Er weiß : Wenn man nicht<br />

die Wahrheit sagen kann, schweigt man lieber.<br />

<strong>In</strong> der Tat, wer würde diese Absteige für Truppenoffiziere,<br />

wo hinter der dünnen Wand betrunkene Zeitsoldaten<br />

lärmen und die Möbel <strong>In</strong>ventarnummern tragen,<br />

schon Zuhause nennen ? Doch Edik weiß, dass sein Vater<br />

vielleicht selbst diese armselige Bleibe verliert. Also soll<br />

sie wenigstens ihr Zuhause sein.<br />

Die Beziehungen zwischen Rinat und der Regimentsführung<br />

verschlechterten sich, als der Major eine Wohnung<br />

in dem schönen neuen Hochhaus beantragen<br />

wollte. <strong>In</strong> der Überzeugung, dies sei sein gutes Recht,<br />

stand er doch schon jahrelang auf der Warteliste.<br />

»Als ich dem stellvertretenden Regimentskommandeur<br />

Petrow meine Bitte vorgetragen habe, ist er in die<br />

Luft gegangen : ›Du hast nicht genug für das Regiment<br />

geleistet.‹ Stellen Sie sich vor, genau das waren seine<br />

327


Worte. Ich konnte es nicht fassen : ›Ich habe gekämpft.<br />

Die ganze Zeit. Habe Piloten von einem Berg geholt,<br />

von dem sie keiner herunter bekommen hätte. Der Staat<br />

braucht mich.‹«<br />

Diese Rettungsaktion hat es tatsächlich gegeben, und<br />

Rinat ist dafür zur Auszeichnung mit dem höchsten<br />

staatlichen Ehrentitel »Held <strong>Russland</strong>s« vorgeschlagen<br />

worden. Als im Juni 2001 in den tschetschenischen Bergen<br />

nahe der Siedlung Itum-Kale ein Jagdflugzeug der<br />

Armee abstürzte, konnte die Besatzung zunächst nicht<br />

geborgen werden, da es mehreren Rettungskommandos<br />

nicht gelang, sie ausfindig zu machen. Da erinnerte sich<br />

die Militärführung an Rinat, der nicht nur einzigartige<br />

Kampferfahrungen, sondern auch ein ganz besonderes<br />

Gespür für die Berge besaß, in ihnen lesen konnte wie<br />

in einem Buch, anhand von Zweigen, Ästen, Laub.<br />

Rinat fand die tote Besatzung innerhalb von vierundzwanzig<br />

Stunden. Einen Körper hatten die Rebellen<br />

bereits vermint, Rinat musste die Minen entschärfen. Die<br />

Gefallenen konnten von ihren Familien bestattet werden.<br />

Bei der kämpfenden Truppe heißt es : Offiziere, die<br />

im Gefecht und in den Bergen den Kopf verlieren, sind<br />

umso besser in der Etappe. Das sagte Rinat damals dem<br />

stellvertretenden Regimentskommandeur auch ins Gesicht<br />

: »Ich weiß schon, was du in Tschetschenien für<br />

ein Held warst, bloß in den Stäben herumgedrückt hast<br />

du dich.« Worauf dieser Petrow zurückschlug und Rinats<br />

wundeste Stelle traf : »So, jetzt habe ich dich, Major<br />

… Für deine lose Zunge mache ich dich zum Pen-<br />

328


ner … entlasse dich ohne Wohnung. Dann sitzt du mit<br />

deinem Kind auf der Straße.«<br />

Und er machte seine Drohungen wahr. Zuerst demütigte<br />

er Rinat, einen Offizier mit einmaliger Kampferfahrung,<br />

indem er ihn zum Platzwart des Exerziergeländes<br />

degradierte und ihm die Leitung des Garnisonsklubs<br />

übertrug. Dort organisierte Rinat Filmvorführungen für<br />

die Soldaten. Dann befahl ihm Petrow, Plakate zu malen.<br />

Nicht, dass Rinat dazu nicht im Stande gewesen wäre, er<br />

zeichnet sogar hervorragend, doch diese Aufgabe oblag<br />

eigentlich Petrows Frau, die nun überhaupt nicht mehr<br />

zum Dienst erschien. Alle Offiziere des Regiments wussten<br />

: Rinat arbeitete an Stelle von Petrows Gattin, die es<br />

sich derweil in dem schönen neuen Haus gut gehen ließ.<br />

Edik wurde krank, musste ins Krankenhaus eingeliefert<br />

werden, und die Ärzte rieten Rinat dringend, so oft<br />

wie möglich bei seinem Sohn zu sein. Rinat meldete sich<br />

jedes Mal bei Petrow ab, doch der trug ihn – trotz des<br />

offiziellen Krankenscheins – hinterher einfach als »unentschuldigt<br />

dem Dienst fern geblieben« in das Wachbuch<br />

ein. Danach trat auf Petrows Betreiben das Ehrengericht<br />

der Offiziere zusammen, strich Rinat auf der Grundlage<br />

eines gefälschten Protokolls von der Wohnungs-Warteliste<br />

und stellte den Antrag, ihn unehrenhaft aus der<br />

Armee zu entlassen. Schlimmer konnte es nicht kommen.<br />

»Weshalb ?« Der Major lässt den Kopf hängen. Er weiß,<br />

hier ist er nicht im Kampfeinsatz, hier behalten andere<br />

die Oberhand.<br />

Die Kriege, die unser Land führt, gehen überall dort<br />

329


weiter, wohin die Menschen, die diese Kriege ausgefochten<br />

haben, im Anschluss geraten ; vor allem in den Militäreinheiten,<br />

in die sie zurückkehren. Dort liefern die<br />

Stabsoffiziere denjenigen, die im Kampfeinsatz waren,<br />

erbitterte Gefechte. Jeder kleinste disziplinarische Verstoß<br />

eines »Kampfoffiziers« kann ihn – trotz seiner militärischen<br />

Verdienste – die Zugehörigkeit zu den Streitkräften<br />

kosten und ihm, als sei das nicht schon genug, obendrein<br />

noch Demütigungen und Beleidigungen eintragen. Major<br />

Rinat ist kein Einzelfall. Die Offiziere in der russischen<br />

Armee teilen sich jetzt in zwei ungleiche Lager. Die einen<br />

haben tatsächlich an militärischen Operationen teilgenommen,<br />

ihr Leben riskiert, Berge bezwungen, tagelang<br />

in Schneelöchern und Schützengräben ausgeharrt,<br />

mehr als eine Verwundung davongetragen. Sie können<br />

einem nur furchtbar leid tun. Diesen Offizieren fällt es<br />

schwer, sich zurechtzufinden in unserem normalen – für<br />

sie jedoch völlig unnormalen – Leben, wo man lavieren<br />

und taktieren muss, statt zum Maschinengewehr<br />

zu greifen. Sie finden keine gemeinsame Sprache mit<br />

den Stabsoffizieren, die häufig auch in Tschetschenien<br />

waren, allerdings dort nicht kämpften. Sie rebellieren,<br />

trinken, kommen nicht zur Ruhe. Und die Stabsoffiziere<br />

sitzen meist am längeren Hebel : Sie hängen den »Kämpfern«<br />

üble Geschichten an, denunzieren sie bei Vorgesetzten,<br />

bringen Gerüchte in Umlauf, spinnen <strong>In</strong>trigen.<br />

Und schon steht der widerspenstige Kampfoffizier vor<br />

der Entlassung. Und weshalb ? Weil er so ist, wie er ist.<br />

Weil die Kampfoffiziere allein durch ihre Anwesenheit<br />

330


in den Truppenteilen den Stabsoffizieren tagtäglich vor<br />

Augen führen, wer etwas taugt in der Militärwelt und<br />

wer nicht.<br />

Und die Stabsoffiziere ? Die steigen auf, von einem<br />

Dienstrang zum nächsten, mit kometenhafter Geschwindigkeit.<br />

Sie haben ihr Hinterland perfekt organisiert,<br />

erhalten Wohnungen, beziehen Datschas …<br />

Rinat hat am Ende aufgegeben. Er ist nicht mehr Angehöriger<br />

dieser Armee, die er so sehr liebte. Wohin es ihn<br />

und Edik verschlagen hat, weiß ich nicht. Ein unbehauster,<br />

bettelarmer Kampfoffizier. Ich habe Angst um ihn,<br />

weil ich ahne, wo er gelandet sein könnte. Aber nicht nur<br />

um ihn habe ich Angst, sondern um uns alle.


»NORD-OST« :<br />

DIE JÜNGSTE GESCHICHTE DER ZERSTÖRUNG<br />

Moskau, 8. Februar 2003. Erste-Dubrowskaja-Straße, aller<br />

Welt jetzt einfach als »Dubrowka« bekannt. <strong>In</strong> dem Gebäude,<br />

dessen Bild erst vor drei Monaten um den ganzen<br />

Erdball, durch alle Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehkanäle<br />

gegangen war, wird ein rauschendes Fest gefeiert.<br />

Fräcke, Abendkleider, die politische Prominenz ist vollständig<br />

versammelt – Regierungsmitglieder, Abgeordnete,<br />

Vorsitzende der parlamentarischen Fraktionen und Parteien,<br />

Küsse, Umarmungen, ein luxuriöses Büfett …<br />

Man feiert, zumindest in der Hauptstadt, den endgültigen<br />

Sieg über den »internationalen Terrorismus«. Die<br />

Pro-Putin-Politiker behaupten, dass die Wiederaufnahme<br />

des Musicals »Nord-Ost« auf den Ruinen des Terrorismus<br />

ein Beweis für diesen Sieg sei. Heute, am 8. Februar,<br />

findet die erste Aufführung seit dem 23. Oktober 2002<br />

statt, als einige Dutzend Terroristen aus Tschetschenien<br />

das unbewachte Theater während einer Abendvorstellung<br />

überfielen und die Schauspieler und Zuschauer 57 Stunden<br />

lang als Geiseln hielten. Die Geiselnehmer wollten<br />

Präsident Putin dazu zwingen, den zweiten Tschetschenien-Krieg<br />

zu beenden und die Armee aus ihrer Republik<br />

abzuziehen.<br />

Das ist ihnen nicht gelungen. Keiner hat die Armee<br />

333


zurückbeordert. Der Krieg geht weiter wie bisher, ohne<br />

irgendeine Pause, in der über die Richtigkeit der Methoden<br />

der Kriegsführung nachgedacht werden könnte.<br />

Geändert hat sich nur eins : Am frühen Morgen des 26.<br />

Oktober erfolgte gegen alle im Gebäude befindlichen<br />

Menschen, Terroristen wie Geiseln, insgesamt etwa 800<br />

Personen, eine Gasattacke. Das geheime militärische Gas<br />

wählte, wie wir jetzt genau wissen, der Präsident persönlich<br />

aus. Anschließend stürmten spezielle Antiterror-Einheiten<br />

das Theater, was zur Folge hatte, dass alle<br />

Geiselnehmer getötet wurden und fast 200 Geiseln ums<br />

Leben kamen. Viele von ihnen starben ohne medizinische<br />

Hilfe, die Zusammensetzung des Gases wurde sogar<br />

vor den Ärzten, die im Rettungseinsatz waren, streng geheim<br />

gehalten. Aber bereits am gleichen Abend erklärte<br />

Präsident Putin ohne mit der Wimper zu zucken, dass<br />

dies ein Sieg <strong>Russland</strong>s über die »Kräfte des internationalen<br />

Terrorismus« sei.<br />

Der zahlreichen Opfer dieser tödlichen Rettungsaktion<br />

wurde auf dem Fest am 8. Februar kaum gedacht. Es<br />

war nur eine der typischen modernen Moskauer Partys,<br />

auf der anscheinend viele bald vergessen hatten, worauf<br />

eigentlich angestoßen wurde. Sie sangen, tanzten, aßen,<br />

viele waren betrunken, viele redeten großen Unsinn, was<br />

umso zynischer war, weil sich das ganze Spektakel direkt<br />

am Schauplatz eines Massenmordes abspielte. Alle Angehörigen<br />

der Geiseln, die im Zuge der »Nord-Ost«-Tragödie<br />

gestorben waren, lehnten ihre Teilnahme an diesem<br />

Fest kategorisch ab, weil sie es für ein Sakrileg hielten.<br />

334


Auch der Präsident erschien nicht, weil er verhindert war,<br />

doch er schickte eine Grußadresse.<br />

Wozu hat er in seinem Schreiben gratuliert ? Dass<br />

uns keiner in die Knie zwingen kann. Seine Botschaft<br />

war in der typischen sowjetisch-stalinistischen Rhetorik<br />

abgefaßt : Um die Menschen, die gestorben sind, tut es<br />

uns natürlich leid, aber die <strong>In</strong>teressen der Gesellschaft<br />

sind höher zu veranschlagen … Die Produzenten dankten<br />

dem Präsidenten herzlich für sein Verständnis für<br />

ihre kommerziellen Probleme und versicherten, dass die<br />

Zuschauer, wenn sie wiederkämen, »nicht enttäuscht«<br />

sein würden, denn das Musical habe »einen neuen kreativen<br />

Impetus« erhalten.<br />

Aber nun zur Kehrseite der Medaille. Zu den Menschen,<br />

mit deren Leben der Präsident sich als Teil der<br />

internationalen Antiterror-Koalition präsentierte : Wir<br />

werden über jene sprechen, deren Leben keinen ›kreativen<br />

Impetus‹ durch die Ereignisse im »Nord-Ost«-Musicaltheater<br />

erfuhr, sondern deren Leben zerstört wurde,<br />

sowie über jene, deren Leben ein Ende gesetzt wurde –<br />

über die Opfer, die unsere heutige Staatsmaschinerie<br />

möglichst schnell zu vergessen versucht und auch uns<br />

mit allen nur erdenklichen Mitteln dazu bewegen will.<br />

Wir werden über die neue Staatsideologie sprechen, die<br />

eine Gefahr für Leib und Leben der Menschen darstellt.<br />

Und die Putin nicht nur einmal mit folgenden Worten<br />

untermauerte : »Koste es, was es wolle, wir geben nicht<br />

auf. Auch wenn der Preis hoch ist.«<br />

335


DIE ERSTE GESCHICHTE : DER FÜNFTE<br />

Der Moskauer Schüler Jaroslaw Fadejew ist die Nummer<br />

eins in der Liste der Todesopfer. Wie bekannt, lautet die<br />

offizielle Version der Ereignisse, dass die vier Geiseln, die<br />

ihren Schusswunden erlagen, auf jeden Fall durch die<br />

Hand der Terroristen starben. Denn die Spezialeinheit<br />

des FSB, <strong>Putins</strong> eigener, vertrauter Organisation, die das<br />

Theater stürmte, macht keine Fehler und kann folglich<br />

keine der Geiseln getötet haben.<br />

Aber den Fakten kann man nicht widersprechen. <strong>In</strong><br />

Jaroslaws Kopf steckt eine Kugel, allerdings steht sein<br />

Name nicht in der offiziellen Liste der vier von den Terroristen<br />

erschossenen Geiseln. Also ist Jaroslaw der Fünfte<br />

mit einer Kugel. Auf dem amtlichen Totenschein, den<br />

seine Mutter Irina Fadejewa für das Begräbnis bekommen<br />

hat, findet sich in der Spalte »Todesursache« nur<br />

ein Strich. Eine leere Stelle.<br />

Am 18. November 2002 wäre Jaroslaw, Schüler der<br />

zehnten Klasse einer Moskauer Schule, sechzehn Jahre alt<br />

geworden. Ein großes Fest und Geschenke waren geplant,<br />

wie es sich gehört. Stattdessen stand der Großvater, ein<br />

Moskauer Arzt, am Grab des nun für immer fünfzehnjährigen<br />

Jungen und sagte zum Abschied : »Ach, mein<br />

Junge, hast dich nicht einmal rasieren können.«<br />

Sie sind zu viert in die Vorstellung gegangen : Die<br />

Schwestern Irina Fadejewa und Viktorija Kruglikowa<br />

mit ihren Kindern Jaroslaw und Anastassija. Ira, die<br />

Mutter von Jaroslaw, Vika, die Mutter der neunzehn-<br />

336


jährigen Nastja. Ira, Nastja und Vika haben überlebt.<br />

Aber Jaroslaw kam ums Leben. Unter Umständen, die<br />

juristisch bislang nicht geklärt sind.<br />

Nach der Gasattacke und dem Sturm wurden Ira, Vika<br />

und Nastja in bewusstlosem Zustand ins Krankenhaus<br />

eingeliefert, von Jaroslaw fehlte jede Spur. Sein Name<br />

tauchte in keiner Liste auf. Überhaupt gab es keine verlässlichen<br />

offiziellen <strong>In</strong>formationen, unter der Nummer<br />

der Hotline, die von den Behörden in Fernsehen und<br />

Rundfunk durchgegeben wurde, war niemand zu erreichen,<br />

die Verwandten der Geiseln rannten in Moskau<br />

umher. Auch die Freunde unserer Familie waren darunter,<br />

sie durchkämmten die Hauptstadt, die Krankenhäuser<br />

und Leichenhallen.<br />

Schließlich fanden sie in einem »Kühlraum« in der<br />

Cholsunow-Gasse die Leiche Nr. 5714, die Jaroslaw sehr<br />

ähnlich sah. Aber sie fanden keinen Beweis für seine<br />

Identität. <strong>In</strong> der Tasche des Sakkos steckte zwar der Pass<br />

seiner Mutter, aber das Geburtsdatum auf der für Einträge<br />

zu Kindern vorgesehenen Seite stimmte nicht. Dort<br />

stand »Jaroslaw Fadejew, 18. 11. 1988«. Der echte Jaroslaw<br />

war aber Jahrgang 1986.<br />

»Als wir dort im Theater waren«, erzählt Irina Fadejewa<br />

später, »steckte ich meinem Sohn tatsächlich meinen<br />

Pass in die Hosentasche. Vorsichtshalber. Weil er keinen<br />

Ausweis mithatte. Ich hatte solche Angst, dass Jaroslaw,<br />

der sehr groß war und wie ein Achtzehnjähriger aussah,<br />

wegen seiner Größe nicht berücksichtigt werden würde,<br />

falls die Tschetschenen plötzlich anfingen, Kinder und<br />

337


Halbwüchsige freizulassen … Also habe ich mich vorsichtig<br />

unter dem Sessel versteckt und Jaroslaws Geburtsdatum<br />

korrigiert, ihn um zwei Jahre jünger gemacht.«<br />

Irinas Freund Sergej kam am 27. Oktober zu ihr ins<br />

Krankenhaus und erzählte von der Leiche Nr. 5714, vom<br />

Pass und der Ähnlichkeit mit Jaroslaw. Für Irina war<br />

sofort alles klar. Sie floh Hals über Kopf aus dem Krankenhaus,<br />

ohne Winterbekleidung, trotz der starken Kälte.<br />

Denn die Geiseln, die den Sturm auf das Musicaltheater<br />

überlebt hatten und in die Krankenhäuser eingeliefert<br />

worden waren, saßen auch dort fest. Auf Befehl<br />

der Sicherheitsdienste war es ihnen verboten worden,<br />

selbständig und auf eigenen Wunsch das Krankenhaus<br />

zu verlassen, sie durften weder telefonieren noch mit<br />

Familienangehörigen zusammenkommen. Sergej konnte<br />

nur ins Krankenhaus vordringen, weil er alle bestochen<br />

hatte, Krankenschwestern, Wachpersonal, Pfleger, Polizisten<br />

: Unsere totale Korruption öffnet jede noch so fest<br />

verschlossene Tür.<br />

Ira Fadejewa floh. Aus dem Krankenhaus und direkt<br />

zum Leichenschauhaus. Dort zeigte man ihr ein Computerfoto,<br />

sie erkannte Jaroslaw und bat darum, die Leiche<br />

zu bringen, tastete den Körper ihres Sohnes ab und<br />

entdeckte zwei Schusslöcher im Kopf. Ein Eintrittsloch<br />

und ein Austrittsloch. Beide Löcher waren mit Wachs<br />

zugestopft. Sergej, der Irina begleitete, wunderte sich<br />

sehr, weil sie äußerlich ganz ruhig blieb, nicht schluchzte,<br />

keinen hysterischen Anfall bekam, sondern vernünftig<br />

und ohne Emotionen redete.<br />

338


»Ich war tatsächlich sehr froh, dass ich ihn endlich gefunden<br />

hatte«, erzählt Irina Fadejewa. »Während ich im<br />

Krankenhaus lag, hatte ich über alles Mögliche nachgedacht,<br />

alle Varianten erwogen. Auch was ich tun würde,<br />

falls mein Sohn tot sein sollte. Als mir im Leichenschauhaus<br />

bewusst wurde, dass es sich wirklich um Jaroslaw<br />

handelte und damit mein Leben zu Ende war, tat ich nur<br />

das, was ich vorher beschlossen hatte. Ich bat alle ruhig,<br />

den Raum zu verlassen. Sagte, dass ich mit meinem<br />

Sohn allein bleiben wolle. Das hatte ich mir extra vorgenommen.<br />

Ich hatte ihm doch etwas versprochen. <strong>In</strong> der<br />

letzten Nacht, einige Stunden vor der Gasattacke, hatte<br />

er zu mir gesagt : ›Mama, ich schaffe es vielleicht nicht,<br />

ich habe keine Kraft mehr … Mama, wenn etwas passiert,<br />

was wird dann sein ?‹ Und ich hatte geantwortet :<br />

›Habe keine Angst. Wir waren hier immer zusammen,<br />

wir werden es auch dort sein.‹ Und er : ›Mama, und wie<br />

werde ich dich dort erkennen ?‹ Ich hatte erwidert : ›Ich<br />

halte dich doch die ganze Zeit an der Hand, wir werden<br />

auch dorthin zusammen gehen, weil wir uns an den<br />

Händen halten. Wir werden uns nicht verlieren. Lass nur<br />

nicht los, halte mich fest.‹ Und was ist geschehen ? Ich<br />

habe ihn betrogen ! Wir haben uns doch nie getrennt.<br />

Nie. Deswegen war ich so ruhig. Hier im Leben waren<br />

wir zusammen, und auch im Tod würden wir zusammen<br />

sein. Als ich dann mit ihm allein im Leichenschauhaus<br />

war, sagte ich zu ihm : ›Mach dir keine Sorgen, ich habe<br />

dich gefunden. Und werde gleich bei dir sein.‹ Es war<br />

noch nie vorgekommen, dass wir getrennt waren oder<br />

339


ich ihn angelogen hatte. Immer und überall zusammen.<br />

Deswegen war ich so ruhig damals … Ich ging durch<br />

einen Seiteneingang hinaus, um nicht auf die Freunde<br />

zu treffen, die auf mich warteten. Auf der Straße hielt<br />

ich ein Auto an, fuhr bis zur nächsten Moskwabrücke<br />

und sprang ins Wasser. Aber ich bin nicht ertrunken.<br />

Im Fluss waren Eisschollen, und ich geriet dazwischen.<br />

Ich kann nicht schwimmen, aber das Wasser hielt mich<br />

irgendwie. Dann waren plötzlich wie zum Trotz Menschen<br />

da und zogen mich heraus. Fragten : ›Wo kommst<br />

du denn her ? Wieso schwimmst du hier ?‹ Ich antwortete :<br />

›Ich komme aus dem Leichenschauhaus. Verratet mich<br />

nicht.‹ Ich gab ihnen die Telefonnummer, die sie anrufen<br />

sollten, und dann holte mich Sergej ab. Ich reiße mich<br />

natürlich mit aller Kraft zusammen, aber ich bin tot. Ich<br />

weiß nicht, wie es ihm dort ohne mich geht.«<br />

Als sie am 26. Oktober, nach der Erstürmung des<br />

»Nord-Ost«-Musicaltheaters, im Krankenhaus zu sich<br />

kam, entdeckte Irina Fadejewa, dass sie nackt unter der<br />

Decke lag. Die anderen weiblichen Geiseln trugen ihre<br />

Kleider, nur sie nicht, sie hielt nur eine kleine Ikone<br />

in der Hand. Als sie wieder sprechen konnte, bat sie<br />

die Krankenschwestern, ihr wenigstens irgendetwas von<br />

ihrer Bekleidung zu geben. Aber sie erklärten ihr, dass<br />

alles, was sie getragen hatte, als sie vom Musicaltheater<br />

hierher gebracht worden war, auf Befehl der Mitarbeiter<br />

der Sicherheitsdienste vernichtet worden war, weil ihre<br />

Kleidung mit Blut getränkt gewesen war.<br />

Aber warum ? Und wessen Blut war das ? Und woher<br />

340


kam das Blut, wenn dort offiziell nur Gas eingesetzt worden<br />

war ? Hatte sie das Bewusstsein verloren, als sie ihren<br />

Sohn fest umklammerte ? Das heißt also, dass er erschossen<br />

worden war. Das heißt, es war Jaroslaws Blut.<br />

»<strong>In</strong> der letzten Nacht war anfangs Unruhe im Raum«,<br />

erinnert sich Irina Fadejewa. »Die Terroristen waren nervös.<br />

Aber dann erklärte ihr Anführer Mowsar Barajew,<br />

den wir Mozart nannten, wir sollten uns bis elf Uhr vormittags<br />

entspannen, es gäbe einen Schimmer Hoffnung.<br />

Die Tschetschenen begannen, Getränke zu verteilen, die<br />

sie uns zuwarfen. Denn wir durften nicht aufstehen, und<br />

wenn man etwas brauchte, musste man die Hand heben.<br />

Als der Angriff begann und wir sahen, wie die Terroristen<br />

auf der Bühne herumrannten, sagte ich zu meiner<br />

Schwester : ›Decke Nastja mit der Jacke zu.‹ Ich umarmte<br />

Jaroslaw ganz fest. Im ersten Augenblick begriff ich nicht,<br />

dass es eine Gasattacke war, ich sah nur, dass die Terroristen<br />

nervös wurden. Da Jaroslaw größer war als ich,<br />

bedeckte er mich faktisch mit seinem Körper, als ich ihn<br />

umarmte. Dann verlor ich das Bewusstsein … Später, im<br />

Leichenschauhaus, sah ich das Eintrittsloch der Kugel. Ich<br />

musste mich also hinter ihm versteckt haben. Sein Kopf<br />

hat die Kugel abgefangen. Er hat mich gerettet … Obwohl<br />

ich es war, die die ganzen siebenundfünfzig Stunden in<br />

Geiselhaft davon geträumt hatte, ihn zu retten.«<br />

Aber wer hat den Schuss abgegeben ? Die Terroristen ?<br />

Oder die eigenen Leute ? Ist überhaupt eine ballistische<br />

Expertise durchgeführt worden ? Und mit welchen Ergebnissen<br />

? Und hat man eine biochemische Untersuchung<br />

341


des Bluts auf den Kleidern veranlasst, um festzustellen,<br />

von wem es stammt ?<br />

Keiner in der Familie weiß eine Antwort auf diese<br />

Fragen. Alle Unterlagen werden streng geheim gehalten,<br />

sogar vor der Mutter. Im Sterberegister des Leichenschauhauses<br />

stand zwar, dass die Todesursache eine Schusswunde<br />

war, aber der Eintrag war mit Bleistift geschrieben.<br />

Später wurde auch dieses Buch zur Verschlusssache<br />

erklärt, und man weiß nicht, ob in der Folge die Bleistiftnotiz<br />

ausradiert wurde oder nicht. Die Familie ist sich<br />

der Sache sicher : »Sie wurde natürlich entfernt.«<br />

»Zuerst dachte ich, es war eine von den Tschetscheninnen«,<br />

erzählt Irina Fadejewa. »Solange wir dort saßen,<br />

war sie immer in der Nähe, sah, dass ich, sobald<br />

es gefährlich wurde, bei Lärm, Geschrei, sofort meinen<br />

Sohn packte und ihn festhielt. Ich dachte, dass ich selbst<br />

schuld war, weil ich sie auf uns aufmerksam gemacht<br />

hatte. Mir schien, dass sie uns die ganze Zeit über beobachtete.<br />

Einmal stellte sie sich neben uns und sagte,<br />

während sie Jaroslaw anstarrte : ›Und meiner ist dort geblieben.‹<br />

<strong>In</strong> Tschetschenien, meinte sie. Danach ist uns<br />

zwar nichts passiert, aber ich glaube, sie beobachtete uns<br />

unentwegt. Hat sie vielleicht auf Jaroslaw geschossen ? Ich<br />

kann auch heute noch nicht schlafen. Immerzu sehe ich<br />

ihre Augen, den schmalen Streifen, der von ihrem Gesicht<br />

zu sehen war …«<br />

Später werden Iras Freunde ihr erklären, dass das<br />

Eintrittsloch nicht der Größe einer Pistolenkugel entspricht.<br />

Und die Tschetscheninnen waren nur mit Pis-<br />

342


tolen bewaffnet. Also bleibt die Frage : Von wem war die<br />

Kugel ? Wer hat geschossen ?<br />

»Unsere Leute müssen es gewesen sein«, sagt Ira. »Wir<br />

hatten nämlich sehr ungünstige Plätze. Vom Standpunkt<br />

der Geiseln aus betrachtet. Wir saßen außen, direkt<br />

neben den Türen. Und hatten Pech. Als die Terroristen<br />

in den Zuschauerraum stürmten, waren wir die Ersten,<br />

auf die ihr Blick fiel. Und auch als unsere Leute kamen,<br />

waren wir die Ersten auf ihrem Weg.«<br />

Irina Fadejewa kann sich den Kopf zerbrechen, solange<br />

sie will. Ihr Standpunkt und ihre Mutmaßungen sind<br />

den Behörden gleichgültig. Die offizielle Position lautet :<br />

Vier Tote durch Schusswaffen und nicht einer mehr. Jaroslaw<br />

wäre der fünfte Tote, doch der ist in der offiziellen<br />

Statistik nicht vorgesehen. Deswegen gähnt in Jaroslaws<br />

Totenschein an der Stelle, wo die Todesursache vermerkt<br />

sein sollte, eine feige Leere. Und deshalb wurde Jaroslaw<br />

im Strafverfahren Nr. 229133, dem so genannten »Nord-<br />

Ost-Strafverfahren«, das die Moskauer Staatsanwaltschaft<br />

eingeleitet hatte, offiziell nicht als Opfer anerkannt. Als<br />

wäre er nicht unter den Geiseln gewesen …<br />

»Mich bringt es um, dass Jaroslaw gelebt hat, aber<br />

die Behörden jetzt so tun, als hätte dieser Mensch nie<br />

existiert«, sagt Ira.<br />

Mehr noch. Als sich Irina Fadejewa mit ihrem Verdacht,<br />

ihren Zweifeln und offenen Fragen an einige Journalisten<br />

wandte, wurde sie sofort vor die Staatsanwaltschaft<br />

zitiert. Der Untersuchungsrichter fuhr sie erzürnt<br />

343


an : »Wollen Sie hier einen Skandal vom Zaun brechen ?<br />

Begreifen Sie nicht, es ist unmöglich, dass er erschossen<br />

wurde.« Und er jagte der armen Mutter, die sich ohnehin<br />

schon in einem entsetzlichen moralischen Zustand<br />

befand, noch ordentlich Angst ein : »Entweder Sie geben<br />

sofort eine schriftliche Erklärung ab, dass Sie nichts<br />

dergleichen zu Journalisten gesagt und diese alles selbst<br />

erfunden haben, in diesem Fall werden wir die Journalisten<br />

wegen Verleumdung der Sicherheitsdienste verklagen,<br />

oder wir exhumieren ohne Ihre Erlaubnis die Leiche<br />

Ihres Sohnes !«<br />

Ira ging auf diese gemeine Erpressung nicht ein und<br />

dementierte nichts.<br />

Irina Fadejewas Leben hat sich völlig verändert. Sie geht<br />

nicht mehr zur Arbeit und hat selbst gekündigt, weil sie<br />

nicht mehr wie zu Jaroslaws Lebzeiten tagtäglich dorthin<br />

gehen kann, denn auch an ihrer Arbeitsstelle erinnert<br />

sie alles an ihren Sohn. Die Kollegen hatten ein sehr<br />

gutes Verhältnis zueinander, wussten viel voneinander,<br />

feierten zum Beispiel mit Ira jede Prüfung, die Jaroslaw<br />

bestanden hatte.<br />

»Alle wussten, dass Jaroslaw mein Lebensinhalt war.<br />

Mein Dasein war so von ihm ausgefüllt, dass meine<br />

Kollegen mich nur im Zusammenhang mit ihm wahrgenommen<br />

haben.« Ira weint. »Und auch ich habe mich<br />

so gesehen. Nur in Bezug auf ihn.«<br />

Derzeit kann sie auch nicht durch Moskau spazieren,<br />

weil sie alles an ihn erinnert.<br />

344


»Als ich über den Arbat fuhr, wäre ich am liebsten im<br />

Erdboden versunken. An dieser Ecke standen Jaroslaw<br />

und ich einmal zusammen, in diesem Kino waren wir,<br />

in dem Kaffeehaus … Ich habe jetzt Angst, das Haus zu<br />

verlassen. Habe Angst, an einen Ort zu kommen, an dem<br />

wir zusammen waren. Aber wir waren überall in Moskau.<br />

Oft sind wir einfach so herumgefahren. Ich holte<br />

ihn nach der Arbeit mit dem Auto ab, wir schalteten das<br />

Radio ein und fuhren durch die Stadt. Oft gingen wir in<br />

ein kleines Geschäft, um etwas Leckeres zu kaufen. Hier<br />

habe ich Fahrkarten. Für den Zug nach Sankt Petersburg.<br />

Denn in der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober,<br />

der Nacht, in der er starb, hatten wir eigentlich nach<br />

Sankt Petersburg zu einem Tennisturnier fahren wollen.<br />

Zu zweit. Lange schon wollte ich eine Zugreise mit ihm<br />

machen, weil ich immer das Gefühl hatte, dass wir zu<br />

wenig miteinander redeten. Und unterwegs, allein im<br />

Abteil, hätten wir uns ausführlich unterhalten können …<br />

Aber daraus wurde nichts.«<br />

Auf die Frage, warum sie den Eindruck hatte, dass<br />

sie und ihr Sohn zu wenig miteinander redeten, antwortet<br />

sie :<br />

»Ich weiß es nicht. So ein komisches Gefühl. Obwohl<br />

wir viel miteinander sprachen, kam es mir immer so vor.<br />

Ich wollte ohne Unterlass mit ihm reden. <strong>In</strong> den Ferien<br />

sind wir immer zusammen verreist. <strong>In</strong> letzter Zeit dachte<br />

ich manchmal, dass ihm meine Liebe lästig wurde. Mir<br />

hat er das natürlich nicht gesagt, aber meiner Mutter<br />

gegenüber eine Andeutung gemacht. Meine Liebe wurde<br />

345


ihm langsam zu viel. Ich versuche mich jetzt am Riemen<br />

zu reißen, weil ich noch meine Eltern habe. Auch für sie<br />

ist es ein Schock, sie haben Jaroslaw doch großgezogen.<br />

Ich gebe mir wirklich Mühe zu leben, aber trotzdem<br />

fühle ich mich wie tot.«<br />

Die vor dem Terroranschlag entstandenen Fotos zeigen<br />

uns eine schöne, selbstbewusste, glückliche, etwas mollige,<br />

sehr junge Frau. Jetzt ist sie eine abgemagerte,<br />

schmale, verunsicherte, nicht mehr junge Person, mit<br />

Verzweiflung im erloschenen Blick. Trägt immer einen<br />

schwarzen Mantel, eine schwarze Baskenmütze, schwarze<br />

Schuhe und schwarze Strümpfe, friert ständig und legt<br />

ihren Mantel auch im Zimmer nicht ab.<br />

»Jaroslaw und ich waren oft im Theater. An diesem<br />

Abend hatten wir Karten für eine andere Vorstellung in<br />

einem anderen Theater«, fährt Irina Fadejewa fort. »Wir<br />

waren bereits angezogen, Vika und Nastja kamen uns<br />

abholen, aber als wir im Korridor standen, bemerkten<br />

wir, dass die Karten für die Vorstellung vom Vortag<br />

waren. Jaroslaw freute sich, er wollte zu Hause bleiben,<br />

aber ich insistierte : ›Gehen wir doch zu »Nord-Ost«, das<br />

ist ganz in der Nähe !‹ Wir wohnen nicht weit von der<br />

Dubrowka entfernt. So war es, ich habe ihn mit ins Theater<br />

geschleppt, und dann habe ich ihn noch nicht einmal<br />

mit meinem Körper gedeckt. Er hat mich geschützt,<br />

ich aber habe ihn im entscheidenden Augenblick nicht<br />

gerettet. Es ist schrecklich, wenn man für den eigenen<br />

Sohn das Wichtigste nicht tun kann. Denn dort war mir<br />

346


eines klar : Selbst wenn ich aufstehe und sage : ›Tötet mich<br />

an seiner Stelle !‹, und sie bringen mich um, heißt das<br />

noch lange nicht, dass sie ihn am Leben lassen. Verstehen<br />

Sie, wie grauenvoll das ist ? Das Letzte, was er zu mir<br />

sagte, war : ›Mama, ich möchte dich so gern ganz klar im<br />

Gedächtnis behalten, wenn etwas passiert.‹ Und sah mich<br />

dabei ganz aufmerksam an, das war der Abschied.«<br />

»Solange ich Jaroslaw hatte, erwachte ich morgens als<br />

die glücklichste Frau auf der ganzen Welt. Mit demselben<br />

Gefühl schlief ich auch ein. Ich glaubte, dass mich alle<br />

Menschen um meinen wunderbaren Sohn beneiden. Alle<br />

Leute haben viele Probleme in ihrem Leben, die habe ich<br />

natürlich auch. Aber durch ihn rückten meine Probleme<br />

in den Hintergrund. Ich glaube jetzt, dass man nicht so<br />

glücklich sein darf. Die ganzen fünfzehn Jahre seines<br />

Lebens über war ich die glücklichste Frau der Welt. Ich<br />

kam von der Arbeit nach Hause und dachte, ich müsste<br />

einfach vor Glück platzen, nur weil es ihn gibt. Wenn wir<br />

über die Straße liefen, fasste ich immer nach seiner Hand.<br />

Als er älter wurde, sagte er : ›Mama, du übertreibst.‹ Er<br />

fing an, sich für mich zu schämen. Das ist verständlich<br />

in diesem Alter, aber er hat mir nie wehgetan. Natürlich,<br />

jede Mutter spricht so über ihren Sohn, aber meiner ist<br />

nicht mehr da. Und ich weiß, es gibt nichts Schlimmeres.<br />

Ich erinnere mich noch, wie ich früher geredet habe : ›Was<br />

für ein Glückspilz bin ich, weil er geboren wurde.‹ Und<br />

jetzt ist er tot, und ich bin allein. Ich kann noch nicht<br />

leben ohne ihn. Ich bin mit ihm so glücklich gewesen<br />

und habe ihm ein so schreckliches Ende bereitet.«<br />

347


Sie schluchzt.<br />

»Dieser Krieg ist schuld. Der Krieg geht weiter«, sagt<br />

Irina Fadejewa immer wieder. »Jetzt hat er auch uns<br />

erwischt.«<br />

Sie bringt es auf den Punkt. Die Schicksale der einzelnen<br />

Menschen hängen von der gesellschaftlichen Situation<br />

im Land ab. So sind die Umstände in <strong>Russland</strong> : Der<br />

Präsident bleibt hart, er führt den Krieg weiter.<br />

DIE ZWEITE GESCHICHTE : NUMMER 2551 – DER UNBEKANNTE<br />

Die Gerichte waren bei uns nie wirklich unabhängig, obwohl<br />

unsere Verfassung das eigentlich vorschreibt. Doch<br />

unter Putin steuert die russische Gerichtsbarkeit auf eine<br />

absolute Abhängigkeit von der Exekutive zu. Meistens<br />

fällt ein Richter das Urteil, das ihm irgendein Vertreter<br />

der Exekutive zuvor am Telefon diktiert hat. Dies ist<br />

ein ganz alltägliches Phänomen in <strong>Russland</strong>. Falls ein<br />

Richter jedoch einmal ein unabhängiges Urteil spricht,<br />

empfinden die Leute das als Heldentat.<br />

Die Opfer von »Nord-Ost«, wie man sie in <strong>Russland</strong><br />

jetzt nennt, also die Familien, die ihre Angehörigen bei<br />

der Tragödie verloren, sowie die Geiseln, die den Gaseinsatz<br />

vom 26. Oktober nur als <strong>In</strong>validen überlebten, gingen<br />

vor Gericht. Um den Staat, das heißt die Moskauer<br />

Stadtregierung, als Verantwortliche auf Schadenersatz<br />

zu verklagen. Die Opfer sind der Auffassung, dass die<br />

Beamten der Moskauer Regierung es unterlassen haben,<br />

348


eine schnelle und adäquate Hilfe für die Betroffenen<br />

zu organisieren, um einen Konflikt mit Putin und dem<br />

FSB zu vermeiden. Was die direkte Verantwortung der<br />

Stadtregierung für das Geschehene noch unterstreicht, ist<br />

die Tatsache, dass Juri Luschkow, der Moskauer Bürgermeister<br />

und Chef der städtischen Exekutivgewalt, eine<br />

der wenigen Personen ist, die Präsident Putin zu der<br />

Entscheidung gedrängt haben, beim Sturmangriff chemische<br />

Waffen gegen die Menschen einzusetzen.<br />

Im November 2002 wurden im Twersker Stadtbezirksgericht<br />

in Moskau die ersten Klagen eingereicht. Zu Beginn<br />

des ersten Verfahrens, das die Richterin Marina<br />

Gorbatschowa am 17. Januar 2003 eröffnete, lagen insgesamt<br />

einundsechzig Klagen vor. Die Summe des geforderten<br />

Schadenersatzes betrug 60 Millionen Dollar.<br />

Die Kläger erklärten, dies wäre der Preis für »die Lügen<br />

des Staates«, denn sie wollten in erster Linie »die Wahrheit<br />

darüber erfahren, warum ihre Angehörigen sterben<br />

mussten«. Eine Wahrheit, die ihnen nirgends gesagt<br />

wurde, weil der FSB alles streng geheim hält, was mit<br />

dem Terrorattentat im Oktober zu tun hat. Da Putin als<br />

ehemaliger Geheimdienstler aber seine schützende Hand<br />

über den FSB hält, kam es im Vorfeld der Verhandlungen<br />

in den staatlichen Medien zu einer hemmungslosen<br />

Propaganda gegen die Kläger. Ihnen wurde unterstellt,<br />

auf unverschämte Weise den Staatshaushalt plündern, für<br />

Rentner und Waisenkinder vorgesehene Mittel kassieren<br />

und sich am Tod ihrer Familienangehörigen bereichern<br />

zu wollen. Der Rechtsanwalt Igor Trunow, der sich dazu<br />

349


ereit erklärt hatte, die Opfer von »Nord-Ost« zu verteidigen<br />

(alle berühmten Moskauer Anwälte hatten dies<br />

nämlich aus Angst vor dem Zorn des Kreml abgelehnt),<br />

wurde sämtlicher Todsünden beschuldigt, und in den<br />

Medien wurde kübelweise Dreck über ihn ausgeschüttet.<br />

Kurz gesagt, die Behörden verteidigten sich frech und<br />

aggressiv und entfachten eine gewaltige PR-Kampagne<br />

gegen die »Nord-Ost«-Kläger.<br />

Als wären sie selbst die Opfer.<br />

Am 23. Januar wies Marina Gorbatschowa, wie es sich<br />

für unsere hörigen Richter gehört, die drei ersten Klagen<br />

ab, unter Berufung auf irgendeinen formalen Punkt in<br />

unserem Gesetzbuch. Angeblich wiesen die Abschnitte<br />

im Paragrafen über »den Kampf gegen den Terrorismus«<br />

Widersprüche auf und ließen unterschiedliche Lesarten<br />

zu. Eine Formulierung könne man so interpretieren, dass<br />

der Staat nicht dazu verpflichtet sei, Opfern von Anschlägen<br />

Schadenersatz zu zahlen. Und sie wies die Klagen<br />

nicht nur einfach ab, sondern tat dies genauso frech,<br />

unverschämt und aggressiv wie die Behörden, in deren<br />

Auftrag sie handelte. Die Gerichtsverhandlungen dienten<br />

dazu, die »Nord-Ost«-Kläger auf unzulässige Weise zu<br />

beleidigen und zu erniedrigen.<br />

Einige kurze Aufzeichnungen aus der Verhandlung vom<br />

23. Januar können dem Leser einen Eindruck vermitteln,<br />

was sich im Gerichtssaal abspielte :<br />

»Karpow, nehmen Sie Platz ! Ich sagte, setzen Sie sich !«<br />

»Ich möchte auch etwas sa…«<br />

350


Die Richterin Gorbatschowa unterbrach mit einem<br />

Schrei den Kläger Sergej Karpow, Vater von Alexander<br />

Karpow, einem bekannten Moskauer Sänger, Dichter und<br />

Übersetzer, der durch das Gas erstickt war.<br />

»Setzen Sie sich, Karpow ! Sonst lasse ich Sie aus dem<br />

Saal entfernen ! Sie haben das Studium der Unterlagen<br />

geschwänzt.«<br />

»Habe ich nicht ! Man hat mir einfach keine Vorladung<br />

geschickt !«<br />

»Und ich sage, Sie haben geschwänzt ! Setzen Sie sich !<br />

Oder ich lasse Sie entfernen !«<br />

»Ich möchte etwas einreichen …«<br />

»Ich werde von Ihnen nichts annehmen !«<br />

Die Richterin verzog hysterisch das Gesicht, ihre Augen<br />

waren leer, ihre schrille Stimme überschlug sich wie<br />

die einer Marktfrau. Gleichzeitig säuberte sie ihre Fingernägel.<br />

Ein unglaublicher Anblick. Die Maßregelung<br />

von Sergej Karpow ging weiter :<br />

»Karpow, Sie brauchen gar nicht mehr die Hand zu<br />

heben !«<br />

»Ich bitte darum, mir endlich meine Rechte zu erklären<br />

!«<br />

»Keiner hier wird Ihnen etwas erklären !«<br />

Der seit langem nicht mehr geputzte Gerichtssaal war<br />

voll. Journalisten, denen man verboten hatte, die Aufnahmegeräte<br />

einzuschalten. (Warum eigentlich ? Um welche<br />

Staatsgeheimnisse handelte es sich denn hier ?) Die Opfer<br />

mit ihren zermarterten Seelen – man wagte nicht einmal,<br />

351


sie anzusprechen, weil sie sofort in Tränen ausbrachen ;<br />

ihre Verwandten und Freunde, die gekommen waren,<br />

um Beistand zu leisten, falls jemand bewusstlos werden<br />

oder einen Herzanfall bekommen sollte. Aber die Dame<br />

in der schwarzen Robe steigerte ihre Grobheit noch.<br />

»Chramzowa W. I., Chramzowa I. F., Chramzow ! Haben<br />

Sie etwas zu sagen ? Nein ?«<br />

Die Richterin nannte nur die <strong>In</strong>itialen der Kläger, rief<br />

sie nicht mit Vor- oder Vatersnamen auf.<br />

»Ich habe etwas zu sagen«, antwortete ein großer,<br />

schlanker, junger Mann.<br />

»Chramzow ! Sprechen Sie !«<br />

Die Richterin artikulierte dieses »Sprechen Sie !« in<br />

einem Ton, als würde sie einem Bettler unwirsch ein<br />

Almosen geben.<br />

Alexander Chramzow, der seinen Vater, Trompeter im<br />

Musicalorchester, verloren hatte, begann mit tränenerstickter<br />

Stimme zu sprechen :<br />

»Mein Vater hat mit verschiedenen Orchestern die<br />

ganze Welt bereist. Hat unser Land und unsere Stadt<br />

überall vertreten. Sein Tod ist ein schrecklicher Verlust.<br />

Spüren Sie das nicht ? Die Moskauer Behörden haben<br />

keinerlei Schutzmaßnahmen gegen Terroristen getroffen.<br />

Die konnten hier unbehelligt umher spazieren. Ja,<br />

für den Sturmangriff trägt die Stadt keine Verantwortung.<br />

Aber warum wurden vierhundert Menschen ins<br />

Krankenhaus Nr. 13 eingeliefert, obwohl es dort zu wenig<br />

Personal gab, nur fünfzig Leute, die komplett über-<br />

352


fordert waren ? Die Menschen starben, noch ehe sie Hilfe<br />

erhalten hatten … Auch mein Vater …«<br />

Die Richterin, die auf ihrem Stuhl thronte, wirkte<br />

völlig abwesend. Kein Hinweis darauf, dass sie zuhörte.<br />

Auch die Worte darüber, wie der Musiker Fjodor Chramzow<br />

gestorben war, berührten sie nicht. Um irgendwie<br />

die Zeit totzuschlagen, schob sie gelangweilt Papiere hin<br />

und her, sah ab und zu zum Fenster, korrigierte den<br />

Sitz ihres Kragens, schielte wieder auf das dunkle Fenster,<br />

kratzte sich am Ohr, das sie wahrscheinlich wegen<br />

des Ringes darin juckte. Und der Sohn redete weiter.<br />

Sprach zu den drei Beklagten an einem Seitentisch, den<br />

»Repräsentanten der Stadt Moskau«, Angestellten der<br />

Justizverwaltung der Stadtregierung. An wen sollte sich<br />

Alexander Chramzow sonst wenden ? Etwa an die Richterin,<br />

die ihre gepflegten Fingernägel betrachtete ?<br />

»Warum hat man nicht wenigstens Medizinstudenten<br />

in die Krankenhäuser beordert, wenn es einen solchen<br />

Mangel an Ärzten gab ? Oder zumindest in die Busse, mit<br />

denen die Geiseln in die Hospitäler gebracht wurden ?<br />

Sie hätten sich unterwegs um sie kümmern können. Sie<br />

starben doch, weil sie auf dem Rücken lagen !«<br />

»Chramzow !«, unterbrach ihn die Richterin nervös.<br />

»Wo schauen Sie hin ? Sie müssen mich ansehen !«<br />

»Schon gut«, Alexander Chramzow wendete den Kopf in<br />

Richtung des Richterstuhls. »Sie erstickten auf dem Weg<br />

ins Krankenhaus, sie erstickten während der Fahrt …«<br />

Alexander Chramzow weinte. Wie sollte man auch so<br />

etwas aushalten ?<br />

353


Hinter ihm weinte seine Mutter, Valentina Chramzowa,<br />

die Ehefrau des Trompeters. Schwarz gekleidet<br />

saß sie in der ersten Reihe, knapp hinter dem kleinen<br />

Podest für die Vorgeladenen, auf dem Alexander Chramzow<br />

stand. Ausgeschlossen, dass die Richterin sie nicht<br />

sah. Neben Valentina Chramzow saß Olga Milowidowa,<br />

das Gesicht in einem Tuch verborgen, ihre Schultern<br />

zuckten, aber sie unterdrückte das Weinen, damit ihr<br />

kein Laut entkam. Die Kläger wussten, dass man die<br />

Richterin nicht ärgern durfte, sie könnte überhaupt alle<br />

hinausjagen. Dann musste man mehrere Stunden vor<br />

geschlossenen Türen stehen, was sehr anstrengend war.<br />

Olga war im siebenten Monat schwanger, ihre älteste<br />

Tochter Nina war im Zuschauerraum des Musicaltheaters<br />

gestorben. Olga Milowidowa hatte ihr die Karte gekauft,<br />

und das Mädchen war am 23. Oktober zu dieser<br />

»verdammten Aufführung« gegangen, wie Olga Milowidowa<br />

heute sagt.<br />

»Warum erniedrigen Sie uns ?«, rief Tatjana Karpowa,<br />

die Mutter des verstorbenen Alexander und Frau von<br />

Sergej. »Warum ?« Soja Tschernezowa, die Mutter des<br />

einundzwanzigjährigen Danila, eines Studenten, der im<br />

Theater als Platzanweiser gearbeitet hatte und infolge des<br />

Gases erstickt war, stand auf und verließ den Saal. Jenseits<br />

der Eingangstür hörte man ihr lautes, verzweifeltes<br />

Weinen : »Ich sollte Großmutter werden …« Ihre schwangere<br />

Schwiegertochter hatte am neunten Tag nach Danilas<br />

Begräbnis eine Fehlgeburt erlitten. »Und bekommen<br />

habe ich einen Prozess, in dem ich schikaniert werde.«<br />

354


Wie dem nackten König das Kleid, fehlt uns so etwas wie<br />

eine Gerichtskultur. Und ein unabhängiges Rechtswesen.<br />

Wie wir am Beispiel der Richterin Gorbatschowa sehen.<br />

Gut, sie arbeitet für den Staat, hat Angst, ihre beruflichen<br />

Begünstigungen zu verlieren. Deswegen kann sie<br />

sich auch nicht für die Opfer des Anschlags einsetzen,<br />

muss ihre Forderungen zur Gänze zurückweisen. Schon<br />

möglich …<br />

Aber wozu die Grobheit ? Die Schikanen ? Die Erniedrigungen<br />

? Warum beleidigt sie die ohnehin schon Geschädigten<br />

? Wer ist denn eigentlich die Richterin Gorbatschowa,<br />

die mit solchem Einsatz die öffentlichen Gelder<br />

verteidigt ? Auf den ersten Blick ist die Antwort ganz<br />

einfach. Sie ist die Vertreterin eines Machtbereichs, den<br />

wir Bürger mit unseren Steuern finanzieren. Die Richterin<br />

lebt also ausschließlich von unserem Geld, wir bezahlen<br />

sie, und nicht etwa sie uns. Warum hat sie dann<br />

keinen Respekt vor dem Steuerzahler ? Wir finanzieren<br />

die Richterin Gorbatschowa doch nicht, damit sie uns<br />

beleidigt, statt uns mit Dankbarkeit und Achtung zu<br />

begegnen.<br />

Sie denken, dass die staatlichen Medien darüber berichtet<br />

haben ? Selbstverständlich nicht. Tag für Tag<br />

wurde die Öffentlichkeit darüber informiert, dass die<br />

Richterin Gorbatschowa die volle Unterstützung der Obrigkeit<br />

genießt, Recht hat und die <strong>In</strong>teressen des Staates<br />

schützt, die höher zu veranschlagen sind als die privaten.<br />

Dies ist die neue Ideologie unseres Landes. Die Putin’sche<br />

Ideologie. Zuerst wurde sie in Tschetschenien<br />

355


erprobt. Damals, als Putin mit den dröhnenden Geschossen<br />

des zweiten Tschetschenien-Krieges als Begleitmusik<br />

den Thron im Kreml bestieg, beging unsere Gesellschaft,<br />

in ihrem traditionellen Unwillen zur Reflexion,<br />

einen tragischen und absolut unmoralischen Fehler : Sie<br />

ignorierte die reale Situation in Tschetschenien, die Tatsache,<br />

dass nicht Terroristenlager bombardiert wurden,<br />

sondern Städte und Dörfer, dass Hunderte unschuldiger<br />

Menschen starben. Damals wurde sich die Mehrheit der<br />

in Tschetschenien lebenden Menschen ihrer hoffnungslosen<br />

und ausweglosen Lage bewusst. Ohne Angabe von<br />

Gründen verschleppte man ihre Kinder, Väter, Brüder –<br />

keiner weiß, wohin. Und die militärischen und zivilen<br />

Machthaber sagten (und sagen auch jetzt) den Familien :<br />

»Vergesst es. Schluss. Ihr braucht nicht zu suchen. Die<br />

höheren <strong>In</strong>teressen des Krieges gegen den Terrorismus<br />

verlangen das so.«<br />

Die Gesellschaft hat drei Jahre geschwiegen – oder<br />

so gut wie geschwiegen. Die überwiegende Mehrheit<br />

verfolgte die Ereignisse in Tschetschenien herablassend.<br />

Zynisch ignorierte man die Meinung von Leuten, die<br />

einen Bumerangeffekt prophezeiten und sagten, dass<br />

sich die Staatsmacht bald auch in anderen Regionen des<br />

Landes ganz wie in Tschetschenien aufführen werde.<br />

Wir haben es mit dem alten Muster zu tun. Die Opfer<br />

des Terroranschlags und die Angehörigen der Toten<br />

bekommen den bekannten Satz zu hören : »Vergesst es.<br />

Die <strong>In</strong>teressen des Staates sind höher zu bewerten als<br />

eure privaten.« Das heißt, der Staat verhält sich gegenü-<br />

356


er den Opfern von »Nord-Ost« genau so, wie er es im<br />

Verlauf von mehr als drei Jahren der zivilen Bevölkerung<br />

in Tschetschenien gegenüber getan hat. Vielleicht um<br />

eine Spur besser. Wenigstens spendierte er fünfzig- oder<br />

hunderttausend Rubel fürs Begräbnis. <strong>In</strong> Tschetschenien<br />

gibt es nicht einmal das.<br />

Und die Gesellschaft ? Unser Volk ? Im Großen und<br />

Ganzen zeigt es kein Mitleid, Mitleid in Form einer<br />

öffentlichen Bewegung, eines sichtbaren Protests, den<br />

die Machthaber nicht ignorieren könnten. Im Gegenteil.<br />

Die demoralisierte Gesellschaft wünscht sich Komfort<br />

und Ruhe auf Kosten des Lebens anderer Menschen.<br />

Deshalb läuft sie vor der »Nord-Ost«-Tragödie davon<br />

und vertraut eher der Gehirnwäsche des Staates (das ist<br />

einfacher) als der Wahrheit oder einem Nachbarn, der<br />

in so eine entsetzliche Situation geraten ist.<br />

Eine Stunde nachdem Alexander Chramzow sich zu<br />

Wort gemeldet hatte, leierte die Richterin Gorbatschowa<br />

die Entscheidung des Gerichts – zu Gunsten der Moskauer<br />

Stadtregierung – herunter. Alle verließen den Saal,<br />

drinnen blieben nur »die Sieger« : Juri Bulgakow, Jurist<br />

in der Finanzverwaltung der Stadt Moskau, Andrej Rastorgujew<br />

und Marat Gafurow, Berater der Moskauer Justizverwaltung.<br />

»Und, feiern Sie jetzt ?«, rutschte es mir heraus.<br />

»Nein.« Die drei sprachen plötzlich in einem traurigen<br />

Ton. »Wir sind doch Menschen. Wir verstehen alles. Es<br />

ist eine Schande, dass unser Staat sie so behandelt.«<br />

357


»Und warum kündigen Sie dann nicht ? Warum<br />

schmeißen Sie Ihre peinliche Arbeit nicht hin ?«<br />

Sie schwiegen. Der Moskauer Abend umfing uns mit<br />

seinen dunklen Armen. Die einen begleitete er in ihre<br />

warmen Häuser, erfüllt vom Lachen und der Liebe der<br />

Familie. Die anderen führte er in ihre hallenden Wohnungen,<br />

die seit dem 23. Oktober für immer leer blieben.<br />

Als Letzter ging ein gebückter, älterer, grauhaariger<br />

Mann mit ausdrucksvollen Augen. Während der ganzen<br />

Verhandlung hatte er ruhig, beherrscht und unbeteiligt<br />

in einer Ecke gesessen.<br />

»Wie heißen Sie ?« Ich holte ihn ein.<br />

»Tukai Walijewitsch Hasijew.«<br />

»Waren Sie unter den Geiseln ?«<br />

»Nein. Mein Sohn ist gestorben.«<br />

»Können wir uns treffen ?«<br />

Tukai Walijewitsch gab mir nur ungern seine Telefonnummer.<br />

»Ich weiß nicht, meine Frau … Es fällt ihr so schwer,<br />

über das Thema zu reden. Na gut, rufen Sie in einer<br />

Woche an, ich bereite sie vor.«<br />

Die Familie Hasijew aus Moskau ist wirklich durch die<br />

Hölle des eigenen Landes gegangen. Sie hat nicht nur den<br />

siebenundzwanzigjährigen Timur und damit Sohn, Enkel,<br />

Vater, Ehemann und Bruder verloren, der Orchestermusiker<br />

im »Nord-Ost«-Ensemble gewesen ist. Sie hat auch<br />

auf grauenvolle Weise die herrschende staatliche Ideologie<br />

zu spüren bekommen, die im Endeffekt Timur den<br />

358


eigentlichen Todesstoß gegeben hat. Denken Sie nicht,<br />

dass ich da in irgendeiner Form übertreibe.<br />

»Konnte Putin wirklich keinen Kompromiss mit den<br />

Tschetschenen eingehen ? Mit diesen Terroristen ?«, fragt<br />

Tukai Walijewitsch immer wieder. »Wem hat seine Unbeugsamkeit<br />

denn genützt ? Wir zum Beispiel brauchen<br />

sie nicht. Und wir sind auch Staatsbürger.«<br />

<strong>In</strong> diesem Haus am Wolgograder Prospekt ist Tukai<br />

Walijewitsch der Einzige, der nicht weint, wenn er<br />

spricht. Rosa Abdulowna, seine Frau, Tanja, Timurs junge<br />

Witwe, und die siebenundachtzigjährige Großmutter<br />

können sich nicht beherrschen. Um die Erwachsenen herum<br />

kreist wie eine kleine Rakete Sonja, Timurs blonde,<br />

dreijährige Tochter, deren dritten Geburtstag Timur<br />

nicht mehr mitfeiern konnte.<br />

Der Tisch wird gedeckt, Sonja klettert auf den Stuhl –<br />

sonst ist sie zu klein – und nimmt die größte Tasse an<br />

sich : »Die gehört Papa. Das ist Papas Tasse ! Finger weg !«<br />

Ihre Worte sind fest und kompromisslos. Großmutter<br />

Rosa hat ihr erklärt, dass der Papa jetzt im Himmel ist,<br />

wie Großmutters Papa auch, und dass er nicht mehr<br />

kommen wird. Aber das Kind ist zu klein, um zu begreifen,<br />

warum er nicht kommen kann, wenn sie, sein Liebling,<br />

so sehr auf ihn wartet.<br />

»Ich habe daran geglaubt, dass der Staat etwas unternehmen<br />

wird«, sagt Tukai Walijewitsch. »Die ganzen<br />

drei Tage, fast bis zum Ende des Geiseldramas. Ich habe<br />

gedacht, die Sicherheitsdienste werden sich etwas einfallen<br />

lassen, mit denen verhandeln, irgendetwas verspre-<br />

359


chen, sie einfach täuschen – und alles wird sich auflösen.<br />

Ehrlich gesagt habe ich nicht erwartet, dass sie das tun<br />

würden, was Shirinowski einen Tag vor dem Sturmangriff<br />

empfohlen hat. Ich erinnere mich, er hat gesagt,<br />

man solle einfach alle mit Gas betäuben, sie würden<br />

ein paar Stunden schlafen, dann aufstehen und weglaufen.<br />

Aber sie sind nicht aufgewacht. Und auch nicht<br />

weggelaufen.«<br />

Das ganze Leben Timur Hasijews drehte sich um die<br />

Musik und war mit dem Kulturhaus der Kugellagerfabrik<br />

in der Ersten-Dubrowskaja-Straße verbunden. Schon als<br />

Kind besuchte er hier die Musikschule, und hier fand<br />

er auch seinen Tod. Das Kulturhaus war für das Musical<br />

»Nord-Ost« gemietet worden, und Timur spielte im<br />

Orchester.<br />

Die Eltern, Tukai und Rosa, hatten früher in einer<br />

Gemeinschaftswohnung ganz in der Nähe gewohnt. Ihre<br />

zwei Söhne Eldar und Timur nahmen im Kulturhaus<br />

Akkordeonstunden. Die Lehrer rieten dem jüngeren<br />

Timur, den Musikunterricht fortzusetzen. Er war ein<br />

begabter Junge, und nach der zehnten Schulklasse, als<br />

die Zeit für die Berufswahl gekommen war, besuchte er<br />

einen Kurs an der Musikschule für Schlaginstrumente.<br />

Anschließend studierte er an der Musiklehranstalt für<br />

Blasinstrumente und bestand die Aufnahmeprüfung an<br />

der berühmten Gnessin-Musikakademie, von der er so<br />

lange geträumt hatte.<br />

Parallel zum Studium an der Gnessin-Musikakademie<br />

spielte Timur im Blasorchester und im Sinfonieorchester<br />

360


des Verteidigungsministeriums. Mit diesen gastierte er in<br />

Norwegen, sollte auch nach Spanien fahren, aber diese<br />

Reise war für die Zeit nach dem 23. Oktober geplant<br />

gewesen.<br />

»Das hier sind seine Uniform und sein Frack«, sagt<br />

Rosa Abdulowna, während sie den Kleiderschrank öffnet.<br />

Sie versucht, sich zu beherrschen. »Die vom Verteidigungsministerium<br />

wollten die Sachen abholen … Aber<br />

sie haben keine Zeit.«<br />

Sonja schnappt sich die Uniformmütze mit der glänzenden<br />

Kokarde, setzt sie auf und hüpft durch das Zimmer<br />

: »Papas Mütze ! Papas Mütze !« Tanja kann ihre Tränen<br />

nicht zurückhalten und geht weg.<br />

Nach Abschluss der Musikakademie erhielt Timur das<br />

Angebot, auch im Orchester von »Nord-Ost« mitzuspielen.<br />

Das war bereits seine dritte Arbeitsstelle, aber er<br />

sagte zu. Weil er verheiratet war und ein kleines Kind<br />

hatte. Auch Tanja musste wegen Sonja als Kindergärtnerin<br />

arbeiten, für einen entsprechend niedrigen Lohn,<br />

obwohl sie ausgebildete Schauspielerin und Regisseurin<br />

ist.<br />

Es ist altmodisch, an Mystik oder Vorahnungen zu<br />

glauben.<br />

»Aber einen Monat vor dem Anschlag konnte Timur<br />

nicht mehr schlafen«, erzählt Tanja. »Ich wachte mitten<br />

in der Nacht auf, und er saß da. Ich sagte zu ihm :<br />

›Leg dich hin, was ist los ?‹ Und er : ›Ich bin irgendwie<br />

unruhig.‹«<br />

Die Familie dachte, Timur sei einfach überarbeitet.<br />

361


Sein Tag begann sehr früh. Zuerst brachte er Sonja und<br />

Tanja mit dem Auto zum Kindergarten, dann fuhr er zu<br />

seinen Eltern, bei denen seine <strong>In</strong>strumente standen, um<br />

ein wenig zu üben. <strong>In</strong> letzter Zeit trainierte er seine linke<br />

Hand und freute sich über seine Fortschritte. Noch ein<br />

paar Jahre, dann werde er ein hervorragender Schlagzeuger<br />

sein, sagte er zu Tanja. Nachdem er geübt hatte,<br />

sprang er ins Auto und fuhr zur Probe des Militärorchesters,<br />

in der Pause brachte er Tochter und Frau vom<br />

Kindergarten nach Hause, und anschließend machte er<br />

sich auf den Weg zur Abendvorstellung des Musicals<br />

»Nord-Ost«. Nach Hause kam er kurz vor Mitternacht,<br />

und in der Früh ging alles wieder von vorne los. Alle<br />

sagten, er mache den Eindruck eines Menschen, der es<br />

sehr eilig mit dem Leben hat. Warum ? Er war doch<br />

erst siebenundzwanzig Jahre alt. Diese Frage kann jetzt<br />

keiner mehr beantworten. Auch die andere Frage nicht,<br />

nämlich warum Timur ausgerechnet am 23. Oktober im<br />

»Nord-Ost« war.<br />

»Es war ein Mittwoch«, erzählt Tanja. »Der Mittwoch<br />

war bei uns der Familientag, an dem Timur abends zu<br />

Hause war und ein anderer Schlagzeuger die Abendvorstellung<br />

von ›Nord-Ost‹ bestritt, aber ausgerechnet<br />

an diesem Tag hatte der Kollege Timur plötzlich dazu<br />

überredet, für ihn einzuspringen, weil sein Mädchen diesen<br />

Abend unbedingt mit ihm verbringen wollte. Sie hat<br />

ihren Freund gerettet. Und mein Mann ist eingesprungen,<br />

er war hilfsbereit und ist gestorben.«<br />

»Keiner will doch, dass die Sachen von einem Men-<br />

362


schen, der einem nahe steht, einfach irgendwo herumliegen.<br />

Nicht wahr ?«, fragt Rosa Abdulowna. »Also sind<br />

wir hingefahren, zum Musicaltheater. Selbstverständlich<br />

haben wir weder sein Handy, das er sich erst vor kurzem<br />

leisten konnte, noch seine anderen neuen Sachen<br />

gefunden. Das Einzige, was wir zurückbekommen haben,<br />

waren seine alte Jacke, auf deren Rücken jetzt der<br />

Abdruck eines Armeestiefels prangte, und ein T-Shirt.<br />

Sonst nichts.«<br />

Wir sind in den letzten Jahren ganz schön verroht und<br />

verkommener geworden. Das fällt immer mehr auf. Und<br />

je länger der Krieg im Kaukasus dauert, desto mehr werden<br />

viele Tabus zu gewöhnlichen, alltäglichen Dingen.<br />

Mord ? Kein Problem. Raub ? Na und. Beute ? Ein Gesetz.<br />

Die Verbrechen werden nicht nur im Gericht nicht geahndet,<br />

sondern auch die Gesellschaft ist gleichgültig geworden.<br />

Alles, was früher verboten war, ist erlaubt. Und doch<br />

schien es, dass das ganze Land in den schrecklichen Oktobertagen<br />

der Geiselnahme geeint war, die Leute überlegten,<br />

wie sie helfen könnten, beteten, hofften, warteten.<br />

Aber keiner konnte etwas tun. Die Sicherheitsdienste ließen<br />

niemanden durch, versicherten, dass sie alles unter<br />

Kontrolle hätten. Doch wie sich jetzt herausstellt, hat ein<br />

Teil ihrer Männer inzwischen einfach nach »Trophäen« gesucht,<br />

nach Wertgegenständen, neuer oder passender Kleidung.<br />

Und die Menschen werden das nie vergessen, auch<br />

wenn sie eine Million Dollar als Schadenersatz erhielten.<br />

Sie werden diese Plünderungen im Gedächtnis behalten.<br />

Als Timur das letzte Mal zur Arbeit ging, hatte er<br />

363


mehrere Ausweise mit Fotos bei sich. Den Mitgliedsausweis<br />

des Orchesters von »Nord-Ost«, des Orchesters vom<br />

Verteidigungsministerium, seinen Pass, seinen Führerschein.<br />

Außerdem ein Notizbuch mit den Telefonnummern<br />

von allen Freunden und Verwandten.<br />

Aber als Timurs Leiche am 28. Oktober seiner Familie<br />

übergeben wurde, stand auf dem Plastikschild an seiner<br />

Hand : »Nr. 2551, Hamijew, Unbekannter.«<br />

»Wie konnte das passieren ?«, fragt Rosa Abdulowna.<br />

»Wieso ›Hamijew‹ ? Und wenn schon ›Hamijew‹, warum<br />

dann ›Unbekannter‹ ? Hat man ihn überhaupt gesucht ?<br />

Man braucht doch nur sein Adressbuch aufzuschlagen,<br />

irgendeine Nummer zu wählen und zu fragen : ›Wer ist<br />

Timur Hasijew ? Kennen Sie ihn ?‹ Und die Leute würden<br />

sofort unsere Telefonnummer nennen.«<br />

Den langen Tag des 26. Oktober, den Tag nach dem<br />

Sturm, wird die Familie Hasijew nie vergessen.<br />

»Vom frühen Morgen bis um vier Uhr nachmittags<br />

stand sein Name in keiner der Listen, die von den<br />

Behörden ausgegeben wurden«, sagt Tukai Walijewitsch.<br />

»Nachdem wir alle Hospitäler und Leichenhäuser durchkämmt<br />

hatten, tauchte plötzlich eine kleine Liste mit<br />

etwa zwanzig Personen auf, darunter war Timurs Name.<br />

Es hieß, er lebt, liegt im Krankenhaus Nr. 7. Ich habe<br />

meine Frau angerufen und gesagt, dass alles in Ordnung<br />

ist. Wir haben vor Freude geweint, unsere Freunde haben<br />

uns gratuliert.« Tanja und ich fuhren kurz darauf zu<br />

diesem Krankenhaus.<br />

Aber vor dem Eingang stand ein Wachtposten und ließ<br />

364


keinen durch, er sagte, auf Anweisung der Staatsanwaltschaft.<br />

Tanja weinte. Sie tat dem Wachtposten leid, und<br />

er flüsterte Tukai Walijewitsch ins Ohr, es sei schlecht,<br />

wenn ›ihrer‹ da drin sei – dann sei er ein hoffnungsloser<br />

Fall. Tanja hörte das und bat ihn, das Tor zu öffnen. Der<br />

Wachtposten hatte Mitleid und ließ sie herein.<br />

Der Flur des Krankenhauses war leer, dann kam ihnen<br />

ein Milizionär mit einer Maschinenpistole über dem<br />

Bauch entgegen.<br />

»Dieser Mensch war absolut herzlos«, erzählt Tanja.<br />

»Er hätte etwas Beruhigendes sagen können oder sein<br />

Beileid aussprechen, aber nein, er sagte mir direkt ins<br />

Gesicht : ›Er ist tot. Gehen Sie weg von hier.‹ Ich fing<br />

natürlich an zu weinen und heulte etwa zwanzig Minuten<br />

lang. Dann kamen Ärzte angelaufen : ›Wer hat Sie<br />

hier hereingelassen ?‹«<br />

Als Tanja sich beruhigt hatte, bat sie um die Erlaubnis,<br />

sich von Timur zu verabschieden. Noch vor der Obduktion.<br />

Man erlaubte es ihr nicht. Obwohl sie darum bettelte.<br />

Der Milizionär sagte : »Bitten Sie Putin um Erlaubnis.«<br />

Später tauchten Leute von der Staatsanwaltschaft<br />

auf : »Warum haben Sie es so eilig ? Sie werden noch<br />

genug Zeit haben, den Sarg zu schließen ! Wie ist der<br />

Familienname ? Hasijew ? Ist er Tschetschene ?«<br />

Sein Name wurde Timur Hasijew zum Verhängnis.<br />

Man hielt seinen tatarischen Familiennamen für einen<br />

tschetschenischen – und alles Weitere lief dann schon<br />

automatisch, entsprechend der herrschenden Staatsideologie.<br />

365


Die Familie ist jetzt überzeugt : Timur ist gestorben,<br />

weil man ihn für einen Tschetschenen hielt und ihm<br />

deswegen absichtlich keine Hilfe angedeihen ließ. Als die<br />

Hasijews Timurs Körper aus der Leichenhalle abholten,<br />

stand groß geschrieben auf seiner Brust : Gestorben um<br />

9.30 Uhr, im Krankenhaus Nr. 7. Sonst war an dem Körper<br />

nichts zu sehen – keine Spur von einer Tropfflasche,<br />

einer Spritze oder einer Lungenventilation. Der Befehl<br />

»von oben« lautete, die Tschetschenen zu vernichten, und<br />

als einem angeblichen Tschetschenen stand Timur keine<br />

Behandlung zu. Nach dem Sturmangriff lag er viereinhalb<br />

Stunden sterbend da, es kam keine Anweisung, ihn<br />

zu retten. Die Staatsideologie hat Timur getötet.<br />

Tanjas letzte Worte lauteten : »Wir sind nichts wert in<br />

unserem Land. Wir sind menschlicher Abfall. Das ist der<br />

Kern der Geschichte von meinem Timur.«<br />

Während Tanja und Tukai Walijewitsch am 26. Oktober<br />

vor dem Tor des Krankenhauses standen und warteten,<br />

versuchte eine Gruppe von etwa zwanzig Personen<br />

– in Uniform und in Zivil – die Wohnung der jungen<br />

Hasijews zu stürmen. Die Nachbarin kam heraus<br />

und konnte es gerade noch verhindern. Die Leute sagten<br />

ihr, sie hätten aus dem Krankenhaus einen Fingerzeig<br />

bekommen, dass hier ein Tschetschene wohne.<br />

Was soll die Familie Hasijew jetzt tun ? Alles hinunterschlucken<br />

und schweigen ?<br />

»Als wir, die Kläger, im Twersker Stadtbezirksgericht<br />

davon berichteten, tat die Richterin Gorbatschowa so,<br />

als verstünde sie nicht, was wir meinten«, erinnert sich<br />

366


Tukai Walijewitsch. »Sie versicherte, dass alle ohne Ausnahme<br />

medizinisch versorgt worden seien.«<br />

Selbstverständlich hat man den Hasijews einen Totenschein<br />

in die Hand gedrückt, auf dem die Todesursache<br />

nicht eingetragen ist. Da findet sich nur ein Strich,<br />

kein Hinweis auf einen Terroranschlag. Das heißt, gegen<br />

Timur und seine Familie ist nicht nur die tödliche Staatsideologie<br />

am Werke, sondern auch die staatliche Justiz,<br />

die das ganze Beweismaterial verschwinden lässt.<br />

»Aber Sie haben sicher die Vertreter der Staatsanwaltschaft<br />

gefragt, warum in der Spalte ›Todesursache‹ nur<br />

ein Strich ist ?«<br />

»Natürlich, gleich am 28. Oktober. Und sie erklärten<br />

uns, das wäre eine Formalität, damit wir das Begräbnis<br />

schneller vorbereiten könnten. Und sobald die Ergebnisse<br />

der Obduktion bekannt wären, würde die Todesursache<br />

›auf jeden Fall‹ eingetragen werden.«<br />

»Und haben sie es gemacht ?«<br />

»Selbstverständlich nicht.«<br />

Das ist typisch. Bei uns erwartet man von den Machthabern<br />

sowieso nicht die Wahrheit, man sieht in ihnen<br />

nur eine unerschöpfliche Quelle von Unannehmlichkeiten<br />

– trotz ihres guten Abschneidens bei allen offiziellen<br />

Meinungsumfragen. Kürzlich wurde in der Administration<br />

des Präsidenten eine spezielle Abteilung eingerichtet,<br />

die für das »richtige Image« unseres Landes<br />

und des Präsidenten in der ganzen Welt zu sorgen hat.<br />

Das Konzept sieht eine Imageverbesserung vor und soll<br />

367


verhindern, dass negative <strong>In</strong>formationen über das Land<br />

und Putin nach außen durchsickern. <strong>Russland</strong> soll in<br />

den Augen der Welt gut dastehen. Besser wäre, wenn<br />

es in dieser Administration endlich eine Abteilung gäbe,<br />

die für die konsequente Imageverbesserung des Staates<br />

und des Präsidenten in den Augen der eigenen Bürger<br />

verantwortlich wäre.<br />

»Konnte Putin tatsächlich nicht nachgeben ? Etwa sagen<br />

: ›Ich beende den Krieg‹ ? Dann wären unsere Angehörigen<br />

noch am Leben«, wiederholt Tukai Walijewitsch<br />

immer wieder. »Ich will nur wissen, wer an dieser Tragödie<br />

schuld ist. Mehr nicht.«<br />

Vor kurzem hat sich Tanja Kirjuscha und Frossja zugelegt,<br />

eine Schildkröte und einen Kater. Damit jemand<br />

da ist, wenn sie nach Hause kommt. Sonja ist zwar zu<br />

klein, um zu begreifen, was mit ihrem Papa geschehen<br />

ist, doch sie möchte nach dem Kindergarten nicht nach<br />

Hause, weil der Papa nicht mehr da ist. Und neulich<br />

erhielt Tanja einen Anruf aus dem »Nord-Ost«. Man bot<br />

ihr Karten für das Musical an, das seit dem 8. Februar<br />

wieder läuft. Man singt und tanzt. Tanja hat natürlich<br />

abgelehnt, aber die Leute vom Theater sagten, sie könnte<br />

jederzeit kommen. Eine verrückte Idee : Lebensfreude<br />

vorspielen am Ort eines Massenmordes. Wie sind wir<br />

verroht. So verroht, dass einem schlecht wird.<br />

368


DIE DRITTE GESCHICHTE :<br />

SIRASHDI, JACHA UND IHRE FREUNDE<br />

Die Tschetschenen, die in unserem Land leben, sind<br />

wahrlich nicht zu beneiden. Früher war es auch nicht<br />

besonders angenehm, doch seit dem Terroranschlag läuft<br />

die Maschinerie der Staatsrache auf Hochtouren. Pogrome<br />

und ethnische Säuberungen finden tagtäglich unter<br />

der Ägide der Miliz statt. Im Handumdrehen werden<br />

Leben zerstört, die Menschen verlieren ihr Zuhause,<br />

ihre Arbeit, jeden Halt : nur weil sie Tschetschenen sind.<br />

Das Leben in Moskau und in vielen anderen russischen<br />

Städten ist für sie nicht nur unerträglich geworden, mit<br />

untergeschobenen Drogen in den Taschen, untergeschobener<br />

Munition in der Hand und infolgedessen Gefängnishaft<br />

für mehrere Jahre sind sie zu Outcasts geworden,<br />

ihr Leben hat sich in einen wahren Alptraum verwandelt.<br />

Sie befinden sich in einer ausweglosen Sackgasse, in der<br />

man endlos herumtaumeln kann, weil man sowieso nirgends<br />

ankommt. Und es betrifft alle – vom siebenjährigen<br />

Jungen bis zum achtzigjährigen Greis.<br />

»Als die Terroristen mitten im zweiten Akt auf die<br />

Bühne stürmten und auf Tschetschenisch redeten, begriff<br />

ich, dass die Lage äußerst ernst war. Und dass es sehr<br />

schlimm werden würde. Mir war sofort alles klar.« Jacha<br />

Nesserchajewa, die dreiundvierzigjährige Moskauer Ökonomin,<br />

eine in Grosny geborene Tschetschenin, die vor<br />

vielen Jahren in die Hauptstadt übergesiedelt war, sah<br />

sich am 23. Oktober das Musical »Nord-Ost« an. Ihre<br />

369


alte Freundin Galja aus der nordrussischen Stadt Uchta<br />

hatte Karten für die dreizehnte Reihe Parkett gekauft<br />

und Jacha dazu überredet, mit ins Theater zu kommen.<br />

Jacha mag Musicals nicht besonders, aber Galja hatte sie<br />

inständig gebeten, ihr Gesellschaft zu leisten.<br />

»Haben Sie den Terroristen gesagt, dass Sie Tschetschenin<br />

sind ?«<br />

»Nein. Ich hatte Angst. Ich wusste nicht, was besser ist.<br />

Sie hätten mich erschießen können, weil ich als tschetschenische<br />

Frau ein Musical besuche.«<br />

Jacha Nesserchajewa bemerkte das Gas nicht, obwohl<br />

viele Geiseln weiße Rauchschwaden sahen. Sie hörte nur<br />

von ihrem Platz aus, wie andere Menschen : »Gas ! Gas !«<br />

schrien. Einige Sekunden später war sie bewusstlos.<br />

Erst im Krankenhaus kam sie wieder zu sich. Im<br />

Krankenhaus Nr. 13, in das viele eingeliefert wurden,<br />

auch Irina Fadejewa, von der in der ersten Geschichte<br />

die Rede war. Jacha Nesserchajewa musste heftig erbrechen,<br />

verstand noch kaum etwas, als schon ein Untersuchungsführer<br />

vor ihr stand.<br />

»Er fragte mich nach meinem Vornamen, Nachnamen,<br />

nach Geburtsort, Adresse und danach, wie ich ins Musical<br />

›Nord-Ost‹ gelangt bin. Dann kamen zwei Frauen,<br />

nahmen für eine Expertise meine Kleidung an sich und<br />

nahmen meine Fingerabdrücke ab. Der Untersuchungsführer<br />

tauchte gegen Abend wieder auf und erklärte :<br />

›Ich habe schlechte Nachrichten.‹ Ich dachte zuerst, dass<br />

meine Freundin, mit der ich im Musical gewesen war,<br />

gestorben ist. Aber er sagte : ›Sie werden wegen Zusam-<br />

370


menarbeit mit den Terroristen festgenommen.‹ Das war<br />

ein Schock. Aber ich stand auf und folgte dem Untersuchungsführer,<br />

nur in Schlappen und Schlafrock, die ich<br />

im Krankenhaus erhalten habe. Zuerst wurde ich für<br />

zwei Tage ins Krankenhaus Nr. 20 eingeliefert, eine geschlossene<br />

Klinik, die wie ein Gefängnis ist. Es gab weder<br />

ein Verhör noch eine medizinische Behandlung, eigentlich<br />

erhielt ich überhaupt keine ärztliche Hilfe. Am<br />

Abend des zweiten Tages im Krankenhaus Nr. 20 kam<br />

wieder ein Untersuchungsführer. Ich wurde fotografiert,<br />

meine Stimme wurde auf Band aufgenommen. Einige<br />

Minuten nach diesem Besuch brachten sie mir einen<br />

Mantel und Herrenschuhe, legten mir Handschellen an<br />

und teilten mit : ›Sie müssen in einem anderen Krankenhaus<br />

behandelt werden.‹ Dann wurde ich in ein Milizauto<br />

gesetzt, für zehn Minuten zur Staatsanwaltschaft und<br />

anschließend ins Untersuchungsgefängnis ›Marjino‹ gebracht.<br />

Mit bloßen Füßen in den viel zu großen Schuhen,<br />

in einem schmutzigen Herrenmantel, mit ungekämmten,<br />

seit einer Woche nicht gewaschenen Haaren wurde<br />

ich in eine Zelle gesteckt. Die Aufseherin sah mich<br />

an und sagte nur : ›Na, du bist ganz schön hässlich.‹«<br />

»Wurden Sie im Untersuchungsgefängnis oft verhört ?«<br />

»Überhaupt nicht. Ich saß nur da und bat die Aufseherin<br />

um einen Termin beim Untersuchungsrichter.«<br />

Jacha Nesserchajewa spricht langsam, leise, ohne Emotionen.<br />

Sie wirkt geistesabwesend, sieht aus wie eine Leiche.<br />

Die Augen sind weit geöffnet und auf einen Punkt<br />

im Raum gerichtet. Das Gesicht ist unbewegt. Sie hatte<br />

371


im Gefängnis jede Hoffnung aufgegeben, gedacht, dass<br />

sie nichts mehr retten kann. Außerdem hatten die Milizionäre,<br />

die sie vom Krankenhaus zum Untersuchungsgefängnis<br />

brachten – die Einzigen übrigens, die ein Wort<br />

darüber verloren, was ihr bevorstand –, ihr gesagt, dass<br />

sie für alles geradestehen müsse, weil die Terroristen tot<br />

seien und nur sie übrig geblieben sei.<br />

Aber die Geschichte hat doch ein Happy End. Wie es<br />

sich für ein Musical gehört.<br />

Die Freunde von Jacha Nesserchajewa schlugen Alarm,<br />

fanden blitzschnell einen Anwalt, dem es wie durch ein<br />

Wunder gelang, eine Mauer zu durchbrechen, die absolut<br />

unüberwindbar schien. Nach zehn Tagen wurde sie<br />

aus dem Gefängnis entlassen. Die Untersuchungsführer<br />

der Staatsanwaltschaft, die im Fall Nr. 229133 (Terroranschlag<br />

auf »Nord-Ost«) ermittelten, erwiesen sich<br />

als normale Menschen ohne rassistische Vorurteile. Es<br />

gab nichts, was sie Jacha Nesserchajewa zur Last legen<br />

konnten, und sie erfanden auch nichts, wie es viele ihrer<br />

Kollegen heutzutage tun, wenn ihnen Tschetschenen<br />

in die Hände fallen. Keine Schikanen, kein gefälschtes<br />

Beweismaterial, keine falsche Anschuldigung. Mit anderen<br />

Worten, sie wollten nicht an einer Frau Rache üben,<br />

nur weil sie Tschetschenin ist. Und das ist heutzutage<br />

bei uns eine Seltenheit.<br />

Aelita Schidajewa ist einunddreißig Jahre alt. Auch sie ist<br />

Tschetschenin und wohnt seit dem Beginn des zweiten<br />

Tschetschenien-Kriegs mit ihren Eltern und ihrer Tochter<br />

372


Chadishat in Moskau. Aelita wurde direkt am Arbeitsplatz,<br />

im Café neben dem U-Bahnhof »Marjino«, verhaftet.<br />

Sie erzählt ihre Geschichte ruhig, beherrscht, ohne<br />

Tränen und hysterische Anfälle, lächelt freundlich. Man<br />

könnte sogar meinen, sie hätte nichts Schlimmes erlebt.<br />

Allerdings nur, wenn man nicht weiß, dass sie unmittelbar<br />

nach dem siebenstündigen unausgesetzten Verhör<br />

auf dem Milizrevier »Marjinskij Park« einen Zusammenbruch<br />

erlitten hat.<br />

»Es war irgendwie merkwürdig. Zuerst aß ein Milizionär<br />

wie immer bei uns zu Mittag. Sie speisen alle bei<br />

uns, das Milizrevier befindet sich in nur hundert Meter<br />

Entfernung. Ich habe ihnen nie verheimlicht, dass ich<br />

Tschetschenin und wegen des Kriegs aus Grosny geflohen<br />

bin. Der Milizionär aß in Ruhe zu Mittag und ging.<br />

Plötzlich stürzten etwa fünfzehn seiner Kollegen mit<br />

dem Revierinspektor Wassiljew an der Spitze ins Café.<br />

Wassiljew kennt mich sehr gut. Alle mussten sich an<br />

die Wand stellen, wurden durchsucht, und ich wurde<br />

festgenommen.«<br />

»Was haben sie Sie gefragt ?«<br />

»Ob ich Kontakt zu den Terroristen habe. Ich sagte :<br />

›Ich bin doch immer hier ! 12 Stunden, von elf bis elf, Sie<br />

sehen mich doch jeden Tag hier mit eigenen Augen !‹«<br />

»Und was haben sie darauf geantwortet ?« »Mit welchem<br />

Terroristen bist du essen gegangen ?« »Ich war in<br />

Moskau kein einziges Mal in einem Restaurant, das mag<br />

ich nicht. Sie sagten, wenn ich meine Verbindung zu den<br />

Terroristen nicht gestehe, würden sie mir Drogen oder<br />

373


Waffen unterschieben. Sie duzten mich und verhörten<br />

mich abwechselnd. Irgendwelche Uniformierte gingen im<br />

Zimmer auf und ab und beobachteten alles. Der Untersuchungsführer<br />

sagte, wenn ich meine Kontakte zu den<br />

Terroristen nicht zugäbe, würde er mich diesen Kerlen<br />

›zum Fraß vorwerfen‹. Die würden nur darauf warten,<br />

denn bei ihnen ›singen alle‹.«<br />

Noch auf der Wache wurde Aelita Schidajewa mitgeteilt,<br />

dass ihr gekündigt worden war. Der Untersuchungsführer<br />

sagte, dass sie die Kündigung vom Kaffeehausbesitzer<br />

verlangt hatten, andernfalls würden sie ihm das<br />

Lokal schließen. Freigelassen wurde Aelita Schidajewa<br />

nur deswegen, weil ihre Mutter, die Russischlehrerin und<br />

eine eingefleischte Menschenrechtlerin ist, »ganz Moskau<br />

auf den Kopf gestellt hatte«, wie sich ein Milizionär des<br />

Reviers ausdrückte. Sie hatte den Radiosender »Moskauer<br />

Echo« und den berühmten Anwalt Abdula Chamsajew<br />

angerufen und viele andere Leute eingeschaltet. Und<br />

obwohl die Miliz immer wieder behauptete, Aelita Schidajewa<br />

wäre nicht bei ihnen, mussten sie letzten Endes<br />

dem Druck nachgeben und sie auf freien Fuß setzen.<br />

Aelita Schidajewa hat ihren Schock jetzt überwunden.<br />

Sie begreift alles, sagt aber, dass sie aus Moskau fort<br />

muss.<br />

»Zurück nach Tschetschenien ?«<br />

»Nein. <strong>In</strong>s Ausland.«<br />

Ihre Mutter Makka ist dagegen. Es geht nicht darum,<br />

dass die Tochter ihr Kind ins Ausland bringen möchte.<br />

Chadishat, die Enkelin, muss etwas lernen. Aber Makka<br />

374


Schidajewa kann sich nicht vorstellen, außerhalb von<br />

<strong>Russland</strong> zu leben. Und zugleich kann sie nicht begreifen,<br />

was dieses <strong>Russland</strong> eigentlich von ihr, Aelita und Chadishat,<br />

von drei Generationen tschetschenischer Frauen will.<br />

Sie, die älteste, verbrachte den größten Teil ihres Lebens<br />

in der UdSSR. Die mittlere kennt kein normales Leben<br />

mehr, rennt nur von einem Ort zum anderen, von einem<br />

Krieg zum nächsten. Und die jüngste beobachtet vorläufig<br />

nur das, was um sie herum geschieht, lauscht aufmerksam,<br />

horcht und schweigt. Vorläufig schweigt sie noch.<br />

Vor kurzem rief Chadishats Klassenlehrerin Aelita Schidajewa<br />

an und verlangte von ihr nervös eine Bescheinigung<br />

darüber, dass sie alleinerziehende Mutter ist. Wenn<br />

sie diese nicht bekäme (die restlichen Dokumente seien<br />

vollkommen in Ordnung), dann wisse die Klassenlehrerin<br />

nicht mehr, was sie noch tun solle. Chadishat wird also aus<br />

der Schule ausgeschlossen. Seit dem 26. Oktober 2002 gibt<br />

es in der fünften Klasse der Schule Nr. 931 keinen Platz<br />

mehr für ein tschetschenisches Mädchen, das die Familie<br />

extra nach Moskau gebracht hat, damit es lernen kann,<br />

weil es in Tschetschenien nicht genügend Schulen gibt.<br />

Abubakar Bakrijew bekleidete mehrere Jahre lang einen<br />

bescheidenen Posten als Techniker in einem Unternehmen,<br />

das sich »Erste Republikanische Bank« nennt. Jetzt<br />

ist er arbeitslos und aller Verpflichtungen enthoben. Und<br />

das geschah sehr einfach und unauffällig, der Sicherheitsbeauftragte<br />

der Bank rief ihn zu sich und sagte :<br />

»Verstehen Sie mich richtig, aber wegen euch Tschet-<br />

375


schenen bekommen wir hier Probleme. Reichen Sie Ihre<br />

Kündigung ein.«<br />

Im ersten Augenblick wollte Abubakar Bakrijew es<br />

nicht glauben. Aber der Vorgesetzte fügte hinzu, dass<br />

man ihn außerdem darum bitte, die Kündigung rückzudatieren,<br />

auf den 16. Oktober zum Beispiel, damit alles<br />

manierlich aussehe und keiner ihnen vorwerfen könne,<br />

man habe ihn aus ethnischen Gründen, aus »Post-Nord-<br />

Ost-Gründen« entlassen, weil er Tschetschene sei.<br />

Am selben Tag wie Abubakar Bakrijew wurde auch<br />

ein Dagestaner entlassen – auf genau die gleiche Art<br />

und Weise zum Gehen gezwungen. Und auch er mit<br />

einem rückdatierten Schreiben. Er hatte eine unwichtige<br />

Funktion inne, aber vorsichtshalber wollte man auch<br />

ihn aus dem Unternehmen entfernen, damit der Bank<br />

keine unnötigen Fragen mehr über beschäftigte Kaukasier<br />

gestellt werden konnten.<br />

»Die Erste Republikanische Bank ist nun gesäubert«,<br />

sagt Abubakar Bakrijew. »Die Hüter des Rechts können<br />

ruhig schlafen. Ich bin vierundfünfzig Jahre alt, keine<br />

Ahnung, wohin ich jetzt soll. Die Miliz war bereits dreimal<br />

bei mir, um sich anzusehen, wie ich mit meinen<br />

drei Kindern lebe. Ihr macht uns zu Feinden. Ihr müsst<br />

begreifen, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, als<br />

die Unabhängigkeit der Republik zu fordern. Es muss<br />

doch irgendwo auf der Welt einen Ort geben, an dem<br />

wir in Ruhe leben können. Gebt uns bitte diesen Platz.<br />

Egal wo. Und wir werden dort leben.«<br />

376


Issita Tschirgisowa und Natascha Umatgarijewa sind zwei<br />

Tschetscheninnen, die in einem provisorischen Flüchtlingslager<br />

im Dorf Serebrjaniki im Gebiet von Twer wohnen.<br />

Wir haben uns auf dem Milizrevier Nr. 14 in Moskau<br />

kennen gelernt. Issita Tschirgisowa versuchte, sich<br />

die Tinte abzuwischen, nachdem ihr die Fingerabdrücke<br />

abgenommen worden waren. Natascha Umatgarijewa<br />

weinte ohne Unterbrechung. Sie waren gerade freigelassen<br />

worden, ein Wunder in heutigen Zeiten, weil sie den<br />

Milizionären leid taten.<br />

Am Morgen des 13. November erlebten die beiden<br />

Frauen eine Geschichte, wie sie heutzutage typisch ist.<br />

Sie kamen mit dem Frühzug nach Moskau, weil sie zu<br />

einer Hilfsorganisation wollten. Ein paar Schritte davon<br />

entfernt wurden sie festgenommen, weil Natascha Umatgarijewa<br />

ein offenes Geschwür am Fuß hat und hinkte,<br />

was den Verdacht nahe legte, dass sie Mitglied in einer<br />

terroristischen Einheit und als solches verwundet worden<br />

war. Und Issita Tschirgisowa war im siebten Monat<br />

schwanger, das heißt, ihr Bauch wölbte sich gerade dort,<br />

wo – genau ! – die Selbstmordattentäter innen ihre Gürtel<br />

mit dem Sprengstoff tragen.<br />

Die Geschichte ging gut aus. Die Milizionäre begnügten<br />

sich damit, den beiden Frauen eine Reihe von Widerlichkeiten<br />

ins Gesicht zu sagen wie : »Ihr tötet uns, und wir<br />

werden euch töten.« Aber erstens konnte verhindert werden,<br />

dass die Frauen in Untersuchungshaft kommen, und zweitens<br />

konnte der Leiter des Milizreviers Nr. 14 davon überzeugt<br />

werden (und er wollte überzeugt werden), dass die<br />

377


Leute manchmal Hilfsorganisationen aufsuchen müssen,<br />

weil sie arm sind, keine Arbeit und kein Zuhause haben.<br />

Aslan Kurbanow lebte den ganzen Krieg über in einem<br />

Zeltlager in <strong>In</strong>guschetien. Im Sommer fuhr er nach Saratow,<br />

um sich an der dortigen Universität zu immatrikulieren,<br />

später siedelte er nach Moskau über. Er wohnte<br />

bei seiner Tante Sura Mowsarowa, die an der Moskauer<br />

Hochschule für Flugzeugindustrie Doktorandin war, fing<br />

an zu arbeiten und erhielt die offizielle Aufenthaltsgenehmigung<br />

für Moskau.<br />

Am 28. Oktober bekamen sie Besuch von Mitarbeitern<br />

des Milizreviers Nr. 172 aus dem Bezirk Bratejewo.<br />

Am Tag zuvor waren Sura auf Vorladung des Revierinspektors<br />

Fingerabdrücke abgenommen worden. Daher<br />

war keiner beunruhigt, als die Milizionäre sagten, Aslan<br />

müsse nur wegen der Fingerabdrücke mitkommen. Aslan<br />

zog sich an und stieg ins Milizauto.<br />

Nach drei Stunden wurde Sura nervös. Ihr Neffe war<br />

immer noch nicht zurück, und so ging sie auf die Wache.<br />

Dort erklärte man ihr, Aslan sei wegen Drogenbesitzes<br />

festgenommen worden. Wie das ? Der Junge steht auf,<br />

zieht sich an, steckt Drogen in die Hosentasche und<br />

fährt zur Miliz, um sich zu stellen ? Aslan konnte Sura<br />

noch aus dem Arrestkäfig zurufen, dass die Milizionäre,<br />

nachdem sie ihn in die Wachstube gebracht hatten, aus<br />

der Tischlade ein Stück Marihuana gezogen und gesagt<br />

hatten : »Das gehört dir. Wir werden den Tschetschenen<br />

die Hölle heiß machen. Wir lochen euch alle ein.«<br />

378


Aber Aslan raucht nicht einmal Zigaretten. Am 30. Oktober<br />

feierte er im Gefängnis »Matrosskaja Tischina« seinen<br />

zweiundzwanzigsten Geburtstag.<br />

Am Morgen des 25. Oktober stürmten Milizionäre<br />

die Wohnung von Alichan und Marem Gelagojew und<br />

führten Alichan Gelagojew in Handschellen ab. Marem,<br />

seine Frau, lief zum Milizrevier Rostokino. Dort teilte<br />

man ihr mit : »Unsere Leute haben nichts damit zu tun.«<br />

Also rief sie »Radio Free Europe/Radio Liberty« an. Die<br />

Entführung von Alichan Gelagojew wurde bekannt gegeben,<br />

gegen Abend war er wieder auf freiem Fuß.<br />

Wie Alichan Gelagojew berichtete, war ihm im Auto<br />

ein Sack über den Kopf gestülpt worden, und während<br />

der Fahrt zur Milizdirektion der Stadt hatten seine Bewacher<br />

auf ihn eingeschlagen und gebrüllt : »Ihr hasst uns,<br />

und wir hassen euch ! Ihr bringt uns um ! Und wir bringen<br />

euch um !«<br />

Auf der Milizdirektion war Alichan Gelagojew nicht<br />

mehr verprügelt worden, sie hatten ihn dazu überreden<br />

wollen, ein Geständnis zu unterschreiben. Dass er der<br />

ideologische Kopf des Terroranschlags auf das Musicaltheater<br />

»Nord-Ost« sei. Wie in Stalin-Zeiten üblich, war<br />

das Geständnis bereits vorbereitet, er hatte es nur noch<br />

unterschreiben sollen.<br />

Alichan Gelagojew hatte sich geweigert. Aber er war<br />

gezwungen worden, eine Erklärung zu unterzeichnen,<br />

dass er »freiwillig« die Milizdirektion aufgesucht habe<br />

und »keine Beschwerden gegenüber Mitarbeitern« vorzubringen<br />

habe. Dann hatten sie ihn freigelassen.<br />

379


Kann man das als Rassismus bezeichnen ? Ja. Als eine<br />

Hölle ? Natürlich. Obendrein handelt es sich um die zynische<br />

Imitation eines Kampfes gegen den Terrorismus.<br />

Daher glaube ich keine einzige Zahl, die heutzutage von<br />

der Miliz genannt wird, wenn es darum geht, über die<br />

Fortschritte der »Anti-Terror-Operation« und die Verhaftung<br />

von »Mittätern der Terroristen« zu berichten.<br />

Diese Zahlen sind gefälscht. Pseudo-Milizionäre schreiben<br />

Pseudo-Vermerke auf der Basis von Pseudo-Arbeit.<br />

Aber wo sind die echten Terroristen ? Was machen sie ?<br />

Keiner weiß es. Für sie hat unsere Miliz keine Zeit. Putin<br />

ist schuld daran, dass wie zu Sowjetzeiten Schönfärberei<br />

an die Stelle richtiger Arbeit getreten ist.<br />

»Die Milizionäre wollten mir Folgendes einreden : ›Unterschreibe<br />

das Papier, du kriegst drei, vier Jahre, wirst<br />

vielleicht sogar eher auf Bewährung entlassen, das ist<br />

alles. Unterschreibe, das ist viel einfache‹«, erzählt der<br />

sechsunddreißigjährige Selimchan Nassajew.<br />

Selimchan Nassajew wohnt seit einigen Jahren in Moskau.<br />

Er ist mit seiner Familie vor dem zweiten Tschetschenien-Krieg<br />

geflüchtet und bei <strong>In</strong>na, seiner älteren<br />

Schwester, die schon vor langer Zeit in die Hauptstadt<br />

übergesiedelt war, untergeschlüpft.<br />

»Hat man Sie auf dem Revier geschlagen ?«<br />

»Natürlich. Sie weckten mich um drei Uhr morgens<br />

und sagten : ›Nehmt ihn ordentlich in die Zange.‹ Sie<br />

traktierten mich mit Schlägen auf die Nieren und die<br />

Leber und verlangten von mir, dass ich ein Geständnis<br />

unterschreibe. Ich weigerte mich und sagte : ›Machen Sie<br />

380


nur weiter, erschießen Sie mich, ich nehme nichts auf<br />

mich.‹ Und sie fragten immer wieder : ›Warum bist du<br />

hergekommen, Tschetschene ? Deine Heimat ist Tschetschenien.<br />

Bleib dort, kümmere dich um deinen Krieg.‹<br />

Und ich : ›Meine Heimat ist <strong>Russland</strong>, ich bin in meiner<br />

Hauptstadt.‹ Das hat sie wütend gemacht. Ein Milizionär<br />

wollte mich provozieren und sagte : ›Deine Mutter ist eine<br />

dreckige Schlampe.‹«<br />

Wenn dieser Milizionär aus dem Nishegorodskaja-<br />

Revier gewusst hätte, wessen Mutter er eine »dreckige<br />

Schlampe« schimpfte, wen er erpresste, folterte und zu<br />

einem Geständnis zwingen wollte, damit seine Statistik<br />

über den »Kampf gegen die tschetschenische Kriminalität<br />

in der Hauptstadt« schöner aussieht. Aber vielleicht ist<br />

es auch besser, dass er es nicht wusste.<br />

Selimchan Nassajew ist nämlich der Urenkel und seine<br />

Mutter Rosa Nassajew die Enkelin der legendären Maria-Marjam,<br />

einer russischen Schönheit aus der Familie<br />

der Romanows, einer Verwandten des Zaren Nikolaus<br />

II. Diese Frau verliebte sich unsterblich in den Tschetschenen<br />

Wacha, einen Offizier der zaristischen Armee,<br />

flüchtete mit ihm gegen den Willen ihrer Familie in den<br />

Kaukasus, konvertierte zum Islam, nahm den Namen<br />

Marjam an und gebar fünf Kinder. Gemeinsam mit ihrem<br />

Mann wurde sie nach Kasachstan deportiert, wo sie<br />

ihn auch begrub. Später kehrte sie nach Tschetschenien<br />

zurück, wo sie in den sechziger Jahren, fast wie eine<br />

tschetschenische Heilige verehrt, starb. Kurz gesagt, ist<br />

das eine schöne und im Kaukasus verbreitete Geschichte<br />

381


über eine russisch-tschetschenische Liebe und Freundschaft,<br />

aber darum geht es im Augenblick nicht. Denn<br />

Selimchan Nassajew hilft diese Geschichte nicht, auch<br />

wenn das Blut von zehn Königshäusern in seinen Adern<br />

fließen würde. Man geht mit ihm genauso um wie mit<br />

allen anderen Tschetschenen, obwohl er ein Abkömmling<br />

der Romanows ist.<br />

Es gibt Plätze in Moskau, die man nicht gern aufsucht.<br />

Elendsquartiere in Hinterhöfen von Fabriken, in <strong>In</strong>dustriezonen,<br />

unter Hochspannungsanlagen. Dort kann man<br />

die Tschetschenen finden, die in der Hauptstadt zu überleben<br />

versuchen. Die Freser-Chaussee ist so ein Ort. Ein<br />

Asphaltstreifen, der vom Rjasanski-Prospekt abgeht und<br />

an alten vierstöckigen Ziegelbauten vorbeiführt, die man<br />

nur mit Mühe als Unterkünfte bezeichnen kann.<br />

Und eigentlich sind sie das auch nicht, denn hier befinden<br />

sich die Werkhallen der Freser-Fabrik, die es allerdings<br />

schon seit längerer Zeit nicht mehr gibt. Mit der<br />

Fabrik ging es seit Beginn der Perestroika-Zeit zu Ende,<br />

die Arbeiter versuchten woanders unterzukommen, aber<br />

die Chefs der ehemaligen Fabrik leben davon, dass sie<br />

die Werkhallen und andere Gebäude als Wohnraum<br />

vermieten. Eine von diesen schmutzigen, geplünderten<br />

Werkhallen bezogen im Jahr 1997 die ersten tschetschenischen<br />

Flüchtlinge : Menschen, die vor den Banditen geflohen<br />

waren, die in der Zwischenkriegszeit in Tschetschenien<br />

ihr Unwesen trieben, hauptsächlich Mitglieder von<br />

Familien, die in Opposition zu Bassajew und Maschadow<br />

382


standen. Die Werkleitung der Freser-Fabrik hatte ihnen<br />

erlaubt, die Räume eigenhändig zu renovieren und sie<br />

als Wohnungen zu nutzen. Die Miete bezahlen sie direkt<br />

an die Verwaltung. Bis heute wohnen Tschetschenen<br />

dort, darunter die Nassajews. Eine von sechsundzwanzig<br />

Familien. Die Miliz der Gegend kennt sie alle, keiner<br />

versteckt sich hier oder verheimlicht etwas. Wozu auch.<br />

Nach dem Terroranschlag auf »Nord-Ost« kamen die<br />

Milizionäre vom Nishegorodskaja-Revier zuerst hierher<br />

und erklärten den Leuten, dass sie »von oben« den Befehl<br />

erhalten hätten, auf jedem Gelände fünfzehn Tschetschenen<br />

zu verhaften. Die männlichen Familienmitglieder<br />

wurden in Bussen auf die Wache gebracht, zur Abnahme<br />

der Fingerabdrücke.<br />

Selimchan Nassajew-Romanow hatte Pech : Er war zu<br />

diesem Zeitpunkt nicht zu Hause, weil er gerade eine<br />

Partie Kugelschreiber, die die Familie in Heimarbeit<br />

zusammensetzt, ablieferte und die Einzelteile für die<br />

nächste Fuhre holte.<br />

Kurz darauf wurde dem Nachfolger der Zarenfamilie<br />

in der ehemaligen Fabrikhalle ein persönlicher Besuch<br />

abgestattet. Es hieß : »Zur Abnahme der Fingerabdrücke.«<br />

Rosa Nassajewa lief ? ihn ruhig gehen. Nervös wurde<br />

die Familie erst einige Stunden später, als der Sohn<br />

immer noch nicht zurück war, und schließlich gingen<br />

die besorgten Eltern zum Milizrevier, wo sie die typische<br />

Antwort erhielten : »<strong>In</strong> der Tasche Ihres Sohnes war eine<br />

Handgranate. Wir haben ihn festgenommen.«<br />

»Ich habe geschrien : ›Sie haben kein Recht dazu ! Sie<br />

383


haben ihn doch selbst abgeholt ! Er ist mit Ihnen aus<br />

dem Haus gegangen ! Und er hatte nichts in der Tasche !<br />

Ringsum waren Zeugen !‹«, erzählt Rosa Nassajewa. »Aber<br />

die Milizionäre sagten : ›Tschetschenen sind für uns keine<br />

Zeugen.‹ Das hat mir so wehgetan. Was sind wir denn ?<br />

Keine Staatsbürger ?«<br />

An diesem Abend musste sie unverrichteter Dinge<br />

wieder nach Hause gehen. Und am nächsten Tag wurde<br />

ihr eröffnet : »Außerdem dealt Ihr Sohn mit Marihuana.<br />

Ihm ist nicht mehr zu helfen.«<br />

»Ich wurde zum Verhör gebracht«, erzählt Selimchan<br />

Nassajew. »Einer von den Milizionären, der Ranghöchste,<br />

hielt ein Päckchen in der Hand und sagte : ›Du dealst mit<br />

Heroin.‹ Meine Hände steckten in Handschellen, sie schoben<br />

mir das Päckchen in die Hosentasche, ich regte mich<br />

auf. Darauf sagten sie : ›Na gut, dann bekommst du noch<br />

die Handgranate dazu.‹ Ihr Chef wischte den Zünder<br />

ab, damit es keine ›fremden‹ Fingerabdrücke darauf gab,<br />

schob ihn mir in die Hände und nahm das Protokoll auf.<br />

Ich fing wieder an zu schreien, dass sie das nicht tun dürften.<br />

Und sie sagten : ›Doch, wir dürfen, wir haben unsere<br />

Vorschriften. Und wenn du dich nicht kooperativ zeigst<br />

und gestehst, werden wir deine Verwandten mit hineinziehen.<br />

Wir fahren jetzt sofort mit einem Durchsuchungsbefehl<br />

zu dir nach Hause und finden dort den anderen<br />

Teil dieser Granate. Also, unterschreibe das Geständnis.‹«<br />

Selimchan Nassajew blieb hart, er unterschrieb nichts.<br />

Sie schlugen ihn, sagten, sie würden ihn so zurichten,<br />

dass kein Anwalt ihn mehr anschauen wollte. Am Ende<br />

384


ließen sie Selimchan Nassajew frei, weil sich Journalisten<br />

und Aslambek Aslachanow, Abgeordneter der Duma, in<br />

die Sache einmischten. Selimchan Nassajew hockt jetzt<br />

zu Hause, in seinem Elendsquartier, in tiefster Depression,<br />

und fürchtet sich vor jedem Klopfen an der Tür.<br />

Depressionen haben eigentlich alle Tschetschenen. Sie<br />

werden keinen einzigen Optimisten finden, weder unter<br />

den Jungen noch unter den Alten. Ich habe jedenfalls<br />

noch keinen einzigen getroffen. Sie sind apathisch und<br />

erwarten vom Leben nur das Schlimmste. Vom Ausland<br />

träumen sie aus dem einen Grund, weil sie dort vielleicht<br />

die Chance haben, sich in der kosmopolitischen Menge<br />

zu verlieren und ihr wichtigstes Geheimnis zu verbergen<br />

– ihre Nationalität. So tief zu verbergen, dass keiner<br />

daran rühren kann.<br />

»<strong>In</strong> unserem Land ist wieder einmal eine Welle antitschetschenischer<br />

Übergriffe seitens der Miliz zu beobachten.«<br />

Das ist die Meinung von Swetlana Gannuschkina,<br />

Leiterin des Hilfskomitees für Flüchtlinge und Zwangsübersiedler.<br />

Bei diesem Komitee suchen sie jetzt Hilfe, die<br />

Tschetschenen, Familienangehörigen von Verschleppten,<br />

von Leuten, denen Drogen oder Munition untergeschoben<br />

worden sind, die ihre Arbeit verloren haben oder denen<br />

man mit der Deportation aus der russischen Hauptstadt<br />

gedroht hat, Menschen, die russische Staatsbürger<br />

sind. Sie alle kommen zu Swetlana Gannuschkina, weil<br />

sie sonst nirgends hingehen können. »Der Startschuss für<br />

die neue Welle des hemmungslosen staatlichen Rassis-<br />

385


mus, der offiziell als ›Anti-Terror-Operation‹ bezeichnet<br />

wird«, fährt Swetlana Gannuschkina fort, »wurde sofort<br />

nach dem Sturm auf das Gebäude in der Dubrowka gegeben.<br />

Die Tschetschenen werden jetzt überall hinausgeworfen,<br />

in erster Linie verlieren sie ihre Arbeitsstellen<br />

und ihre Wohnungen. Ein ganzes Volk wird für die<br />

Handlungen von ganz konkreten Personen verantwortlich<br />

gemacht. Die verbreitetste Methode dieser ethnischen<br />

Diskreditierung ist die Konstruktion von Straftatbeständen,<br />

indem man den Betroffenen Drogen oder Munition<br />

unterschiebt. Die Milizionäre verhalten sich dabei<br />

ganz ›galant‹, denn sie bieten den Opfern an : ›Na, was<br />

willst du ? Drogen ? Oder Munition ?‹ Retten können sich<br />

nur Menschen, die solche Mütter haben wie Makka Schidajewa.<br />

Aber was machen die anderen ?«<br />

Ein tschetschenisches Paar hat drei Töchter. Ein Mädchen<br />

bestand die Aufnahmeprüfung für die Musikschule,<br />

die beiden anderen nicht. Die Eltern baten eine Lehrerin,<br />

diesen beiden private Klavierstunden zu geben. Letzte<br />

Woche brach die Lehrerin den Unterricht ab, die Direktorin<br />

der Musikschule hatte es ihr, unter Berufung auf<br />

eine Anweisung des Kulturamts, verboten. Falls sie den<br />

Privatunterricht bei den Tschetschenen fortsetzte, würden<br />

die Sicherheitsdienste sie unter die Lupe nehmen.<br />

<strong>In</strong> all diese Dinge sind wir, das Volk, involviert. Die<br />

überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung ist<br />

mit der staatlichen Xenophobie einverstanden und sieht<br />

386


keinen Grund für Proteste. Warum ? Die offizielle Propaganda<br />

ist sehr effizient, und die Mehrheit des Volkes<br />

teilt <strong>Putins</strong> Ansichten über die kollektive Verantwortung<br />

des tschetschenischen Volkes für die Verbrechen, die von<br />

einzelnen seiner Vertreter begangen worden sind.<br />

Trotz des bereits mehrere Jahre andauernden Kriegs,<br />

der Terroranschläge, der Flüchtlingsströme, ist in <strong>Russland</strong><br />

völlig unklar, was die Machthaber nun eigentlich<br />

von den Tschetschenen wollen. Möchten sie, dass die<br />

Tschetschenen in <strong>Russland</strong> leben, also zum gemeinsamen<br />

Ganzen gehören ? Oder nicht ?<br />

Zum Schluss eine ganz einfache Geschichte über normale<br />

Leute, die der staatlichen Hysterie ausgesetzt sind.<br />

»Bekommst du in der Schule oft Verweise ?«<br />

»Ja«, seufzt Sirashdi.<br />

»Und hast du sie verdient ?«<br />

»Ja«, er seufzt wieder.<br />

»Wofür, zum Beispiel ?«<br />

»Ich laufe über den Gang, einer schlägt mich, und ich<br />

haue sofort zurück, damit sie mich nicht fertigmachen<br />

können. Dann werde ich gefragt : ›Hast du ihn geschlagen<br />

?‹ Und ich sage immer ehrlich : ›Ja.‹ Die anderen sagen<br />

nie die Wahrheit, und ich bekomme die Verweise.«<br />

»Vielleicht solltest du es auch nicht zugeben ? Wäre<br />

das nicht einfacher ?«<br />

»Nein.« Diesmal seufzt er ganz tief. »Ich bin doch<br />

kein Mädchen. Wenn ich was getan habe, dann gebe<br />

ich es auch zu.«<br />

387


»Wissen Sie, er wollte einem von unseren Kindern ein<br />

Bein stellen, damit das Kind stürzt, sich an der Schläfe<br />

verletzt und stirbt.«<br />

So reden die Erwachsenen über ihn, den siebenjährigen<br />

tschetschenischen Jungen Sirashdi Digajew. Genauer<br />

gesagt, äußert diese Beobachtungen eine Frau, Mitglied<br />

des Elternkomitees der Klasse 2 b in der Moskauer<br />

Schule Nr. 155, in die der Junge geht.<br />

»Mein Kind beschwert sich, dass Sirashdi nie etwas<br />

mithat und es immer mit ihm teilen muss«, sagt eine<br />

weitere Mutter, ebenfalls Mitglied des Komitees.<br />

Das Kind beschwert sich ? Aber warum ? Es muss doch<br />

teilen, wenn ein anderes neben ihm nichts hat.<br />

»Er stört alle. Begreifen Sie doch ! Mein Sohn hat mir<br />

erklärt, warum er die Hausaufgaben nicht mitschreiben<br />

konnte. Weil Sirashdi solchen Krach machte, dass er nichts<br />

hören konnte. Sirashdi ist nicht lenkbar. Wie alle Tschetschenen.<br />

Begreifen Sie das !« Sagt die nächste Mutter.<br />

Wir sitzen in einem leeren Klassenzimmer und<br />

vertiefen uns in das Thema. Die Schüler der zweiten<br />

Klasse sind nach Hause gegangen und das Elternkomitee<br />

bespricht, wie man den kleinen Tschetschenen aus<br />

der Schule werfen kann, »damit unsere Kinder nichts<br />

Schlechtes von einem Mitschüler lernen, der möglicherweise<br />

ein zukünftiger Terrorist ist.«<br />

Glauben Sie, das ist ein Scherz ? Nein, ein Zitat.<br />

»Verstehen Sie uns richtig ! Er ist zwar Tschetschene,<br />

aber wir teilen die Kinder nicht nach ihrer Nationalität<br />

ein. Nein ! Wir wollen unsere Kinder nur schützen.«<br />

388


Aber wovor ? Eines Tages im November berief das<br />

Elternkomitee eine Versammlung ein. Man wies Sirashdis<br />

Eltern darauf hin, dass das Komitee vom Direktor<br />

verlangen würde, den Jungen aus der Schule auszuschließen,<br />

falls sich bis zum Jahreswechsel sein Benehmen<br />

nicht entsprechend den Vorstellungen der Elternschaft<br />

verbessert hätte.<br />

»Können Sie mir bitte sagen, warum sie alle ausgerechnet<br />

nach Moskau drängen ?« Endlich kommt das<br />

Gespräch auf den wunden Punkt. Eine Frau vom Komitee<br />

versucht mir eine Woche später die Entscheidung der<br />

Elternvertreter zu erklären.<br />

Aber warum sollten sie nicht nach Moskau kommen ?<br />

Wer hat gesagt, dass diese Stadt etwas Besonderes ist ?<br />

Dass hier so außergewöhnliche Menschen leben, die sich<br />

durch die bloße Annäherung anderer russischer Staatsbürger<br />

in ihrem Selbstgefühl gestört fühlen ?<br />

»Warum sagen Sie, dass die es schwer haben !«, schreit<br />

eine Mutter fast heraus. »Fragt jemand danach, ob wir<br />

es schwer haben ? Und woher wollen Sie wissen, dass<br />

unsere Kinder es leichter haben als er ?«<br />

Warum ? Sirashdi ist ein Junge, der 1995 in Tschetschenien<br />

geboren wurde. Seine Mutter Sulai musste als<br />

Schwangere zwischen Bombardements und Schusswechseln<br />

herumlaufen. 1996 siedelten sie nach Moskau über,<br />

der Sohn wuchs in der Hauptstadt auf. Aber bei Gewittern<br />

und Salutschüssen fürchtet er sich, weint und verkriecht<br />

sich und kann nicht erklären, warum.<br />

»Was, Sie fühlen sich hier nicht wie zu Hause ?«, ertönt<br />

389


eine weitere enervierte Stimme. »Wollen Sie uns etwa<br />

Ihre Regeln vorschreiben ? Das geht nicht !«<br />

Alwi Digajew, Sirashdis Vater, der ebenfalls auf der<br />

Versammlung war und sich alles angehört hatte, hatte<br />

sich zu Wort gemeldet und versucht, von seinen Problemen<br />

und seinem Leid zu erzählen. Dass ihr Leben in<br />

Moskau nicht so einfach sei, dass ein Milizionär seine<br />

Wohnung betrete, ohne die Stiefel auszuziehen, und ihn<br />

in Anwesenheit seiner Kinder unflätig beschimpfe. Er als<br />

Vater könne nichts dagegen tun, und die Kinder würden<br />

das alles beobachten.<br />

Alwi Digajew sagte damals noch, der Hauptgrund dafür,<br />

dass seine Familie nicht in Tschetschenien lebe, sondern<br />

in Moskau, wo sie sich nicht wohl fühlten, sei, dass<br />

seine Kinder die Möglichkeit haben sollten, nicht im<br />

Krieg zur Schule zu gehen. Seine Frau Sulai sei der Ausbildung<br />

nach Lehrerin für Mathematik, aber sie handele<br />

mit selbst zubereiteten Hühnerrouladen auf dem Markt,<br />

obwohl sie das eigentlich nicht könne. Ihr ganzer Lebensinhalt<br />

seien die Kinder, und ihnen wollten sie eine gute<br />

Ausbildung in der Hauptstadt ermöglichen.<br />

»Nein, sieh einer an ! Sie drängeln sich ins Stadtzentrum<br />

! Und wollen gleich noch die besten Wohnungen auf<br />

dem Tablett serviert bekommen !« So kommentierte das<br />

Elternkomitee den seelischen Aufschrei des Vaters.<br />

»Wir wollen nicht, dass unsere Kinder mit so einem<br />

in eine Klasse gehen.« Dieses Urteil mussten sich Sirashdis<br />

Eltern nach der Versammlung anhören. Und waren<br />

natürlich beleidigt. Wären Sie das nicht ?<br />

390


Man sollte sich an eine Geschichte aus dem vergangenen<br />

Jahrhundert erinnern. Sie begann auf ähnliche<br />

Weise, nur hatte sie ein anderes Ende. Als die Nazis<br />

nach Dänemark kamen, befahlen sie allen Juden, gelbe<br />

Sterne zu tragen, damit man sie leichter identifizieren<br />

könne. Und alle Dänen nähten sich gelbe Sterne an, um<br />

die Juden zu retten und um sich selbst zu retten. Damit<br />

sie sich nicht in Nazis verwandelten. Und ihr König tat<br />

das Gleiche.<br />

Bei uns in Moskau ist alles umgekehrt. Als die Machthaber<br />

auf die Tschetschenen, unsere Mitbürger, einzuschlagen<br />

begannen, nähten wir uns nicht aus Solidarität<br />

gelbe Sterne an. Wir taten das Gegenteil und tun<br />

es bis heute, wir spielen »die Nation der Sieger«, wir<br />

brennen ein Erkennungszeichen auf ihre Rücken. Wir<br />

tun alles, damit Sirashdi nie das Gefühl loslässt, ein<br />

Paria zu sein.<br />

Ich bitte Sirashdi, mir sein Russischheft zu zeigen. Die<br />

Noten sind »ausreichend« oder »befriedigend«. Er macht<br />

nicht nur viele Fehler, er schreibt auch schlampig, woran<br />

ihn Jelena Dmitrijewna, seine Lehrerin, fast auf jeder<br />

Seite des Heftes in Schönschrift erinnert.<br />

Jelena Dmitrijewna hat das Bestreben des Elternkomitees,<br />

den tschetschenischen Jungen loszuwerden, nicht<br />

unterstützt. Aber sie hat es auch nicht kategorisch unterbunden.<br />

Sie hätte der Jagd auf die Familie Digajew ein<br />

Ende bereiten können, sie hätte nur unsere berühmtberüchtigte<br />

»Öffentlichkeit« einschalten müssen.<br />

Sirashdi versucht sich wie ein Aal herauszuwinden,<br />

391


eigentlich will er mir sein Russischheft nicht zeigen,<br />

würde es gern auf schlaue Art und Weise gegen sein<br />

Mathematikheft austauschen, weil es dort wesentlich<br />

besser aussieht. Sirashdi ist ein normales Kind, er ist lebhaft,<br />

geschickt und möchte unbedingt in den Augen der<br />

anderen als der Beste dastehen. Warum auch nicht ?<br />

Aber auch des Mathematikhefts wird er rasch überdrüssig.<br />

Er verspricht, einen Mann mit Schwert zu zeichnen,<br />

verschwindet flink wie ein Wiesel – er macht alles<br />

blitzschnell – und kommt nach ein paar Minuten mit<br />

einem Zeichenblock zurück. Darauf die Konturen eines<br />

Muskelprotzes aus »Herr der Ringe«. Und das leuchtende<br />

Schwert, mit einem gelben Stift gezeichnet.<br />

»Wir haben es nur gut mit ihm gemeint«, erklärten<br />

die Eltern der Schüler aus der Klasse 2 b, als sie begriffen,<br />

dass sich die Presse für die Geschichte mit dem kleinen<br />

tschetschenischen Jungen interessierte.<br />

Aber glaubt Sirashdi daran, dass man es gut mit ihm<br />

meint ? Er prügelt sich tatsächlich in den Pausen, wirft<br />

im Zeichenunterricht Farben gegen die Wand, stellt seinen<br />

Mitschülern ein Bein. Und je öfter er das tut, desto<br />

mehr wird ihm unter die Nase gerieben, dass er in der<br />

2 b ein Fremder ist.<br />

So sieht unser Alltag nach den Ereignissen im Musicaltheater<br />

»Nord-Ost« aus. Monate sind vergangen, und das<br />

Ausmaß der Tragödie kommt allmählich ans Tageslicht.<br />

Viele haben versucht, Kapital daraus zu schlagen. Sehr<br />

viele profitieren davon, aus allen möglichen Gründen.<br />

Zunächst einmal unser Präsident mit seinem ange-<br />

392


orenen Zynismus. Er streicht auf dem internationalen<br />

Parkett die Dividenden für diesen Horror mit tödlichem<br />

Ausgang ein, und auch im eigenen Land macht<br />

er mit fremdem Blut Werbung für sich. Und dann die<br />

so genannten normalen Leute, die Milizionäre, die Mitglieder<br />

der Elternkomitees usw. Der hemmungslose antitschetschenische<br />

Chauvinismus und die Übergriffe in<br />

den ersten Tagen nach »Nord-Ost« sind miteinander<br />

verschmolzen und zu einem konstanten, pragmatischen<br />

Rassismus geworden.<br />

»Sollen wir zu den Waffen greifen ?« fragen manche<br />

Tschetschenen und knirschen hilflos mit den Zähnen.<br />

»Nein, ich kann nicht mehr !«, stöhnen die anderen und<br />

lassen den Kopf sinken. Das ist eine natürliche Schwäche.<br />

Eine Schwäche, die sie sich nicht erlauben dürfen, weil<br />

ihre Kinder sie beobachten. Aber was sollen sie tun ?


AKAKI AKAKIJEWITSCH PUTIN-2<br />

Ich habe viel darüber nachgedacht, warum ich so wütend<br />

auf Putin bin. Warum ich ihn so ablehne, dass ich<br />

sogar ein Buch über ihn geschrieben habe. Obwohl ich<br />

keine Opponentin bin, keine politische Konkurrentin,<br />

nur eine russische Staatsbürgerin. Eine fünfundvierzigjährige<br />

Moskauerin, die erlebt hat, wie das sowjetischkommunistische<br />

System in den siebziger und achtziger<br />

Jahren des vorigen Jahrhunderts immer mehr zu bröckeln<br />

und von innen heraus zu verwesen begann. Diese<br />

Zeit wünsche ich mir wahrlich nicht zurück.<br />

Ich beende die Arbeit an diesem Buch am 6. Mai 2004,<br />

und das mit Absicht. Morgen wird es so weit sein. Kein<br />

Wunder ist geschehen, die Opposition hat die Ergebnisse<br />

der Präsidentschaftswahl vom 14. März nicht angefochten,<br />

sie hat den Kopf eingezogen. Daher findet morgen<br />

die Amtseinsetzung von Putin-2 statt, der mit einem<br />

unglaublichen Anteil von mehr als siebzig Prozent der<br />

Wählerstimmen in seinem Amt bestätigt wurde. Sogar<br />

wenn wir annehmen, dass etwa zwanzig Prozent der<br />

Stimmen gefälscht sind, wäre das Ergebnis völlig ausreichend<br />

für die Wahl zum Präsidenten.<br />

Es bleiben nur wenige Stunden, dann kommt der 7.<br />

Mai 2004. Und Putin, ein typischer Oberstleutnant des<br />

395


sowjetischen KGB mit der beschränkten, provinziellen<br />

Weltanschauung eines Oberstleutnants und dem unansehnlichen<br />

Aussehen eines Oberstleutnants, der es nicht<br />

einmal zum Oberst geschafft hat, mit den Manieren<br />

eines Offiziers der sowjetischen Geheimpolizei, der es<br />

gewöhnt ist, seinen Mitmenschen nachzuspionieren, mit<br />

seiner Rachsucht (zur feierlichen Amtseinsetzung wurde<br />

kein einziger Politiker der Opposition und keine einzige<br />

Partei, die nicht mit Putin im Gleichschritt marschiert,<br />

eingeladen), ein kleiner Beamter wie Gogols Akaki Akakijewitsch<br />

aus der Novelle »Der Mantel«, dieser Mensch<br />

also wird wieder den Thron besteigen. Den großen russischen<br />

Thron.<br />

Breshnew konnten wir nicht leiden. Andropow war<br />

blutrünstig, allerdings leicht demokratisch angehaucht.<br />

Tschernenko war dumm. Gorbatschow hat uns nicht<br />

gefallen. Unter Jelzin mussten wir uns aus Angst vor den<br />

Folgen seiner Handlungen ab und zu bekreuzigen.<br />

Und hier haben wir das Resultat. Morgen, am 7. Mai,<br />

wird dieser Akaki Akakijewitsch Putin, Leibwächter seiner<br />

Vorgänger aus der 25. Abteilung, der eigentlich in<br />

der Postenkette stehen müsste, wenn eine VIP-Kolonne<br />

vorbeifährt, über die roten Teppiche zum Thronsaal des<br />

Kremls schreiten. Als wäre er tatsächlich der Herr hier.<br />

Ringsum wird das blank polierte Zarengold funkeln, das<br />

Gesinde wird unterwürfig lächeln, die Mitstreiter, lauter<br />

ehemalige Geheimdienstler aus den unteren Rängen des<br />

KGB, denen erst Putin wichtige Posten zuschanzte, werden<br />

eine würdevolle Haltung annehmen.<br />

396


Wahrscheinlich streckte Lenin seine Brust genauso<br />

heraus, als er im Jahre 1918 nach der Revolution im<br />

eroberten Kreml eintraf. Die offizielle kommunistische<br />

Geschichte – und eine andere haben wir nicht – behauptet,<br />

dass Lenins Auftritt bescheiden war. Aber ich glaube,<br />

dass er frech einherstolzierte, als wollte er sagen : Da<br />

bin ich, ihr habt gedacht, ich wäre niemand, aber ich<br />

habe mein Ziel erreicht, ich habe <strong>Russland</strong> in die Knie<br />

gezwungen und es dazu gebracht, mir Treue zu schwören.<br />

Und unser heutiger Späher vom KGB, der nicht einmal<br />

dort etwas Überragendes leistete, stolziert genauso durch<br />

den Kreml. Stolziert und rächt sich.<br />

Aber wir wollen den Film ein wenig zurückspulen.<br />

Am 14. März 2004 wurde Putin zum zweiten Mal russischer<br />

Präsident. Die Ergebnisse der anderen Kandidaten<br />

waren deprimierend. Sowohl in unserem Land als<br />

auch im Ausland wurde seine Wiederwahl natürlich vorhergesagt,<br />

besonders nach den Parlamentswahlen vom<br />

7. Dezember 2003, als die demokratische und liberale<br />

Opposition in <strong>Russland</strong> eine vernichtende Niederlage<br />

einstecken musste. Deswegen erstaunte der Wahlausgang<br />

vom 14. März auch kaum jemanden. Wir hatten internationale<br />

Beobachter, aber alles lief irgendwie träge ab.<br />

Der Wahltag wirkte wie ein Remake der alten sowjetischen,<br />

autoritär-bürokratischen Zeit, als das »Volk« zur<br />

»Willensbekundung« schritt, eine Zeit, an die sich viele<br />

von uns noch gut erinnern. Auch ich. Früher hat man<br />

nämlich den Wahlzettel mit irgendeinem Namen in die<br />

397


Urne geworfen, es war völlig egal, denn das Ergebnis<br />

stand sowieso von vornherein fest.<br />

Na und ? Hat uns die Tatsache, dass wir uns noch gut<br />

daran erinnern, wie die Wahlen zu Sowjetzeiten aussahen,<br />

am 14. März vor <strong>In</strong>dolenz gerettet ? Nein. Wir<br />

gingen brav zu den Urnen, warfen gleichgültig unsere<br />

Wahlzettel ein. Wir waren überzeugt, dass wir die Sowjetunion<br />

wiederhatten und »von uns sowieso nichts<br />

abhängt«.<br />

Am 14. März verbrachte ich viel Zeit in einem Wahllokal<br />

in der Dolgoruki-Straße in Moskau, in der ich<br />

wohne. Unter Jelzin war diese Straße umbenannt worden.<br />

Aus der Kaljajew-Straße (Kaljajew war ein Terrorist<br />

des 19. Jahrhunderts, der als Revolutionär galt) war die<br />

Dolgoruki-Straße geworden (Dolgoruki war ein Fürst,<br />

dessen Anwesen sich hier vor der Bolschewikenzeit befunden<br />

hatte).<br />

Ich unterhielt mich mit den Leuten, die zur Wahl<br />

kamen und anschließend schnell weggingen. Sie waren<br />

gleichgültig, absolut gleichgültig im Blick auf die Wiederwahl<br />

<strong>Putins</strong> für eine zweite Amtsperiode. »Sie« wollen<br />

es so ? Na gut. So hat es die Mehrheit kommentiert. Die<br />

Minderheit machte sich lustig : »Wahrscheinlich wird<br />

die Dolgoruki-Straße wieder in Kaljajew-Straße umbenannt.«<br />

Sie redeten so, weil es mit <strong>Putins</strong> Erscheinen und der<br />

Stärkung seiner Macht offensichtlich geworden ist, dass<br />

die Sowjetzeiten wieder einziehen und Revanche genommen<br />

wird.<br />

398


Man muss sagen, daran sind nicht nur unsere Schlamperei,<br />

Apathie und Erschöpfung nach den endlosen Revolutionen<br />

schuld. Auch der Westen hat das Ganze mit<br />

Jubelgeschrei begrüßt, allen voran Berlusconi, <strong>Putins</strong><br />

Fan und sein wichtigster europäischer Anwalt. Aber auch<br />

Blair, Schröder, Chirac und Bush Junior waren mit von<br />

der Partie.<br />

Keiner stellte sich unserem KGBler in den Weg und<br />

verhinderte seinen Einzug in den Kreml, der Westen<br />

nicht, und auch in unserem Land gab es keine ernsthafte<br />

Opposition. <strong>In</strong> der ganzen Zeit des so genannten<br />

Wahlkampfs, vom 7. Dezember 2003 bis zum 14. März<br />

2004, machte Putin sich in aller Öffentlichkeit über die<br />

Allgemeinheit lustig.<br />

Die größte Verspottung bestand darin, dass er jede<br />

Diskussion ablehnte. Er wollte über keinen einzigen<br />

Punkt seiner Politik der letzten vier Jahre Rechenschaft<br />

ablegen. Er verhöhnte nicht nur die Vertreter der Opposition,<br />

sondern auch den Begriff der Opposition selbst.<br />

Er stellte weder ein Programm vor noch führte er einen<br />

Wahlkampf. Stattdessen zeigte ihn das Fernsehen wie in<br />

Sowjetzeiten einfach täglich bei der Lösung aller möglichen<br />

politischen Aufgaben. Zum Beispiel, wie er hohe<br />

Regierungsbeamte in seinem Arbeitszimmer im Kreml<br />

empfängt und ihnen qualifizierte Ratschläge erteilt, wie<br />

man dieses oder jenes Ministerium zu leiten hat.<br />

Natürlich wurde in der Öffentlichkeit ein wenig gelacht<br />

: Der führt sich ja auf wie Stalin. Auch Stalin war<br />

der »Freund aller Kinder«, der »oberste Schweinezüch-<br />

399


ter«, der »beste Bergarbeiter«, der »Kumpel aller Sportler«<br />

und der »tollste Filmregisseur«.<br />

Aber diese Lacher blieben nur Lacher, die Emotionen<br />

verliefen sich im Sand. Es gab keine ernsthaften Proteste<br />

wegen der fehlenden Diskussionen.<br />

Und weil es nicht den leisesten Hauch von Widerstand<br />

gab, wurde Putin immer unverschämter. Er behauptete,<br />

es sei nicht wahr, dass er rücksichtslos sei, auf nichts<br />

reagiere und nur seine Linie durchdrücke, damit er um<br />

jeden Preis an der Macht bleibe. Im Gegenteil.<br />

Diese Strategien sind bekannt, er hat sie in seinem<br />

früheren Beruf bei den Tschekisten erlernt : das typische<br />

Verhalten eines KGB-Mitarbeiters. Zuerst werden mit<br />

Hilfe eines engen Personenkreises gewisse <strong>In</strong>formationen<br />

in der Öffentlichkeit gestreut. <strong>In</strong> unserem Fall erfüllt<br />

diese Funktion die politische Elite der Hauptstadt.<br />

Zweck der Sache ist, mögliche Reaktionen zu testen. Gibt<br />

es keine Reaktionen, oder nur lustlose, dann kann man<br />

seinen Kurs ruhig fortsetzen und handeln, wie man es<br />

für richtig hält, ohne Rücksicht auf die anderen.<br />

Ich erlaube mir eine kurze Abweichung vom Thema. Sie<br />

betrifft nicht Putin, sondern uns, die russische Öffentlichkeit.<br />

Die Anhänger <strong>Putins</strong>, Menschen, die ihn unterstützen,<br />

die ein <strong>In</strong>teresse daran haben, dass er im Amt<br />

bleibt, und die alle in der Administration des Präsidenten<br />

versammelt sind, die in Wirklichkeit unser Land regiert –<br />

nicht die Regierung (die erfüllt nur den Willen des Präsidenten)<br />

oder das Parlament (das segnet nur die Geset-<br />

400


zesvorlagen des Präsidenten ab) –, diese Menschen also<br />

beobachten sehr aufmerksam jede Reaktion der Öffentlichkeit.<br />

Es ist nicht wahr, dass sie darauf pfeifen. Und<br />

das bedeutet einiges : dass wir für alles, was geschieht,<br />

selbst verantwortlich sind. Wir – und nicht Putin. Unsere<br />

»Küchengespräche« über den Präsidenten und seine zynische<br />

Verspottung <strong>Russland</strong>s sind der Beweis dafür, wie<br />

effizient <strong>Putins</strong> Politik in den letzten vier Jahren war. Die<br />

soziale Apathie, die unsere Gesellschaft an den Tag legt,<br />

ist grenzenlos und garantiert, dass das Volk Putin auch<br />

in den nächsten vier Jahren alles straflos durchgehen<br />

lässt. Wir reagierten auf seine Reden und Handlungen<br />

nicht nur mit Trägheit, sondern mit Angst. Und wir zeigten<br />

diese Angst den Tschekisten, die in der Zwischenzeit<br />

ihre Macht noch untermauerten. Damit verstärkten wir<br />

ihr Bedürfnis, uns wie Arbeitsvieh zu behandeln. Der<br />

KGB achtet nur die Starken, die Schwachen frisst er auf.<br />

Das sollten wir eigentlich wissen.<br />

Kehren wir zum Februar 2004 zurück, in die Zeit vor<br />

den Wahlen, einige Wochen vor dem 14. März. Irgendwann<br />

spürte der Kreml plötzlich, dass der Bevölkerung<br />

<strong>Putins</strong> Unverschämtheit allmählich auf die Nerven ging.<br />

Putin wollte nicht diskutieren, er wollte auch keine Überzeugungsarbeit<br />

leisten. Der »Wahlkampf« war schrecklich<br />

langweilig.<br />

Drei Wochen vor dem 14. März erklärte der Kreml,<br />

um die Bevölkerung, deren Stimmung bereits im Keller<br />

war, etwas aufzumuntern, dass Putin im Begriff war,<br />

401


einen »bedeutsamen Schritt« zu unternehmen. Die Entlassung<br />

des Ministerkabinetts drei Wochen vor der Wahl<br />

sollte als solcher betrachtet werden.<br />

Im ersten Augenblick waren alle verblüfft. Das war<br />

doch irgendwie dumm, ergab überhaupt keine Logik.<br />

Denn nach den Wahlen musste gemäß der Verfassung<br />

sowieso das gesamte Kabinett zurücktreten, der neu<br />

gewählte Präsident hatte den neuen Premierminister zu<br />

ernennen, und der schlug dann die Minister vor. Und<br />

vernünftig betrachtet, wozu brauchten wir jetzt ein neues<br />

Kabinett, wenn nach dem Amtsantritt ohnehin andere<br />

Minister ernannt werden würden ? Wozu das ganze Tohuwabohu,<br />

das die Arbeit der Regierung endgültig lähmte,<br />

die ohnehin den größten Teil ihrer Arbeitszeit mit der<br />

Lösung eigener kommerzieller Probleme beschäftigt war<br />

und tief im Sumpf der Korruption steckte ?<br />

Aber obwohl die Kabinettsumbildung einen Monat vor<br />

dem ohnehin dafür vorgesehenen Zeitpunkt eine dumme<br />

Aktion war, kam tatsächlich eine gewisse Bewegung ins<br />

Spiel. Die politische Elite wurde wach, auf allen Fernsehkanälen<br />

wurde darüber gerätselt, wen Putin wohl<br />

ernennen würde, die Politologen hatten Futter für ihre<br />

Diskussionen, die Presse endlich einen Stoff, um über<br />

den »Wahlkampf« zu schreiben.<br />

Allerdings dauerte dieser politische Wachzustand leider<br />

nicht länger als eine Woche. <strong>In</strong> dieser Zeit versuchten<br />

<strong>Putins</strong> Politechnokraten täglich die Bevölkerung per<br />

Fernsehen davon zu überzeugen, dass der Präsident sich<br />

nur zu diesem Schritt entschlossen habe, weil er »absolut<br />

402


ehrlich zur Bevölkerung sein«, nicht »mit der Katze im<br />

Sack« (gemeint war das von der Verfassung vorgeschriebene<br />

Procedere, dass nach dem Urnengang ein neues<br />

Kabinett zu ernennen ist) zur Wahl gehen und daher<br />

bereits vor dem 14. März den von ihm vorgesehenen<br />

Kurs offen legen wolle.<br />

Ich muss zugeben, die Hälfte der Bevölkerung glaubte<br />

ihm. Jene fünfzig Prozent unserer Bevölkerung, die dieser<br />

verlogenen, dummen Argumentation vertrauten und<br />

sie sogar begrüßten, zeichnen folgende Kriterien aus : Sie<br />

lieben Putin und glauben ihm vorbehaltlos, irrational,<br />

leidenschaftlich und ohne nachzudenken – sie sind einfach<br />

blind in ihrem Glauben. Das ist alles.<br />

Und tatsächlich, nur wenn man blind vertraut und<br />

hingebungsvoll liebt, übersieht man eine elementare<br />

Frage : Was hinderte Putin, seinen politischen Kurs zu<br />

demonstrieren, ohne eigens dafür das Kabinett zu entlassen<br />

? Wer hatte denn mehr Möglichkeiten als er ? Zum<br />

Beispiel hätte er an einer öffentlichen Diskussion teilnehmen<br />

und im Dialog, Auge in Auge mit einem Kontrahenten,<br />

seinen Standpunkt vertreten können. Warum<br />

muss man gleich die Regierung austauschen, wenn man<br />

seinen politischen Kurs vorführen möchte ?<br />

Die Woche nach der Verkündung der Kabinettsauflösung<br />

übertraf in ihrem Zynismus alles zuvor Geschehene.<br />

Im Fernsehen wurde der Bevölkerung einfach mitgeteilt,<br />

dass vom 14. März rein gar nichts abhänge, dass alles<br />

schon entschieden sei und Putin der neue Zar sein werde.<br />

Putin werde gewinnen, es gebe keine andere Möglichkeit.<br />

403


Zuerst lautete die Argumentation : »Putin will seinen<br />

politischen Kurs im Vorfeld offen legen, damit die Bevölkerung<br />

bei der Wahl nicht das Gefühl hat, ›die Katze<br />

im Sack zu kaufen‹.« Aber innerhalb nur einer Woche<br />

machten <strong>Putins</strong> Presseleute daraus : »Er will seinen politischen<br />

Kurs im Vorfeld offen legen, weil sowieso nur er<br />

die Wahl gewinnen kann.« Wenn aber nur er die Wahl<br />

gewinnen kann, welchen Unterschied macht es dann,<br />

ob man vor dem 14. März das Kabinett umbildet oder<br />

danach ?<br />

Dann kam der Tag, an dem der Name des neuen Premierministers<br />

bekannt gegeben wurde. <strong>In</strong>szeniert wurde<br />

das Ganze wie der Auftritt eines berühmten Opernsängers,<br />

außerdem versicherte uns das Fernsehen, dass<br />

der Ernannte eventuell im Jahr 2008 <strong>Putins</strong> Nachfolger<br />

sein würde.<br />

<strong>In</strong> <strong>Russland</strong> darf sich ein Politiker nicht lächerlich machen,<br />

das nimmt immer ein schlimmes Ende. Er wird<br />

zum Protagonisten zahlreicher Witze und Anekdoten, so<br />

wie es Leonid Breshnew erging. Als Putin den Namen<br />

seines neuen Premierministers bekannt gab, lachten sogar<br />

seine überzeugten Anhänger. Allen war sofort klar,<br />

dass der Kreml eine ganz schlechte Komödie gespielt<br />

hatte. Wie sich herausstellte, hatte Putin bei seiner Kabinettsumbildung<br />

allein Premierminister Michail Kasjanow<br />

entlassen, der »bedeutsame Schritt« entpuppte sich<br />

als kleinliche, persönliche Abrechnung. Mehr war es<br />

nicht. Natürlich tarnte man diese Abrechnung mit Pres-<br />

404


seerklärungen, mit irgendeinem rhetorischen Quatsch,<br />

stellte sie als eine wichtige Entscheidung im <strong>In</strong>teresse<br />

des großen <strong>Russland</strong> hin.<br />

Der Berg kreißte und gebar eine Maus. Alle Minister<br />

blieben auf ihren Posten, nur Kasjanow musste gehen.<br />

Putin war auf Kasjanow schlecht zu sprechen, weil er ein<br />

Abkömmling der Jelzin-Ära war, den nicht anzutasten<br />

der erste russische Präsident Putin gebeten hatte, als er<br />

ihm zum Thron verhalf.<br />

Dieser Premierminister Kasjanow sprach sich als einziger<br />

Vertreter der heutigen russischen politischen Elite<br />

kategorisch gegen die Verhaftung des liberalen Oligarchen<br />

Michail Chodorkowski und gegen die allmähliche<br />

Zerschlagung des Ölkonzerns JUKOS aus. JUKOS ist<br />

das transparenteste Unternehmen in unserem korrupten<br />

Land, es hat als Erstes das internationale System der<br />

Wirtschaftsprüfung anerkannt, was, wie man bei uns<br />

sagt, ein Spiel »mit offenen Karten« bedeutet. Außerdem<br />

bestreitet JUKOS mehr als fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts,<br />

unterstützt eine große Universität,<br />

finanziert Kinderheime und stiftet viel Geld für wohltätige<br />

Zwecke.<br />

Aber Kasjanow wagte es, einen Menschen in Schutz zu<br />

nehmen, den Putin seit geraumer Zeit zu seinen persönlichen<br />

Feinden zählt. Chodorkowski unterstützte nämlich<br />

finanziell die demokratische Opposition, vor allem die<br />

»Jabloko-Partei« und die »Union der rechten Kräfte«.<br />

Für Putin, bei seinem Verständnis von Politik, war das<br />

eine schreckliche persönliche Beleidigung. Putin hatte<br />

405


ereits mehrmals öffentlich gezeigt, dass er grundsätzlich<br />

nicht begreift, was eine Diskussion ist, schon gar nicht,<br />

wenn ein Rangniederer mit einem Ranghöheren über<br />

Politik zu debattieren versucht. So etwas, meint Putin,<br />

darf es nicht geben. Und falls ein Rangniederer sich<br />

das mit ihm als Staatsoberhaupt erlaubt, dann ist er ein<br />

Feind. Putin verhält sich so, nicht weil er von Geburt<br />

an ein Tyrann und Despot wäre, sondern weil er dazu<br />

erzogen wurde. Dieses Verhalten hat man ihm beim<br />

KGB eingetrichtert, dessen Drillsystem er für ideal hält,<br />

was er schon mehrmals öffentlich bekundet hat. Wenn<br />

daher jemand nicht mit ihm einer Meinung ist, verlangt<br />

Putin kategorisch, mit »dieser Hysterie« aufzuhören. Das<br />

erklärt auch, warum er sich im Wahlkampf nicht der<br />

Diskussion stellte. Da ist er überhaupt nicht in seinem<br />

Element, er ist nicht fähig zu debattieren, er kann keinen<br />

Dialog führen. Seine Sache ist der Monolog, und zwar<br />

nach militärischem Muster : Solange du ein Untergebener<br />

bist, halt den Mund. Wirst du zum Vorgesetzten, bist<br />

du derjenige, der Monologe hält, und alle Untergebenen<br />

müssen so tun, als wären sie mit allem einverstanden.<br />

Dieses streng hierarchische Denken führt mitunter zu<br />

Amtsenthebung und physischer Vernichtung. Und es<br />

steht hinter dem, was Chodorkowski widerfahren ist.<br />

Aber kehren wir zur Kabinettsumbildung zurück. Kasjanow<br />

war weg, die anderen Minister waren geblieben und<br />

hatten fast alle ihr altes Ressort behalten. Putin präsentierte<br />

dem Land feierlich Michail Jefimowitsch Fradkow<br />

406


als neuen Premierminister. Der hatte zuletzt als Vertreter<br />

der Russischen Föderation bei der Europäischen Union in<br />

Brüssel eine ruhige Kugel geschoben. Ein unansehnlicher,<br />

harmloser, unauffälliger Herr mit schmalen Schultern<br />

und breitem Becken. Von seiner Funktion in Brüssel erfuhr<br />

die Bevölkerung allerdings erst am Tag seiner Ernennung<br />

zum Premierminister. Was gemäß unserer Tradition<br />

heißt, dass Fradkow ein stiller Vertreter derselben Organisation<br />

ist, der Putin den Großteil seines Lebens angehörte.<br />

Das ganze Land lachte, als es von Fradkow hörte.<br />

Aber Putin blieb hartnäckig und erklärte sogar, warum<br />

er diese »prinzipielle« Entscheidung getroffen hatte : Er<br />

habe ehrlich zur Bevölkerung sein wollen, damit alle<br />

von vornherein wüssten, mit wem er in die Wahlen gehe,<br />

mit wem er arbeiten und unsere schlimmsten Übel – die<br />

Armut und die Korruption – bekämpfen werde.<br />

Die Bevölkerung – sowohl die Putin-Befürworter als<br />

auch seine Gegner – lachte noch mehr, die schlechte<br />

Komödie wurde vor aller Augen weitergespielt. Zwar<br />

kannte das Volk Fradkow nicht, aber die Geschäftsleute<br />

konnten sich hervorragend an ihn erinnern, an die Zeit,<br />

als Fradkow Direktor der russischen Steuerpolizei gewesen<br />

war. (Fradkow ist ein typischer Vertreter der sowjetischen<br />

Nomenklatura, der sein Leben lang von einem<br />

Amt zum anderen geschoben wurde, unabhängig<br />

von seiner Ausbildung und seinem Können. Er ist der<br />

typische leitende Funktionär, dem egal ist, was er leitet,<br />

Hauptsache, er leitet.) Damals war die Steuerpolizei die<br />

korrupteste Behörde des ganzen Landes gewesen. Ihre<br />

407


Mitarbeiter hatten buchstäblich für alles Schmiergeld<br />

verlangt, für jede kleine Bescheinigung oder Auskunft.<br />

Daher war diese Behörde letzten Endes aufgelöst worden,<br />

und Fradkow hatte man, entsprechend der alten sowjetischen<br />

Nomenklatura-Tradition, nach Brüssel geschickt.<br />

Was nicht gerade eine Strafe war.<br />

Fradkow, von Putin zum Premierminister ernannt,<br />

flog gleich am nächsten Morgen von Brüssel nach Moskau,<br />

und die Bevölkerung bekam den nächsten Anlass<br />

zum Lachen. Auf dem Flughafen eingetroffen, erklärte<br />

Fradkow in seinem ersten <strong>In</strong>terview, er habe keine Ahnung,<br />

worin seine Arbeit bestehe, er habe auch kein Programm,<br />

überhaupt habe ihn das Ganze wie ein Blitz aus<br />

heiterem Himmel getroffen und er warte jetzt auf Anweisungen<br />

und <strong>In</strong>struktionen.<br />

<strong>In</strong> <strong>Russland</strong> spielt sich eine Menge hinter den Kulissen<br />

ab, viele Leute haben ein schlechtes Gedächtnis. Darum<br />

bestätigte die Duma, auch wenn sie gar keine Anweisungen<br />

und <strong>In</strong>struktionen von Putin erhalten hatte, mit<br />

überwiegender Mehrheit die Ernennung von Fradkow,<br />

indem sie sich »auf den Willen der Wähler, die Präsident<br />

Putin in allem vertrauen« berief. Denn seit den Parlamentswahlen<br />

vom 7. Dezember 2003 wird die Duma vom<br />

Kreml kontrolliert, es sind in ihr praktisch keine Fraktionen<br />

mehr vertreten, die in Opposition zu Putin stehen.<br />

Und auch die Wähler schluckten die Tatsache, dass ihr<br />

neuer Premierminister kein Programm hatte und nicht<br />

einmal wusste, was er am nächsten Tag tun würde.<br />

Der 14. März war da. Alles lief ab wie vom Kreml<br />

408


geplant, unverändert ging das Leben weiter. Die Beamten<br />

nahmen ihr hemmungsloses Stehlen wieder auf. Das<br />

Morden in Tschetschenien wurde fortgesetzt. Für kurze<br />

Zeit, für die Dauer des Wahlkampfs, hatte es ein wenig<br />

nachgelassen, was die Hoffnung auf ein Ende des<br />

Kriegs geweckt hatte. (Im März 2004 war es fünf Jahre<br />

her, dass der Zweite Tschetschenien-Krieg im Zuge von<br />

<strong>Putins</strong> erster Wahl zum Präsidenten begonnen hatte.)<br />

Zwei tschetschenische Feldkommandeure legten, in kaukasischer<br />

Tradition, anlässlich der Wahl ihre Waffen zu<br />

Füßen des Staatsoberhaupts nieder. Ihre Verwandten waren<br />

entführt und so lange festgehalten worden, bis die<br />

Feldkommandeure erklärten, dass sie für Putin seien und<br />

nicht mehr von der Unabhängigkeit träumten. Der inhaftierte<br />

Oligarch Chodorkowski schrieb reuevolle Briefe<br />

aus dem Gefängnis an Putin, JUKOS steuerte mit blitzartiger<br />

Geschwindigkeit auf den Konkurs zu. Berlusconi<br />

kam auf Besuch und bat seinen Freund Wladimir um<br />

Rat, fragte ihn, wie er selbst bei der Wahl einen Stimmanteil<br />

von siebzig Prozent bekommen könne. Putin<br />

sagte ihm nichts Konkretes, welchen Tipp sollte er seinem<br />

Freund Silvio auch geben, er würde es sowieso nicht<br />

begreifen, ist er doch trotz allem aus Europa. Gemeinsam<br />

fuhren sie in die Provinzstadt Lipezk, eröffneten<br />

eine Waschmaschinenfabrik, besuchten eine Flugschau<br />

der Armee. Putin fuhr damit fort, hochrangigen Beamten<br />

im Fernsehen Verweise zu erteilen. Wir sehen ihn<br />

ausschließlich in dieser Rolle : Entweder empfängt er in<br />

seinem Arbeitszimmer im Kreml Beamte und hört sich<br />

409


ihre Rechenschaftsberichte an, oder er gibt in einem<br />

Monolog irgendeinen Rüffel von sich. Diese Aufnahmen<br />

sind normalerweise von <strong>Putins</strong> PR-Leuten hervorragend<br />

durchdacht, es gibt keine Improvisationen, keine<br />

Zufälle, alles ist präzise kalkuliert. Zum Beispiel <strong>Putins</strong><br />

Auftritt zu Ostern vor seinem Volk, etwa einen Monat<br />

nach seiner Wiederwahl : Zu Beginn der Osternacht in<br />

der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau, die aus Beton<br />

an der Stelle errichtet worden war, an der sich früher<br />

ein Schwimmbad befunden hatte, standen Schulter<br />

an Schulter mit ihm, wie bei einer Militärparade, Premierminister<br />

Fradkow und Dmitri Medwedjew, die neue<br />

graue Eminenz im Kreml, Chef der neuen Administration<br />

des Präsidenten, und bekreuzigten sich ungeschickt.<br />

Medwedjew, ein winziger Mann mit einem riesigen Kopf,<br />

schlug das Kreuz, indem er mit seiner Hand zunächst<br />

die Stirn und dann die Genitalien berührte. Sehr komisch<br />

war das. Außerdem drückte Medwedjew, dem<br />

Beispiel <strong>Putins</strong> folgend, dem Moskauer Patriarchen ganz<br />

kameradschaftlich die Hand, ohne sie zu küssen, wie es<br />

sich eigentlich gehören würde. Der Patriarch sah darüber<br />

hinweg. Tja, die PR-Leute im Kreml sind ungebildete<br />

Menschen und kennen sich mit dem Zeremoniell nicht<br />

aus, obwohl sie sonst sehr effektiv arbeiten. Neben Putin<br />

stand auch der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow,<br />

der die Kathedrale hatte erbauen lassen. Luschkow war<br />

der Einzige, der sich richtig bekreuzigen konnte. Der<br />

Patriarch nannte Putin »Eure Exzellenz«. Ja, Ostern ist<br />

jetzt – und das bei so vielen ehemaligen KGBlern an der<br />

410


Spitze des Staates – ein ganz wichtiger Feiertag und eine<br />

Pflicht. <strong>In</strong> der Art der früheren Erste-Mai-Parade.<br />

Der Anfang der Osternacht war noch komischer gewesen<br />

als der Händedruck mit dem Patriarchen. Beide<br />

staatlichen Fernsehkanäle übertrugen live die Prozession<br />

um die Christus-Erlöser-Kathedrale, die vor dem<br />

Gottesdienst stattfindet und an der auch der Patriarch<br />

teilnahm, obwohl er nicht gesund war. Der Fernsehmoderator,<br />

ein gläubiger und theologisch gebildeter Mensch,<br />

erzählte den Zuschauern, dass nach orthodoxer Tradition<br />

bis Mitternacht die Türen der Kathedrale geschlossen<br />

bleiben. Sie symbolisieren die Pforte der Höhle, in der<br />

sich der Leib Christi befunden hat. Nach Mitternacht<br />

warten die Gläubigen, die an der Prozession teilgenommen<br />

haben, darauf, dass sich die Türen der Kathedrale<br />

öffnen. An ihrer Spitze steht der Patriarch und betritt als<br />

Erster die leere Kathedrale, wo die Auferstehung Christi<br />

bereits stattgefunden hat.<br />

Als aber der Patriarch vor dem Eingang der Kathedrale<br />

das erste Gebet nach Mitternacht beendet hatte und<br />

sich die Tür öffnete, stand dort Putin. Unser bescheidener<br />

Putin. Schulter an Schulter mit Fradkow, Medwedjew<br />

und Luschkow.<br />

Zum Lachen und zum Heulen. Ein humoristischer<br />

Abend in der heiligen Osternacht. Warum sollte man<br />

unseren Präsidenten mögen ? Weil er alles banal macht,<br />

was er berührt ?<br />

Etwa zur gleichen Zeit, am 8. April, wurden zum ersten<br />

Mal seit Beginn der beiden Tschetschenien-Kriege<br />

411


zwei neun Monate alte Mädchen zu Schachidinnen<br />

(Märtyrerinnen) erklärt. Die Zwillinge aus dem winzigen<br />

tschetschenischen Dorf Rigach waren gestorben,<br />

noch bevor sie Laufen gelernt hatten. Es war wie immer.<br />

Nach dem 14. März hatten in Tschetschenien die<br />

Kampfhandlungen wieder begonnen. Der regionale Kommandostab<br />

zur Durchführung der »Anti-Terror-Operation«<br />

verkündete, dass Bassajew gejagt würde und eine<br />

groß angelegte Offensive der Armee im Gange sei, deren<br />

Ziel die Vernichtung illegaler Bandenmitglieder sei.<br />

Bassajew konnte man nicht erwischen, aber gegen zwei<br />

Uhr nachmittags wurde im Rahmen der militärischen<br />

Operation das kleine Dorf Rigach bombardiert und mit<br />

Raketen beschossen. Alle, die zu dem Zeitpunkt im Dorf<br />

waren, starben – eine Mutter mit fünf Kindern. Das Bild,<br />

das sich dem Vater der Familie, Imar-Ali Damajew, bot,<br />

würde selbst einen Menschen mit starken Nerven entweder<br />

zu einem ewigen Pazifisten machen oder in einen<br />

Selbstmordattentäter verwandeln. Maidat, Imar-Alis<br />

neunundzwanzigjährige Frau, war bereits tot und hielt<br />

die vierjährige Dshanati, die dreijährige Sharadat, den<br />

zweijährigen Umar-Hashi und die neun Monate alte Sara<br />

in ihren Armen. Die Umarmung der Mutter hatte die<br />

Kinder nicht retten können, alle waren durch Splitter getötet<br />

worden. Etwas abseits lag der winzige Körper von<br />

Sura, Saras Zwillingsschwester. Maidat hatte das fünfte<br />

Kind nicht mehr mit ihrem Körper schützen können.<br />

Imar-Ali sammelte die Splitter ein, man konnte die Nummer<br />

der tödlichen Rakete feststellen – 350 F 5-90. Der<br />

412


Ulem, der moslemische Gelehrte aus dem Nachbardorf,<br />

erklärte alle Toten zu Schachiden, das heißt zu Gotteskriegern<br />

und Märtyrern für ihren Glauben. Sie wurden<br />

gegen Abend desselben Tages begraben. Ohne dass man<br />

ihre Leichen gewaschen hatte, ohne Leichenhemden, in<br />

den Kleidern, in denen sie gestorben waren.<br />

Warum ich Putin nicht mag ? Weil im Sommer 2004<br />

fünf Jahre seit dem Beginn des zweiten Tschetschenien-<br />

Kriegs vergangen sind, der nur deswegen begonnen<br />

wurde, damit Putin Präsident wird. Und dieser Krieg<br />

nimmt kein Ende. Seit 1999 gab es keine einzige Ermittlung<br />

im Zusammenhang mit den Morden, die an Kindern<br />

während der Beschießungen und Säuberungen verübt<br />

wurden. Kein einziger Kindermörder musste seinen<br />

wohl verdienten Platz auf der Anklagebank einnehmen.<br />

Putin verlangte das auch nie, obwohl er als großer Kinderfreund<br />

gilt. Die Armee agiert in Tschetschenien nach<br />

wie vor so, als befände sie sich auf einem Truppenübungsplatz<br />

ohne Menschen.<br />

Die Massenmorde an Kindern wühlten das Land<br />

nicht auf, kein Fernsehkanal zeigte die Aufnahmen von<br />

den ermordeten tschetschenischen Kindern. Der Verteidigungsminister<br />

trat nicht zurück. Er ist ein guter<br />

Freund von Putin, und es wird darüber spekuliert, dass<br />

er <strong>Putins</strong> Nachfolger im Jahr 2008 werden wird. Auch<br />

der Oberkommandant der Luftwaffe wurde nicht mit<br />

Schimpf und Schande entlassen. Alles blieb beim Alten.<br />

Der Oberste Befehlshaber sprach dem Vater, der mit<br />

einem Schlag seine ganze Familie verloren hatte, kein<br />

413


Beileid aus. <strong>In</strong> der Welt um uns herum brodelte es vor<br />

Protesten. Im Irak wurden Geiseln ermordet, Länder<br />

und Völker verlangten von ihren Regierungen und den<br />

internationalen Organisationen, dass sie die Truppen zurückziehen<br />

und das Leben von Menschen retten sollten,<br />

die ihre Pflicht erfüllten. Bei uns blieb alles ruhig.<br />

Warum ich Putin nicht mag ? Wegen seines Zynismus.<br />

Wegen seines Rassismus. Wegen des endlosen Krieges.<br />

Wegen seiner Lügen. Wegen der Gasattacke im Musicaltheater<br />

»Nord-Ost«. Wegen der unschuldigen Menschen,<br />

die während seiner Amtszeit umgebracht wurden. Ein<br />

Sterben, das man hätte vermeiden können.<br />

Putin, der zufällig eine enorme Macht in die Hände<br />

bekam, gebraucht diese Macht mit für <strong>Russland</strong> katastrophalen<br />

Folgen. Ich mag ihn nicht, weil er die Menschen<br />

nicht mag. Er erträgt uns nicht. Er verachtet uns.<br />

Er denkt, wir sind nur ein Mittel zum Zweck für ihn,<br />

ein Mittel zur Erfüllung seiner Machtambitionen. Und<br />

deswegen darf er alles, kann mit uns spielen, wie es<br />

ihm passt. Und kann uns vernichten, wie es ihm passt.<br />

Er glaubt, dass wir nichtswürdig sind, er glaubt, dass er<br />

Zar und Gott zugleich ist, vor dem wir uns verneigen<br />

und fürchten müssen.<br />

<strong>In</strong> <strong>Russland</strong> hat es schon Führer mit ähnlicher Weltanschauung<br />

gegeben. Dies hat zu Tragödien geführt. Zu<br />

großem Blutvergießen. Zu Bürgerkriegen. Und das will<br />

ich nicht. Deswegen mag ich diesen typisch sowjetischen<br />

Tschekisten nicht, der über die roten Teppiche des Kreml<br />

zum russischen Thron schreitet.


NACH BESLAN – ANSTELLE EINES NACHWORTS<br />

Am 1. September 2004 fand ein beispielloser Terroranschlag<br />

statt, die Tragödie von Beslan. Das Wort Beslan<br />

wird für uns auf ewig ein Symbol des Horrors bleiben.<br />

Eines Horrors, den sich kein Hollywoodregisseur je hätte<br />

ausdenken können.<br />

Am frühen Morgen des 1. September überfiel eine internationale<br />

Bande die Schule Nr. 1 in der kleinen nordossetischen<br />

Stadt Beslan und nahm alle darin befindlichen<br />

Menschen als Geiseln. Die Terroristen forderten<br />

die umgehende Beendigung des zweiten Tschetschenien-<br />

Krieges. Sie überfielen die Schule während der feierlichen<br />

Veranstaltung, die überall in <strong>Russland</strong> zu Schulbeginn<br />

abgehalten wird. Normalerweise kommt zu dieser Feier<br />

die ganze Familie mit Großvater, Großmutter, Onkeln<br />

und Tanten, vor allem, wenn die Kinder an diesem Tag<br />

eingeschult werden.<br />

So war es auch diesmal. Daher gerieten fast 1500 Menschen<br />

in die Hände der Geiselnehmer : Schüler, Eltern,<br />

Geschwister, Lehrer, Kinder von Lehrern.<br />

Alles, was in <strong>Russland</strong> zwischen dem 1. und 3. September<br />

geschah und bis heute geschieht, ereignete sich<br />

nicht zufällig, sondern war die logische Konsequenz aus<br />

<strong>Putins</strong> Politik, seine eigene Position wider jede Vernunft<br />

415


und qua Unterdrückung jeglicher Eigeninitiative anderer<br />

durchzusetzen.<br />

1. September. Laut dem Bericht der Sicherheitsdienste<br />

und der Behörden befanden sich in der Schule »nicht<br />

allzu viele Menschen« – 354 Personen. Die Terroristen<br />

teilten den Geiseln mit : »Wir werden dafür sorgen, dass<br />

tatsächlich von euch am Ende nur 354 übrig sind.« Die<br />

herbeigelaufenen Verwandten, die sich vor der Schule<br />

versammelt hatten, wiesen immer wieder darauf hin,<br />

dass die Behörden logen und mehr als 1000 Personen<br />

in der Hand der Terroristen waren.<br />

Doch keiner hörte auf die Angehörigen. Diese versuchten<br />

über die Journalisten, die nach Beslan gekommen<br />

waren, mit den Behörden in Kontakt zu treten und ihnen<br />

ihr Wissen mitzuteilen, aber die Journalisten gaben weiterhin<br />

die offiziellen <strong>In</strong>formationen bekannt. Da fingen<br />

die Verwandten an, einige der Berichterstatter zu verprügeln.<br />

Wie dem auch sei, die Behörden verharrten den ganzen<br />

1. September und den Vormittag des 2. September in<br />

einem sträflichen Zustand des Schocks und der Unentschlossenheit.<br />

Weil der Kreml Verhandlungen mit den<br />

Terroristen nicht zugestimmt hatte, führte man überhaupt<br />

keine. Jeder, der etwas in Richtung Verhandlungen<br />

unternahm, wurde eingeschüchtert, während diejenigen,<br />

die von den Banditen als Verhandlungspartner<br />

gewünscht waren, irgendwo still in einer Ecke saßen<br />

oder aus dem Land flüchteten. Die Präsidenten von <strong>In</strong>guschetien<br />

und Nordossetien, Sjasikow und Dsassochow,<br />

416


<strong>Putins</strong> Tschetschenien-Berater Aslachanow und Doktor<br />

Roschal, der in ähnlichen Fällen schon vermittelnd tätig<br />

gewesen war, erwiesen sich in einem Moment als Feiglinge,<br />

in dem man nicht feige sein durfte. Jeder von ihnen<br />

hatte im Nachhinein eine Ausrede parat, aber Tatsache<br />

ist : Keiner ging ins Schulgebäude hinein.<br />

<strong>In</strong> Anbetracht dieses feigen Verhaltens befürchteten<br />

die Angehörigen, dass sich alles genau wie bei der Beendigung<br />

des Geiseldramas im »Nord-Ost«-Musicaltheater<br />

im Oktober 2002 in Moskau abspielen würde. Die Sicherheitsdienste<br />

würden das Gebäude stürmen, unzählige<br />

Opfer wären nicht zu vermeiden.<br />

Am 2. September betrat der ehemalige Präsident von<br />

<strong>In</strong>guschetien, Ruslan Auschew, die besetzte Schule. Ein<br />

Mann, der vom Kreml in den Schmutz gezogen worden<br />

war, weil er stets für eine politische Lösung der Tschetschenien-Krise<br />

und für Friedensverhandlungen plädiert<br />

hatte, und den man daher gezwungen hatte, den Präsidentenposten<br />

»freiwillig« für Murat Sjasikow, den Kreml-<br />

Günstling und FSB-General, zu räumen.<br />

Auschew erzählte später, dass er bei seinem Eintreffen<br />

in Beslan mit einem schrecklichen Bild konfrontiert war.<br />

Eineinhalb Tage, nachdem die Terroristen die Schule<br />

in ihre Gewalt gebracht hatten, war man sich im »Stab<br />

für die Befreiung der Geiseln« noch nicht einig, wer<br />

eigentlich die Verhandlungen führen sollte, weil man<br />

auf Anweisungen aus dem Kreml wartete und Angst vor<br />

<strong>Putins</strong> Zorn hatte, der das Ende der eigenen politischen<br />

Karriere bedeuten würde – und das Ende der eigenen<br />

417


politischen Karriere ist wesentlich schlimmer als das<br />

Leiden von Hunderten Geiseln. Besser man verliert die<br />

Geiseln, diese Verluste kann man den Terroristen in die<br />

Schuhe schieben. Aber <strong>Putins</strong> Gunst zu verlieren heißt<br />

in Vergessenheit zu geraten, bedeutet Selbstmord.<br />

Festzuhalten ist, dass jeder Repräsentant der russischen<br />

Staatsmacht in diesen Tagen in Beslan sich in erster<br />

Linie darum bemühte, <strong>Putins</strong> Willen zu erraten, anstatt<br />

angemessen auf die Vorgänge in der Schule zu reagieren<br />

und einen Plan zur Rettung der Geiseln zu erarbeiten.<br />

Und wenn Putin etwas sagte, wagte keiner, nicht<br />

zu gehorchen. Alexander Dsassochow, der nordossetische<br />

Präsident, erzählte Ruslan Auschew zum Beispiel, dass<br />

Putin ihn persönlich angerufen und ihm verboten hatte,<br />

die Schule zu betreten, andernfalls würde er Dsassochow<br />

unverzüglich ein Gerichtsverfahren anhängen.<br />

Dsassochow betrat die Schule nicht, auch Doktor<br />

Roschal nicht. Obwohl er Kinderarzt ist, zog er es vor,<br />

niemanden zu retten, außer sich selbst. Angeblich habe<br />

ein anonymer Mensch aus dem Sicherheitsdienst Doktor<br />

Roschal beteuert, dass die Terroristen ihn nur als Verhandlungsperson<br />

wünschten, um ihn zu töten.<br />

Und Doktor Roschal ging nicht hinein.<br />

Jeder im Stab für die Befreiung der Geiseln kümmerte<br />

sich um seine Karriere und nicht um die Rettung der<br />

Kinder. Bereits vor dem 3. September, dem Tag der Entscheidung,<br />

war offensichtlich : Die »Vertikale der Macht«,<br />

die Putin auf panischer Angst und totaler Abhängigkeit<br />

von einer Person (nämlich seiner) aufgebaut hatte, ist<br />

418


völlig untauglich. Mit dieser »Vertikale« war es unmöglich,<br />

jemanden zu retten.<br />

<strong>In</strong> dieser Situation bediente sich Ruslan Auschew einer<br />

im <strong>In</strong>ternet veröffentlichten Erklärung von Aslan Maschadow,<br />

dass er, Maschadow, der Anführer des tschetschenischen<br />

Widerstands und eigentlicher gewählter Präsident<br />

Tschetscheniens, auf den sich auch die Terroristen beriefen,<br />

kategorisch gegen die Geiselnahme von Kindern ist.<br />

Mit dieser Erklärung in Händen ging Auschew zu den<br />

Terroristen. Er war der Einzige, der während der Tragödie<br />

von Beslan überhaupt Verhandlungen führte.<br />

Dafür wurde er in der Folge vom Kreml beschimpft,<br />

aller Todsünden bezichtigt, vor allem der Zusammenarbeit<br />

mit den Terroristen.<br />

Später erzählte Ruslan Auschew : »Sie weigerten sich,<br />

mit mir Wainachisch zu sprechen, obwohl Tschetschenen<br />

und <strong>In</strong>guschen dabei waren. Sie wollten nur Russisch<br />

sprechen. Sie verlangten als Verhandlungspartner<br />

zumindest einen Minister, zum Beispiel Bildungsminister<br />

Fursenko. Aber keiner wollte hineingehen, weil es keine<br />

Genehmigung vom Kreml gab.«<br />

Auschew verbrachte etwa eine Stunde in der Schule.<br />

Dann trug er drei Säuglinge auf seinen Armen heraus,<br />

außerdem wurden sechsundzwanzig kleine Kinder freigelassen.<br />

Am 3. September, am helllichten Tag, wurde<br />

das Gebäude gestürmt. Die Kämpfe in der Kleinstadt<br />

dauerten bis in die späte Nacht. Etliche Terroristen wurden<br />

getötet, aber viele konnten trotz der Umzingelung<br />

entkommen. Man fing an, die toten Geiseln zu zählen,<br />

419


und man zählt sie bis heute. Am Stadtrand von Beslan<br />

wurde ein Feld umgepflügt, nun ein riesiger Friedhof mit<br />

Hunderten frischer Gräber. Zum Zeitpunkt, da ich dies<br />

schreibe, konnten mehr als hundert Geiseln nicht gefunden<br />

werden, sie gelten als vermisst. Die einen denken,<br />

sie seien vom Rest der Bande entführt worden. Andere<br />

meinen, sie seien durch die Flammenwerfer, mit denen<br />

die Spezialeinheiten unter anderem bewaffnet waren,<br />

umgekommen und restlos verbrannt.<br />

Sofort nach den Geschehnissen in Beslan wurden in<br />

<strong>Russland</strong> die Schrauben weiter angezogen. Putin bezeichnete<br />

die Tragödie als Akt des internationalen Terrorismus,<br />

bestritt, dass es eine eindeutige tschetschenische<br />

Spur gab, und brachte alles in Verbindung mit El Kaida.<br />

Auschews Heldentat wurde in den Medien auf Befehl des<br />

Kreml verunglimpft, man stellte ihn nicht als Retter und<br />

einzigen Helden unter den Feiglingen dar, sondern als<br />

wichtigsten Helfershelfer der Terroristen.<br />

Die Tragödie von Beslan konnte den Kreml nicht dazu<br />

bewegen, wenigstens mit kleinen Korrekturen bei den<br />

eigenen Fehlern zu beginnen. Im Gegenteil, ein politisches<br />

Brandschatzen war die Folge.<br />

<strong>Putins</strong> wichtigste Losung nach Beslan war : Da wir<br />

uns im Krieg befinden, müssen wir die Machtvertikale<br />

stärken. Und da nur einer (nämlich Putin) weiß, wer<br />

wer ist, werden wir uns am besten vor Terroranschlägen<br />

schützen, wenn er allein die Zügel in der Hand hält. Also<br />

wurde der Duma ein Gesetzentwurf des Kreml vorgelegt,<br />

der die Abschaffung der Direktwahl der russischen<br />

420


Gouverneure vorsah, da diese <strong>Putins</strong> Meinung nach nur<br />

zu verantwortungslosem Handeln unter den Regierungschefs<br />

der einzelnen Regionen führe.<br />

Kein Wort darüber, dass sich während der Geiselnahme<br />

in Beslan ausgerechnet <strong>Putins</strong> Günstlinge, die<br />

von ihm ernannten Präsidenten Sjasikow und Dsassochow,<br />

als Lügner und Feiglinge entlarvt und als total<br />

nutzlos erwiesen hatten.<br />

Parallel dazu lief eine gewaltige ideologische Gehirnwäsche.<br />

Es wurde versucht zu beweisen, dass sich die<br />

obersten Behörden während der Tragödie von Beslan<br />

ideal verhalten hätten und gar nicht effizienter hätten<br />

vorgehen können. Zur Ablenkung wurde eine Untersuchungskommission<br />

des Föderationsrates (des Oberhauses<br />

des russischen Parlaments) ins Leben gerufen, die<br />

die Durchführung der Ermittlungen überwachen sollte.<br />

Putin empfing im Kreml Alexander Torschin, den Vorsitzenden<br />

der Kommission, und gab ihm seine Empfehlungen<br />

als Präsident mit auf den Weg. Die Kommission<br />

trat nicht aus dem Rahmen des Erlaubten.<br />

Die Einwohner von Beslan bekamen deutlich zu spüren,<br />

dass man sie vergessen hatte. Das Fernsehen konzentrierte<br />

sich auf das Positive. Wie sehr den Geiseln<br />

geholfen wurde, wie viel Konfekt und Spielzeug man<br />

ihnen schenkte – nicht eine Bemerkung zu der Frage<br />

nach den Vermissten.<br />

Vierzig Tage waren nunmehr vergangen. Die offiziellen<br />

Gedenkfeiern liefen in gesetztem Rahmen ab, keine<br />

verzweifelten, hysterischen Verwandten im Fernsehen.<br />

421


Dann kam der 26. Oktober 2004. Vor zwei Jahren, am<br />

23. Oktober 2002, hatte eine Bande von Terroristen das<br />

»Nord-Ost« Musicaltheater in der Ersten-Dubrowskaja-<br />

Straße in Moskau während der Vorstellung überfallen<br />

und Zuschauer und Künstler als Geiseln genommen.<br />

Am 26. Oktober, siebenundfünfzig Stunden nach dem<br />

Anschlag, hatten die Sicherheitsdienste das Gebäude<br />

gestürmt und eine unbekannte, gasartige, chemische<br />

Substanz eingesetzt. Einhundertdreißig Geiseln waren<br />

gestorben.<br />

Nach »Nord-Ost« waren die Machthaber nur damit<br />

beschäftigt, sich von jeder Schuld reinzuwaschen und<br />

sich mit Auszeichnungen zu überschütten. Der zweite<br />

Tschetschenien-Krieg wurde nicht nur nicht beendet, sondern<br />

die Schlinge wurde noch fester zugezogen. Alle, die<br />

den Frieden ermöglichen, die verhindern könnten, dass<br />

ein nordkaukasischer Terrorismus als logische Antwort<br />

auf den im Zuge der »Anti-Terror-Operation« ausgeübten<br />

staatlichen Terror gegen die tschetschenische und<br />

inguschetische Bevölkerung entsteht, wurden entweder<br />

vernichtet oder vom Spielfeld beseitigt.<br />

Der »antiterroristische Terror« ist zu einem wesentlichen<br />

Teil unseres Lebens in <strong>Russland</strong> zwischen »Nord-<br />

Ost« und Beslan geworden. Der Terror und der Antiterror.<br />

Zwei Mühlsteine, und dazwischen wir. Die Zahl der<br />

Terroranschläge ist sprunghaft angestiegen, der direkte<br />

Weg von »Nord-Ost« nach Beslan ist offensichtlich.<br />

Am 26. Oktober um elf Uhr vormittags versammelten<br />

sich alle vom damaligen Attentat Betroffenen vor dem<br />

422


Theatergebäude in der Dubrowka. Ehemalige Geiseln,<br />

Verwandte und Freunde von Verstorbenen. Am Morgen<br />

hatten sie auf dem Friedhof ihrer Angehörigen gedacht,<br />

wie es bei uns der Brauch ist. Die öffentliche Trauerfeier<br />

in der Dubrowka war für elf Uhr geplant. Die von den<br />

Betroffenen des Anschlags auf »Nord-Ost« gegründete<br />

Organisation hatte die entsprechenden <strong>In</strong>formationen<br />

bereits vor längerer Zeit an die Medien weitergegeben.<br />

Auch im Rundfunk hatte man Hinweise auf diese Trauerfeier<br />

hören können, Einladungen waren an die Verwaltung<br />

des Moskauer Bürgermeisters und die Administration<br />

des Präsidenten geschickt worden. Man hatte ihnen<br />

versichert : »Wir kommen.«<br />

Nach fünfzig Minuten, der Priester war schon da,<br />

beschloss man, endlich zu beginnen. Die Leute flüsterten<br />

: »Unmöglich, dass keiner kommt.« Die Rede war von<br />

den Vertretern der Macht.<br />

Zwölf Uhr. Die Menge wurde nervös, viele waren mit<br />

Kindern hier, die ihre Eltern beim Anschlag verloren<br />

hatten. »Wir wollten mit ihnen reden«, sagte einer. »Wir<br />

wollten sie direkt fragen.« Schließlich verzweifelte Rufe :<br />

»Wir brauchen dringend Hilfe ! Man sieht über uns hinweg<br />

! Die Kinder werden in den Krankenhäusern nicht<br />

mehr kostenlos behandelt !«<br />

Kein offizieller Vertreter war erschienen, weiteres Warten<br />

schien sinnlos. Hatten sie Angst, den Opfern direkt<br />

in die Augen zu sehen ? Aus den Ermittlungen im Fall<br />

»Nord-Ost« ist nichts geworden. Die Wahrheit über das<br />

Desaster bei der Befreiung und das eingesetzte Gas ist<br />

423


nach wie vor ein großes Staatsgeheimnis. Oder gab es<br />

einen anderen Grund für diese Missachtung ?<br />

Der Platz neben dem Theatergebäude war von Milizionären<br />

umstellt. Man hatte die jungen Kerle hierher getrieben,<br />

damit sie eventuelle leidenschaftliche Ausbrüche<br />

zähmten. Sie fühlten sich unwohl, sie hörten doch, was<br />

die Leute sagten, ihre Unsicherheit war zu spüren. Diese<br />

Milizionäre teilten dann den Menschen mit : »Sie waren<br />

schon hier.« Das heißt, die Machthaber hatten eine alternative,<br />

intime Gedenkfeier für sich organisiert, absichtlich<br />

früher, während die Betroffenen noch auf dem<br />

Friedhof waren. Um ihnen nicht zu begegnen, kamen<br />

die Vertreter aus dem Stab des Moskauer Bürgermeisters<br />

und der Administration des Präsidenten um zehn<br />

Uhr in die Dubrowka – zu ihrer eigenen Gedenkveranstaltung.<br />

Ohne Bevölkerung – damit sie die nicht trafen,<br />

die sie zu Opfern gemacht hatten. Was da um zehn Uhr<br />

stattfand, die offizielle Kranzniederlegung, die gedrillte<br />

Ehrenwache, von Vorgesetzten abgesegnete Reden, wurde<br />

von Kameras aller wichtigen Fernsehsender des Landes<br />

aufgenommen. Alles lief in ordentlichem Rahmen ab,<br />

keine Tränen, keine Gefühlsausbrüche. Diese inszenierte<br />

Gedenkfeier wurde am Abend des 26. Oktober mehrmals<br />

auf allen Fernsehkanälen gezeigt. Damit das Land<br />

wusste, dass die Machthaber diese tragische Geschichte<br />

sehr ernst nahmen und es keinen gab, der mit dem, was<br />

sie taten, nicht einverstanden war.<br />

Natürlich konnte nichts die Menschen – Freunde und<br />

Verwandten der Opfer, ehemalige Geiseln, unzählige<br />

424


ausländische Journalisten – daran hindern, zu Tausenden<br />

der Toten zu gedenken. Auf den Stufen zum Theatergebäude<br />

standen 130 Fotos. Kerzen wurden angezündet.<br />

Dorthin hatte man damals die halb toten Menschen<br />

geschleppt, die eine Dosis von dem giftigen Gas abbekommen<br />

hatten. Viele waren dort ohne ärztliche Hilfe<br />

gestorben. Es regnete, wie vor zwei Jahren.<br />

Und was erwartet die Opfer von Beslan ? Die offizielle<br />

Version der Tragödie wird anders sein als die inoffizielle.<br />

Die Wahrheit über den Terroranschlag werden<br />

wir nie erfahren. Keiner wird die Betroffenen anhören<br />

wollen. Alles muss im Rahmen des Erlaubten bleiben,<br />

keine spontanen Gefühlsausbrüche. Wie zur Sowjetzeit.<br />

Die Ideologie, die der Bevölkerung seit der Tragödie von<br />

Beslan eingetrichtert wird, lautet : Nichts darf zeigen, dass<br />

die Machthaber etwas nicht im Griff haben. Wir haben<br />

Putin, der an uns denkt und besser weiß als wir, was zu<br />

tun ist. Es gibt immer ein Licht am Ende des Tunnels,<br />

wir bekämpfen alle den »internationalen Terrorismus«<br />

und »sind vereint, wie nie zuvor.«<br />

Am 29. Oktober stimmte die Duma mit überwältigender<br />

Mehrheit dem Gesetz zu, das Putin erlaubt, künftig<br />

die Kandidaten für das Amt des Gouverneurs zu ernennen.<br />

Die regionalen Parlamente brauchen dann nur noch<br />

den entsprechenden Kandidaten zu bestätigen. Keiner<br />

widersprach. Die Opposition murrte nur leise. Putin<br />

hatte seinen Willen durchgesetzt.<br />

Was ist bei uns nach Beslan passiert ? Im realen Leben<br />

entfernen sich Bevölkerung und Partei immer mehr von-<br />

425


einander, während sie gleichzeitig auf dem Bildschirm<br />

immer näher aneinander rücken. Eine politische Eiszeit<br />

bricht an. Keine Anzeichen von Tauwetter. Das Land<br />

hatte bereits die offiziellen Lügen über »Nord-Ost« geschluckt<br />

und forderte nun auch keine gerechten Ermittlungen<br />

und Verfahren zur Tragödie von Beslan. <strong>In</strong>sofern<br />

ließen wir zu, dass in Beslan passierte, was passiert ist.<br />

<strong>In</strong> den zwei Jahren zwischen dem Geiseldrama im »Nord-<br />

Ost«-Musicaltheater und dem in Beslan schlief die Mehrheit<br />

der Bevölkerung friedlich zu Hause in ihrem Bett<br />

oder tanzte in Diskotheken, manchmal fand sie auch Zeit,<br />

für Putin zu stimmen. Die Wahrheit über »Nord-Ost«<br />

und das Leid der Opfer war der Bevölkerung egal. Und<br />

die Machthaber begriffen – das war ein entscheidender<br />

Moment –, dass sie uns wieder unter der Fuchtel hatten.<br />

Und schon kam die Tragödie von Beslan.<br />

Man will nicht glauben, dass der politische Winter<br />

wieder für Jahrzehnte in <strong>Russland</strong> Einzug hält. Man<br />

möchte so gern leben. Man möchte, dass die Kinder<br />

in Ruhe aufwachsen, dass die Enkelkinder in Freiheit<br />

geboren werden. Daher die Sehnsucht nach einem baldigen<br />

Tauwetter. Aber nur wir selbst können das politische<br />

Klima in <strong>Russland</strong> ändern – sonst keiner. Auf ein<br />

Tauwetter zu warten, das wie unter Gorbatschow vom<br />

Kreml ausgeht, wäre dumm und unrealistisch. Und auch<br />

der Westen wird uns nicht helfen, er reagiert schlapp<br />

auf <strong>Putins</strong> »Anti-Terror«-Politik. Dem Westen kommt<br />

vieles zupass : Wodka, Kaviar, Gas, Öl, Bären, eigentümliche<br />

Menschen. Der exotische russische Markt spielt die<br />

426


vorgesehene Rolle. Mehr benötigen Europa und der Rest<br />

der Welt nicht von unserem Land, das ein Siebentel der<br />

Erdoberfläche bedeckt.<br />

Ihr sagt immer nur »El Kaida«, »El Kaida«. Ein verdammter<br />

Slogan. Es ist das Einfachste, die Verantwortung<br />

für jede neue blutige Tragödie wegzuschieben. Es<br />

ist das Primitivste, womit man das Bewusstsein einer<br />

Gesellschaft einlullen kann, die davon träumt, eingelullt<br />

zu werden.<br />


ANNA POLITKOVSKAJA wurde 1958 geboren. Sie erhielt 2001<br />

den Preis der russischen Journalistenunion, 2002 den Courage<br />

in Journalism Award in den USA, 2003 den Preis für Journalismus<br />

und Demokratie der Organisation für Sicherheit und<br />

Zusammenarbeit in Europa, die Hermann-Kesten-Medaille des<br />

P.E.N.-Zentrums Deutschland, den Lettre Ulysses Award für<br />

die beste europäische Reportage sowie den Olof-Palme-Preis<br />

2004 und den Leipziger Preis für die Freiheit und Zukunft<br />

der Medien (2005). Im DuMont Literatur und Kunst Verlag<br />

erschien 2003 ihre Dokumentation TSCHETSCHENIEN. DIE<br />

WAHRHEIT ÜBER DEN KRIEG.<br />

Anna Politkovskaja ist die bekannteste russische Journalistin,<br />

die mit ihren Berichten und Reportagen über Tschetschenien<br />

Berühmtheit erlangt hat. Sie arbeitet für die Moskauer Zeitung<br />

Novaja Gazeta und hat als Korrespondentin seit dem Anfang<br />

des zweiten Tschetschenien-Krieges im September 1999 viele<br />

Monate in der Kaukasus-Republik verbracht. <strong>In</strong> <strong>Putins</strong> <strong>Russland</strong><br />

wird ihre Berichterstattung mit Argwohn betrachtet, von<br />

der Armee wurde sie inhaftiert, und wegen Morddrohungen<br />

musste sie sich eine Zeit lang in den USA aufhalten.<br />

»Gegen mich sind etliche Strafverfahren angestrengt worden,<br />

Morddrohungen sind an der Tagesordnung. Aber ich scheue<br />

das Risiko nicht, das gehört zum Beruf.«<br />

ANNA POLITKOVSKAJA

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