In Putins Russland
In Putins Russland
In Putins Russland
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Nach ihrem Aufsehen erregenden und<br />
international ausgezeichneten Buch<br />
TSCHETSCHENIEN. DIE WAHRHEIT ÜBER<br />
DEN KRIEG (2003) dokumentiert Anna<br />
Politkovskaja die Wahrheit über <strong>Putins</strong> neues<br />
autoritäres Reich.<br />
Anna Politkovskaja beschreibt in ihren<br />
Fallberichten, faktengesättigt und auf der<br />
Grundlage eines nicht zu überbietenden<br />
Zugangs zu ihren <strong>In</strong>formanten, den<br />
mächtigen Apparat des Geheimdienstes,<br />
dem Putin entstammt ; die unerträglich<br />
brutalen und korrupten Verhältnisse<br />
in der Armee und in einer käuflichen<br />
Justiz ; die Oligarchen-Mafia in der<br />
<strong>In</strong>dustrie ; das bestechliche Geflecht aus<br />
Nomenklatura und Zentralverwaltung ; die<br />
zunehmende Rechtlosigkeit von ganzen<br />
Bevölkerungsgruppen und den neuen<br />
russischen Rassismus. <strong>In</strong> <strong>Russland</strong> ist Stabilität<br />
eingekehrt, in beängstigender Form, mit<br />
einem zynischen Wladimir Putin, der über<br />
Leichen geht, an der Staatsspitze.<br />
IN PUTINS RUSSLAND : Schärfer kann<br />
die Diagnose nicht ausfallen, die Anna<br />
Politkovskaja in ihren Reportagen dem<br />
<strong>Russland</strong> unter Putin stellt.
ANNA POLITKOVSKAJA<br />
IN PUTINS RUSSLAND<br />
Aus dem Russischen<br />
von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme<br />
DUMONT
Das Vorwort, die Kapitel »Worüber schreibe ich in diesem Buch«, »Die<br />
Armee meines Landes und die Soldatenmütter«, »<strong>Russland</strong>s neues<br />
Mittelalter oder Allenthalben Kriegsverbrecher«, »Provinzgeschichten<br />
oder Wie Staatsorgane helfen, staatliches Eigentum kriminell umzuverteilen«<br />
und »Tanja, Mischa, Rinat … Was ist aus uns geworden ?«<br />
hat Hannelore Umbreit übersetzt, die Kapitel »›Nord-Ost‹ : Die jüngste<br />
Geschichte der Zerstörung«, »Akaki Akakijewitsch Putin-2« und »Nach<br />
Beslan ? – Anstelle eines Nachworts« Ulrike Zemme ; Katharina Narbutovc<br />
dankt der Verlag für die Unterstützung.<br />
<strong>In</strong> <strong>Putins</strong> <strong>Russland</strong> hat Anna Politkovskaja für den »Westen« verfasst<br />
und ist in <strong>Russland</strong> bisher nicht erschienen. Veränderungen gegenüber<br />
dem Original sind mit der Autorin abgestimmt. Die englische Version<br />
von <strong>In</strong> <strong>Putins</strong> <strong>Russland</strong> erschien 2004 unter dem Titel <strong>Putins</strong> Russia<br />
bei The Harvill Press, London 2004.<br />
© 2004 Anna Politkovskaja<br />
Erste Auflage 2005<br />
© 2005 für die deutsche Ausgabe : DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
Ausstattung und Umschlag : Groothuis, Lohfert, Consorten (Hamburg)<br />
Satz : Greiner & Reichel, Köln<br />
Druck und Verarbeitung : Clausen & Bosse, Leck<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 3-8321-7919-4
<strong>In</strong>halt<br />
VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE . . . . . . . 9<br />
WORÜBER SCHREIBE ICH IN DIESEM BUCH ? . . . . 15<br />
DIE ARMEE MEINES LANDES UND<br />
DIE SOLDATENMÜTTER . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />
FALL EINS : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
DER SIEBENTE oder<br />
DIE GESCHICHTE VON NR. U-729343, DEN MAN<br />
AUF DEM SCHLACHTFELD VERGASS<br />
FALL ZWEI : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />
54 SOLDATEN oder EMIGRATION NACH HAUSE<br />
NOCH EINIGE FÄLLE . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />
RUSSLANDS NEUES MITTELALTER oder<br />
ALLENTHALBEN KRIEGSVERBRECHER . . . . . . . . 61<br />
DER FALL CHASSUCHANOW . . . . . . . . . . . 65<br />
Dossier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />
Die Vorgeschichte des Prozesses . . . . . . . . 66<br />
Wladikawkas . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />
Der Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
DER PRÄZEDENZFALL BUDANOW . . . . . . . . . 88<br />
Das Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . 91<br />
Der Angeklagte Juri Dmitrijewitsch Budanow 100
Der Angeklagte Iwan Iwanowitsch Fjodorow . . 106<br />
Der Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />
Expertenspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />
UND DIE ANDEREN KRIEGSVERBRECHER ? . . . . . 193<br />
PROVINZGESCHICHTEN oder WIE STAATSORGANE<br />
HELFEN, STAATLICHES EIGENTUM<br />
KRIMINELL UMZUVERTEILEN . . . . . . . . . . . . 201<br />
FEDULEW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205<br />
Der Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209<br />
Die Rechtsschützer . . . . . . . . . . . . . . 212<br />
Schnapskriege . . . . . . . . . . . . . . . . . 218<br />
Die Unantastbaren . . . . . . . . . . . . . . . 224<br />
Umverteilung Nummer zwei . . . . . . . . . . 233<br />
Katschkanar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239<br />
Die korrupteste Justiz der Welt . . . . . . . . 245<br />
Der »beste Richter« im Ural . . . . . . . . . . 247<br />
Die »schlechten« Richter . . . . . . . . . . . . 254<br />
Die »guten« Richter . . . . . . . . . . . . . . 261<br />
TANJA, MISCHA, LENA, RINAT …<br />
WAS IST AUS UNS GEWORDEN ? . . . . . . . . . . 279<br />
TANJA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282<br />
MISCHA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305<br />
RINAT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
»NORD-OST« : DIE JÜNGSTE GESCHICHTE<br />
DER ZERSTÖRUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . 333<br />
DIE ERSTE GESCHICHTE : DER FÜNFTE . . . . . . . 336<br />
DIE ZWEITE GESCHICHTE : . . . . . . . . . . . . . 348<br />
NUMMER 2551 – DER UNBEKANNTE<br />
DIE DRITTE GESCHICHTE : . . . . . . . . . . . . . 369<br />
SIRASHDI, JACHA UND IHRE FREUNDE<br />
AKAKI AKAKIJEWITSCH PUTIN-2 . . . . . . . . . . 395<br />
NACH BESLAN – ANSTELLE EINES NACHWORTS . . 415
VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE<br />
Wladimir Putin und Gerhard Schröder wirken in jüngster<br />
Zeit geradezu wie Zwillingsbrüder mit ihren wechselseitigen<br />
Sympathiebekundungen, ihren Worten des Lobes<br />
füreinander. Da nimmt es nicht Wunder, dass auch die<br />
deutsche Wirtschaft den russischen Präsidenten nach<br />
Kräften hofiert. Deshalb ist dieses Buch in meinen Augen<br />
nicht gerade ein Geschenk für das gegenwärtige Schröder-<br />
Deutschland, in dem eine Atmosphäre der weitreichenden<br />
Kritiklosigkeit herrscht gegenüber allem, was der im Frühjahr<br />
2004 für eine zweite Amtszeit gewählte Staatschef<br />
der Russischen Föderation sagt und tut. Tsche tschenien ?<br />
Mag dort ruhig Krieg sein, wenn nur unser Erdgas fließt.<br />
Die Verhaftung Chodorkowskis ? Darüber sehen wir hinweg,<br />
Hauptsache, unsere Geschäfte florieren. Mundtot<br />
gemachte Journalisten ? Nun ja, eigentlich … Die Zerschlagung<br />
der demokratischen Opposition ? Eine interne<br />
Angelegenheit der Russen. Die Abrechnung mit Missliebigen<br />
unter Umgehung von Recht und Gesetz ? Rassismus ?<br />
Neofaschismus ? Auch da mischen wir uns nicht ein.<br />
Bei seinem Deutschlandbesuch im Dezember 2004<br />
wiegelte Putin von vornherein sämtliche Fragen zum<br />
Tschetschenien-Krieg ab und beschied den Fragestellern<br />
dummdreist, sie könnten getrost nach Hause gehen und<br />
9
ihre Weihnachtsgans verspeisen, denn es gäbe keinen<br />
Krieg. Das war eine Lüge. Doch diejenigen, denen Putin<br />
diesen Bären aufband, zuckten mit keiner Wimper. Bundeskanzler<br />
Schröder lächelte strahlend … Und dabei<br />
haben wir in <strong>Russland</strong> so lange gedacht, Deutschland<br />
stünde an unserer Seite im Kampf um Demokratie, auf<br />
Deutschland könnten wir jederzeit zählen. Gerade deshalb<br />
war ja für mich so überaus erfreulich, dass mein<br />
Buch »Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg« hier<br />
erschien, das um folgendes Kernargument kreist : Die<br />
einzig wirksamen <strong>In</strong>strumente gegen die neue Welle des<br />
Terrorismus sind eine politische Lösung und ein aktiver<br />
Friedensprozess.<br />
Jetzt steht fest : Wir haben vergebens gehofft. Deutschland<br />
ist auf der Seite <strong>Putins</strong>, nicht auf unserer. Alle Worte,<br />
alle Appelle, darunter auch meine, sind ungehört verhallt<br />
in dieser Atmosphäre der Liebedienerei vor dem<br />
russischen Präsidenten. Im Grunde zählt nur eins : Putin<br />
kann Deutsch, und das genügt, um ihm nicht nur alles<br />
nachzusehen, sondern sogar die eigenen scheinbar fest<br />
verwurzelten demokratischen Prinzipien umzustoßen,<br />
auf denen – wie wir glaubten – die bundesrepublikanische<br />
Gesellschaftsordnung so unerschütterlich ruht.<br />
Im Dezember 2004, also erst vor wenigen Wochen,<br />
weilte eine parlamentarische Delegation des Deutschen<br />
Bundestages in Moskau. Einer der Abgeordneten bat uns,<br />
mich und Ruslan Auschew, zu einem Essen. Ruslan Auschew<br />
ist nicht nur der ehemalige Präsident der Republik<br />
<strong>In</strong>guschetien und ein überzeugter Befürworter von Frie-<br />
10
densverhandlungen mit den tschetschenischen Rebellen<br />
als einzig gangbarem Weg zur Eindämmung der Terrorakte<br />
in <strong>Russland</strong> ; diesem mutigen Mann gelang es auch,<br />
während des Geiseldramas in Beslan im September 2004<br />
in Verhandlungen mit den Terroristen die Freilassung<br />
von sechsundzwanzig Frauen und Kindern zu erwirken.<br />
Eine Großtat zur Rettung von Menschenleben, die ihm<br />
Präsident Wladimir Putin nicht anders zu danken wusste<br />
als mit einer ungeheuerlichen Rufmordkampagne.<br />
Wir schilderten also dem Bundestagsabgeordneten<br />
die Situation. Er hörte uns lange und aufmerksam zu,<br />
nickte manchmal zustimmend, schien sogar so etwas<br />
wie Anteilnahme zu empfinden, jedenfalls musste er<br />
immer wieder unsere bitteren Worte über den katastrophalen<br />
Kurs, den <strong>Russland</strong> unter Putin eingeschlagen<br />
hat, mit einem kräftigen Schluck Bier hinunterspülen.<br />
Dann gähnte der Herr Bundestagsabgeordnete, zeigte<br />
Anzeichen von Müdigkeit. Ich begriff, dass es schnell<br />
zu handeln galt, und stellte meine wichtigste Frage, die<br />
für mich eigentlich der alleinige Beweggrund gewesen<br />
war, diese Einladung zum Essen anzunehmen : »Ist der<br />
Deutsche Bundestag bereit, sich aktiv einzubringen in<br />
den politischen Prozess in Tschetschenien und die Aufnahme<br />
von Verhandlungen zwischen den tschetschenischen<br />
Rebellen und der Putin-Regierung zu befördern –<br />
gemäß dem Konzept des Komitees der Soldatenmütter,<br />
das die <strong>In</strong>stitutionen der bürgerlichen Gesellschaft als<br />
Vermittler zwischen den beiden Konfliktparteien gewinnen<br />
will ?«<br />
11
Damit brachte ich den Bundestagsabgeordneten nun<br />
allerdings in einige Verlegenheit. Er flüchtete sich in<br />
hohle Phrasen. Eine derartige Wendung war nicht nach<br />
dem Geschmack des Herrn Parlamentariers, schließlich<br />
hatten unsere Schilderungen der dramatischen Situation<br />
seinen Bedarf an politischer Exotik bereits gedeckt. Also<br />
gab er zu verstehen, dass die Antwort auf meine Frage<br />
lautete : »Nein.«<br />
Weshalb dann dieses Essen ? Wozu all die vorherigen<br />
Treffen mit anderen deutschen Parlamentariern ? Stets<br />
hatten wir sie um Unterstützung gebeten – und nie Hilfe<br />
bekommen. Wenn es um etwas ging, was Präsident Putin<br />
möglicherweise unangenehm sein konnte.<br />
Ich gebe zu, dass mich Depressionen befallen, wenn<br />
ich sehe, wie Europa sich <strong>Putins</strong> <strong>Russland</strong> gegenüber<br />
verhält. Es erinnert fatal an die Jahre des Kommunismus,<br />
an das altbekannte menschenverachtende Prinzip : Soll es<br />
DORT ruhig einen Eisernen Vorhang geben, soll DORT<br />
Tyrannei herrschen, solange wir uns nur heraushalten<br />
können und davon unbeschadet bleiben, solange Erdöl<br />
und Erdgas nur schön weiter zu uns fließen. Hat sich<br />
Europa etwa gegen Stalin gewandt, selbst als bekannt<br />
wurde, dass <strong>Russland</strong> dessen Terror mit Millionen Menschenleben<br />
bezahlt ? Hat sich eine Welle der Empörung<br />
erhoben gegen Breshnews Regime der Stagnation, das<br />
eine ganze Generation russischer <strong>In</strong>tellektueller, die besten<br />
Köpfe der russischen Gesellschaft in Gefängnissen<br />
und Arbeitslagern schmachten ließ ?<br />
Jetzt ist es nicht viel anders. Europa gewährt uns das<br />
12
Recht, unter Putin allein vor uns hin zu sterben. Wir<br />
wollen aber nicht sterben, wir schlagen um uns, versuchen<br />
freizukommen, zu überleben, unsere neu gewonnene<br />
Demokratie zu retten. Dieses Buch berichtet davon,<br />
wie wir uns gegen den übermächtigen Putin’schen Druck<br />
wehren, selbst wenn das beinahe unmöglich scheint.<br />
Ich glaube nicht, dass mein Buch in Deutschland viele<br />
Freunde findet. Wo doch jetzt Freund Putin dort so hoch<br />
im Kurs steht.<br />
Januar 2005
WORÜBER SCHREIBE ICH IN DIESEM BUCH ?<br />
Über Putin, und zwar ohne überschwängliche Begeisterung<br />
– etwas, was im Westen gegenwärtig absolut nicht<br />
en vogue ist.<br />
Und ich nenne auch gleich den Grund, warum ich<br />
diese Begeisterung nicht teile, die heute beinahe als Markenzeichen<br />
des Westens gelten kann und die sich so<br />
sehr relativiert, wenn man das gesamte Geschehen von<br />
<strong>Russland</strong> aus wahrnimmt : Putin, der dem finstersten<br />
aller russischen Geheimdienste entstammt, hat es nach<br />
seiner Wahl zum Präsidenten nicht vermocht, über sich<br />
hinauszuwachsen, will heißen, den Oberstleutnant des<br />
KGB in sich auszumerzen. Er tut weiter, was er in all<br />
den Jahren seiner bisherigen beruflichen Laufbahn getan<br />
hat : Er rechnet ab mit denjenigen, die sich allzu aufmüpfig<br />
gebärden, erstickt Meinungsvielfalt und Freiheit<br />
im Keim.<br />
Und dann schreibe ich in meinem Buch noch darüber,<br />
dass wir, die wir in <strong>Russland</strong> leben, dies nicht wollen.<br />
Wir wollen nicht länger Sklaven sein, selbst wenn<br />
das dem heutigen Westen ganz gut ins Konzept passt.<br />
Keine Sandkörnchen, kein Staub unter <strong>Putins</strong> Sohlen, die<br />
bei aller staatsmännischen Politur doch die eines KGB-<br />
Oberstleutnants bleiben. Wir bestehen auf persönlicher
Freiheit. Wir fordern sie. Wir lieben sie so sehr, wie Sie<br />
sie lieben.<br />
Eines aber ist dieses Buch nicht : eine Analyse der Putin-Herrschaft<br />
zwischen 2000 und 2003. Analysen werden<br />
von Analytikern verfasst. Und ich bin einfach ein<br />
Mensch, bin eine von vielen, von denjenigen, die Sie in<br />
Moskau, in Tschetschenien, in Sankt Petersburg oder anderswo<br />
in der Menge sehen. Deshalb enthält mein Buch<br />
lediglich emotionale Randnotizen zu unserem Leben im<br />
heutigen <strong>Russland</strong>. Deshalb kann ich dieses Leben noch<br />
nicht analysieren, aus jener Distanz heraus, die eine Analyse<br />
nun einmal erfordert, mit jenem kühlen Blick, der<br />
das Ganze in einzelne Komponenten zu zerlegen vermag.<br />
Ich lebe nur und schreibe auf, was ich erlebe.
DIE ARMEE MEINES LANDES UND<br />
DIE SOLDATENMÜTTER<br />
Die russische Armee ist eine hermetisch abgeschlossene<br />
Zone, vergleichbar mit einem Gefängnis. Was sie eigentlich<br />
auch ist, nur heißt sie eben anders. Keiner gelangt<br />
in die Armee oder ins Gefängnis, den die militärische<br />
Führung (die Gefängnisdirektion) nicht dorthin beordert<br />
hat. Grund dafür, dass das Leben eines Menschen in der<br />
Armee einem Weg in die Sklaverei gleichkommt.<br />
Natürlich stellt <strong>Russland</strong> keine Ausnahme dar, in jedem<br />
anderen Land betreiben die Militärs auch diese Abkapselung,<br />
was uns das Recht geben dürfte, von den Generälen<br />
als einer besonderen Spezies Mensch mit vergleichbaren<br />
Charaktereigenheiten zu sprechen, unabhängig davon,<br />
welches Land der eine oder andere General nun regiert.<br />
Jedoch weisen die Beziehungen in der Armee – oder richtiger<br />
gesagt : die Beziehungen zwischen Armee und Zivilgesellschaft<br />
in <strong>Russland</strong> Besonderheiten auf, jegliche zivile<br />
Kontrolle über das Handeln der Militärs fehlt. Der Soldat<br />
als niederste Kaste in der Armeestruktur ist ein Niemand,<br />
ein absolutes Nichts, und das ist allgemeine Praxis. Hinter<br />
den Betonmauern der Kasernen kann jeder Offizier mit<br />
diesem Soldaten machen, was immer ihm gerade einfällt.<br />
Ebenso wie ein ranghöherer Offizier mit einem rangniederen<br />
nach Gutdünken umspringen kann.<br />
17
Bestimmt liegt Ihnen jetzt die Frage auf der Zunge : Ist<br />
denn wirklich alles so schlecht ? Was eigentlich heißen<br />
soll : Alles kann ja wohl nicht so schlecht sein ? !<br />
Nein, alles nicht. Der verfestigte Status quo wird dann<br />
(und nur dann) positiv durchbrochen, wenn plötzlich in<br />
der Armeestruktur ein Vorgesetzter mit humanistischer<br />
Gesinnung auf den Plan tritt und beginnt, diese Menschlichkeit<br />
auch öffentlich zu demonstrieren, indem er seine<br />
Untergebenen zur Ordnung ruft. Nur dank solcher individuellen<br />
Ausnahmen, nicht aber kraft gesellschaftlicher<br />
Regulative zeigt sich in unserer Armee Licht am Ende<br />
des Tunnels. <strong>In</strong>sgesamt aber bleibt sie ein geschlossenes,<br />
sklavisches System.<br />
»Und was tun Ihre Staatschefs ?«, werden Sie wieder<br />
fragen ; die in Personalunion als Präsident und Oberbefehlshaber<br />
der Armee fungieren und deshalb persönliche<br />
Verantwortung für den inneren Zustand der Armee<br />
tragen. Auf den Kreml-Thron gelangt, wetteifern unsere<br />
Präsidenten nicht gerade darum, den widerwärtigen<br />
Zuständen ein Ende zu bereiten und Gesetze zu verabschieden,<br />
die der Willkür einen Riegel vorschieben. Eher<br />
umgekehrt : Jeder von ihnen möchte der Armee noch<br />
mehr Macht über die ihr anvertrauten Menschen verleihen.<br />
Und je nachdem, wie gut das dem jeweiligen Mann<br />
an der Spitze gelingt, wird ihn das Militär unterstützen<br />
oder boykottieren. Versuche, die Armee menschlicher zu<br />
machen, gab es – vor dem Hintergrund der allgemeinen<br />
Demokratisierungsbestrebungen – lediglich unter Jelzin.<br />
Doch wurden sie sehr schnell eingestellt. Macht war bei<br />
18
uns schon immer wichtiger als die Rettung von Soldatenleben,<br />
und dem Druck des empörten Generalstabs<br />
gehorchend, machte schließlich auch Jelzin seinen Kotau<br />
vor der Generalität.<br />
Unter Putin gibt es erst gar keine derartigen Versuche.<br />
Mehr noch, in der Herrschaftszeit des gegenwärtigen<br />
Präsidenten, der selbst Offizier ist, kann es sie per<br />
definitionem nicht geben. Als Putin gerade am politischen<br />
Horizont des Landes aufgetaucht war – als möglicher<br />
Kandidat für den Posten des Staatschefs, nicht<br />
für den des Leiters jener unpopulären, von fast allen<br />
gehassten <strong>In</strong>stitution namens <strong>In</strong>landsgeheimdienst FSB –,<br />
da äußerte er sich bereits in dem Sinne, dass die Armee,<br />
die unter Jelzin gedemütigt worden sei (womit Putin<br />
Jelzins saft- und kraftlose Versuche zur Einschränkung<br />
der Anarchie in den Streitkräften meinte), nun wieder<br />
der ihr gebührende Rang zukommen müsse. Und das<br />
Einzige, was ihr fehle zu dieser vollständigen und endgültigen<br />
Renaissance, sei ein Krieg, der zweite Tschetschenien-Krieg<br />
…<br />
Alles, was dann im Nordkaukasus geschah, erklärt<br />
sich aus ebenjener ursprünglichen Putin’schen Prämisse.<br />
Als der zweite Tschetschenien-Krieg begann, durfte die<br />
Armee in Tschetschenien machen, was sie wollte. Weshalb<br />
diese Armee dann bei den Präsidentschaftswahlen<br />
im Jahr 2000 auch unisono Putin ihre Stimme gab.<br />
Denn der Krieg im Kaukasus ist in jeglicher Hinsicht<br />
höchst vorteilhaft und lukrativ : Dort steigt man schnell<br />
auf, verdient sich Orden, legt den Grundstein für steile<br />
19
Karrieren, junge Generäle mit Kampferfahrung bahnen<br />
sich den Weg in die Politik, in die Reihen der politischen<br />
Elite. Und Putin kann das Land mit einer neuen<br />
Wahlkampfbotschaft beglücken, indem er die Wiedergeburt<br />
der Armee als vollendete Tatsache darstellt und<br />
sich, Putin, als denjenigen präsentiert, der den unter<br />
Jelzin gedemütigten und im ersten Tschetschenien-Krieg<br />
geschlagenen Streitkräften geholfen hat, sich aus dem<br />
Staub zu erheben.<br />
Darauf, wie diese »Hilfe« in Wirklichkeit aussah, komme<br />
ich noch ausführlich zu sprechen.<br />
Sie aber könnten doch einfach einmal die Situation<br />
auf sich selbst beziehen und dann urteilen : Möchten<br />
Sie, Sie ganz persönlich, in einem solchen Land leben,<br />
möchten Sie regelmäßig Steuern zahlen für eine solche<br />
Armee ? Würden Sie es hinnehmen, dass Ihre eigenen<br />
Söhne, wenn sie achtzehn geworden sind und damit<br />
das Einberufungsalter erreicht haben, in der Armee zu<br />
»Humanmaterial« werden ? Würden Sie eine Armee akzeptieren,<br />
in der jede Woche massenhaft Soldaten desertieren<br />
? Manchmal ein kompletter Zug, gelegentlich<br />
aber auch eine ganze Kompanie. Eine Armee, aus der sie<br />
fortlaufen, nur um das eigene Leben zu retten ? <strong>In</strong> der<br />
nicht im Krieg, sondern allein durch Schläge im Jahre<br />
2002 mehr als 500 Armeeangehörige – die Größenordnung<br />
eines Bataillons – umkamen ? Eine Armee, in der<br />
die Offiziere alles stehlen, was sie in die Finger bekommen,<br />
die jämmerlichen Zehnrubelscheine der Familien<br />
für ihre Söhne ebenso wie komplette Panzerkolonnen ?<br />
20
Wo die ranghöheren Offiziere die rangniederen verachten<br />
und verprügeln, wann immer sich eine Gelegenheit<br />
bietet ? Und die rangniederen Offiziere ihre angestaute<br />
Wut auf die Vorgesetzten an den Soldaten auslassen ?<br />
Und sämtliche Offiziere zusammen wiederum die Soldatenmütter<br />
hassen, weil diese manchmal – nicht oft,<br />
weil die meisten Angst haben, aber mitunter, wenn die<br />
Todesumstände zum Himmel schreien, eben doch – laut<br />
und vernehmlich aussprechen, dass ihre Söhne umgebracht<br />
worden sind, und eine gerechte Strafe für die<br />
Schuldigen fordern ?<br />
FALL EINS :<br />
DER SIEBENTE oder DIE GESCHICHTE VON NR. U-729343,<br />
DEN MAN AUF DEM SCHLACHTFELD VERGASS<br />
Der Kalender zeigt das Datum 18. November 2002. Nina<br />
Lewurda, 25 Jahre lang Lehrerin für russische Sprache<br />
und Literatur, jetzt in Rente, eine nicht mehr junge Frau,<br />
schwerfällig und müde, mit einem ganzen Feldblumenstrauß<br />
ernst zu nehmender Krankheiten, steht wie schon<br />
so oft in diesem Jahr in der Warteschlange vor dem<br />
betont ungemütlichen Eingang zum Stadtbezirksgericht<br />
Krasnaja Presnja in Moskau.<br />
Nina Lewurda hat keine andere Wahl. Sie ist eine<br />
Mutter ohne Sohn. Schlimmer noch, eine Mutter ohne<br />
die volle Wahrheit über ihren Sohn. Oberleutnant Pawel<br />
Lewurda, Jahrgang 1975, Armee-Kennnummer U-729343,<br />
21
kam in Tschetschenien um, vor fast zwei Jahren, ganz<br />
am Anfang des zweiten Tschetschenien-Kriegs. Jenes<br />
Krieges, in dem nach Putin’scher Auslegung die Armee<br />
wiedererstand. Wie sich diese Renaissance vollzog, verdeutlicht<br />
die Geschichte der letzten Lebensmonate und<br />
des Sterbens von U-729343. Dabei ist es nicht einmal<br />
mehr die Tatsache des Todes selbst, die Nina Lewurda<br />
veranlasst, seit nunmehr elf Monaten von einer juristischen<br />
<strong>In</strong>stanz zur anderen zu laufen. Unsere Mütter<br />
haben sich an alles gewöhnt, sogar an den Tod ihrer Kinder.<br />
Nina Lewurda will wissen, unter welchen Umständen<br />
ihr Sohn starb und was anschließend geschah. Ein<br />
einziges Ziel lässt sie wieder und wieder vom Staat eine<br />
juristisch verbindliche Antwort fordern : Nina Lewurda<br />
will begreifen, warum ihr Sohn nach dem Gefecht ganz<br />
einfach auf dem Schlachtfeld vergessen wurde. Und<br />
warum nach seinem Tod das Ministerium für Verteidigung,<br />
das wohl besser Ministerium für zynische Beleidigung<br />
heißen sollte, mit ihr, der Mutter des gefallenen<br />
Kämpfers, obendrein noch so brutal umsprang.<br />
Pawel Lewurda wollte Offizier werden, schon als Kind<br />
träumte er von einer Armeelaufbahn. <strong>In</strong> unseren Tagen<br />
ist das ein nicht gerade verbreiteter Wunsch, eher umgekehrt.<br />
Zwar treten Jungen aus armen Familien, denen<br />
das Geld für ein Hochschulstudium fehlt, tatsächlich<br />
häufig in Offiziersschulen ein, doch nur wegen der dort<br />
möglichen Berufsausbildung, um dann mit dem frisch<br />
erworbenen Offiziersdiplom in der Tasche die Armee<br />
sofort wieder zu verlassen. <strong>In</strong> der absoluten Armut der<br />
22
Bildungshungrigen und nicht in einem gestiegenen Ansehen<br />
der Armee unter Putin, liegt die Erklärung, warum<br />
einerseits die Präsidialverwaltung in ihren offiziellen<br />
Berichten beständig einen wachsenden Ansturm auf<br />
die militärischen Bildungseinrichtungen vermeldet (was<br />
absolut den Tatsachen entspricht), andererseits aber (und<br />
darüber verlieren die amtlichen Stellen kein Sterbenswörtchen)<br />
in den Truppenteilen ein katastrophaler Mangel<br />
an jüngeren Offizieren im Rang von Leutnants und<br />
Hauptleuten herrscht. Viele Absolventen erscheinen nach<br />
Abschluss der Offiziersschule einfach nicht in der Garnison,<br />
für die sie die Lenkungskommission vorgesehen<br />
hat, sondern »erkranken schwer« auf dem Weg dorthin<br />
oder besorgen sich Atteste über eine plötzlich eingetretene<br />
»<strong>In</strong>validität«, was in einem so korrupten Land wie<br />
dem unseren kein Problem darstellt.<br />
Nicht so Pawel Lewurda. Er wollte ganz bewusst Offizier<br />
werden. Die Eltern versuchten, es ihm auszureden,<br />
wussten sie doch, worauf sich ihr Sohn da einließ : Pjotr<br />
Lewurda, Pawels Vater, war selbst Offizier gewesen, das<br />
ganze Leben hatte die Familie in verschiedensten Provinzgarnisonen,<br />
in der Umgebung abgelegener Truppenübungsplätze<br />
und militärischer Versuchsgelände zugebracht.<br />
Außerdem konnte zu Beginn der neunziger Jahre, als<br />
in <strong>Russland</strong> mit dem Imperium binnen kürzester Zeit<br />
auch alles andere zerfiel, nach landläufiger Meinung nur<br />
ein Verrückter noch auf eine Offiziersschule gehen, wo<br />
es für die Kadetten nicht einmal genug zu essen gab.<br />
23
Pawel blieb hartnäckig. Er begann ein Studium an<br />
der Offiziershochschule Fernost für Kommandeure der<br />
motorisierten Schützentruppen, erhielt 1996 das Offiziersdiplom,<br />
diente zunächst in einem Truppenteil bei St.<br />
Petersburg, bis ihm 1998 das Schlimmste passierte, was<br />
einem Militärangehörigen widerfahren kann : Er wurde<br />
in die 58. Armee versetzt.<br />
Diese 58. Armee genießt bei uns einen denkbar schlechten<br />
Ruf. <strong>In</strong> mehrfacher Hinsicht steht sie als Symbol für<br />
den moralischen Niedergang der Streitkräfte. Natürlich<br />
begann das alles nicht erst zu <strong>Putins</strong> Zeiten, sondern<br />
bereits früher. Doch Putin trägt entscheidende Verantwortung<br />
zum einen für die absolute Anarchie unter den<br />
Truppenoffizieren, ihre grenzenlose Willkür, und zum<br />
anderen dafür, dass sie von Staats wegen den Status der<br />
Immunität besitzen, de facto nicht vor Gericht gestellt<br />
und bestraft werden können, ganz gleich, welche Verbrechen<br />
man ihnen auch zur Last legt.<br />
Außerdem ist die 58. Armee, in die Pawel Lewurda<br />
geriet, auch noch die so genannte Schamanow-Armee.<br />
General Wladimir Schamanow, Held der Sowjetunion,<br />
war an beiden Tschetschenien-Kriegen beteiligt und tat<br />
sich dort durch ein besonders rigides Vorgehen gegen die<br />
Zivilbevölkerung hervor. Heute, nach seinem Ausscheiden<br />
aus den Streitkräften, ist Schamanow Gouverneur<br />
des Gebiets Uljanowsk. Der zweite Tschetschenien-Krieg,<br />
in dessen Verlauf der General in schöner Regelmäßigkeit<br />
vor die Fernsehkameras trat, um dem Land stets aufs<br />
Neue zu erklären, alle Tschetschenen seien Banditen<br />
24
und müssten folglich vernichtet werden – was ihm die<br />
Unterstützung Wladimir <strong>Putins</strong> eintrug –, dieser Krieg<br />
also diente Schamanow als Sprungbrett für seine politische<br />
Karriere.<br />
Die aktiven Truppenteile der 58. Armee, deren Stab<br />
in Wladikawkas, der Hauptstadt der an Tschetschenien<br />
und <strong>In</strong>guschetien angrenzenden Republik Nordossetien-<br />
Alanija, stationiert ist, kämpften im ersten Tschetschenien-Krieg<br />
und tun dies bis heute. Das Offizierskorps<br />
will natürlich nicht hinter dem General zurückstehen<br />
und zeichnet sich durch besondere Härte sowohl gegenüber<br />
der tschetschenischen Bevölkerung als auch gegenüber<br />
den eigenen Soldaten und Unteroffizieren aus. Das<br />
Archiv des Komitees der Soldatenmütter in Rostow am<br />
Don (die Stadt ist ein zentraler Militärstützpunkt, hier<br />
befindet sich der Stab des Militärbezirks Nordkaukasus,<br />
zu dem die 58. Armee gehört) enthält vornehmlich Fälle<br />
im Zusammenhang mit der Fahnenflucht von Soldaten,<br />
die ihren Peinigern in ebenjener 58. Armee entkommen<br />
wollten. Außerdem steht diese militärische Einheit in<br />
dem traurigen Ruf, dass hier nicht nur Munition aus<br />
den Waffenlagern gestohlen, sondern auch noch an die<br />
Feldkommandeure des tschetschenischen Widerstands<br />
weiterverkauft wird, was den Tatbestand des Verrats und<br />
der bewussten Wehrkraftschädigung erfüllt.<br />
Ich kenne viele junge Offiziere, die alles in ihren Kräften<br />
Stehende unternahmen, um dem Dienst in der 58.<br />
Armee zu entgehen. Pawel Lewurda aber entschied sich<br />
anders. Er blieb in der Truppe, schrieb sorgenvolle Briefe<br />
25
nach Hause, verbrachte regelmäßig den Urlaub bei seinen<br />
Eltern, denen nicht entging, dass ihr Sohn von Mal<br />
zu Mal schwermütiger wurde. Doch auf ihre inständigen<br />
Bitten, den Dienst zu quittieren, antwortete Pawel<br />
nur : »Was sein muss, muss sein.« Pawel Lewurda war einer<br />
derjenigen, von dem die politischen Entscheidungsträger<br />
ganz sicher hätten sagen können : Dieser junge<br />
Bürger mit seinem besonderen, ausgeprägten Pflichtgefühl<br />
gegenüber der Heimat und seinen vorbildlichen<br />
Vorstellungen von Patriotismus verkörpert unsere Hoffnung<br />
auf eine wirkliche Wiedergeburt der besten russischen<br />
Militärtraditionen, der Ehre und Würde des Offiziersstands.<br />
Doch die Entscheidungsträger sagten etwas<br />
ganz anderes …<br />
Im Jahre 2000 bot sich Pawel Lewurda eine weitere<br />
Chance, dem Kampfeinsatz im Nordkaukasus zu entgehen,<br />
wofür ihn damals kaum jemand verurteilt hätte,<br />
suchten doch – entgegen der heute verbreiteten staatlichen<br />
Propagandaversion – viele junge Offiziere Mittel<br />
und Möglichkeiten, nicht kämpfen zu müssen. <strong>In</strong>dem sie<br />
beispielsweise in ihrem Organismus über Nacht Symptome<br />
schwerer Gebrechen entdeckten oder fiktive Ehen<br />
eingingen mit Frauen, die bereits zwei Kinder hatten,<br />
was einer Versetzung entgegenstand.<br />
Pawel Lewurda aber wollte, wie er den Eltern erklärte,<br />
seine Soldaten nicht im Stich lassen : Sie mussten in den<br />
Krieg, wie konnte er da lügen, betrügen und manipulieren,<br />
nur um der Gefahr auszuweichen ? Pawel ließ die<br />
Chance ungenutzt am Leben zu bleiben.<br />
26
Am 13. Januar 2000 begann sein Kampfeinsatz. Von<br />
Brjansk aus, wo seine Eltern damals wohnten und er<br />
gerade auf Urlaub war, wurde er in das 15. Garde-Motschützenregiment<br />
der 2. Gardedivision (Division Taman,<br />
Truppenteil 73881) in das Moskauer Umland abkommandiert,<br />
danach ging es weiter. Am 15. Januar hörte Nina<br />
Lewurda die Stimme ihres Sohnes zum letzten Mal : Er<br />
rief an, um ihr mitzuteilen, er habe seinen Einsatzvertrag<br />
für Tschetschenien unterschrieben und …<br />
Was dieses verfluchte »und …« meinte, bedurfte keiner<br />
weiteren Erklärung.<br />
»Ich habe geweint, wollte ihn davon abhalten«, erzählt<br />
Nina Lewurda, »aber Pascha hat gesagt, alles sei schon<br />
entschieden, es gebe kein Zurück. Meine Nichte, die in<br />
Moskau wohnt, sollte gleich zu Pascha in die Division<br />
fahren und dort mit ihm sprechen, ihn zurückzuhalten<br />
versuchen. Doch als sie ankam, traf sie Pascha nicht<br />
mehr an, er war einige Stunden zuvor mit einer Militärmaschine<br />
nach Mosdok abgeflogen …«<br />
<strong>In</strong> Mosdok, einer nordossetischen Kleinstadt nahe der<br />
tschetschenischen Grenze, befand sich zu Beginn des<br />
Krieges der Hauptstützpunkt der Vereinten Armeegruppe<br />
und aller Truppen, die an der »Anti-Terror-Operation«<br />
beteiligt waren. Hierher also kam am 18. Januar 2000 an<br />
Bord eines Militärflugzeugs und zusammen mit anderen<br />
ebensolchen »Nummern« U-729343.<br />
»Ich bin jetzt bei Grosny, am südwestlichen Stadtrand<br />
…«, schrieb Pascha den Eltern in seinem ersten<br />
und einzigen Brief aus dem Krieg, datiert vom 24. Januar<br />
27
2000. »Der Zugang zur Stadt ist von allen Seiten versperrt,<br />
dort wird heftig gekämpft … Der Beschuss hört<br />
keinen Augenblick auf. <strong>In</strong> der Stadt brennt es ständig, der<br />
ganze Himmel ist schwarz – manchmal fällt direkt neben<br />
einem ein Sprengsatz runter oder irgendein Jagdbomber<br />
schickt dir eine Rakete dicht am Ohr vorbei. Die Artillerie<br />
feuert pausenlos … Wir haben schreckliche Verluste<br />
im Bataillon … <strong>In</strong> meiner Kompanie hat es mittlerweile<br />
alle Offiziere erwischt … Vor mir ist der Kommandeur<br />
meines Zuges von einer Granate aus unserer eigenen<br />
Selbstschussanlage zerfetzt worden. Und als ich mich bei<br />
meinem Kompaniechef melden wollte, nimmt der sein<br />
Maschinengewehr und schießt aus Versehen eine ganze<br />
MG-Garbe direkt neben mir in den Boden. Er hätte mich<br />
fast getroffen. Danach haben alle gelacht und gemeint :<br />
›Pascha, vor dir gab es hier schon fünf Zugführer, und<br />
du wärst um ein Haar nicht einmal fünf Minuten einer<br />
gewesen !‹ Die Kameraden sind schon in Ordnung, bloß<br />
psychisch ein bisschen labil. Die Offiziere haben alle<br />
einen Einsatzvertrag wie ich, die jungen Soldaten halten<br />
sich bis auf wenige Ausnahmen tapfer. Wir schlafen in<br />
einem Zelt, auf dem Erdboden. Läuse gibt es jede Menge.<br />
Und als Verpflegung irgendwelche Scheiße. Anders kann<br />
man den Fraß nicht nennen. Was uns erwartet, wissen<br />
wir nicht. Entweder ein Angriff auf wer weiß was, oder<br />
dieses Herumsitzen auf ein und demselben Fleck, bis<br />
man verblödet, oder wenn’s der Teufel will, ziehen sie<br />
uns noch nach Moskau ab … Oder sonst was … Krank<br />
bin ich nicht, aber irgendwie mächtig geknickt … Das<br />
28
wär’s, macht’s gut für heute. Ich umarme und küsse euch.<br />
Pascha«<br />
Ein derartiger Brief ist kaum dazu angetan, Eltern zu<br />
beruhigen. Doch im Krieg gehen die Verhaltensmuster<br />
aus Friedenszeiten schnell verloren, das menschliche<br />
Hirn stößt sie einfach ab, weil man sonst wahrscheinlich<br />
den Verstand verliert. Man hört auf zu begreifen,<br />
was beruhigend und was schockierend wirken könnte<br />
auf diejenigen, die weit entfernt sind von diesem Krieg,<br />
weil man selbst so ungeheuer schockiert ist, dass alles<br />
im Kopf durcheinander gerät.<br />
Was nun folgt, ist die Sprache eines offiziellen Dokuments<br />
: Am 19. Februar wurde Oberleutnant Lewurda bei<br />
dem Versuch, den Ausbruch der Aufklärungsgruppen<br />
des Bataillons aus ihrer Umzingelung zu unterstützen<br />
und »seinen aus der Siedlung Uschkaloi, Kreis Itum-Kalin,<br />
abziehenden Kameraden Feuerschutz zu geben«, wie<br />
es in dem Antrag auf Auszeichnung Pawel Lewurdas mit<br />
dem Tapferkeitsorden wörtlich heißt, schwer verwundet<br />
und verstarb »durch massiven Blutverlust infolge zahlreicher<br />
Schussverletzungen …«<br />
Uschkaloi also. Dort waren die Kämpfe im Winter<br />
des Jahres 2000 am härtesten, spielten sie sich doch in<br />
Bergwäldern, auf schmalen Gebirgspfaden ab : ein verzweifelter<br />
Partisanenkrieg. Doch diese Erklärung dient<br />
nur dem allgemeinen Verständnis der Situation. Nina<br />
Lewurda, Pawels Mutter, beschäftigte etwas ganz anderes<br />
: Wenn ihr Pascha »verstarb«, wo war dann sein Körper<br />
? Irgendwo musste dieser Körper sein ! Irgendetwas<br />
29
musste sie doch begraben ! Und damit begann ein neuer<br />
Abschnitt im entbehrungsreichen Leben der Mutter : Ihre<br />
Suche nach Pawels Gebeinen, die der Staat, dem ihr Sohn<br />
in verzweifelter Treue dienen wollte, einfach verlor.<br />
Was fand Nina Lewurda heraus bei ihren persönlichen<br />
Ermittlungen ?<br />
Am 19. Februar, dem offiziellen Todestag Pawel Lewurdas,<br />
waren die »Kameraden«, denen er um den Preis des<br />
eigenen Lebens Feuerschutz gab, tatsächlich abgezogen.<br />
Aber Pawel, ihren Pascha, und sechs andere Kämpfer, die<br />
den Eingeschlossenen eine Ausbruchschneise freischossen,<br />
hatten sie einfach auf dem Gefechtsfeld zurückgelassen.<br />
Die meisten der sieben waren verwundet, aber noch<br />
am Leben, schrien um Hilfe, flehten, sie mitzunehmen.<br />
Das bezeugten später die Bewohner der Bergsiedlung<br />
Uschkaloi, die vieles mit angesehen, den einen oder anderen<br />
Verwundeten sogar verbunden hatten, mehr aber<br />
nicht. <strong>In</strong> Uschkaloi gibt es kein Krankenhaus, keinen<br />
Arzt, nicht einmal eine Krankenschwester.<br />
Ein Krieg ist bekanntlich nicht der Ort für stetige<br />
Heldentaten und puren Edelmut. Zuerst wurde Pawel<br />
Lewurda zurückgelassen, dann vergaß man auch noch,<br />
dass sein Körper dort lag und es eine Familie gab, die<br />
auf den Leichnam wartete.<br />
An dieser Stelle scheint ein Kommentar nötig : Was mit<br />
Pawel Lewurda nach seinem Tod geschah, ist typisch für<br />
unsere Armee, der beschämende Einzelfall steht symptomatisch<br />
für ein grundlegendes Handlungsmuster. <strong>In</strong><br />
der Armee gilt der einzelne Mensch nichts. Es fehlt ein<br />
30
System der exakten Kontrolle und der Verantwortung<br />
gegenüber den Familien der Soldaten.<br />
Man erinnerte sich an Oberleutnant Lewurda erst fast<br />
eine Woche später, am 24. Februar, als einer offiziellen<br />
<strong>In</strong>formation des Hauptstabs in Tschetschenien zufolge<br />
die russischen Streitkräfte Uschkaloi endgültig »von Rebellen<br />
befreit« und die Siedlung »unter Kontrolle genommen«<br />
hatten. Eine Version, im Nachhinein zusammengezimmert<br />
vom Stab der Streitkräfte mit dem Ziel, die<br />
von Nina Lewurda gegenüber dem Verteidigungsministerium<br />
eingereichte Klage auf Wiedergutmachung wegen<br />
des erlittenen moralischen Schadens abzuwehren – unter<br />
Berufung auf »das Fehlen einer objektiven Möglichkeit«,<br />
die Leiche ihres Sohnes zu bergen. Doch selbst<br />
am 24. Februar wurden in Uschkaloi nur die Gebeine<br />
von sechs Armeeangehörigen geborgen, nicht aber die<br />
des siebenten. Dieser siebente war Pawel Lewurda. Als<br />
man seine Leiche nicht fand, zog man ab und vergaß<br />
ihn aufs Neue.<br />
Nina Lewurda war außer sich. Den einzigen Brief ihres<br />
Sohnes hatte sie am 7. Februar erhalten, seitdem keine<br />
Nachricht, keine <strong>In</strong>formation, keine Antwort auf ihre<br />
Anfragen. Im Verteidigungsministerium verwies man in<br />
solchen Fällen auf die eigens eingerichtete Hotline, was<br />
nichts änderte, da mit den Dienst habenden Offizieren<br />
am anderen Ende der Leitung sich so gut wie mit einem<br />
Computer über das unaufhaltsam zur Gewissheit<br />
werdende Unheil reden ließ. »Oberleutnant Pawel Petrowitsch<br />
Lewurda ist in den Listen der Gefallenen und<br />
31
Vermissten nicht aufgeführt«, lautete die Standardauskunft.<br />
Mehrere Monate lang. Und das Widerwärtigste<br />
war, dass Nina Lewurda diese »erschöpfende« Antwort<br />
auch dann noch erhielt, als sie bereits dank ihrer eigenen<br />
Ermittlungen Paschas Gebeine gefunden und späterhin<br />
identifiziert hatte. Selbst bei ihrem letzten Anruf<br />
am 25. August, ein halbes Jahr nach der offiziellen Todesmeldung,<br />
waren die ach so vergesslichen Väter des<br />
Regiments nicht im Stande gewesen, eine entsprechende<br />
Nachricht an die zentralen Stellen weiterzuleiten.<br />
Doch der Reihe nach.<br />
Am 20. Mai, drei Monate nach den Kämpfen, fanden<br />
Mitarbeiter der <strong>In</strong>terimsabteilung für innere Angelegenheiten<br />
(also der örtlichen Miliz) des Kreises Itum-Kalin<br />
in der Siedlung Uschkaloi »eine Begräbnisstätte mit einer<br />
männlichen Leiche, die Anzeichen eines gewaltsamen<br />
Todes aufwies«, wie sie in ihrem Protokoll festhielten.<br />
Aber erst am 6. Juli, nach weiteren anderthalb Monaten<br />
tagtäglicher Anrufe Nina Lewurdas sowohl bei der Hotline<br />
des Verteidigungsministeriums als auch beim zuständigen<br />
Wehrkreiskommando, stellte die Milizabteilung<br />
von Itum-Kalin das für weitere Ermittlungen erforderliche<br />
Dokument aus : die »Nachforschungsorder Nr. 464«.<br />
Am 19. Juli landete diese »Nachforschungsorder«<br />
schließlich bei den Kriminalbehörden der Stadt Brjansk.<br />
Von hier aus war Pawel nach seinem letzten Urlaub zum<br />
Einsatz gefahren, hier hatte Nina Lewurda bei der Miliz<br />
die Vermisstenanzeige für ihren Sohn aufgegeben.<br />
Am 2. August erschien bei den Lewurdas ein ganz<br />
32
gewöhnlicher Mitarbeiter der Milizabteilung des Stadtteils,<br />
der Kriminalpolizist Abramotschkin. Zu Hause war<br />
nur die vierzehnjährige Enkelin Nina Lewurdas, Pawels<br />
Nichte, die Tochter seiner älteren Schwester Lena. Der<br />
Milizionär befragte das Mädchen nach Pascha, wollte<br />
wissen, welche Sachen er bei sich gehabt habe, und war<br />
sehr verwundert, als er hörte, dass es sich bei Pawel<br />
um einen Armeeangehörigen handelte, hatte er doch<br />
geglaubt, es ginge einfach um einen jungen Burschen,<br />
der aus unerfindlichen Gründen nach Tschetschenien<br />
geraten und dort umgekommen war.<br />
Dieser ganz gewöhnliche Milizionär Abramotschkin,<br />
dem man die Routineangelegenheit »Ermittlung in<br />
Sachen einer unbekannten Leiche« aufgedrückt hatte –<br />
und nicht das Verteidigungsministerium, durch welchen<br />
Vertreter auch immer –, informierte die Mutter des gefallenen<br />
Offiziers schließlich darüber, dass Pawel Lewurda<br />
am 19. Februar offiziell als vermisst gemeldet und seit<br />
dem 20. Februar aus sämtlichen Versorgungslisten des<br />
Truppenteils Nr. 73881 gestrichen war. Und dass er, der<br />
Milizionär Abramotschkin, sich nur mit dieser Angelegenheit<br />
befasse, weil seine Miliz-Kollegen in Uschkaloi<br />
die Leiche eines Militärangehörigen gefunden hätten und<br />
diese Leiche Merkmale aufwies, die nach der Beschreibung<br />
Nina Lewurdas auf den vermissten Oberleutnant<br />
Lewurda passen könnten. Eine Ermittlungsorder aus dem<br />
Verteidigungsministerium aber läge nicht vor. Und außerdem<br />
hätten ihn seine Kollegen aus Itum-Kalin gebeten,<br />
in Brjansk zu den Eltern des Vermissten zu gehen und<br />
33
den Standort des Regimentsstabs von Truppenteil-Nr.<br />
73881 zu erfragen, damit sie sich mit dem Kommandeur<br />
in Verbindung setzen und die genauen Umstände<br />
des Todes jenes Mannes, der nach den Beschreibungen<br />
seiner Mutter möglicherweise einer ihrer Offiziere war,<br />
klären konnten.<br />
Die angeführten Details werfen ein bezeichnendes<br />
Licht sowohl auf die Zustände in der Armee als auch auf<br />
das Wesen jenes Krieges, den die Putin’sche Armee im<br />
Kaukasus führt. <strong>In</strong> dieser Armee weiß die rechte Hand<br />
nicht, was die linke tut, und es ist einfacher, die weit<br />
entfernt wohnenden Eltern per Brief nach dem Standort<br />
des Truppenteils zu fragen, als bis zum Hauptstab in<br />
Chankala (in der Nähe von Grosny) vorzudringen, wo<br />
es eigentlich eine Sache von Minuten sein dürfte, den<br />
Kommandeur der Taman-Division zu finden.<br />
Milizionär Abramotschkin, der sah, in welchem Zustand<br />
sich die Familie des Vermissten befand, gab Nina<br />
Lewurda den guten Rat, nicht abzuwarten, bis die Behörden<br />
etwas unternehmen würden, sondern so schnell<br />
wie möglich nach Rostow am Don zu fahren. Er hatte<br />
im Zuge seiner Ermittlungen herausgefunden, dass die<br />
Gebeine des »unbekannten Armeeangehörigen« aus<br />
Uschkaloi zwischenzeitlich in das zentrale Militär-Leichenschauhaus<br />
in Rostow überführt worden waren, zu<br />
Oberst Wladimir Schtscherbakow, dem in ganz <strong>Russland</strong><br />
bekannten Leiter des 124. Gerichtsmedizinischen<br />
Labors der Streitkräfte, das in derartigen Fällen die Toten<br />
identifiziert. Wobei Oberst Schtscherbakow – und das<br />
34
ist außerordentlich wichtig – dies nicht im Auftrag der<br />
Kommandeure, der Generäle oder des Armeestabs tut,<br />
sondern auf Grund seines eigenen Pflichtgefühls, seiner<br />
persönlichen Überzeugung, weil er die Augen der verzweifelten<br />
Mütter sieht, die aus allen Teilen des Landes<br />
zu ihm kommen auf der Suche nach ihren in der Armee<br />
»verloren gegangenen« Söhnen.<br />
Abramotschkin riet Nina Lewurda außerdem, den<br />
Teufel noch nicht an die Wand zu malen, schließlich ist,<br />
wie man bei uns so schön sagt, in <strong>Russland</strong> alles möglich.<br />
<strong>In</strong>zwischen hatte sich auch das Brjansker Komitee der<br />
Soldatenmütter in den Fall eingeschaltet, und erst auf<br />
diesem Wege – durch Milizionär Abramotschkin und die<br />
Soldatenmütter – erfuhren das ach so wenig gardemäßige<br />
15. Regiment und die noch gardeunwürdigere Division<br />
Taman, dass der nicht identifizierte Tote möglicherweise<br />
Oberleutnant Pawel Lewurda war.<br />
»Am 20. August kamen wir in Rostow an«, erzählt<br />
Nina Lewurda, »und ich bin sofort zum gerichtsmedizinischen<br />
Labor gegangen. Der Eingang dort wird nicht<br />
bewacht, also bin ich weiter, hinein in den erstbesten<br />
Untersuchungsraum, und da war auf dem Tisch des Gerichtsmediziners<br />
ein vom Körper abgetrennter Kopf aufgestellt.<br />
Genauer gesagt, ein Schädel. Aber ich habe sofort<br />
gewusst, dass es Paschas Kopf ist. Obwohl daneben<br />
noch andere Schädel standen.«<br />
Lässt sich der moralische Schaden, den die Mutter<br />
erlitt, überhaupt irgendwie in Zahlen fassen, lässt er<br />
sich wieder gutmachen ? Natürlich nicht. Und wer wollte<br />
35
estreiten, dass die Arbeit eines Gerichtsmediziners nun<br />
einmal so ist, dass bei ihm Schädel auf den Tischen stehen<br />
und alle möglichen Leute direkt von der Straße hereinspaziert<br />
kommen können.<br />
Und dennoch. Wir werden immer mehr zu einer Nation<br />
von Stumpfsinnigen – wir sind simpel strukturiert,<br />
grob, ohne Gefühl für Feinheiten und deshalb amoralisch.<br />
Zu Nina Lewurda aber, die man nach der Begegnung<br />
mit Paschas Schädel (es war wirklich der ihres Sohnes)<br />
gerade erst wieder mit Tabletten hatte zu sich bringen<br />
können, trat im nächsten Augenblick strammen Schrittes<br />
der so genannte »Repräsentant des Truppenteils«. Von<br />
Pawels Eltern mit der Adresse ausgestattet, hatte Milizionär<br />
Abramotschkin dorthin telegrafiert, worauf der<br />
Kommandeur einen Vertreter nach Rostow schickte zur<br />
Regelung der Formalitäten.<br />
Der »Repräsentant« hielt ein Papier in der Hand. Nina<br />
Lewurda warf einen Blick auf das Dokument – und fiel<br />
in tiefe Ohnmacht. <strong>In</strong> dieser »Mitteilung« baten Garde-<br />
Oberstleutnant A. Dragunow, Kommandeur des Truppenteils<br />
Nr. 73881, und Garde-Oberstleutnant A. Potschatenko,<br />
Stabschef der genannten Einheit, einen nicht<br />
genannten Adressaten, die »Bürger Lewurda« offiziell<br />
davon in Kenntnis zu setzen, dass »ihr Sohn … bei<br />
der Ausführung einer Gefechtsaufgabe, getreu seinem<br />
Fahneneid, standhaft und mutig in seiner Haltung, im<br />
Kampf gefallen ist.« Womit die Einheit die Spuren ihrer<br />
frevelhaften »Vergesslichkeit« verwischen wollte.<br />
36
Als Nina Lewurda wieder bei Bewusstsein war, sah<br />
sie sich diese »Mitteilung«, dieses »im Kampf gefallen«<br />
genauer an. Und entdeckte, dass das Papier keinerlei<br />
Todesdatum enthielt.<br />
»Und was ist mit dem Datum ?«, fragte sie den »Repräsentanten«.<br />
»Setzen Sie selbst irgendeins ein, welches Sie wollen«,<br />
lautete die schlichte Antwort.<br />
»Wieso ›selbst einsetzen‹ ?« Nina Lewurda entfuhr ein<br />
Schrei. »Ich habe Pascha an dem Tag geboren, an dem<br />
ich ihn geboren habe – und das ist sein Geburtstag. Und<br />
es steht mir zu, seinen Todestag zu erfahren, ich will<br />
wissen, wann er umgekommen ist !«<br />
Der »Repräsentant« machte eine bedauernde Geste :<br />
Er wisse nichts, habe nur den Auftrag, ein paar Papiere<br />
abzuliefern, ohne Diskussion … und drückte der Mutter<br />
noch einen Auszug aus der Order der Dienststelle ȟber<br />
die Streichung des Oberleutnants aus den Regimentslisten«<br />
in die Hand. Datum und Begründung fehlten<br />
wiederum, aber das Dokument war abgestempelt und<br />
unterschrieben. Dann bat der Regimentsvertreter Nina<br />
Lewurda mit bemerkenswerter Blauäugigkeit, alles eigenhändig<br />
auszufüllen und nach ihrer Heimreise selbst im<br />
Wehrkreiskommando abzugeben, damit Pawel Lewurda<br />
dort in der Wehrkartei gelöscht würde.<br />
Nina Lewurda sagte nichts. Was konnte sie einem<br />
Menschen erklären, der weder Herz noch Verstand besa<br />
ß ?<br />
»So ist das einfacher, das müssen Sie doch zugeben.<br />
37
Für mich wäre es eine weite Reise nach Brjansk, zum<br />
Wehrkreiskommando …«, fuhr der »Repräsentant« halb<br />
fragend, halb konstatierend fort.<br />
Natürlich war es einfacher. Daran gibt es nichts zu<br />
deuteln. Es ist tatsächlich einfacher, einfach zu sein,<br />
stumpf. Wie unser gegenwärtiger Verteidigungsminister<br />
Sergej Iwanow, ein enger Vertrauter des Präsidenten<br />
noch aus jenen Zeiten, als Putin in St. Petersburg beim<br />
<strong>In</strong>landsgeheimdienst FSB arbeitete : Allwöchentlich verkündet<br />
Iwanow dem Land im Fernsehen die neuesten<br />
militärischen Anordnungen des ersten Mannes im Staate.<br />
<strong>In</strong> einem Tonfall wie Goebbels in der Wochenschau erklärt<br />
Iwanow, keiner könne <strong>Russland</strong> je dazu bewegen,<br />
»vor Terroristen in die Knie zu gehen«, und er beabsichtige,<br />
den Krieg in Tschetschenien fortzusetzen bis zum<br />
»siegreichen Ende«. Niemals jedoch verliert der Verteidigungsminister<br />
auch nur ein einziges Wort über das<br />
Schicksal der Soldaten und Offiziere, die es ihm und<br />
dem Präsidenten überhaupt erst ermöglichen, nicht »vor<br />
Terroristen in die Knie zu gehen«. Die Richtung, die unsere<br />
gegenwärtige Führung eingeschlagen hat, ist absolut<br />
neosowjetisch : Es gibt keine Menschen, es gibt nur<br />
Schräubchen, die die politischen Abenteuer derjenigen,<br />
die in den Besitz der Macht gelangt sind, widerspruchslos<br />
in die Tat umzusetzen haben. Diese Schräubchen verfügen<br />
über keinerlei Rechte, nicht einmal auf ein würdiges<br />
Sterben.<br />
Ungemein schwieriger ist es, nicht einfach zu sein.<br />
Was für mich bedeutet, nicht nur »die Generallinie von<br />
38
Partei und Regierung« in den Blick zu nehmen, sondern<br />
auch die Details ihrer Umsetzung. Und die sehen<br />
so aus : Am 31. August 2000 wurde Nummer U-729343<br />
endlich in der Stadt Iwanowo begraben. Die Rostower<br />
Gerichtsmediziner hatten Nina Lewurda den Kopf ihres<br />
Sohnes ausgehändigt, weitere sterbliche Überreste ließen<br />
sich nicht finden.<br />
Und warum das Begräbnis in Iwanowo ? Weil das<br />
Leben in Brjansk für die Lewurdas bedrückend geworden<br />
war und sie in der Nähe ihrer ältesten Tochter sein<br />
wollten, die in Iwanowo wohnt.<br />
Heute kennen viele in <strong>Russland</strong> Nina Lewurda. Und<br />
das hat mit der Reise zu tun, die sie am neunten Tage<br />
nach der Beerdigung antrat : Zum Stab des 15. Regiments<br />
der Taman-Division, dessen Standort sich in der Nähe<br />
von Moskau befindet.<br />
Als sie in Iwanowo aufbrach, hatte Nina Lewurda nur<br />
einen Wunsch : Pawels Kommandeuren in die Augen zu<br />
sehen und darin wenigstens Reue zu erkennen dafür,<br />
dass man ihren Sohn vergessen hatte. Aber in der Taman-<br />
Division wollte man nicht einmal mit ihr reden. Der<br />
Kommandeur war nie erreichbar. Drei Tage lang saß<br />
Nina Lewurda in der Wachstube und wartete. Ohne<br />
etwas zu essen und zu trinken, schlaflos, völlig unbeachtet.<br />
Offiziere gingen und kamen, eilten vorbei und<br />
taten so, als würden sie sie nicht bemerken. Hier, am<br />
Kasernentor, fasste Nina Lewurda den Entschluss, den<br />
Staat zu verklagen, das Verteidigungsministerium und<br />
Verteidigungsminister Iwanow haftbar zu machen für<br />
39
das ihr zugefügte Leid. Und zwar nicht wegen des Todes<br />
ihres Sohnes, Pawel war ja in Ausübung seines militärischen<br />
Dienstes ums Leben gekommen, sondern wegen<br />
dem, was nach seinem Tod geschah.<br />
Nina Lewurda forderte Antwort auf eine Reihe von<br />
Fragen : Warum hatte das Regiment den Körper ihres<br />
Sohnes auf dem Gefechtsfeld zurückgelassen ? Warum<br />
war nicht nach ihm gesucht worden ? Warum hatte sie<br />
als Mutter keinerlei <strong>In</strong>formationen über Pawels Schicksal<br />
erhalten ? Warum hatte sie selbst die sterblichen Überreste<br />
ausfindig machen müssen ? Wer trug die persönliche<br />
Verantwortung dafür ?<br />
Und das kam dann : Zuerst überreichten sie Nina<br />
Lewurda den Tapferkeitsorden für ihren Sohn im Gebietswehrkommando<br />
von Iwanowo. Und danach nahmen sie<br />
Rache. Das Verteidigungsministerium und die Taman-<br />
Division eröffneten einen Krieg gegen die Mutter des<br />
gefallenen Leutnants, die es gewagt hatte, sich öffentlich<br />
über die Zustände zu empören. Im Verlaufe dieses Krieges<br />
wurde Nina Lewurda einer moralischen Folterung<br />
mit »Putin-Gas« unterzogen, in der gleichen Dosis, mit<br />
dem gleichen Ziel, als sei sie eine Terroristin. Um ihren<br />
Willen zu brechen, sie in die Schranken zu weisen, zur<br />
Abschreckung für alle anderen.<br />
Dieses »Putin-Gas« wirkte folgendermaßen : <strong>In</strong> knapp<br />
einem Jahr gab es acht Verhandlungstermine, den ersten<br />
am 26. Dezember 2001, den letzten am 18. November<br />
2002. Sie blieben samt und sonders ergebnislos. Das<br />
Gericht kam nicht einmal dazu, sich mit dem <strong>In</strong>halt der<br />
40
Klage zu befassen, weil die Vertreter des Verteidigungsministeriums<br />
die Vorladungen ignorierten, überzeugt,<br />
ihnen könne ohnehin niemand etwas anhaben. Und sie<br />
sollten Recht behalten. Zuerst saß dem Prozess »Nina<br />
Lewurda gegen den Staat« (Gerichtsstand war gemäß der<br />
juristischen Adresse des Verteidigungsministeriums das<br />
Stadtbezirksgericht Krasnaja Presnja in Moskau) Richter<br />
Tjulenew vor, der befand, dass die Mutter »kein Recht<br />
auf <strong>In</strong>formationen« über den Körper des eigenen Sohnes<br />
habe, das Verteidigungsministerium folglich auch<br />
nicht zu entsprechenden Auskünften verpflichtet sei<br />
und … Nina Lewurda legte Berufung ein beim Moskauer<br />
Stadtgericht, das angesichts der offenkundigen<br />
Absurdität der Entscheidung die Angelegenheit an das<br />
Stadtbezirksgericht Krasnaja Presnja zurückverwies. Die<br />
Wiederaufnahme geriet für die Mutter zu einer neuen<br />
Folterrunde durch die beständige Abwesenheit der offiziellen<br />
Vertreter des Verteidigungsministeriums sowie<br />
der Führung der Landstreitkräfte, zu denen die Taman-<br />
Division und das 15. Regiment gehören. Sie erschienen<br />
einfach nicht zu den Terminen, ungeniert und dreist, ließen<br />
Nina Lewurda am langen Arm verhungern. Sie aber<br />
kam und wartete … jedes Mal. Fuhr von Iwanowo nach<br />
Moskau. Nur, um die leeren Plätze auf der Anklagebank<br />
anzustarren – und ohne jedes Ergebnis zurückzureisen.<br />
Eine einfache Pensionärin, mit einer Altersrente, die wie<br />
bei so vielen gerade ausreicht, um nicht zu verhungern,<br />
und einem Ehemann, der nach Pawels Beerdigung nicht<br />
mehr aus seinem Dauerrausch herauskam.<br />
41
Zu guter Letzt platzte Richterin Bolonina der Kragen.<br />
Als die Beklagten zum achten Mal den Verhandlungstermin<br />
ignorierten, verhängte sie gegen das Verteidigungsministerium<br />
eine Strafe in Höhe von achttausend Rubeln.<br />
Natürlich zu Gunsten der Staatskasse, und auch aus der<br />
Staatskasse zu entrichten. Schade, dass Minister Iwanow<br />
das Geld nicht aus eigener Tasche bezahlen musste und<br />
nicht die Mutter das Geld erhielt. Aber dafür gibt es keinen<br />
Paragrafen in unserer Gesetzgebung. Sie steht nicht<br />
auf der Seite des armen Opfers, sondern auf Seiten der<br />
Macht, die ohnehin allmächtig ist.<br />
Am 18. November erschienen die Vertreter des Verteidigungsministeriums<br />
dann endlich vor dem Stadtbezirksgericht,<br />
führten sich aber merkwürdig auf : Sie wussten<br />
nichts von dem verhandelten Sachverhalt, verstanden das<br />
Allerelementarste nicht, weigerten sich, ihre Namen zu<br />
nennen, beklagten das Chaos in ihrer Behörde, das an<br />
allem schuld sei, und … der Prozess wurde ein weiteres<br />
Mal vertagt, diesmal auf den 2. Dezember.<br />
Nina Lewurda stand weinend im ungemütlichen Korridor<br />
des Gerichtsgebäudes.<br />
»Wofür nur ?«, sagte sie. »Man könnte meinen, nicht<br />
sie hätten mir den Sohn weggenommen, nicht sie mich<br />
verhöhnt …«<br />
Wie sehr ich Sergej Iwanow, den Minister unseres<br />
volksverachtenden Militärwesens, beneide ! Er hat es<br />
leicht. Er bekommt die »Details« nicht zu sehen. Vor<br />
allem nicht die Augen der Mütter, die ihre Söhne verloren<br />
haben in jenem »Krieg gegen den internationalen<br />
42
Terrorismus«, über den sich der Herr Minister so gern<br />
auslässt, um Präsident Putin seine Loyalität zu beweisen.<br />
Er hört nicht die Stimmen der Mütter, zu weit sind<br />
sie von ihm entfernt. Spürt ihren Schmerz nicht, weiß<br />
nichts von den zerstörten Existenzen. Von den Tausenden<br />
Vätern und Müttern, die das System im Stich gelassen<br />
hat, nachdem ihre Kinder für ebendieses System ihr<br />
Leben gegeben haben.<br />
»Putin kann schließlich nicht alles verantworten !«,<br />
schreien diejenigen, die den Präsidenten lieben.<br />
Natürlich nicht. Als Präsident zeichnet er für das System<br />
verantwortlich. Für die grundsätzlichen Handlungsmuster.<br />
Er prägt sie. So geht das nun einmal bei uns :<br />
Wer an der Spitze steht, dem tun es alle nach. Also ist<br />
Putin verantwortlich für die systematische Brutalität und<br />
Unversöhnlichkeit, die sich eingebürgert hat in Armee<br />
und Staat. Diese Brutalität gleicht einer schweren <strong>In</strong>fektion,<br />
die leicht zur Epidemie werden kann. Sie kommt<br />
nie nur einmal vor. Anfangs richtete sich das brutale<br />
Vorgehen gegen die tschetschenische Bevölkerung, und<br />
viele meinten, es würde sich darin erschöpfen. Doch<br />
dann ging es weiter mit den »eigenen Leuten«, wie man<br />
heute vaterlandstreu zu sagen pflegt. Einschließlich derjenigen<br />
unter den »eigenen Leuten«, die den »patriotischen<br />
Kampf« gegen die anfänglich betroffenen Bevölkerungsgruppen<br />
führten. Nur Naive konnten etwas anderes<br />
erwarten.<br />
»Es lässt sich nicht ändern … Pascha wird nicht wieder<br />
lebendig … Er hat seine Wahl getroffen und ist seinen<br />
43
Weg gegangen«, sagt Nina Lewurda und wischt sich die<br />
Tränen aus dem Gesicht. Richterin Bolonina in ihrer<br />
Robe geht mit undurchdringlicher Miene vorüber. »Aber<br />
ihr seid doch Menschen …«<br />
FALL ZWEI :<br />
54 SOLDATEN oder EMIGRATION NACH HAUSE<br />
Emigration, das ist ein Ort, wohin man flieht, wenn bei<br />
einem weiteren Verbleib in der Heimat Lebensgefahr<br />
oder ein massiver Angriff des Staates auf die eigene Ehre<br />
und Würde droht. Am 8. September 2002 geschah ebendies<br />
in der Armee der Russischen Föderation. 54 Soldaten<br />
emigrierten aus den Streitkräften.<br />
Am Rande des Dorfes Prudboi im Gebiet Wolgograd<br />
befindet sich der Truppenübungsplatz der 20. Garde-<br />
Motschützendivision. Hierher waren die Mannschaften<br />
der 2. Abteilung des Truppenteils 20004 aus ihrem<br />
Standort, der ebenfalls im Gebiet Wolgograd gelegenen<br />
Kleinstadt Kamyschin, abkommandiert worden ; mit dem<br />
hehren Ziel, den Soldaten Unterweisung in der hohen<br />
Militärkunst angedeihen zu lassen. Wobei als Unterweiser<br />
natürlich die »väterlichen« Offiziere fungieren sollten.<br />
Nur dass am 8. September 2002 diese »Väter« – Oberstleutnant<br />
Kolesnikow, Major Schirjajew, Major Artjomow,<br />
Oberleutnant Kadijew, Oberleutnant Korostylew, Oberleutnant<br />
Kobez und Leutnant Pekow – eine dem Offiziersstand<br />
so gar nicht zukommende Rolle übernahmen :<br />
44
die der Kriminalpolizei. Beim Appell wurde den Soldaten<br />
verkündet, es müsse umgehend geklärt werden, wer<br />
in der Nacht den Spähpanzer vom Truppenübungsplatz<br />
entführt habe.<br />
Dabei stand dieser Spähpanzer, wie die Soldaten später<br />
versicherten, unangetastet im Fuhrpark der Division.<br />
Die Offiziere langweilten sich einfach, hatten bereits den<br />
x-ten Tag hintereinander getrunken und offenbar einen<br />
Kater. Also wollten sie ein bisschen die Muskeln spielen<br />
lassen. Was auch früher bereits des Öfteren der Fall<br />
gewesen war und dem Truppenübungsgelände bei Kamyschin<br />
traurige Berühmtheit eingetragen hatte.<br />
Nach dem Appell wurde die erste Gruppe zur Befragung<br />
in das Stabszelt geführt : die Unterfeldwebel<br />
Kutusow und Krutow sowie die Soldaten Generalow,<br />
Gurskoi und Grizenko. Die anderen, denen befohlen worden<br />
war, in der Nähe zu warten, bis sie an die Reihe kämen,<br />
hörten bald darauf das Schreien und Stöhnen ihrer<br />
Kameraden. Als diese aus dem Stabszelt gestoßen wurden,<br />
berichteten sie den Wartenden, die oben genannten Offiziere<br />
hätten mit Pionierspaten auf sie eingeschlagen und<br />
sie mit Fußtritten traktiert. Aber eigentlich bedurfte es<br />
der Schilderung gar nicht, die deutlich sichtbaren Spuren<br />
der Misshandlungen sprachen Bände.<br />
Nun erklärten die Offiziere, nach ihrer Mittagspause<br />
werde jeder, der die Entführung des Spähpanzers nicht<br />
freiwillig gestehe, ebenso verprügelt wie diejenigen, die<br />
jetzt im Gras neben dem Stabszelt lagen. Und schritten<br />
zu Tisch.<br />
45
Und die Soldaten ? Gingen … Sie rebellierten, weil sie<br />
keine Opferlämmer sein wollten. Auf dem Truppenübungsgelände<br />
blieben nur die zum Wachdienst Eingeteilten<br />
(das Verlassen des Postens hatte disziplinarische<br />
Maßnahmen – Militärgericht und Strafbataillon – zur<br />
Folge) sowie Kutusow, Krutow, Generalow, Gurskoi und<br />
Grizenko, die nach der Prügelorgie kein Bein mehr vor<br />
das andere setzen konnten.<br />
Zu einer Marschkolonne angetreten, liefen die Soldaten<br />
in Richtung Wolgograd. Um Hilfe zu holen.<br />
Doch bis Wolgograd war es weit, fast 180 Kilometer.<br />
Und die gesamte Entfernung legten die 54 Soldaten organisiert<br />
und geordnet zurück, ohne sich vor jemandem<br />
zu verstecken. Sie bewegten sich am Rande einer viel<br />
befahrenen Chaussee, auf der unter anderem auch Offiziere<br />
der 20. Division unterwegs waren. Doch kein einziges<br />
Militärfahrzeug hielt an, niemand kam auf den<br />
Gedanken, sich zu erkundigen, was passiert sei, wohin<br />
die Kolonne – entgegen der Dienstvorschrift ohne Offizier<br />
– marschierte. Als es dunkel wurde, richteten die<br />
Soldaten in einem Waldstreifen in Sichtweite der Chaussee<br />
ein Nachtlager her. Auch hier wurden sie von keinem<br />
einzigen Offizier behelligt.<br />
Doch nun zum Wichtigsten : Als der Oberstleutnant,<br />
die beiden Majore, die drei Oberleutnants und der Leutnant<br />
nach dem Mittagessen die Kantine verließen, stellten<br />
sie fest, dass ihre 2. Abteilung stark geschrumpft war.<br />
Dass es fast niemanden mehr zu befehligen gab. Und was<br />
taten die Offiziere ? Sie gingen seelenruhig schlafen. Ohne<br />
46
zu wissen, wo sich ihre Soldaten aufhielten, für die sie<br />
laut Gesetz die volle persönliche Verantwortung trugen.<br />
Allerdings wussten sie sehr gut, dass in unserem Land<br />
kein einziger Offizier je wegen eines Soldaten bestraft<br />
worden wäre.<br />
Am frühen Morgen des 9. September marschierte die<br />
Kolonne weiter. Ganz offen. Am Rande der Chaussee.<br />
Abends zog sie in Wolgograd ein, ohne jede Tarnung.<br />
Unter den Augen der Milizposten, die die Zufahrt zur<br />
Stadt überwachten. Doch wieder interessierte sich niemand<br />
für die Soldaten, fragte kein einziger Offizier, was<br />
sie denn so spät hier zu tun hatten. Ungehindert erreichte<br />
die Marschkolonne das Zentrum von Wolgograd.<br />
»Gegen sechs Uhr abends, als wir schon gehen wollten,<br />
klingelte plötzlich das Telefon : ›Arbeiten Sie noch ? Dürfen<br />
wir zu Ihnen kommen ?‹«, erzählt Tatjana Sosulenko,<br />
die das Wolgograder Gebietskomitee der Rechtsschutzorganisation<br />
»Mutterrecht« – einer <strong>In</strong>teressenvertretung der<br />
Eltern von Militärangehörigen – leitet. »Ich habe geantwortet,<br />
sie sollten kommen. Aber auf so etwas war ich<br />
natürlich nicht gefasst. Ein paar Minuten später betraten<br />
vier Soldaten das winzige Zimmerchen unserer Organisation<br />
und sagten, sie seien insgesamt vierundfünfzig.<br />
Ich fragte : ›Wo sind die anderen ?‹ Da führten mich die<br />
Soldaten in den Keller unseres Hauses – dort standen die<br />
übrigen. Ich arbeite schon elf Jahre bei ›Mutterrecht‹, aber<br />
etwas Derartiges habe ich bisher noch nicht erlebt. Mein<br />
erster Gedanke war : ›Wo sollen wir sie unterbringen ?<br />
Es ist ja schon spät …‹ Wir haben sofort gefragt : ›Habt<br />
47
ihr etwas gegessen ?‹, worauf sie antworteten : ›Seit gestern<br />
nicht mehr.‹ Unsere Frauen sind gleich losgelaufen<br />
nach Brot und Milch, haben gebracht, soviel sie konnten.<br />
Die Jungs sind darüber hergefallen wie hungrige junge<br />
Hunde. Das kennen wir schon, die Verpflegung in den<br />
Truppeneinheiten ist sehr schlecht, die Soldaten haben<br />
chronisch Hunger. Als sie gegessen hatten, wollte ich von<br />
den Jungs wissen : ›Was bezweckt ihr mit eurer Aktion ?‹<br />
›Dass die Offiziere, die Soldaten schlagen, bestraft werden.‹<br />
Dann beschlossen wir : Weil der Morgen klüger ist<br />
als der Abend, sollten sie erst einmal bei uns, im Büro<br />
von ›Mutterrecht‹, übernachten, auf dem Fußboden, so<br />
gut es eben ging. Morgens früh wollten wir dann zur<br />
Militärstaatsanwaltschaft der Garnison. Ich schloss die<br />
Tür ab und ging nach Hause. Ich wohne gleich nebenan<br />
und dachte, ich könnte im Fall des Falles ja jederzeit<br />
schnell zu ihnen hinüberlaufen. Um 23 Uhr wollte ich<br />
sie anrufen, aber es hat keiner abgenommen. Ich dachte :<br />
›Sie sind sicher müde und schlafen. Oder haben Angst,<br />
ans Telefon zu gehen.‹ Gegen zwei Uhr nachts hat mich<br />
dann unser Rechtsanwalt Sergej Semuschin geweckt mit<br />
der Nachricht, Unbekannte hätten bei ihm angerufen<br />
und verlangt, wir sollten ›den Raum übernehmen‹. Ein<br />
paar Minuten später war ich vor Ort. Ringsum standen<br />
Kübelwagen der Armee, in denen irgendwelche Offiziere<br />
saßen, die sich nicht vorgestellt haben. Die Soldaten<br />
waren schon fort. Als ich die Offiziere fragte, wo sie<br />
sind, bekam ich keine Antwort.«<br />
Außerdem fanden die Mitarbeiter von »Mutterrecht«<br />
48
ihre Dateiensammlung mit <strong>In</strong>formationen über gravierende<br />
Menschenrechtsverletzungen in der 20. Division<br />
geknackt und zerstört vor. Unter dem Läufer auf dem<br />
Fußboden entdeckten sie einen Zettel, hinterlassen von<br />
einem der Soldaten : Sie würden irgendwohin gebracht<br />
und geschlagen, bräuchten Hilfe …<br />
Bleibt nicht viel hinzuzufügen. Ein Anruf »von oben«<br />
brachte die Offiziere auf dem Truppenübungsgelände<br />
dazu, ihre Soldaten zu suchen. Das war am 9. September<br />
spätabends, nachdem sich Tatjana Sosulenko mit Wolgograder<br />
Journalisten in Verbindung gesetzt hatte und<br />
im Radio eine erste Meldung über den Vorfall gesendet<br />
worden war. Natürlich verlangte der Gebietsstab von den<br />
Offizieren eine Erklärung, und da erst bemerkten diese<br />
angeblich das Fehlen der Soldaten.<br />
Nachts brachten Militärfahrzeuge alle vierundfünfzig<br />
Soldaten zunächst in die Arrestanstalt der Militärkommandantur,<br />
dann zurück in die Einheit, unter der Aufsicht<br />
ebenjener Offiziere, vor deren Schlägen sie geflohen<br />
waren. Tatjana Sosulenko fragte den Militärstaatsanwalt<br />
der Wolgograder Garnison (zu dessen Pflichten es gehört,<br />
die Einhaltung von Recht und Gesetz in den Einheiten<br />
zu überwachen), warum er eine solche Anordnung<br />
getroffen habe. Worauf er unverblümt erwiderte : »Weil<br />
es unsere Soldaten sind.«<br />
Das ist der Schlüsselsatz in dieser Geschichte. »Unsere<br />
Soldaten« bedeutet »unsere Sklaven«, keinen anderen<br />
Sinn birgt die Antwort von Militärstaatsanwalt Tschernow.<br />
Es hat sich nichts geändert : Eine verzerrt inter-<br />
49
pretierte »Offiziersehre«, die es unter allen Umständen<br />
zu schützen gilt, wird grundsätzlich höher bewertet als<br />
das Leben und die Menschenwürde von Soldaten. Der<br />
Gewaltmarsch der vierundfünfzig Männer vom Truppenübungsgelände<br />
Kamyschin nach Wolgograd offenbart<br />
zum einen die unausrottbare, widerwärtige Armeetradition,<br />
nach der ein Soldat der Sklave des Offiziers ist –<br />
und der hat immer Recht und kann nach Gutdünken<br />
mit seinem Untergebenen umspringen. Zum anderen<br />
verdeutlicht dieser Fall das Fehlen einer zivilen Kontrolle<br />
über die Armeestrukturen. Davon, dass eine zivile Kontrolle<br />
unbedingt eingeführt werden müsse, war in den<br />
Jahren der Jelzin-Herrschaft vielfach die Rede, es wurde<br />
sogar ein entsprechender Gesetzentwurf erarbeitet, der<br />
heute allerdings keine Rolle mehr spielt, da Präsident<br />
Putin als zutiefst sowjetischer Mensch und Offizier die<br />
grundsätzliche Einstellung der Militärs teilt und deshalb<br />
ein solches Gesetz für vollkommen überflüssig hält.<br />
Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch<br />
folgendes Detail : Die gesamte 20. Division (genannt<br />
Rochlin-Division, weil sie früher befehligt wurde von<br />
Lew Rochlin, Held des ersten Tschetschenien-Krieges,<br />
Abgeordneter der Staatsduma und vor ein paar Jahren<br />
durch eine Pistolenkugel getötet), insbesondere aber ihre<br />
Truppeneinheit Nr. 20004 sind längst nicht nur in Wolgograd<br />
oder im Militärbezirk Nordkaukasus, sondern in<br />
ganz <strong>Russland</strong> zu einem Negativsymbol geworden.<br />
»Ein ganzes Jahr lang haben wir der Wolgograder Militärstaatsanwaltschaft,<br />
vor allem dem Militärstaatsanwalt<br />
50
der Garnison, Tschernow, aber auch sämtlichen übergeordneten<br />
<strong>In</strong>stanzen bis hin zur Obersten Militärstaatsanwaltschaft<br />
in Moskau unsere <strong>In</strong>formationen über Verbrechen<br />
von Offizieren des Truppenteils Nr. 20004 übermittelt«,<br />
berichtet Tatjana Sosulenko. »Nach der Anzahl der<br />
Eingaben, die wir von Soldaten bekommen, liegt diese<br />
Einheit auf Platz eins. Die Offiziere schlagen ihre Untergebenen,<br />
pressen den Soldaten, die aus Tschetschenien<br />
zurückkommen, das so genannte ›Kampfgeld‹ ab. Wir<br />
haben darüber nicht einfach berichtet, wir haben geschrien<br />
! Doch nichts ist passiert. Die Militärstaatsanwaltschaft<br />
schweigt derartige Vorfälle absolut tot. Wir sind<br />
der Meinung : Was auf dem Truppenübungsgelände von<br />
Kamyschin geschah, ist die gesetzmäßige Folge der uneingeschränkten<br />
Willkür und Straflosigkeit der Offiziere.«<br />
NOCH EINIGE FÄLLE<br />
Natürlich gibt es in <strong>Russland</strong> einen Verteidigungshaushalt,<br />
und es wird heftig darüber debattiert. Es gibt eine<br />
Militärlobby, die sich stark macht für neue <strong>In</strong>vestitionen<br />
und Großaufträge, bezahlt aus der Staatskasse. Alles wie<br />
überall. Aber man darf eine Besonderheit nicht vergessen,<br />
die uns von anderen unterscheidet : <strong>In</strong> <strong>Russland</strong> gibt<br />
es eine bedeutende Rüstungsindustrie und weltweiten<br />
Waffenhandel. Immerhin waren wir es, die der Welt das<br />
Kalaschnikow-Maschinengewehr geschenkt haben, worauf<br />
viele Russen heute noch stolz sind.<br />
51
Doch ich will Sie nicht mit den Geschäftszahlen unserer<br />
Rüstungsindustrie behelligen. Mich bewegt etwas<br />
anderes : Fühlen sich die Menschen glücklich in der Ordnung,<br />
die Präsident Putin eingeführt hat ? Das ist für<br />
mich das Hauptkriterium, an dem das Wirken eines<br />
Staatschefs zu messen ist. Um eine Antwort zu finden,<br />
gehe ich zum Komitee der Soldatenmütter, frage die<br />
Frauen : Waren ihre Söhne glücklich, als sie zur Armee<br />
einberufen wurden ? Sind sie dort tatsächlich richtige<br />
Männer geworden ? Und ich lerne dabei eine ganz andere<br />
Armee kennen …<br />
Das Detail ist wichtiger als die Gesamtansicht. Die<br />
Einzelheit bezeichnender als das Ganze. Zumindest für<br />
mich.<br />
Mischa Nikolajew, im Gebiet Moskau zu Hause, wurde<br />
im Juli 2001 einberufen. Er kam zu den Grenztruppen,<br />
in eine zehn Flugstunden von der Hauptstadt entfernte<br />
Einheit in der Nähe des Dorfes Gorjatschi Pljash auf<br />
der Anutschin-<strong>In</strong>sel, die zur Kleinen Kurilenkette zählt,<br />
um die sich bekanntlich russische und japanische Politiker<br />
seit dem Zweiten Weltkrieg erbittert streiten. Doch<br />
während sie streiten, muss die Grenze bewacht werden.<br />
Und das tat Mischa. Ein halbes Jahr lang. Bis er am 22.<br />
Dezember 2001 starb. Doch Besorgnis erregende Briefe<br />
erhielten die Eltern bereits im Herbst, als Mischa an seinem<br />
Körper eitrige Geschwüre entdeckte. Er bat : »Besorgt<br />
mir Medikamente – Wischnewski-Salbe, Streptozid,<br />
Brillantgrünspiritus zum Einreiben, überhaupt alles<br />
gegen Eiterwunden, Analgin, Binden, möglichst auch<br />
52
Pflaster. Hier gibt es nichts.« Klaglos schickten die Eltern<br />
Pakete, schließlich war ihnen bewusst, dass unsere<br />
Armee arm ist. Sicher dachten sie auch, gar so schlimm<br />
könne es nicht sein, weil Mischa ja weiter arbeitete … als<br />
Koch ! Wäre er schwer krank, glaubten die Eltern, würde<br />
man ihn wohl kaum an die Kessel mit dem Mannschaftsessen<br />
heranlassen. Doch Mischa, dessen Körper übersät<br />
war mit eitrigen Hautausschlägen, kochte weiter für alle.<br />
Als der Pathologe nach seinem Tod eine Obduktion vornahm,<br />
musste er feststellen, dass die Körpergewebe der<br />
Leiche förmlich unter dem Skalpell zerflossen. Zu Beginn<br />
des 21. Jahrhunderts verfaulte der Soldat Mischa Nikolajew<br />
bei lebendigem Leibe, unter den Augen der Offiziere,<br />
die ihm keinerlei medizinische Versorgung angedeihen<br />
ließen. Nichts konnte Mischa retten vor diesen Offizieren,<br />
denen er, und nicht nur er, absolut gleichgültig war.<br />
Dmitri Kisseljow kam zum Wehrdienst in die Siedlung<br />
Istra bei Moskau, was als großer Glücksfall galt. Dmitris<br />
Eltern, die in Moskau wohnten, konnten ihren Sohn oft<br />
besuchen kommen, zur Not auch zu seinem Kommandeur<br />
vordringen, wenn es nötig gewesen wäre. Nicht wie<br />
Mischa Nikolajew auf den fernen Kurilen. Doch selbst<br />
die Nähe der Hauptstadt rettete Dmitri nicht vor den<br />
verkommenen Offizieren.<br />
Oberstleutnant Alexander Boronenko, der die Einheit<br />
befehligte, verdiente sich etwas zu seinem Sold hinzu<br />
durch Geschäfte. Was nicht unüblich ist in unserer<br />
Armee, wo sich jeder die niedrige Besoldung so gut er<br />
kann aufbessert. Das Geschäft, das dieser Oberstleut-<br />
53
nant betrieb, war allerdings Sklavenhandel : Er verkaufte<br />
seine Soldaten als billige Arbeitskräfte an die Besitzer der<br />
zahlreichen Wochenendgrundstücke in und um Istra. Sie<br />
arbeiteten lediglich für ihre Beköstigung, den Lohn strich<br />
Kommandeur Boronenko ein. Eine verbreitete Erscheinung.<br />
Mitunter werden die Soldaten für die gesamte<br />
Wehrdienstzeit als kostenlose Arbeiter, also als bessere<br />
Sklaven, verkauft an »nützliche Leute«. Mit Soldaten bzw.<br />
mit ihrer Arbeit bezahlt der Offizier bestimmte Dienstleistungen.<br />
Ist eine Reparatur an seinem Wagen fällig,<br />
aber kein Geld da, schickt er ein paar Soldaten in die<br />
Autowerkstatt, wo diese so lange schuften, wie es der<br />
Besitzer für nötig hält : als Äquivalent für die Reparatur<br />
des Offiziersautos. Und schließlich werden die Soldaten<br />
noch »verliehen«. Die größte Verbreitung aber hat ihr<br />
Einsatz als Tagelöhner in Haus, Hof und Garten des<br />
jeweiligen Offiziers gefunden.<br />
Ende Juni 2002 war auch der frisch einberufene<br />
Dmitri Kisseljow an der Reihe, Frondienste zu leisten –<br />
beim Hausbau für einen gewissen Herrn Karabutow im<br />
Gartenverband »Mir«, ebenfalls im Kreis Istra. Zuerst<br />
baute Dmitri tatsächlich ein Haus. Danach sollten er<br />
und sieben andere Armeesklaven neben dem Grundstück<br />
einen tiefen Graben ausheben. Am 2. Juli um sieben<br />
Uhr abends brach bei den Schachtarbeiten der Boden<br />
ein, drei Soldaten wurden verschüttet, einer von ihnen,<br />
Dmitri Kisseljow, erstickte unter den Erdmassen. Die<br />
Eltern versuchten Oberstleutnant Boronenko vor Gericht<br />
zu bringen, doch er konnte sich herauswinden, dank<br />
54
der vielen »nützlichen Leute« in seinem Bekanntenkreis.<br />
Dmitri war der einzige Sohn gewesen.<br />
Am 28. August 2002 veranstalteten in der Truppeneinheit<br />
42839 (stationiert in Tschetschenien, in der Nähe der<br />
Siedlung Kalinowskaja, also dort, wo schon lange nicht<br />
mehr gekämpft wird) die »Altgedienten« ein Trinkgelage.<br />
Diese kurz vor der Entlassung aus dem Wehrdienst<br />
stehenden »Altgedienten«, russisch »Dedy« (Großväter)<br />
genannt, sind die furchtbarste, die vernichtendste Kraft<br />
unserer Armee. Gegen Abend befürchteten die »Großväter«,<br />
der Wodka könnte nicht reichen, und sie gaben<br />
dem Soldaten Juri Djatschenko, der ihnen gerade über<br />
den Weg lief, den Auftrag, in Kalinowskaja Nachschub<br />
zu holen : »Beschaff Wodka, egal woher.« Djatschenko<br />
weigerte sich. Zum einen, weil er gerade als Streife zur<br />
Außensicherung des Truppengeländes eingeteilt war und<br />
seinen Posten nicht verlassen durfte. Zum anderen, weil<br />
er kein Geld hatte, wie er den »Großvätern« erklärte.<br />
Doch die verlangten, dann solle er eben in der Siedlung<br />
etwas stehlen, um an Wodka zu kommen. Juri weigerte<br />
sich standhaft. Worauf ihn die »Großväter« gnadenlos<br />
verprügelten, bis fünf Uhr morgens. <strong>In</strong> den Pausen zwischen<br />
den Schlägen peinigten sie ihr Opfer weiter auf<br />
schlimmste Weise. So fuhren sie ihm mit einem in die<br />
Latrine getauchten Lappen über das Gesicht. Sie zwangen<br />
ihn, den Fußboden zu scheuern, und als er sich bückte,<br />
stießen sie ihm einen Schrubberstiel in den Anus. Zum<br />
Abschluss der »Erziehungsmaßnahmen« schleiften die<br />
»Großväter« Juri in die Kantine, wo er einen Drei-Liter-<br />
55
Kanister voll Grützbrei leer essen musste. Wenn er aufhören<br />
wollte, schlugen sie wieder auf ihn ein.<br />
Und die Offiziere der Einheit ? Sie feierten in dieser<br />
Nacht selbst feuchtfröhlich und waren physisch außer<br />
Stande, auch nur irgendetwas zu bemerken. Am 29.<br />
August, gegen sechs Uhr morgens, fand man Juri Djatschenko<br />
in einem Winkel des Proviantlagers. Er hatte<br />
sich erhängt.<br />
Sibirien ist weit entfernt von Tschetschenien und vom<br />
Krieg. Aber das ändert nichts. Valeri Putinzew aus dem<br />
Gebiet Tjumen kam zum Wehrdienst in die Kreisstadt<br />
Ushur (Region Krasnojarsk), in eine Eliteeinheit der Strategischen<br />
Raketentruppen. Was seine Mutter Swetlana<br />
Putinzewa außerordentlich freute, teilte sie doch die landläufige<br />
Meinung, dass bei den Raketentruppen die Offiziere<br />
hoch gebildet sind, nicht trinken, keine Schläge<br />
austeilen und für Disziplin sorgen. Immerhin haben sie<br />
mit den modernsten, gefährlichsten Waffen unserer Zeit<br />
zu tun. Bald aber kamen schlimme Briefe von Valeri, in<br />
denen er keinen anderen Namen für die Offiziere fand<br />
als »die Schakale«.<br />
»Hallo Mama ! Dieser Brief darf niemand anderem<br />
in die Hände geraten als dir. Vor allem Oma nicht. Wir<br />
beide haben uns immer gut verstanden, und du wirst<br />
verhindern, dass sich Oma noch den letzten Rest Gesundheit<br />
ruiniert – ich sorge mich um sie … Ich kann<br />
mich noch immer nicht damit abfinden, dass ich Leuten<br />
als Sklave diene, die mir verhasst sind. Ich möchte<br />
einfach nur für das Wohl meiner Nächsten arbeiten, Er-<br />
56
nährer sein für die Familie, deren Wert ich erst jetzt erkenne<br />
…«<br />
Es sollte Valeri nicht vergönnt sein, für das Wohl seiner<br />
Nächsten zu arbeiten. <strong>In</strong> Ushur herrschte die Anarchie<br />
der Offiziere. Sie plünderten die Soldaten aus, verhöhnten<br />
und demütigten diejenigen, die versuchten, ihre<br />
Ehre zu verteidigen : wie Valeri Putinzew. <strong>In</strong> den sechs<br />
Monaten seines Dienstes in der Einheit wurden vier<br />
Särge aus der Kaserne getragen. Vier Särge von Soldaten,<br />
die zu Tode geprügelt worden waren.<br />
Als Erstes nahmen die Offiziere Valeri die Uniform<br />
weg (das Einzige, was ein Soldat in der Armee besitzt,<br />
jede andere Art von Kleidung ist verboten) und erklärten,<br />
er müsse sie bei ihnen »zurückkaufen«. Das Geld<br />
dafür solle er sich per Eilüberweisung von zu Hause<br />
schicken lassen. Valeri widersetzte sich hartnäckig,<br />
wusste er doch, dass seine Mutter, die mit der Oma,<br />
seiner Schwester und deren kleiner Tochter zusammen<br />
in einer Wohnung lebte, dieses Geld nicht erübrigen<br />
konnte. Nun wurde er immer wieder brutal verprügelt.<br />
Bis er es nicht mehr aushielt und sich wehrte, worauf<br />
man ihn wegen Auflehnung in die Arrestanstalt des<br />
Truppenteils verfrachtete. Dort inszenierte man einen<br />
»Ausbruchversuch«, bei dem Valeri schwer verletzt wurde.<br />
Swetlana Putinzewa rief den Kommandeur des Truppenteils,<br />
Oberstleutnant Butow, an. Der »beruhigte« sie<br />
mit den Worten, er könne so schlagen, dass keine Spuren<br />
blieben. Swetlana ließ alles stehen und liegen und<br />
flog nach Ushur, wo sie ihren Sohn sterbend vorfand. Er<br />
57
hatte einen Durchschuss des kleinen Beckens, der Harnblase,<br />
der Harnleiter sowie der Hüftarterie. Im Hospital<br />
erklärte man der Mutter : »Treiben Sie umgehend Blut<br />
auf für eine Transfusion. Wir haben keins.« Sie musste<br />
also Spender finden. Aber wie ? <strong>In</strong> einem fremden Ort,<br />
allein … Sie kämpfte sich zum Kommandeur des Truppenteils<br />
vor, bat um Hilfe, die ihr jedoch verweigert<br />
wurde. Swetlana irrte durch die ganze Stadt, versuchte<br />
noch irgendetwas für ihren Sohn zu tun, schaffte es<br />
aber nicht, Blut für eine Transfusion zu besorgen. Am<br />
27. Februar 2002 starb Valeri Putinzew.<br />
<strong>In</strong> einem seiner letzten Briefe an die Mutter hatte<br />
Valeri geschrieben, so als sähe er voraus, was kommen<br />
würde : »Ich rechne nicht sehr auf ihre ›Offiziershilfe‹. Sie<br />
sind nur fähig zu ungerechten Demütigungen …«<br />
Wieder das Moskauer Umland. Die Siedlung Balaschicha,<br />
Standort des Truppenteils 13815. 4. Mai 2002,<br />
frühmorgens. <strong>In</strong> dem Kesselhaus, das die Militäreinheit<br />
mit Wärme versorgt, hörten zwei Heizerinnen ganz in<br />
der Nähe Hilferufe. Sie liefen hinaus und sahen, dass<br />
in der Mitte des Hofes ein Soldat bis zum Hals in die<br />
Erde eingegraben war. Er schrie. Die Frauen entfernten<br />
das Erdreich, durchschnitten den Strick, mit dem er an<br />
Händen und Füßen gefesselt war, halfen dem Soldaten<br />
aus der Grube. <strong>In</strong> diesem Augenblick erschien Major<br />
Alexander Simakin. Wutentbrannt brüllte er die Frauen<br />
an, sie sollten sich heraushalten, er habe den Soldaten<br />
Tschesnokow zu erziehen, und wenn sie sich nicht zurück<br />
in ihr Kesselhaus scherten, würde er sie entlassen.<br />
58
Der Grube entronnen, floh der Soldat Tschesnokow<br />
aus der Einheit.<br />
Die Armee <strong>Russland</strong>s – traditionell eine der tragenden<br />
Säulen des Staates – ist immer noch ein typisches<br />
Straflager hinter Stacheldraht für die jungen Bürger des<br />
Landes, die man ohne Recht auf Gegenwehr dorthin verfrachtet.<br />
Wo gewollt gefängnishafte Regeln des Gemeinschaftslebens<br />
herrschen, eingeführt von den Offizieren,<br />
wo »windelweich prügeln« die wichtigste Erziehungsmethode<br />
darstellt. Immerhin war dies die Devise, die Putin<br />
bei seiner Besteigung des Kreml-Throns für den Kampf<br />
gegen die inneren Feinde ausgab.<br />
So etwas mag ihm gefallen, unserem heutigen Präsidenten<br />
mit den Schulterstücken eines Oberstleutnants,<br />
der zu Hause zwei Töchter hat, die keinen Wehrdienst<br />
leisten müssen. Doch allen anderen – außer der Offizierskaste,<br />
die sich ausgesprochen wohl fühlt in der Rolle<br />
von allmächtigen »Paten« – missfällt es sehr. Besonders<br />
denen, die Söhne haben. Und erst recht denjenigen, deren<br />
Söhne jetzt im Einberufungsalter sind, die also nicht<br />
warten können, bis die Armeereformen – der Gesellschaft<br />
seit Ewigkeiten versprochen und regelmäßig im Sande<br />
verlaufen – irgendwann einmal kommen. Diese Söhne<br />
riskieren, schnurstracks auf dem Truppenübungsgelände<br />
von Kamyschin zu landen, oder in Tschetschenien, oder<br />
an einem anderen Ort, von dem es kein Zurück gibt.
RUSSLANDS NEUES MITTELALTER oder<br />
ALLENTHALBEN KRIEGSVERBRECHER<br />
Der zweite Tschetschenien-Krieg, begonnen im August<br />
1999, zeitgleich mit der Ernennung Wladimir <strong>Putins</strong> zum<br />
Premierminister, fortgeführt über seine gesamte erste<br />
Amtsperiode als Staatspräsident und nicht beendet bis<br />
zum heutigen Tag, ist Nährboden für zahlreiche Kriegsverbrechen.<br />
Alle Prozesse, die in diesem Zusammenhang<br />
geführt wurden, haben eines gemeinsam : Sie sind<br />
samt und sonders ideologisch geprägt. »<strong>In</strong>ter armas silent<br />
leges«, wie es so schön heißt. Wer im Rahmen eines derartigen<br />
Prozesses auf der Anklagebank saß, erhielt sein<br />
Urteil nicht gemäß einer juristischen Verfahrensordnung,<br />
die auf Recht und Gesetz gründet, sondern abhängig<br />
davon, was für ein ideologischer Wind zum gegebenen<br />
Zeitpunkt gerade aus dem Kreml wehte.<br />
Die Kriegsverbrecher, deren Taten mit dem zweiten<br />
Tschetschenien-Krieg in Verbindung stehen, lassen sich<br />
in zwei Typen unterteilen : Den ersten Typus bilden diejenigen,<br />
die tatsächlich in diesem Krieg gekämpft haben.<br />
Entweder als Angehörige der in die »Anti-Terror-Operation«<br />
involvierten föderalen Streitkräfte – oder als Rebellen,<br />
bekämpft von der russischen Armee. Erstere versuchte<br />
man mit allen Mitteln reinzuwaschen, letztere bekamen<br />
in juristisch nachlässig geführten Prozessen nach<br />
61
esten Kräften Verbrechen angehängt. Ersteren verhalf<br />
die Justiz in Gestalt von Staatsanwälten und Richtern<br />
dazu, selbst bei vorliegenden Schuldbeweisen einer Bestrafung<br />
zu entgehen, wobei es ohnehin Seltenheitswert<br />
besitzt, wenn die Staatsanwaltschaft gegen diese Kategorie<br />
von Kriegsverbrechern überhaupt Beweise erhebt.<br />
Gegen Letztere wurde gewöhnlich das höchstmögliche<br />
Strafmaß verhängt.<br />
Das spektakulärste Beispiel für den Umgang mit Ersteren<br />
liefert der Prozess gegen Oberst Juri Budanow, Befehlshaber<br />
des 160. Panzerregiments des Verteidigungsministeriums<br />
der Russischen Föderation, der am 26. März –<br />
dem Tag, an dem Putin zum Präsidenten gewählt wurde<br />
– die achtzehnjährige Tschetschenin Elsa Kungajewa<br />
aus ihrem Elternhaus in der Siedlung Tangi-Tschu entführte,<br />
vergewaltigte und tötete.<br />
Der bekannteste verurteilte Kriegsverbrecher aus den<br />
Reihen der tschetschenischen Rebellen ist Salman Radujew,<br />
ein berüchtigter Feldkommandeur und Brigadegeneral,<br />
der bereits im ersten Tschetschenien-Krieg als<br />
Befehlshaber der so genannten »Armee General Dudajews«<br />
für terroristische Übergriffe verantwortlich war,<br />
im Jahre 2001 gefangen genommen und zu einer lebenslänglichen<br />
Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Während<br />
der Haft kam Radujew unter bis heute nicht geklärten<br />
Umständen im Schwerverbrecher-Gefängnis von Solikamsk<br />
ums Leben. Die im Ural gelegene Stadt Solikamsk<br />
(Gebiet Perm) mit ihren Salzbergwerken ist bereits seit<br />
der Zarenzeit ein traditioneller Verbannungsort für viele<br />
62
Generationen von Häftlingen. Radujew verkörperte den<br />
Typus des Rebellen, der unversöhnlich für die Unabhängigkeit<br />
Tschetscheniens von <strong>Russland</strong> streitet.<br />
Gerichtsverfahren wie das gegen Salman Radujew<br />
gibt es nur sehr selten, und in der Regel werden sie als<br />
nicht öffentliche Prozesse geführt, obwohl keiner weiß,<br />
warum eigentlich. <strong>In</strong> einigen wenigen Fällen gelang es,<br />
wenn auch heimlich und unter großen Schwierigkeiten,<br />
Einsicht in die Prozessakten zu nehmen. Die offenbarten,<br />
dass diese Verfahren gleichfalls ideologisch geprägt<br />
waren, nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen : Ohne<br />
sich der mühsamen Prozedur einer Beweisführung zu<br />
unterziehen, fällten die Richter ihr Schuldurteil. Getreu<br />
dem Prinzip : »Verurteilt wird, wer verurteilt werden<br />
muss«, und in dem Wissen, dass auch der zweifelhafteste<br />
Richterspruch nicht angefochten würde.<br />
Der gesamte erste Typus von Kriegsverbrechern, ganz<br />
gleich ob auf föderaler oder tschetschenischer Seite, hat<br />
also kein ordentliches Gerichtsverfahren durchlaufen.<br />
Das ist das wichtigste Fazit. Nach ihrer Verurteilung<br />
hatten die tschetschenischen Rebellen in den entlegenen<br />
Arbeitskolonien und Gefängnissen nicht mehr lange zu<br />
leben, sie kamen nach kurzer Zeit um : »Unter ungeklärten<br />
Umständen.« Dass sie auf Wunsch von oben beseitigt<br />
wurden, bezweifeln Meinungsumfragen zufolge nicht<br />
einmal mehr diejenigen in <strong>Russland</strong>, die die Position<br />
der Regierung und des Präsidenten im Hinblick auf den<br />
Tschetschenien-Krieg unterstützen. Weil hier faktisch<br />
niemand an eine unvoreingenommene Rechtsprechung<br />
63
glaubt, umso mehr aber an die politische Verstrickung<br />
der Justiz.<br />
Der zweite Typus von Kriegsverbrechern besteht aus<br />
»Randfiguren«, aus Menschen, die zufällig in die Mühlen<br />
der Geschichte gerieten. Die nicht in den bewaffneten<br />
Formationen kämpften, aber Tschetschenen waren<br />
und deshalb verurteilt wurden. Bezeichnend ist in diesem<br />
Zusammenhang der Prozess gegen Islam Chassuchanow.<br />
<strong>In</strong> seinem Fall erinnert alles an das Jahr 1937, so<br />
als sei Stalin noch am Leben und die Tscheka wie ehedem<br />
am Werk : Durch Schläge abgepresste Geständnisse,<br />
Folterungen, der Einsatz von Psychopharmaka, um den<br />
Willen des Angeklagten zu brechen. Diesen Höllenweg<br />
durchliefen die meisten Tschetschenen, die in die Gefängnisse<br />
nicht nur des <strong>In</strong>landsgeheimdienstes FSB, sondern<br />
auch der anderen in Tschetschenien aktiven militärischen<br />
Strukturen gerieten. Gefoltert wird bei der<br />
»Kadyrow-Truppe«, den Nachfolgern Achmad Kadyrows,<br />
der vor seiner Ermordung als Marionette Moskaus die<br />
tschetschenische Verwaltung leitete. Gefoltert wird in den<br />
Militärkommandanturen der russischen Streitkräfte, in<br />
Armeeeinheiten und Milizabteilungen. Die richtungsweisende<br />
Rolle spielt dabei der FSB : <strong>Putins</strong> Mannschaft, die<br />
unter seinem Patronat agiert, seinen Willen umsetzt.<br />
64
DER FALL CHASSUCHANOW<br />
Islam Chassuchanow : »… Ich habe vierzehn Rippenbrüche,<br />
einen Schädelbruch, ein Knochensplitter ist in die<br />
Niere eingedrungen, sie haben mir die Hände kaputt<br />
geschlagen … ich glaube nicht, dass ich überlebe.«<br />
Do s s i e r<br />
Islam Scheich-Achmedowitsch Chassuchanow, geboren<br />
1954 in Kirgisien. Seit 1973 Angehöriger der Streitkräfte,<br />
Kadett an der Militärpolitischen Offiziershochschule<br />
der Seekriegsflotte in Kiew. 1978 bis 1989 Dienst<br />
in der Baltischen Flotte, danach in der Pazifik-Flotte,<br />
U-Boot-Offizier. Gehörte zur Elite der Seestreitkräfte.<br />
1991 Abschluss der Militärpolitischen Akademie »W. I.<br />
Lenin« in Moskau. 1998 in die Reserve entlassen im<br />
Range eines Kapitäns zur See und als stellvertretender<br />
Kommandeur eines großen Atom-U-Boots vom Typ B-<br />
251. Seit 1998 wohnhaft in Grosny. Unter der Maschadow-Regierung<br />
Leiter der Militärinspektion und Chef<br />
des operativen Stabes Aslan Maschadows. Familienvater,<br />
zwei Kinder. <strong>In</strong> zweiter Ehe verheiratet mit einer Nichte<br />
Aslan Maschadows. Weder im ersten noch im zweiten<br />
Tschetschenien-Krieg an Kampfeinsätzen beteiligt. Offiziell<br />
in Grosny gemeldet, im Besitz amtlich ausgestellter<br />
Personaldokumente. Am 20. April 2002 von Sondereinheiten<br />
des FSB in der Kreisstadt Schali als »internationaler<br />
Terrorist« und »Organisator illegaler bewaffneter<br />
65
Formationen« verhaftet. Vom Obersten Gerichtshof der<br />
Republik Nordossetien-Alanija verurteilt zu zwölf Jahren<br />
Freiheitsentzug in einem Arbeitslager mit strengen<br />
Haftbedingungen.<br />
Die Vo r g e s c h i c h t e D e s Pr oz e s se s<br />
Was geschieht mit einem Menschen, der in die Fänge<br />
des modernen FSB gerät ? Nicht jener Tscheka aus dem<br />
Jahre 1937, wie wir sie aus Büchern, aus Alexander Solshenizyns<br />
»Archipel GULAG« kennen, nein, eines neuzeitlichen,<br />
sehr gegenwärtigen FSB, den das Land mit<br />
Steuermitteln unterhält. Darüber wird in <strong>Russland</strong> heute<br />
viel geredet und gemutmaßt. Keiner weiß etwas Genaues,<br />
aber jeder hat Angst, wie früher. Und genau wie früher,<br />
unter dem Sowjetsystem, dringt nur sehr selten etwas<br />
nach außen.<br />
Der Fall Chassuchanow ist so eine Ausnahme. Erst<br />
wenn man sämtliche alptraumhafte Einzelheiten dieses<br />
Falls kennt, versteht man den ungeheuerlichen Sinn der<br />
Worte, die der Angeklagte Islam Chassuchanow vor der<br />
Urteilsverkündung sprach : »Im September 2000 war ich<br />
in vielem nicht einverstanden mit Maschadow und habe<br />
ihm das auch nicht verschwiegen, mir schwebten andere<br />
Lösungen vor … Doch jetzt, nach allem, was ich durchgemacht<br />
habe, bin ich mit ihm einer Meinung.«<br />
Aus den Akten der Strafsache Nr. 56/17 geht hervor,<br />
dass Islam Chassuchanow am 27. April 2002 in der Majakowski-Straße<br />
der tschetschenischen Kreisstadt Schali<br />
66
festgenommen wurde wegen unerlaubten Waffenbesitzes,<br />
gemäß Paragraf 222 des Strafgesetzbuches der Russischen<br />
Föderation. Diese Waffe musste folglich das entscheidende<br />
<strong>In</strong>diz sein.<br />
Doch als die bewaffneten und wie üblich maskierten<br />
Männer im Morgengrauen das Haus stürmten, in dem<br />
Chassuchanows Familie damals bei Verwandten wohnte,<br />
und den Reserveoffizier abführten, hielten sie es nicht<br />
einmal für nötig, ihm dieses <strong>In</strong>diz »unterzujubeln«. Eine<br />
eigene Waffe aber besaß Chassuchanow nicht. Die Sondereinheiten,<br />
die in Tschetschenien Jagd auf »internationale<br />
Terroristen« machen und sich schon lange in der<br />
absoluten Sicherheit wiegen, unantastbar zu sein, folgten<br />
diesmal dem Hinweis eines <strong>In</strong>formanten. Sicher meinten<br />
sie, einen »Führer der illegalen bewaffneten Formationen«<br />
dingfest machen zu können. Und dessen Schicksal<br />
wäre ohnehin vorprogrammiert gewesen : der Tod. Deshalb<br />
findet sich in keinem einzigen Prozessdokument<br />
auch nur irgendein Hinweis auf eine Waffe als Beweisstück,<br />
ganz gleich ob Pistole oder Maschinengewehr.<br />
Paragraf 222 aber wurde weiterhin angewandt. Wie<br />
im Übrigen auch das falsche Verhaftungsdatum nicht<br />
berichtigt wurde, denn in Wirklichkeit war Chassuchanow<br />
nicht am 27. April, sondern bereits am 20. April festgenommen<br />
worden. Typisch für die »Anti-Terror-Operation«<br />
in Tschetschenien : Ein Mensch wird an einen<br />
unbekannten Ort verschleppt, und die erste Woche nach<br />
seinem Verschwinden ist die schlimmste. Der Mensch<br />
ist quasi unauffindbar, kein einziges Rechtsschutzorgan<br />
67
führt ihn in seinen Listen, seine Nächsten suchen überall,<br />
aber er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Und<br />
in dieser Zeit prügeln die Geheimdienste alles aus ihm<br />
heraus, was sie brauchen.<br />
An die Tage zwischen dem 20. und dem 27. April kann<br />
sich Chassuchanow nicht genau erinnern, er war wie<br />
in Agonie, die Dinge verschwammen vor seinen Augen.<br />
Schläge – Spritzen – Schläge – Spritzen … Das ist alles,<br />
was er noch weiß. Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung,<br />
zehn Monate später : »Die ersten sieben Tage<br />
verbrachte ich im Gebäude des FSB in Schali. Dort wurde<br />
ich geschlagen. Seitdem habe ich vierzehn Rippenbrüche,<br />
der Knochensplitter einer Rippe ist in die Niere eingedrungen<br />
…«<br />
Was wollte der FSB von Chassuchanow wissen, bevor<br />
man ihn totschlagen würde ? Er sollte die Geheimdienstler<br />
auf Maschadows Spur bringen, danach konnte er<br />
sterben. Das Problem war nur, dass Chassuchanow die<br />
gewünschten <strong>In</strong>formationen partout nicht lieferte – und<br />
partout nicht verrecken wollte. Dem stand seine ausgezeichnete<br />
Kondition als U-Boot-Offizier entgegen.<br />
Deshalb beschloss man am 30. April, Chassuchanows<br />
Verhaftung einen gesetzlichen Rahmen zu geben. Dazu<br />
wurde er – auf der Grundlage einer entsprechenden<br />
Überführungsorder des damaligen Staatsanwalts von<br />
Tschetschenien, Alexander Nikitin – in eine Einzelhaftzelle<br />
im Untersuchungsgefängnis eines anderen tschetschenischen<br />
Kreiszentrums, der Siedlung Snamenskaja,<br />
gebracht. <strong>In</strong> ebenjenes Untersuchungsgefängnis, das ein<br />
68
Selbstmordattentäter am 12. Mai 2003 mit einer Sprengladung<br />
dem Erdboden gleichmachte. Nach dem Anschlag<br />
ging unter den Tschetschenen die Rede, nicht umsonst<br />
habe es gerade diesen Ort getroffen, wo so viele Menschen<br />
gefoltert worden waren, wo man so viele, die die<br />
Folter nicht überlebten, heimlich irgendwo in der Umgebung<br />
verscharrt hatte.<br />
Als Chassuchanow in Snamenskaja ankam, war er ein<br />
lebendiger Leichnam, ein Sack Fleisch. Doch er atmete<br />
noch. Also gingen die Torturen weiter. Unter der Führung<br />
von Oberstleutnant Anatoli Tscherepnew, dem stellvertretenden<br />
Leiter der Ermittlungsabteilung in der für Tschetschenien<br />
zuständigen Verwaltung des <strong>In</strong>landsgeheimdienstes.<br />
Tscherepnew war Untersuchungsführer im Fall<br />
Chassuchanow und zugleich derjenige, der die Folterungen<br />
zur gewaltsamen Erpressung von Aussagen dirigierte.<br />
Welche <strong>In</strong>formationen sollte ihm Chassuchanow liefern ?<br />
Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung :<br />
– »Weswegen wurde gegen Sie Gewalt angewendet ?«<br />
– »<strong>In</strong> allen Verhören ging es nur um die Frage, wo<br />
sich Maschadow aufhält und wo das U-Boot ist, das ich<br />
angeblich entführen wollte. Wegen dieser beiden Fragen<br />
wurde gegen mich Gewalt angewendet …«<br />
Im Hinblick auf den ersten Aspekt, der Tscherepnew<br />
so sehr interessierte, schien die Sache mehr oder weniger<br />
aussichtslos : Chassuchanow wollte den FSB nicht auf<br />
die Fährte Maschadows bringen. Weil er es nicht konnte :<br />
Er hatte Aslan Maschadow im Jahr 2000 zum letzten<br />
69
Mal persönlich gesehen, übte selbst keinerlei Führungsfunktion<br />
aus, und wenn es Kontakte zu Maschadow<br />
gab, dann nur virtuell, vermittels Tonbandbotschaften.<br />
Hielt es Maschadow für nötig, besprach er eine Kassette,<br />
schickte einen Kurier (von denen einer den FSB auf<br />
Chassuchanow aufmerksam machte) und erwartete von<br />
Zeit zu Zeit eine Antwort. Das letzte Mal erhielt Chassuchanow<br />
im Januar 2002 eine derartige Kassette, auf<br />
die er im April 2002, zwei Tage vor seiner Verhaftung,<br />
antwortete. Was enthielt sie ? Üblicherweise bat Maschadow<br />
Chassuchanow darum festzuhalten, welchem Feldkommandeur<br />
er, Maschadow, wie viel Geld gegeben hatte.<br />
Warum der ehemalige Präsident gerade Chassuchanow<br />
damit betraute, wird später zur Sprache kommen.<br />
Zunächst aber noch ein Wort zum Thema »U-Boot-<br />
Entführung«, das eine genauere Betrachtung verdient.<br />
Chassuchanow war, wie bereits erwähnt, bei seinem Ausscheiden<br />
aus den Streitkräften Kapitän zur See, hatte<br />
einen hohen Kommandeursposten inne. Und er war<br />
der einzige Tschetschene, der jemals – in sowjetischen<br />
wie postsowjetischen Zeiten – ein Atom-U-Boot befehligte.<br />
Was Tscherepnew auf den Gedanken brachte, ihm<br />
eine »von Mitgliedern illegaler bewaffneter Formationen<br />
geplante Besetzung eines nuklearen U-Boots, die Übernahme<br />
der Kontrolle über die Atomsprengladung, die<br />
Geiselnahme von Duma-Abgeordneten zwecks Erzwingung<br />
einer Verfassungsänderung durch Androhung einer<br />
Sprengung der atomaren Ladungen und Ermordung der<br />
Geiseln« anzulasten. Das oben stehende Zitat stammt<br />
70
aus einem an die Staatsanwaltschaft Tschetscheniens<br />
gerichteten Antrag des Chefermittlers auf nochmalige<br />
Verlängerung der Untersuchungshaft für Chassuchanow.<br />
Dem Gesuch wurde, wie bereits allen anderen zuvor, in<br />
Abwesenheit des Untersuchungshäftlings stattgegeben.<br />
Doch Tscherepnews Plan ging nicht auf. Chassuchanow<br />
legte kein Geständnis ab – und konnte es wiederum<br />
auch gar nicht, hatte er doch im Jahr 1992 das U-Boot<br />
selbst »gebaut«. So nennt es die Flotte, wenn der Kommandeur<br />
namens der Besatzung die Entstehung des »zukünftigen<br />
Einsatzortes« in der Werft verfolgt und begleitet.<br />
Dieses Boot war ihm so teuer wie kein anderes, er<br />
hätte es niemals entführen können.<br />
Tscherepnew bereitete das Thema »Besetzung eines<br />
Atom-U-Boots« gründlich vor. Der FSB fabrizierte Dokumente,<br />
die angeblich von tschetschenischen Rebellen<br />
nach Chassuchanows geheimen Angaben verfasst worden<br />
waren : »Arbeitsplan der tschetschenischen illegalen<br />
bewaffneten Formationen zur Durchführung eines Sabotageaktes<br />
auf dem Territorium der Russischen Föderation<br />
und selbst verfertigte Karten zur Aufstellung der 4. Flottille<br />
atomar betriebener U-Boote der Pazifik-Flotte …«<br />
sowie »Plan zur Durchführung eines Sabotageakts auf<br />
dem Territorium <strong>Russland</strong>s«. Selbstverständlich mit<br />
dem Zusatz : »Die Ausarbeitung der Operation erfolgte<br />
auf der Grundlage einer Sicht- und Agenturaufklärung<br />
des betreffenden Gebietes im Dezember 1995«. Hierunter<br />
sollte Chassuchanow seinen Namen setzen. Was er<br />
nicht tat. Worauf die Schläge immer abgefeimter wur-<br />
71
den, obwohl es an Chassuchanows Körper bereits keine<br />
heile Stelle mehr gab. Nun schlug man ihn, weil er den<br />
schönen Plan des FSB durchkreuzte.<br />
Das Einzige, was Tscherepnew aus Chassuchanow<br />
herausprügeln konnte, war dessen – durch Folter und<br />
Psychopharmaka erzwungene – Bereitschaft, leere Formblätter<br />
für »Befehle und Gefechtsanweisungen Maschadows«<br />
blanko zu unterschreiben, zu »authentisieren«, wie<br />
es später im Gerichtsurteil heißen würde. Tscherepnew<br />
fügte dann ein, was er für nötig hielt. Wie diese Fälschungen<br />
aussahen, soll ein Beispiel aus der Anklageschrift<br />
zeigen :<br />
»Am 2. September 2000 erteilte Chassuchanow allen<br />
Feldkommandeuren Befehl, auf den Straßen und Fahrrouten<br />
der föderalen Kräfte kleine Nägel, Bolzen, Schrauben<br />
und Metallringe zu verstreuen, um damit Minen<br />
und Sprengladungen zu tarnen … Unter Ausnutzung seiner<br />
führenden Rolle in den illegalen bewaffneten Formationen<br />
verleitete Chassuchanow mit seinen vorsätzlichen<br />
Handlungen andere Mitglieder dieser Formationen zur<br />
Verübung von Terrorakten, die sich gegen die Durchsetzung<br />
der verfassungsmäßigen Ordnung auf dem Territorium<br />
der Tschetschenischen Republik richteten …«<br />
Außerdem verlangte Tscherepnew von Chassuchanow,<br />
dass dieser sämtliche Vernehmungsprotokolle ungeprüft<br />
unterschrieb. Wie es um deren Qualität stand, zeigt<br />
der folgende Auszug, bei dem man sich als Fragenden<br />
Tscherepnew vorzustellen hat, während die »Antwort«<br />
Islam Chassuchanow in den Mund gelegt wird.<br />
72
– »Ihnen liegt eine Kopie des Aufrufs Nr. 215 vom 25.<br />
November 2000 vor, der sich an die Offiziere <strong>Russland</strong>s<br />
richtet. Was können Sie dazu aussagen ?«<br />
– »Die Vorbereitung und Verbreitung derartiger Dokumente<br />
war Bestandteil der Propaganda, die die operative<br />
Verwaltung der Streitkräfte der Tschetschenischen<br />
Republik Itschkerija unter meiner unmittelbaren Leitung<br />
durchführte. Der <strong>In</strong>halt des Aufrufs sollte der Darstellung<br />
des Verlaufs der ›Anti-Terror-Operation‹ in den russischen<br />
Medien entgegenwirken. Ich war mir darüber im<br />
Klaren, dass die Verbreitung derartiger Dokumente zu<br />
einer Destabilisierung der Lage auf dem Territorium der<br />
Tschetschenischen Republik führen kann, setzte meine<br />
Handlungen jedoch fort …«<br />
Das ist typischer Militärduktus. Um ein solches Material<br />
zusammenzustöppeln, wurde Chassuchanow in Snamenskaja<br />
einen Monat lang gefoltert.<br />
Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung :<br />
– »Als ich wegen der Schläge bereits nichts mehr verstand<br />
und auf nichts mehr reagierte, erhielt ich wieder<br />
<strong>In</strong>jektionen und wurde dem FSB Nordossetiens überstellt.<br />
Doch wollte man mich nicht in das Untersuchungsgefängnis<br />
aufnehmen, weil ich so zugerichtet war. Der Arzt<br />
sagte, ich würde in zwei Tagen sterben, deshalb brachten<br />
sie mich in den Militärbetrieb JaN 68-1, ins Sägewerk.«<br />
– »Wurden Sie medizinisch versorgt ?«<br />
– »Ich lag einfach im Sägewerk, versuchte drei Monate<br />
lang, zu mir zu kommen.«<br />
73
Was ist das für ein Sägewerk ? <strong>In</strong> den Berichten über<br />
Menschen, die in Tschetschenien nach Säuberungen spurlos<br />
verschwanden, spielt dieser Ort immer wieder eine<br />
Rolle. Einige, die dorthin gerieten und überlebten, nennen<br />
ihn nach alter, noch aus Stalinzeiten stammender<br />
Tradition »Holzeinschlag«, andere sprechen von einem<br />
»Sägewerk«. Die offizielle Bezeichnung lautet Einrichtung<br />
Nr. JaN 68-1 des Justizministeriums der Republik<br />
Nordossetien. Man weiß von diesem Sägewerk, dass die<br />
Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane, vor allem des FSB,<br />
dort tatsächlich Halbtotgeschlagene abliefern, ohne jegliche<br />
Papiere ; Menschen, die nach der Begegnung mit den<br />
föderalen Kräften aufgehört haben zu existieren.<br />
Den Verantwortlichen im Sägewerk JaN 68-1 sei Dank<br />
dafür, dass sie diese Menschen ohne Identität aufnehmen,<br />
was eigentlich ungesetzlich ist. Manch einer konnte dadurch<br />
dem sicheren Tod entrinnen. Von denen, die die<br />
Föderalen nur aus Trägheit nicht bereits auf dem Weg<br />
nach Ossetien erschossen, oder denen, die man nach<br />
einer entsprechenden »Behandlung« hier zum Sterben<br />
ablieferte, um sich selbst nicht die Hände schmutzig zu<br />
machen. Wie viele Menschen hier während des zweiten<br />
Tschetschenien-Kriegs umkamen und wer sie waren,<br />
weiß niemand. Dafür kennen wir einige, die wie durch<br />
ein Wunder überlebten. Beispielsweise Islam Chassuchanow.<br />
Ein Bewacher hatte Mitleid mit ihm, einfach Mitleid.<br />
Er brachte dem Halbtoten immer von zu Hause<br />
frische Kuhmilch mit.<br />
So kam Chassuchanow wieder auf die Beine – und<br />
74
sah sich erneut Oberstleutnant Anatoli Tscherepnew<br />
gegenüber. <strong>In</strong> der FSB-Verwaltung für Tschetschenien<br />
gilt die Regel : Wer überlebt, kommt vor Gericht. Und da<br />
nur wenige überleben, gibt es folglich auch nicht viele<br />
Prozesse gegen »internationale Terroristen«. Aber man<br />
braucht diese Verfahren, braucht im Rahmen der »Anti-<br />
Terror-Operation« ein paar verurteilte Terroristen, weil<br />
die westlichen Politiker hin und wieder von Präsident<br />
Putin Rechenschaft darüber fordern, und der verlangt<br />
das Gleiche vom <strong>In</strong>landsgeheimdienst und der Generalstaatsanwaltschaft.<br />
Deshalb sind sie schnell bei der<br />
Hand mit Prozessen. Wenn es denn jemanden gibt, der<br />
überlebt und vor Gericht gestellt werden kann.<br />
Wl a D i k aW k a s<br />
Wladikawkas ist die Hauptstadt der an Tschetschenien<br />
und <strong>In</strong>guschetien grenzenden Republik Nordossetien-<br />
Alanija, und die wiederum fungiert als gleichberechtigte<br />
Mitstreiterin bei der »Anti-Terror-Operation«. <strong>In</strong><br />
Ossetien befindet sich der Hauptstützpunkt Mosdok, in<br />
dem die Einheiten der föderalen Streitkräfte für den Einsatz<br />
in Tschetschenien zusammengestellt werden. Deshalb<br />
wurde gerade Mosdok zum Schauplatz von zwei<br />
schweren Terrorakten : Am 5. Juni 2003 sprengte sich<br />
eine Selbstmordattentäterin in einem Bus, der Militärpiloten<br />
beförderte, in die Luft, und am 1. August desselben<br />
Jahres raste ein Lastwagen, beladen mit einer Tonne<br />
Sprengstoff, in das Gebäude des Militärhospitals.<br />
75
Wladikawkas ist der Ort, an dem traditionell die meisten<br />
Schauprozesse gegen »internationale Terroristen«<br />
stattfinden. Viele Anwälte in der Stadt agieren, wenn<br />
sie in solchen Fällen als Verteidiger berufen werden, in<br />
enger Kooperation mit Gericht, <strong>In</strong>landsgeheimdienst und<br />
Staatsanwaltschaft, unterstützen mehr das Bestreben des<br />
FSB, einen »internationalen Terroristen« zu entlarven, als<br />
die Belange ihrer Mandanten.<br />
Die Mitarbeiter der Verwaltung des <strong>In</strong>landsgeheimdienstes<br />
für Tschetschenien arbeiten hier oftmals lange,<br />
bringen <strong>In</strong>haftierte gern zu Vernehmungen in die örtliche<br />
FSB-Verwaltung, um möglichst weit weg zu sein<br />
vom Krieg. Schließlich will jeder leben.<br />
So war es auch diesmal. Tscherepnew kam nach Wladikawkas<br />
zu Chassuchanow, und seine erste Tat bestand<br />
darin, dem Gefangenen einen Verteidiger beizugeben.<br />
Man beachte : Seit dem 1. Juli 2003 gilt in <strong>Russland</strong> eine<br />
neue Strafprozessordnung, so neu und fortschrittlich,<br />
dass sie es mit den besten europäischen Standards aufnehmen<br />
kann. Und diese Strafprozessordnung verbietet<br />
schlechthin, einen Verdächtigen ohne Anwalt zu vernehmen.<br />
Aber wenn nötig, verfällt man eben doch wieder in<br />
die alten Handlungsmuster : Chassuchanow hatte vom 20.<br />
April bis zum 9. Oktober 2002 – ein geschlagenes halbes<br />
Jahr lang – keinen Verteidiger. Der trat erst auf den Plan,<br />
als Chassuchanows Wunden verheilt, die gebrochenen<br />
Rippen zusammengewachsen waren, sodass man ihn für<br />
einen Gerichtsprozess »bereitmachen« konnte.<br />
<strong>In</strong>teressant, wie man dabei zu Werke ging. Am 8. Ok-<br />
76
tober 2002 rief Tscherepnew Chassuchanow zu einer Vernehmung,<br />
erklärte, er solle ein Gesuch an ihn, Tscherepnew,<br />
richten und diktierte auch gleich den Wortlaut : »Ich<br />
bitte Sie, mir für die Voruntersuchung einen Verteidiger<br />
zur Verfügung zu stellen … Bisher habe ich anwaltliche<br />
Dienste nicht benötigt und mache deshalb auch keine<br />
diesbezüglichen Beanstandungen gegenüber den Untersuchungsbehörden<br />
geltend … Die Auswahl des Anwalts<br />
steht im Ermessen des Untersuchungsführers …«<br />
Am 9. Oktober wurde Chassuchanow zum ersten Mal<br />
im Beisein des Anwalts Alexander Dsilichow aus Wladikawkas<br />
vernommen. Natürlich betrachtete ihn Chassuchanow<br />
nicht als seinen Verteidiger, sondern einfach<br />
als einen weiteren Mitarbeiter des FSB, der sich als Anwalt<br />
ausgab. Etwas anderes hätte Chassuchanow auch<br />
gar nicht annehmen können. Im Übrigen tat Dsilichow<br />
wenig, um das Vertrauen seines Mandanten zu gewinnen.<br />
Er erteilte Chassuchanow keinerlei Ratschläge, saß<br />
nur schweigend bei den Vernehmungen.<br />
Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung :<br />
– »Können Sie sagen, dass ein Unterschied besteht zwischen<br />
den Aussagen, die Sie vor der Einschaltung des<br />
Anwalts machten, und denen danach ? Worin besteht<br />
dieser Unterschied ?«<br />
– »Ja, es gibt einen Unterschied. Früher konnte ich am<br />
Ende der Vernehmung das Protokoll nicht lesen, nach<br />
Einschaltung des Anwalts erhielt ich es zum Lesen …«<br />
<strong>In</strong>sgesamt gab es drei Vernehmungen in Dsilichows<br />
77
Beisein, am 9., 23. und 24. Oktober. Richtiger wäre zu<br />
sagen, dass Tscherepnew an diesen drei Tagen einfach<br />
die in Snamenskaja aus Chassuchanow herausgeprügelten<br />
Aussagen auf neue Formblätter übertrug und sie so zu<br />
»Aussagen gemäß Strafprozessordnung« machte.<br />
Als letzten Tag der Voruntersuchung legte Tscherepnew<br />
den 25. Oktober fest und erklärte, Chassuchanow<br />
werde demnächst die Anklageschrift zur Einsichtnahme<br />
erhalten und müsse diesen Text schnellstmöglich unterschreiben.<br />
Und damit sich Chassuchanow erst gar keine<br />
Illusionen machte, wurde er am 29. Oktober erneut für<br />
zwei Tage aus dem Untersuchungsgefängnis irgendwohin<br />
verbracht – natürlich ohne Anwalt. Wohin genau, weiß<br />
Chassuchanow nicht, denn man stülpte ihm einen Sack<br />
über den Kopf. Doch zu welchem Zweck, das verstand<br />
er sehr bald, weil das Ganze einem Gang zur Exekution<br />
glich. »Das war’s dann, jetzt ist es aus mit dir«, kommentierten<br />
seine Bewacher und ließen die Gewehrschlösser<br />
knacken. Natürlich handelte es sich um eine vorgetäuschte<br />
Hinrichtung, mit der man ihn einschüchtern<br />
wollte, damit er keinen Widerstand leistete und alles<br />
unterschrieb, was in der Anklageschrift stand.<br />
Chassuchanow unterschrieb, keine Frage. Wer einmal<br />
vor einem Erschießungskommando stand, der weiß, dass<br />
Widerstand zwecklos ist. Und wer es nicht erlebt hat,<br />
sollte Dostojewski lesen. Doch Chassuchanows Wille war<br />
noch nicht gebrochen, in dem nachfolgenden Gerichtsprozess<br />
widerrief er alle Aussagen, auf denen die vom<br />
neuen Staatsanwalt Tschetscheniens, Wladimir Krawt-<br />
78
schenko, sanktionierte Anklageschrift fußte. Der Text<br />
dieser Anklageschrift wanderte dann fast ungekürzt in<br />
die Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters Valeri<br />
Dshiojew.<br />
Die folgenden Zitate aus Anklageschrift und Urteilsbegründung<br />
erfordern einige Kommentare. Um aufzuzeigen,<br />
wie die Prozessdokumente in derartigen Verfahren<br />
fabriziert, oder besser : skrupellos zusammengeschustert<br />
werden. Sind sich die Beteiligten doch der vollen Unterstützung<br />
»von oben« gewiss, was sie nicht einmal mehr<br />
fürchten lässt, diese Dokumente könnten vielleicht erhalten<br />
bleiben für die Geschichte, die ja in <strong>Russland</strong> traditionell<br />
von Zeit zu Zeit umgeschrieben wird.<br />
»Im April 1999 wurde Chassuchanow … Mitglied einer<br />
bewaffneten Formation, die der Gesetzgebung der Russischen<br />
Föderation zuwiderläuft … Chassuchanow trat<br />
in Kontakt zu einem Stellvertreter Maschadows, Magomed<br />
Chambijew. Der bot ihm an, mit seiner Erfahrung<br />
Maschadow beim Aufbau der ›Militärinspektion‹ genannten<br />
illegalen bewaffneten Formation zu helfen …«<br />
Und was geschah wirklich ? Nach Chassuchanows Ausscheiden<br />
aus dem aktiven Militärdienst kehrte er nach<br />
Hause zurück, ließ sich in Grosny nieder. Ihm, dem<br />
ranghohen Offizier mit akademischer Bildung, wie es<br />
ihn unter den Tschetschenen kein zweites Mal gab, unterbreitete<br />
Aslan Maschadow den Vorschlag, in seiner<br />
Verwaltung mitzuarbeiten. Bei dieser Verwaltung handelte<br />
es sich 1999 um eine ganz normale, von Moskau<br />
79
finanzierte Republiksregierung, und Maschadow war der<br />
gewählte, von Moskau anerkannte Präsident der Republik<br />
Tschetschenien. Die Gründung der Militärinspektion,<br />
in der Chassuchanow tätig sein sollte, war ein Gebot<br />
der Stunde. Die tschetschenischen Staatsdiener stahlen<br />
ungeniert, wie übrigens auch die russischen, und der<br />
Präsident brauchte einen kompetenten Mann, der insbesondere<br />
die über militärische Kanäle fließenden Finanzströme<br />
kontrollieren konnte. Sie stammten in erster<br />
Linie aus dem Staatshaushalt der Russischen Föderation.<br />
Was für eine »illegale bewaffnete Formierung«<br />
sollte diese Militärinspektion also sein ?<br />
Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung :<br />
– »Hielten Sie die Handlungen von Präsident Maschadow<br />
für rechtmäßig ?«<br />
– »Ja. Ich konnte nicht wissen, dass Maschadow, die<br />
Regierung und die Militärbehörden für ungesetzlich<br />
erklärt werden würden. Ich ging davon aus, dass Maschadow<br />
der Präsident und von der Führung der Russischen<br />
Föderation anerkannt war, es gab offizielle Treffen mit<br />
seinen Ministern, Mittel wurden bereitgestellt, und natürlich<br />
wusste ich nicht, dass ich in eine illegale bewaffnete<br />
Formation eintrete …«<br />
– »Sie überprüften die Finanz- und Wirtschaftstätigkeit<br />
des <strong>In</strong>nenministeriums der Tschetschenischen Republik<br />
Itschkerija ?«<br />
– »Ja. Im Juni 1999 erstattete ich Maschadow Bericht<br />
über die Ergebnisse der Revision. Ich führte vollständig<br />
80
auf, wofür Geld ausgegeben worden war. Sämtliche Daten<br />
wurden auf offiziellem Wege ermittelt. Ich konnte nicht<br />
vermuten, irgendetwas Ungesetzliches zu tun.«<br />
Zu Chassuchanows Aufgaben vor Ausbruch des zweiten<br />
Tschetschenien-Krieges gehörte es tatsächlich, die<br />
Finanz- und Wirtschaftstätigkeit des tschetschenischen<br />
<strong>In</strong>nenministeriums zu überprüfen sowie ein System zu<br />
entwickeln, das die Erfassung und Kontrolle sämtlicher<br />
der Republik für den Unterhalt der militärischen Strukturen<br />
(<strong>In</strong>nenministerium, National- und Präsidialgarde<br />
sowie Hauptstab) zufließenden Mittel gestattete. Im Sommer<br />
1999 fand er heraus, dass über den Hauptstab beträchtliche<br />
Summen für die Anschaffung von Waffen<br />
und Ausrüstungen eingingen, das Verteidigungsministerium<br />
dafür aber beispielsweise in einem Rüstungsbetrieb<br />
in Grosny Granatwerfer bestellt hatte, die erkennbar<br />
gefechtsuntauglich waren. Eine bewusste Veruntreuung<br />
von Staatsgeldern. Nicht anders verhielt es sich mit den<br />
Uniformen : Sie wurden in der tschetschenischen Stadt<br />
Gudermes genäht, für 60 Rubel pro Ausrüstungssatz,<br />
während sie in den Unterlagen als »gefertigt im Baltikum«<br />
– und damit als weitaus teurer – erschienen.<br />
Über all diese Fälle erstattete Chassuchanow dem Präsidenten<br />
Bericht, mit dem Ergebnis, dass er sehr bald<br />
Probleme mit den Vertretern der bewaffneten Strukturen<br />
im Umfeld Maschadows bekam. Doch Maschadow<br />
ernannte Chassuchanow bereits nach einer Woche Arbeit<br />
bei der Militärinspektion zum Chef seines Stabes. Weil<br />
er nichts so dringend brauchte wie ehrliche Leute. Das<br />
81
war Ende Juli 1999. Anfang August nahm Chassuchanow<br />
seine Tätigkeit als Stabschef auf. Wenige Tage vor<br />
Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges, an dem er<br />
sich nicht beteiligte.<br />
Liest man die Protokolle der Gerichtsverhandlungen<br />
(das Verfahren fand hinter verschlossenen Türen statt),<br />
wird man den Eindruck nicht los, dass der Prozess einem<br />
vorgegebenen Schema folgte. Quasi von vornherein stand<br />
fest, dass Chassuchanow verurteilt werden sollte, zu einer<br />
langen Haftstrafe und für ein kapitales Verbrechen. Was<br />
natürlich so nicht in den Akten steht, sich aber anhand<br />
indirekter Hinweise ableiten lässt. Vielleicht hat Chassuchanow<br />
ja damals, im Sommer 1999, etwas herausgefunden,<br />
was ihm dann in den Jahren 2002–2003 zum<br />
Verhängnis wurde : jenes geheimnisvolle Verschwinden<br />
von Geldern, die aus dem Staatshaushalt für die militärischen<br />
Strukturen Tschetscheniens bereitgestellt wurden<br />
und über die Kanäle der föderalen Militärstrukturen<br />
flossen. Könnte hier der Grund liegen, warum<br />
man Chassuchanow verurteilt sehen wollte ? Jener Diebstahl<br />
in großem Maßstab also, der, wie viele vermuten,<br />
mit zum Ausbruch des zweiten Tschetschenien-Krieges<br />
führte, weil sich dadurch die Spuren ein für alle Mal<br />
verwischen ließen ? Und lehnt die Militärführung <strong>Russland</strong>s<br />
vielleicht gerade deshalb Friedensverhandlungen<br />
so vehement ab ?<br />
Ein weiterer Auszug aus der Anklageschrift und Urteilsbegründung<br />
:<br />
82
»Chassuchanow, der aktiv an der Tätigkeit der illegalen<br />
bewaffneten Formation teilnahm, beschäftigte<br />
sich 1999 mit Fragen ihrer Finanzierung … Er konzipierte<br />
ein System zur Erfassung der Mittel, die für die<br />
Unterhaltung der illegalen militärischen Formationen<br />
›Nationalgarde‹ und ›Hauptstab‹ sowie für das <strong>In</strong>nenministerium<br />
der selbst ernannten Republik Itschkerija<br />
bereitgestellt wurden, und setzte es in die Praxis um.<br />
<strong>In</strong> dieser Eigenschaft bewies er organisatorische und<br />
fachliche Qualitäten, weshalb Maschadow Chassuchanow<br />
Ende Juli 1999 zum Chef seines Stabes ernannte.<br />
Chassuchanow war aktiv beteiligt an der Tätigkeit der<br />
genannten illegalen bewaffneten Formation, wirkte mit<br />
bei der Erarbeitung der grundlegenden Beschlüsse zum<br />
Widerstand einschließlich bewaffneter Aktionen gegen<br />
die Kräfte der föderalen Regierung bei der Durchsetzung<br />
der verfassungsmäßigen Ordnung auf dem Territorium<br />
der Tschetschenischen Republik …«<br />
Man könnte über diesen Unfug lachen. Wüsste man<br />
nicht, welchen Preis Islam Chassuchanow für die dreiste<br />
Verfälschung der Wirklichkeit zahlte.<br />
Aus dem Protokoll der Gerichtsverhandlung :<br />
– »Führen Sie aus, welche Notwendigkeit dafür bestand,<br />
dass Sie sich seit Beginn der Kampfhandlungen und bis<br />
zum Tag Ihrer Verhaftung in Tschetschenien aufhielten.«<br />
– »Ich erachtete es für unmöglich, Maschadow den<br />
Rücken zu kehren, weil ich ihn als den gewählten Präsidenten<br />
ansah. Ich selbst konnte den Krieg nicht beenden<br />
83
und tat alles, was in meinen Kräften stand … Manchmal<br />
habe ich Maschadows Bitten erfüllt … Ich war außer<br />
Stande, in die Wälder zu gehen, aber was ich tun konnte,<br />
wollte ich tun. Ich habe gesehen, wie die Leute umkommen,<br />
und ich weiß, wie die verfassungsmäßige Ordnung<br />
durchgesetzt wird. Ich werde nie verhehlen, dass dieser<br />
ganze Krieg Völkermord ist. Aber ich habe niemals zur<br />
Verübung von Terrorakten aufgerufen.«<br />
– »Und zur Vernichtung der föderalen Truppen ?«<br />
– »Um zu etwas aufzurufen, muss man Menschen führen.<br />
Ich habe sie nicht geführt.«<br />
– »War irgendeiner der Feldkommandeure Ihnen direkt<br />
unterstellt ?«<br />
– »Nein.«<br />
Vor mir liegen Dokumente, die vertraulich sind, nur<br />
zum Dienstgebrauch bestimmt : <strong>In</strong> Vorbereitung auf den<br />
Prozess gegen Chassuchanow verschickte Tscherepnew an<br />
sämtliche FSB-Kreisverwaltungen in Tschetschenien Anfragen,<br />
welche »Akte von Terrorismus« in ihren Zuständigkeitsbereichen<br />
»auf Anordnung des Chefs des operativen<br />
Stabes der Streitkräfte der Republik Tsche tschenien,<br />
Islam Chassuchanow,« verübt wurden. Gemeint sind jene<br />
»Anordnungen«, die Chassuchanow während der Ermittlungen<br />
blanko unterschrieben hatte und die dann von<br />
Tscherepnew abgefasst worden waren. So, wie der Chefermittler<br />
sie brauchte.<br />
Natürlich erklärten alle Leiter der Kreisverwaltungen<br />
in schöner Einmütigkeit : Keine. Chassuchanow steht<br />
nicht in Verbindung mit irgendeinem Terrorakt. Doch<br />
84
die Maschinerie, die auf eine unbedingte Verurteilung<br />
Chassuchanows hinarbeitete, stand nicht still. Das »führende<br />
Mitglied einer illegalen bewaffneten Formation«,<br />
wie man Chassuchanow jetzt titulierte, musste hinter Gitter,<br />
allen Fakten und der Beweislage zum Trotz. Also ließ<br />
das Gericht die vertraulichen Unterlagen vollkommen<br />
unbeachtet. Nicht anders als die Staatsanwaltschaft.<br />
De r Pr o z e s s<br />
Das Verfahren gegen Islam Chassuchanow ging unter<br />
Ausschluss der Öffentlichkeit und in rasantem Tempo<br />
über die Bühne. Die Verhandlung im Obersten Gericht<br />
der Republik Nordossetien-Alanija unter Vorsitz von<br />
Richter Valeri Dshiojew dauerte vom 14. Januar bis zum<br />
25. Februar 2003. Dieses Gericht fand reinweg gar nichts<br />
beanstandenswert : Nicht die Tatsache, dass man Chassuchanow<br />
sechs Monate lang einen Anwalt vorenthielt,<br />
nicht den Umstand, dass diesen Anwalt schließlich diejenigen<br />
aussuchten, die den Angeklagten misshandelt<br />
hatten. Nicht die Tatsache, dass der Angeklagte zwischen<br />
dem 20. und dem 27. April an einem unbekannten Ort<br />
festgehalten worden war. Und auch nicht, dass man ihn<br />
gefoltert hatte. Zwar konstatierte das Gericht den Tatbestand<br />
der Folterung, reagierte aber in keiner Weise<br />
darauf, wie nachstehendes Zitat aus der Urteilsbegründung<br />
verdeutlicht : »Im Verlauf der Ermittlungen legte<br />
Chassuchanow kein Geständnis ab, musste aber unter<br />
dem psychologischen und physischen Druck von Seiten<br />
85
der Mitarbeiter des FSB die vorgefertigten Vernehmungsprotokolle<br />
unterschreiben.«<br />
»Sie haben gesagt, gegen Sie sei Gewalt angewendet<br />
worden ?«, fragte der Richter den Angeklagten. »Können<br />
Sie die Namen derjenigen nennen, von denen diese<br />
Gewalt ausging ?« Chassuchanow antwortete : »Das kann<br />
ich nicht. Weil ich sie nicht kenne.«<br />
Und da die Folterknechte ihrem Opfer vor den Misshandlungen<br />
nicht erst die Personalausweise gezeigt hatten,<br />
setzte das Gericht ungerührt die Verhandlungen fort<br />
und verweigerte dem Angeklagten mit dem deformierten<br />
Schädel sogar ein medizinisches Gutachten. Das Höchste,<br />
wozu sich dieses Gericht aufschwingen konnte, war, den<br />
Direktor des »Sägewerks«, Teblojew, zu befragen, ob sich<br />
Chassuchanow in der Sanitätsstelle der Einrichtung JaN<br />
68-1 befunden habe. Als Teblojew antwortete, »Ja. Vom 3.<br />
Mai bis September 2002. Die Diagnose lautete ›Prellung<br />
des Brustkorbs‹«, schluckten die Richter die Auskunft,<br />
ohne sich die geringste Verwunderung darüber zu erlauben,<br />
dass ein Mensch zum Auskurieren einer »Prellung«<br />
vier Monate braucht.<br />
Noch ein Zitat aus der Urteilsbegründung :<br />
»Der Angeklagte Chassuchanow bekannte sich während<br />
der Gerichtsverhandlung nicht schuldig im Sinne<br />
der Anklage … Er erklärte, es für seine Pflicht gehalten<br />
zu haben, in Einzelfällen Bitten und Aufträge des gesetzmäßig<br />
gewählten Präsidenten Maschadow zu erfüllen.<br />
Terrorakte habe er nicht vorbereitet, und er sei auch<br />
86
nicht mit der Finanzierung der Feldkommandeure befasst<br />
gewesen. Er bestätigt lediglich, einige Befehle bzw.<br />
Anordnungen Maschadows eigenhändig beglaubigt zu<br />
haben durch einen entsprechenden Vermerk.«<br />
Das soll die ganze »Schuld« gewesen sein ?<br />
Ja. Und so endete der Prozess : Zwölf Jahre Freiheitsentzug<br />
in einer Arbeitskolonie mit strengen Haftbedingungen,<br />
ohne Recht auf Begnadigung. Das Schlusswort<br />
des Angeklagten lautete : »Ich möchte erklären, dass ich<br />
mich nicht lossage von meinen Überzeugungen. Das,<br />
was in Tschetschenien passiert, halte ich für eine grobe<br />
Verletzung der Menschenrechte. Die wahren Verbrecher<br />
verfolgt niemand. Und solange geschieht, was geschieht,<br />
werden viele wie ich auf der Anklagebank sitzen.«<br />
Uns umgibt dieselbe Finsternis, aus der wir uns schon<br />
einmal, mehrere sowjetische Jahrzehnte lang, nicht befreien<br />
konnten. Die Geschichten darüber, wie der FSB<br />
durch Folter Gerichtsverfahren mit der gewünschten ideologischen<br />
Ausrichtung fabriziert und dabei Richter und<br />
Staatsanwälte zu seinen Handlangern macht, werden immer<br />
zahlreicher. Es sind bereits so viele, dass man nicht<br />
mehr von Ausnahmen sprechen, nicht mehr an Zufälle<br />
glauben kann. Was bedeutet : Unsere Verfassung stirbt,<br />
ungeachtet aller Garantien, die sie schützen sollen. Und<br />
der FSB ist der Zeremonienmeister für ihre Bestattung.<br />
Als ich erfuhr, dass Chassuchanow in das bekannte<br />
Moskauer Transitgefängnis Krasnaja Presnja gebracht<br />
worden war, rief ich das hiesige Büro des <strong>In</strong>ternationa-
len Roten Kreuzes an. Die Mitarbeiter dieser Organisation<br />
sind fast die Einzigen, die in die Gefängniszellen<br />
gelangen und bestimmte Häftlinge besuchen können.<br />
Ich rief an, weil ich wusste, dass Chassuchanow nach<br />
allem, was er durchgemacht hatte, ein lebendiger Leichnam<br />
war. Ich bat sie darum, Chassuchanow in Krasnaja<br />
Presnja zu besuchen, ihm mit Medikamenten zu helfen,<br />
bei der Gefängnisleitung medizinische Behandlung und<br />
die Erlaubnis regelmäßiger Besuche zu erwirken.<br />
Das Moskauer Büro des <strong>In</strong>ternationalen Roten Kreuzes<br />
brauchte eine Woche, um meine Bitte zu prüfen und<br />
dann abzulehnen mit der in den Telefonhörer gestotterten<br />
Begründung, das sei »sehr schwierig«.<br />
Ich weiß, was hinter derartigen Antworten steht : Sie<br />
sind von Angst diktiert, Angst vor dem FSB. Und von<br />
dem Wunsch, sich nicht gegen die Putin’sche Politik zu<br />
stellen. Eine Schande.<br />
DER PRÄZEDENZFALL BUDANOW<br />
Am 25. Juli 2003 sprach in Rostow am Don das Militärgericht<br />
des Militärbezirks Nordkaukasus das Urteil<br />
gegen den nunmehr bereits ehemaligen Oberst der Streitkräfte<br />
der Russischen Föderation Juri Budanow. Budanow,<br />
mit zwei Tapferkeitsorden ausgezeichnet, Teilnehmer<br />
an beiden Tschetschenien-Kriegen, muss zehn Jahre<br />
Haft in einer Arbeitskolonie mit strengen Haftbedingungen<br />
verbüßen für Verbrechen, die er im Rahmen der so<br />
88
genannten »Anti-Terror-Operation« beging : für die Entführung<br />
und Ermordung der Tschetschenin Elsa Kungajewa.<br />
Außerdem wurden ihm sein Dienstrang und<br />
sämtliche staatlichen Auszeichnungen aberkannt.<br />
Der »Fall Budanow«, der am 26. März 2000 begann<br />
und sich über drei von bislang vier Jahren des zweiten<br />
Tschetschenien-Kriegs hinzog, wurde zu einer Herausforderung,<br />
einer schweren Prüfung für die gesamte russische<br />
Gesellschaft, von der Kreml-Führung bis hin zu<br />
den Bewohnern des kleinsten Dorfs. Jeder musste Position<br />
beziehen : Was sind sie, diese Soldaten und Offiziere,<br />
die tagtäglich in Tschetschenien morden, plündern,<br />
foltern und vergewaltigen ? Typische Kriminelle<br />
und Kriegsverbrecher ? Oder aber kompromisslose, unerschütterliche<br />
Aktivisten im globalen Kampf gegen den<br />
internationalen Terrorismus, die diesen Kampf mit allen<br />
ihnen zu Gebote stehenden Mitteln und Methoden<br />
führen ? Rechtfertigt das hehre Ziel, die Menschheit zu<br />
retten, jedwede Tat ?<br />
Dieser Hintergrund führte zu einer beispiellosen<br />
Politisierung des Falls Budanow, machte ihn zu einem<br />
Symbol unserer Zeit. Alles, was in den letzten Jahren in<br />
der Welt und in <strong>Russland</strong> geschah, spiegelt sich darin :<br />
der 11. September 2001 in New York, die Kriege im Irak<br />
und in Afghanistan, die Gründung der internationalen<br />
Antiterror-Koalition, die Terroranschläge in russischen<br />
Städten, das Geiseldrama im Oktober 2002 in Moskau,<br />
die nicht abreißende Kette von tschetschenischen Selbstmordattentäterinnen,<br />
die sich in die Luft sprengen, die<br />
89
Palästinisierung des zweiten Tschetschenien-Krieges als<br />
Antwort unter anderem auch auf die Taten Juri Budanows,<br />
auf den Verlauf des Gerichtsverfahrens, den die<br />
Tschetschenen als Beleidigung für ihr Volk empfanden.<br />
Ein Fall von ungeheurer Tragweite, der all unsere Probleme<br />
offen legte : unser Leben im Dunstkreis von <strong>Putins</strong><br />
zweitem Tschetschenien-Krieg, den Irrationalismus unserer<br />
Einstellung zu diesem Krieg und zur Putin-Herrschaft,<br />
unsere Vorstellungen davon, wer Recht hat im<br />
Nordkaukasus und wer nicht, vor allem aber die gravierenden<br />
Veränderungen, die sich unter Putin und vor<br />
dem Hintergrund des Tschetschenien-Krieges in unserem<br />
Rechtswesen vollzogen. Die von den demokratischen<br />
Kräften auf den Weg gebrachte und von Boris Jelzin nach<br />
Kräften beförderte Justizreform brach in sich zusammen<br />
unter der Last des Budanow-Prozesses. Weil er uns mehr<br />
als drei Jahre lang vor Augen führte, dass es – ungeachtet<br />
dieser Reform – kein unabhängiges Gericht gibt. Stattdessen<br />
aber Gerichtsverfahren im politischen Auftrag,<br />
bestimmt von der schnelllebigen politischen Konjunktur.<br />
Und dass, viel schlimmer noch, die Mehrheit der Bevölkerung<br />
diese Steuerung der Rechtsprechung als völlig<br />
normal empfindet.<br />
Am 25. Juli 2003 kamen die Eltern der von Oberst Juri<br />
Budanow bestialisch umgebrachten jungen Tschetschenin<br />
Elsa Kungajewa nicht einmal zur Urteilsverkündung,<br />
waren sie doch überzeugt, das Gericht würde den Mörder<br />
ihrer Tochter freisprechen.<br />
Aber es geschah das Wunder, mit dem faktisch nie-<br />
90
mand gerechnet hatte, ein Wunder, wahr geworden<br />
durch die Großtat des Vorsitzenden Richters Wladimir<br />
Bukrejew. Eine Heldentat, weil Bukrejew es wagte, einen<br />
Schuldspruch zu fällen, eine nicht nur formale, sondern<br />
reale, lange Freiheitsstrafe zu verhängen und sich damit<br />
gegen die gesamte Militärkaste in <strong>Russland</strong> zu stellen, die<br />
Budanow bis heute aktiv unterstützt und seine Verbrechen<br />
rechtfertigt. Ungeachtet des nicht zu übersehenden<br />
kolossalen Drucks von Seiten des Kreml und des Verteidigungsministeriums<br />
entschied Richter Bukrejew : Budanow<br />
soll bekommen, was er verdient. Und dies angesichts<br />
der Tatsache, dass die Militärgerichte in <strong>Russland</strong> Teil<br />
der Streitkräfte sind, als deren Oberster Befehlshaber laut<br />
Verfassung der Präsident fungiert.<br />
Was ein weiteres Mal beweist : Es gibt in <strong>Russland</strong> nach<br />
wie vor keine unabhängige Justiz, das System der Rechtsprechung<br />
bedient politische Aufträge. Es gibt lediglich<br />
Fälle, wo sich Einzelne mutig diesen Zwängen verweigern.<br />
Da s ge r i c h t s V e r fa h r e n<br />
Um die Mythen zu zerstreuen, die im Zusammenhang<br />
mit dem Fall Budanow sowohl in der russischen Öffentlichkeit<br />
als auch unter den westlichen Anhängern Präsident<br />
<strong>Putins</strong> kursieren, sollen nachfolgend Dokumente<br />
sprechen. Vor allem die Anklageschrift in der Strafsache<br />
Nr. 14/00/0012-00. Obwohl in der trockenen Sprache der<br />
Staatsanwaltschaft abgefasst, demonstriert sie eindrucks-<br />
91
voller als jedes publizistische Material die Atmosphäre des<br />
zweiten Tschetschenien-Kriegs, den inneren Zustand der<br />
Truppen, die in der Zone der »Anti-Terror-Operation« stationiert<br />
sind, die fast allgegenwärtige, absolute Militäranarchie.<br />
Die letztendlich auch den Nährboden bildete für<br />
die Verbrechen Juri Budanows, der als Oberst der Panzertruppen<br />
ein Eliteregiment der Streitkräfte befehligte,<br />
als Absolvent der Militärakademie selbst zur Armee-Elite<br />
zählte und für seine militärischen Verdienste mit den<br />
höchsten staatlichen Auszeichnungen dekoriert wurde.<br />
»Anklageschrift<br />
gegen den Oberst der Truppeneinheit 13206 (160. Panzerregiment)<br />
Juri Dmitrijewitsch Budanow … und den<br />
Oberstleutnant der Truppeneinheit 13206 Iwan Iwanowitsch<br />
Fjodorow …«<br />
Zur Erklärung sei angeführt, dass sich das Verfahren<br />
zunächst nicht nur gegen Regimentskommandeur Budanow,<br />
sondern auch gegen seinen Stellvertreter Fjodorow<br />
richtete, weil beide am 26. März 2000 gemeinsam<br />
und einzeln Verbrechen begangen hatten. <strong>In</strong> der Folge<br />
wurde Oberstleutnant Fjodorow jedoch freigesprochen,<br />
da ihm das Opfer seiner Misshandlungen öffentlich im<br />
Gerichtssaal verzieh.<br />
»Die Voruntersuchung stellte fest :<br />
Juri Dmitrijewitsch Budanow wurde am 31. August<br />
1998 zum Befehlshaber der Truppeneinheit 13206 (160.<br />
92
Panzerregiment) ernannt. Am 31. Januar 2000 erhielt er<br />
den Dienstrang eines Obersts. Iwan Iwanowitsch Fjodorow<br />
ist seit dem 12. August 1997 Oberstleutnant. Am 16.<br />
September 1999 wurde er zum Stabschef und stellvertretenden<br />
Befehlshaber der Truppeneinheit 13206 (160.<br />
Panzerregiment) ernannt. Am 19. September 1999 erfolgte<br />
auf der Grundlage der Direktive des Generalstabs der<br />
Streitkräfte der Russischen Föderation Nr. 312/00264 die<br />
Versetzung Budanows und Fjodorows mit der Truppeneinheit<br />
13206 in den Militärbezirk Nordkaukasus und<br />
später in die Tschetschenische Republik zur Teilnahme<br />
an der Anti-Terror-Operation.<br />
Am 26. März 2000 befand sich die Einheit 13206 an<br />
ihrem zeitweiligen Standort am Rande des Dorfes Tangi,<br />
Kreis Urus-Martan, Tschetschenien. Während des Mittagessens<br />
in der Offizierskantine des Regiments hatten<br />
Budanow und Fjodorow aus Anlass des Geburtstags der<br />
Tochter von Oberst Budanow alkoholische Getränke zu<br />
sich genommen. <strong>In</strong> betrunkenem Zustand gingen Budanow<br />
und Fjodorow auf Vorschlag Fjodorows mit einer<br />
Gruppe von Regimentsoffizieren in die Unterkunft der<br />
Aufklärungskompanie des Regiments, das von Oberleutnant<br />
P. W. Bagrejew befehligt wurde.«<br />
Noch eine notwendige Erläuterung : Oberleutnant Pawel<br />
Bagrejew war es, der später im Gerichtssaal Budanow<br />
und Fjodorow die durch sie erlittenen Misshandlungen<br />
öffentlich verzieh.<br />
93
»Nachdem sie die Ordnung in den Zelten kontrolliert hatten,<br />
wollte Fjodorow gegenüber Budanow die Schlagkraft<br />
der Aufklärungskompanie, deren Kommandeur auf seine<br />
Empfehlung hin ernannt worden war, unter Beweis stellen<br />
und schlug vor, eine Überprüfung der Gefechtsbereitschaft<br />
vorzunehmen. Budanow lehnte diesen Vorschlag zunächst<br />
ab. Doch Fjodorow beharrte weiter darauf. Nach mehrfachem<br />
Drängen Fjodorows gestattete ihm Budanow die<br />
entsprechende Überprüfung, er selbst ging mit der Gruppe<br />
von Offizieren zur Nachrichtenzentrale. Nachdem Fjodorow<br />
Budanows Zustimmung erhalten hatte, beschloss<br />
er, ohne Budanow davon in Kenntnis zu setzen, den Einsatz<br />
gegen das Dorf Tangi zu befehlen. Die Entscheidung,<br />
das Feuer zu eröffnen, stand in keinem Zusammenhang<br />
mit der herrschenden Lage, wurde ohne Notwendigkeit<br />
getroffen, da ein Beschuss der Positionen der föderalen<br />
Kräfte aus Richtung des Dorfes Tangi nicht erfolgte.<br />
<strong>In</strong> Verwirklichung seines Plans befahl Fjodorow unter<br />
grober Missachtung der Direktive des Generalstabs der<br />
Streitkräfte der Russischen Föderation vom 21. Februar<br />
2000, Nr. 312/0091, die einen Einsatz der Einheiten ohne<br />
allseitige Vorbereitung und Kontrolle ihrer Gefechtsbereitschaft<br />
bezüglich der Ausführung von Kampfaufgaben<br />
verbietet, die Einnahme der Feuerpositionen und den<br />
Beschuss des Ortsrandes von Tangi.<br />
Auf Fjodorows Befehl gab Oberleutnant Bagrejew seiner<br />
Kompanie das Kommando, der Gefechtseinteilung<br />
entsprechend Position zu beziehen und das Feuer auf<br />
ein einzeln stehendes Gebäude am Rande des Dorfes<br />
94
zu eröffnen. Drei Startfahrzeuge wurden in Gefechtsstellung<br />
gebracht. Nachdem sie die Feuerlinien bezogen<br />
hatten, befolgte ein Teil der Fahrzeugbesatzungen Fjodorows<br />
Befehl zur Eröffnung des Feuers auf die bewohnte<br />
Ortschaft nicht. <strong>In</strong> fortgesetzter Überschreitung seiner<br />
Dienstvollmachten verlangte Fjodorow die Eröffnung des<br />
Feuers. Wütend über die Weigerung der Besatzungen,<br />
machte Fjodorow Bagrejew Vorhaltungen, forderte ihn<br />
auf, den Befehl gegenüber seinen Untergebenen durchzusetzen.<br />
Nicht zufrieden mit Bagrejews Vorgehen, übernahm<br />
Fjodorow persönlich das Kommando über die<br />
Kompanie und befahl die Eröffnung des Feuers auf den<br />
Ortsrand von Tangi. Er sprang auf eines der Raketenstartfahrzeuge<br />
und verlangte von dem Richtschützen<br />
Fähnrich Larin, das Zielfeuer zu eröffnen. Fjodorows<br />
Befehl gehorchend, gab die Besatzung Feuer. Durch<br />
die Ausführung dieses Befehls und den Einschlag einer<br />
Rakete in das Haus Nr. 4 in der Saretschnaja-Straße der<br />
Siedlung Tangi wurde dieses Haus, das dem Einwohner<br />
A. A. Dshawatchanow gehörte und einen Wert von<br />
150 000 Rubel besaß, vollständig zerstört.<br />
Um seinen vorschriftswidrigen Befehl durchzusetzen,<br />
packte Fjodorow Bagrejew an der Uniform und fuhr<br />
fort, ihm unberechtigte Vorwürfe zu machen. Bagrejew<br />
leistete keinerlei Widerstand und ging in das Zelt der<br />
Kompanie.<br />
Als Budanow, der sich neben der Nachrichtenzentrale<br />
befand, im Abschnitt der Aufklärungskompanie<br />
Schüsse hörte, befahl er Fjodorow, das Feuer einzustel-<br />
95
len, und rief ihn zu sich. Fjodorow meldete Budanow,<br />
Bagrejew habe vorsätzlich den Befehl zur Eröffnung des<br />
Feuers nicht ausgeführt. Budanow ließ Bagrejew kommen<br />
und machte ihm in grober Form Vorhaltungen wegen<br />
der nicht sofort erfolgten Ausführung des Feuerbefehls.<br />
Budanow beleidigte Bagrejew und versetzte ihm dann<br />
mindestens zwei Faustschläge ins Gesicht.<br />
Gleichzeitig befahlen Budanow und Fjodorow den Soldaten<br />
des Stabszugs, Bagrejew zu fesseln und zur Strafe<br />
in eine auf dem Militärgelände ausgehobene Grube zu<br />
werfen. Budanow packte Bagrejew an der Uniform und<br />
stieß ihn zu Boden. Fjodorow versetzte Bagrejew einen<br />
Stiefeltritt ins Gesicht. Die Mannschaft des Stabszugs<br />
fesselte den auf dem Boden liegenden Bagrejew. Dann<br />
schlugen Budanow und Fjodorow weiter auf ihn ein. Fjodorow,<br />
der Armee-Halbstiefel trug, versetzte dem Liegenden<br />
mindestens 5–6 Fußtritte gegen den Körper, darunter<br />
auch ins Gesicht ; Budanow, der ebenfalls Armee-Halbstiefel<br />
trug, versetzte ihm mindestens 3–4 Fußtritte gegen<br />
den Oberkörper.<br />
Danach wurde Bagrejew in die Grube hinabgelassen,<br />
wo er in sitzender Haltung, an Händen und Füßen gefesselt,<br />
ausharren musste. Dreißig Minuten später kehrte<br />
Fjodorow zu der Grube zurück, sprang hinein und versetzte<br />
Bagrejew noch mindestens zwei Faustschläge ins<br />
Gesicht, wobei er ihm die Nase blutig schlug. Die Verprügelung<br />
Bagrejews wurde von dazukommenden Offizieren<br />
des Regiments beendet. Wenige Minuten später<br />
erschien Budanow. Auf seine Anordnung holte man<br />
96
Bagrejew aus der Grube. Als Budanow sah, dass Bagrejew<br />
die Fesseln gelöst hatte, befahl er dem Stabszug, ihn<br />
erneut zu fesseln. Als das erfolgt war, schlugen Budanow<br />
und Fjodorow wieder auf Bagrejew ein. Danach wurde<br />
er mit gefesselten Händen und Füßen ein weiteres Mal<br />
in die Grube befördert. Als sich Bagrejew bereits in der<br />
Grube befand, sprang Fjodorow nochmals hinein und<br />
biss Bagrejew in die rechte Augenbraue. <strong>In</strong> der genannten<br />
Grube saß Bagrejew bis zum 27. 03. 2000 um acht Uhr<br />
morgens, dann wurde er auf Befehl Budanows befreit.<br />
Am 26. März gegen Mitternacht beschloss Budanow,<br />
persönlich in das Dorf Tangi zu fahren, obwohl er dazu<br />
keinerlei Anordnung von Seiten der Führung des für die<br />
Anti-Terror-Operation zuständigen Stabs hatte. Budanow<br />
wollte eine ihm vorliegende <strong>In</strong>formation über den<br />
möglichen Aufenthalt von Beteiligten an einer illegalen<br />
bewaffneten Formation im Haus Nr. 7 der Saretschnaja-<br />
Straße überprüfen. Budanow befahl seinen Untergebenen,<br />
den Schützenpanzer Nr. 391 startklar zu machen.<br />
Beim Losfahren nahmen Budanow und die Besatzung<br />
des Schützenpanzers als Bewaffnung Maschinenpistolen<br />
des Typs AK-74 mit. Budanow gab der aus den Soldaten<br />
Grigorjew, Jegorow und Li-en-schou bestehenden Besatzung<br />
zur Kenntnis, dass die Fahrt der Festnahme einer<br />
Heckenschützin diene. Aus diesem Grunde führten die<br />
Mitglieder der Besatzung im Weiteren Budanows Befehle<br />
und Kommandos widerspruchslos aus.<br />
Am 27. März gegen ein Uhr nachts traf Budanow in<br />
Tangi ein. Er ließ den Schützenpanzer in der Saretsch-<br />
97
naja-Straße neben dem Haus Nr. 7 halten, in dem die<br />
Familie Kungajew wohnte. Budanow ging zusammen mit<br />
Grigorjew und Li-en-schou in das Haus. Dort befanden<br />
sich Elsa Wissajewna Kungajewa, geboren am 22. März<br />
1982, und ihre vier minderjährigen Geschwister. Budanow<br />
fragte, wo die Eltern seien. Als er keine Antwort<br />
erhielt, befahl Budanow in fortgesetzter Überschreitung<br />
seiner Dienstvollmachten und unter Verstoß gegen Artikel<br />
13 F3 des föderalen Gesetzbuches (›Über den Kampf<br />
gegen den Terrorismus‹) Li-en-schou und Grigorjew, Elsa<br />
Kungajewa festzunehmen.<br />
Grigorjew und Li-en-schou, die von der Rechtmäßigkeit<br />
ihres Handelns ausgingen, packten Elsa Kungajewa,<br />
wickelten sie in eine Decke, trugen sie zum Schützenpanzer<br />
Nr. 391 und verfrachteten sie in den Heckraum.<br />
Nach der Entführung brachte Budanow Elsa Kungajewa<br />
auf das Gelände der Truppeneinheit 13206, 160. Panzerregiment.<br />
Auf Befehl Budanows trugen Grigorjew, Jegorow<br />
und Li-en-schou die in die Decke gewickelte Elsa<br />
Kungajewa in seinen Wohncontainer und legten sie auf<br />
den Fußboden. Dann erteilte ihnen Budanow den Befehl,<br />
sich in der Nähe des Wohncontainers aufzuhalten und<br />
niemanden hereinzulassen.<br />
Als Budanow mit Elsa Kungajewa allein war, verlangte<br />
er von ihr Auskunft über den möglichen Aufenthaltsort<br />
ihrer Eltern sowie <strong>In</strong>formationen über Truppenbewegungen<br />
der Rebellen in Tangi. Elsa Kungajewa weigerte sich,<br />
doch Budanow, der nicht berechtigt war, sie zu verhören,<br />
bestand auf einer Antwort. Als Elsa Kungajewa alle For-<br />
98
derungen Budanows zurückwies, begann er sie zu schlagen,<br />
wobei er ihr eine Vielzahl von Faustschlägen und<br />
Fußtritten ins Gesicht und andere Körperteile versetzte.<br />
Elsa Kungajewa versuchte sich zu wehren, stieß Budanow<br />
zurück und wollte aus dem Wohncontainer fliehen.<br />
Budanow, der überzeugt war, dass Elsa Kungajewa<br />
zu einer illegalen bewaffneten Formation gehörte und<br />
mitverantwortlich war für den Tod von mehreren seiner<br />
Untergebenen im Januar 2000, beschloss, sie zu töten.<br />
Deshalb packte er sie an der Kleidung, warf sie auf die<br />
hölzerne Pritsche und begann ihr mit der Hand die<br />
Kehle zuzudrücken. Wohl wissend, dass diese Handlung<br />
sie töten würde, und den Tod Elsa Kungajewas billigend<br />
in Kauf nehmend, fuhr Budanow fort, dem Mädchen mit<br />
beiden Händen den Hals zuzudrücken, bis er überzeugt<br />
war, dass sie kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Erst<br />
danach ließ er ihren Hals los.<br />
Die vorsätzlichen Handlungen Budanows bewirkten<br />
bei der Geschädigten den Bruch des rechten großen Zungenbeinhorns,<br />
die Entwicklung einer Asphyxie und den<br />
nachfolgenden Tod. Als Budanow begriff, dass er einen<br />
vorsätzlichen Mord begangen hatte, rief er Grigorjew,<br />
Jegorow und Li-en-schou in den Wohncontainer und<br />
befahl ihnen, die Leiche fortzuschaffen und heimlich<br />
außerhalb des Militärgeländes zu verscharren. Sie brachten<br />
den Körper Elsa Kungajewas fort und vergruben ihn<br />
in einem Waldstück, worüber Grigorjew am Morgen des<br />
27. März 2000 Budanow Meldung erstattete.<br />
Die Angeklagten Budanow und Fjodorow, die bei den<br />
99
Vernehmungen im Zusammenhang mit dem vorliegenden<br />
Strafverfahren die ihnen zur Last gelegten Taten<br />
teilweise eingeräumt hatten, widerriefen später die in der<br />
Anfangsphase der Ermittlungen gemachten Aussagen.«<br />
De r an g e k l a g t e Ju r i Dm i t r i J e W i t s c h Bu D a n o W<br />
»Bei seiner Vernehmung als Zeuge am 27. März 2000<br />
erklärte Budanow, er sei am 25. März nach Tangi gefahren.<br />
<strong>In</strong> einem der Häuser habe er Minen gefunden und<br />
zwei Tschetschenen festgenommen. Zu den Umständen<br />
des Konflikts mit Oberleutnant Bagrejew führte Budanow<br />
aus, niemand habe Bagrejew geschlagen. Bei der<br />
Überprüfung der Gefechtsbereitschaft der Aufklärungskompanie,<br />
die er und Fjodorow am 26. März 2000 gegen<br />
19.00 Uhr durchgeführt hätten, habe die Kompanie den<br />
Befehl ›Fertig zum Gefecht‹ nicht korrekt ausgeführt. Es<br />
sei ein Konflikt entstanden, in dessen Verlauf Bagrejew<br />
gegenüber Fjodorow ausfällig geworden sei. Daraufhin<br />
habe er, Budanow, Bagrejew festnehmen lassen. Budanow<br />
verneinte, dass Fjodorow den Befehl zum Beschuss<br />
des Dorfes Tangi gegeben habe, wie auch die Tatsache<br />
der Eröffnung des Feuers. Am Ende der Vernehmung<br />
äußerte Budanow die Absicht, ein schriftliches Geständnis<br />
ablegen zu wollen über die von ihm verübte Tötung<br />
einer Verwandten von Bürgern, die sich an Bandenformationen<br />
auf dem Territorium Tschetscheniens beteiligten.<br />
Anschließend legte Budanow am 27. März 2000 in<br />
seinem an den Militärstaatsanwalt des Militärbezirks<br />
100
Nordkaukasus gerichteten Geständnis eigenhändig dar :<br />
Am 26. März 2000 sei er zum östlichen Ortsrand von<br />
Tangi gefahren mit dem Ziel der Vernichtung oder Gefangennahme<br />
einer Heckenschützin. Nach seinem Eintreffen<br />
in Tangi um 0.20 Uhr sei er in das Haus am Rande des<br />
Dorfes gegangen. Dort hätten sich zwei Mädchen und<br />
zwei Jungen aufgehalten. Auf die Frage, wo die Eltern<br />
seien, habe die älteste Tochter geantwortet, sie wisse es<br />
nicht. Worauf er seinen Untergebenen den Befehl erteilt<br />
habe, das Mädchen in eine Decke zu wickeln und in<br />
das Fahrzeug zu bringen. Auf dem Militärgelände habe<br />
man sie in seinen Wohncontainer getragen. Als er mit<br />
dem Mädchen allein gewesen sei, habe er sie nach dem<br />
Aufenthaltsort der Mutter gefragt, weil er auf Grund<br />
operativer <strong>In</strong>formationen davon ausgehen musste, dass<br />
sie als Heckenschützin bei den Rebellen kämpfte. Das<br />
Mädchen habe geantwortet, schlecht Russisch zu sprechen<br />
und nicht zu wissen, wo die Eltern seien. Worauf er,<br />
Budanow, versetzt hätte, sie müsse wissen, wo sich ihre<br />
Mutter aufhalte und wie viele russische Armeeangehörige<br />
sie umgebracht habe. Das Mädchen habe zu schreien und<br />
zu beißen begonnen, sich losreißen wollen. Deshalb sei<br />
er zur Gewaltanwendung gezwungen gewesen. Es habe<br />
einen Kampf gegeben, bei dem Strickjacke und Büstenhalter<br />
des Mädchens zerrissen worden seien. Weil sie sich<br />
noch immer habe losreißen wollen, habe er das Mädchen<br />
auf die Pritsche geworfen und gewürgt. Mit der rechten<br />
Hand am Hals. Die Unterwäsche habe er dem Mädchen<br />
nicht ausgezogen. Nach ungefähr zehn Minuten sei sie<br />
101
still geworden, und er habe ihren Puls kontrolliert. Das<br />
Mädchen sei tot gewesen. Auf seinen Befehl hätte die<br />
Besatzung des Schützenpanzers die Leiche wieder in<br />
die Decke gewickelt, in ein Waldstück in der Nähe des<br />
Panzerbataillons gefahren und vergraben.<br />
Bei seiner Vernehmung als Verdächtiger am 28. März<br />
2000 sagte Budanow aus, ihm sei am 3. März 2000 aus<br />
operativen Quellen bekannt geworden, dass in Tangi<br />
eine Heckenschützin wohne, die auf Seiten der Rebellen<br />
kämpfe. Man habe ihm ihr Foto gezeigt. Diese <strong>In</strong>formationen<br />
hätten von einem Dorfbewohner gestammt, der<br />
offene Rechnungen mit den Rebellen begleichen wollte.<br />
Der Mann habe ihm etwa am 13. oder 14. Mai 2000 das<br />
letzte Haus am östlichen Ortsrand von Tangi gezeigt, in<br />
dem die Heckenschützin wohnen sollte. Am 24. März<br />
2000 sei er an dem Haus vorbeigefahren, aber nicht hineingegangen.<br />
Den weiteren Verlauf stellte Budanow wie<br />
folgt dar :<br />
Am 26. März fuhr er zu diesem Haus. Seinen <strong>In</strong>formationen<br />
zufolge sollte sich die Heckenschützin in der<br />
Nacht vom 26. zum 27. März dort aufhalten. Er betrat<br />
das Haus. Keiner der Bewohner schlief, alle waren angezogen.<br />
Budanow fragte, wo der Hausherr sei, die älteste<br />
Tochter erwiderte, sie wisse es nicht. Da befahl er seinen<br />
Untergebenen, sie mitzunehmen. Sie kehrten auf das<br />
Militärgelände zurück, und er blieb mit dem Mädchen<br />
allein in seinem Wohncontainer.<br />
Sie begann zu schreien, ihn unflätig zu beschimpfen,<br />
102
versuchte aus dem Wohncontainer zu fliehen. Er packte<br />
sie und stieß sie auf das Bett, wobei er ihre Strickjacke<br />
zerriss. Er schleppte sie in den hintersten Winkel des<br />
Containers, warf sie auf die hölzerne Pritsche und begann<br />
ihr mit der rechten Hand die Kehle zuzudrücken.<br />
Sie leistete Widerstand, und als Folge des Kampfes zerriss<br />
er ihr die Oberbekleidung. Nach ungefähr zehn Minuten<br />
wurde sie ruhig. Er kontrollierte ihren Puls, fühlte<br />
aber keinen Pulsschlag mehr. Er rief nach der Besatzung<br />
des Schützenpanzers. Der Besatzungskommandeur und<br />
der Fernschreiber betraten den Wohncontainer. Zu dieser<br />
Zeit lag das Mädchen im hinteren Teil, nackt, nur mit<br />
einem Schlüpfer bekleidet. Er beauftragte die beiden Soldaten,<br />
sie wieder in die Decke zu wickeln, in der sie hergebracht<br />
worden war, und sie zu begraben. Er, Budanow,<br />
habe die Beherrschung verloren, weil das Mädchen nicht<br />
sagen wollte, wo sich die Mutter aufhielt, die nach seinen<br />
<strong>In</strong>formationen zwischen dem 15. und dem 20. Januar 2000<br />
mit einem Scharfschützengewehr in der Argun-Schlucht<br />
zwölf Soldaten und Offiziere erschossen hatte.<br />
Bei seiner Vernehmung als Beschuldigter am 30.03.2000<br />
legte Budanow ein Teilgeständnis ab und sagte Folgendes<br />
aus : Am 23. März 2000 habe er zwei Tschetschenen<br />
festgenommen. <strong>In</strong> dem Haus, in dem sie sich aufhielten,<br />
seien sechzig 80-Millimeter-Minen gefunden worden.<br />
Einer der Tschetschenen mit Namen Schamil sei bereit<br />
gewesen, ihm alle Häuser zu zeigen, in denen Rebellen<br />
wohnten, wenn er dafür freigelassen würde. Budanow<br />
103
drückte Schamil eine Soldatenmütze auf den Kopf, setzte<br />
ihn in einen Schützenpanzer und fuhr mit ihm durch<br />
das Dorf. Schamil sei es gewesen, der ihm, Budanow, das<br />
Haus am östlichen Dorfrand gezeigt und erklärt habe,<br />
dort wohne die Scharfschützin. Außerdem habe er noch<br />
fünf oder sechs andere Häuser von Rebellen identifiziert.<br />
Von Schamil stamme auch die <strong>In</strong>formation, dass die<br />
Scharfschützin nachts oft nach Hause käme und von<br />
ihrer Tochter ständig über Angehörige der russischen<br />
Streitkräfte auf dem Laufenden gehalten werde.<br />
Budanow änderte seine Aussagen über das Verhalten<br />
Elsa Kungajewas teilweise, indem er erklärte, sie habe<br />
gesagt, auch ihn würde man noch erwischen, er und die<br />
anderen kämen nicht lebend aus Tschetschenien heraus,<br />
sie habe Flüche ausgestoßen und sei dann zum Ausgang<br />
des Wohncontainers gelaufen. Ihre Worte hätten ihn zur<br />
Weißglut gebracht. Er habe sie an der Strickjacke gepackt<br />
und auf die Pritsche geworfen. Seiner Darstellung nach<br />
wollte Elsa Kungajewa die Pistole an sich nehmen, die<br />
auf dem Tisch neben der Pritsche lag. Daraufhin drückte<br />
er ihr mit der rechten Hand den Hals zu, mit der linken<br />
hielt er ihren Arm fest, damit sie die Pistole nicht ergreifen<br />
konnte. Elsa Kungajewa versuchte freizukommen,<br />
dabei zerriss die gesamte Oberbekleidung. Er nahm die<br />
Hand nicht von ihrem Hals, nach etwa zehn Minuten<br />
wurde das Mädchen ruhig.«<br />
104
Hier muss etwas klargestellt werden :<br />
Die allmählichen Veränderungen in Budanows Aussagen<br />
während der Ermittlungen sind darauf zurückzuführen,<br />
dass sich Kreml und Militärführung des Landes<br />
von dem Schock zu erholen begannen, den ihnen das<br />
Vorgehen der unverhofft mutig gewordenen Staatsanwaltschaft<br />
mit der Verhaftung eines hoch dekorierten<br />
Obersts der kämpfenden Truppe versetzt hatte. Die<br />
Obrigkeit begann Druck auszuüben auf die Ermittler,<br />
die die Vernehmungen führten. Und Budanow von da<br />
an in den Mund legten, was er sagen sollte, damit die<br />
juristischen Konsequenzen seiner Verbrechen möglichst<br />
gering ausfielen oder er möglicherweise sogar ungestraft<br />
davonkam.<br />
»Bei einer zusätzlichen Vernehmung am 26. September<br />
2000 konkretisierte der Beschuldigte Budanow seine<br />
Aussagen hinsichtlich der Frage, woher er wisse, dass<br />
die Kungajewas an einer illegalen bewaffneten Formation<br />
beteiligt waren. Die <strong>In</strong>formation stamme von einem<br />
Tschetschenen, mit dem er sich im Januar und Februar<br />
2000, nach den Kämpfen in der Argun-Schlucht, getroffen<br />
habe. Der Tschetschene habe ihm ein Foto übergeben,<br />
auf dem die Kungajewa mit einer Scharfschützenpistole<br />
zu sehen gewesen sei.<br />
Bei seiner Vernehmung am 4. Januar 2001 sagte Budanow<br />
aus, er bekenne sich nicht schuldig im Hinblick<br />
auf die Entführung der Kungajewa. Er glaubte richtig<br />
105
zu handeln, entsprechend der ihm zur Verfügung stehenden<br />
operativen <strong>In</strong>formationen. Als er Elsa Kungajewa<br />
sah, erkannte er sie wieder anhand des Fotos, das<br />
ihm übergeben worden war. Er erteilte Grigorjew und<br />
Li-en-schou den Befehl, Elsa Kungajewa festzunehmen,<br />
um sie den Rechtsschutzorganen zu überantworten. Was<br />
er dann jedoch nicht tat in der Hoffnung, selbst bei der<br />
Verhafteten in Erfahrung bringen zu können, wo sich die<br />
Rebellen aufhielten, und schnellstmöglich Maßnahmen<br />
zu deren Ergreifung einzuleiten.<br />
Ebenso war ihm bewusst, dass die Rebellen, wenn sie<br />
von der Verhaftung Kungajewas erfuhren, alles unternehmen<br />
würden, um das Mädchen zu befreien. <strong>In</strong>sbesondere<br />
aus diesem Grund beschloss er, sofort in das Regiment<br />
zu fahren. Außerdem sind nachts alle Bewegungen von<br />
Militärfahrzeugen über größere Entfernungen verboten.<br />
Er hielt sich jedoch im Zuständigkeitsbereich des Regiments<br />
auf, wo dieses Verbot nicht galt. Der Beschuldigte<br />
bekennt sich der vorsätzlichen Ermordung Elsa Kungajewas<br />
nicht für schuldig, weil er keine Absicht gehegt habe,<br />
ihren Tod herbeizuführen, er sei sehr erregt gewesen und<br />
könne nicht erklären, wie es dazu gekommen sei, dass<br />
er sie erstickt habe.«<br />
De r an g e k l a g t e iW a n iW a n o W i t s c h fJ o D o r o W<br />
»Bei seiner Vernehmung als Zeuge am 3. April 2000<br />
sagte Fjodorow aus, am 26. März 2000 hätten er, Hauptmann<br />
Arsumanjan und Budanow kontrolliert, ob in der<br />
106
Aufklärungskompanie Ordnung herrsche. Nach der <strong>In</strong>spektion<br />
habe er Bagrejew den vorläufigen Befehl ›Angriff<br />
auf Kommandozentrale, Feuerlinie einnehmen‹ erteilt<br />
und ihm gezeigt, wo diese Feuerlinie verlief. Anschließend<br />
habe er Bagrejew zu sich beordert und gefragt, warum<br />
die Startfahrzeuge nicht in den entsprechenden Positionen<br />
stünden. An die Antwort Bagrejews könne er sich<br />
nicht erinnern. Wahrscheinlich habe er dann Bagrejew<br />
grob beschimpft und ihn an der Kleidung gepackt.<br />
Budanow und Arsumanjan seien zur Kommandozentrale<br />
gegangen. Er wisse nicht mehr, wer den Befehl gegeben<br />
habe, Bagrejew an Händen und Füßen zu fesseln,<br />
die Soldaten des Stabszugs hätten jedoch dessen Hände<br />
zusammengebunden. Dann sei er zu Bagrejew gegangen<br />
und habe ihm mehrere Schläge versetzt. Wie, daran könne<br />
er sich nicht erinnern. Danach habe man Bagrejew auf<br />
seinen Befehl hin in die Grube gesteckt. Er, Fjodorow, sei<br />
auch noch hinuntergesprungen, um ihm ordentlich die<br />
Meinung zu sagen.<br />
Arsumanjan habe ihn aus der Grube gezogen. Dass<br />
Budanow in der Nacht nach Tangi gefahren war, sei<br />
ihm erst zur Kenntnis gelangt, als eine Stabskommission<br />
der Truppengruppierung ›West‹ in der Einheit eingetroffen<br />
sei.<br />
Um den 20. März 2000 herum habe er bei Budanow<br />
die Kopie eines Fotos gesehen, das eine Frau zeigte, die<br />
nach Budanows Worten eine Heckenschützin war. Wie<br />
Budanow weiter gesagt habe, wohne sie in Tangi, und er<br />
müsse sie finden. Dem Anschein nach konnte die Frau<br />
107
nicht älter als 30 Jahre sein. Um den 25. März herum<br />
sei Budanow nach Tangi gefahren, und ein Tschetschene<br />
habe ihm die Häuser gezeigt, in denen Rebellen wohnten.<br />
Bei einer Untersuchung von Fjodorows Notizblock<br />
wurde festgestellt, dass sich auf der Rückseite von Blatt<br />
Nr. 8 eine Eintragung befand : Schamil Sambijew. Darunter<br />
stand : Sarezkaja-Straße, Haus 7, Idolbek Chungajew.<br />
Das Blatt wurde den Verfahrensakten als Beweisstück<br />
beigefügt.<br />
Danach befragt, sagte Fjodorow aus, der Eintrag auf<br />
Seite Nr. 8 bedeute, dass es Schamil Sambijew gewesen<br />
sei, der ihnen in Tangi die Häuser gezeigt habe, in denen<br />
Rebellen wohnten. Es seien nur zwei Adressen festgehalten,<br />
weil der Tschetschene die anderen nicht genau<br />
zu benennen wusste und ihnen die Häuser – insgesamt<br />
zehn – nur zeigen konnte.<br />
Bei seiner Vernehmung am 24. November 2000 sagte<br />
Fjodorow aus, er habe am 26. März 2000 Bagrejew den<br />
Befehl ›Fertig zum Gefecht, Gegner aus Richtung Tangi‹<br />
erteilt und danach die Handlungen der Aufklärer überwacht.<br />
Das Kommando sei von Bagrejew wiederholt worden.<br />
Er, Fjodorow, habe bemerkt, dass Bagrejew dabei<br />
unqualifiziert vorging, weswegen er wütend geworden<br />
sei. Im Weiteren habe er von Bagrejew eine ordnungsgemäße,<br />
der Gefechtseinteilung entsprechende Ausführung<br />
der Aufgaben seitens der Mannschaft verlangt und diese<br />
auch durchgesetzt.<br />
Da bei der <strong>In</strong>spektion zu Tage getreten sei, dass der<br />
Kompaniechef sich nur unzureichend in der Situation<br />
108
zurechtfand habe er, Fjodorow, beschlossen, die Überprüfung<br />
bis zum Ende durchzuführen und zu beobachten,<br />
wie die Mannschaft die Gefechtsaufgabe einer<br />
Bekämpfung durch Raketenbeschuss bewältige. Deshalb<br />
habe er Bagrejew befohlen, unter Munitionseinsatz von<br />
1 Rakete pro Startfahrzeug das Feuer auf ein einzeln<br />
stehendes Gebäude am Rande von Tangi zu eröffnen.<br />
Diese Entscheidung sei auch dadurch beeinflusst gewesen,<br />
dass ihr Panzerregiment mehrfach von diesem Haus<br />
aus beobachtet worden sei. Bezüglich des Konflikts mit<br />
Bagrejew räumte Fjodorow ein, die Tatsache, dass er<br />
sich so in einem Menschen täuschen konnte, habe ihn<br />
außerordentlich verstimmt und quasi zu den weiteren<br />
Handlungen angestachelt.<br />
Bei seiner Vernehmung am 26. Dezember 2000 sagte Fjodorow,<br />
er sei nicht damit einverstanden, dass der Wert<br />
des zerstörten Hauses mit 150 000 Rubeln veranschlagt<br />
wurde. Dieses Haus habe vor dem Raketeneinschlag am<br />
26. März bereits erhebliche Schäden erlitten im Zusammenhang<br />
mit den massiven Kampfhandlungen zwischen<br />
föderalen Streitkräften und Bandenformationen am Ortsrand<br />
von Tangi im Dezember 1999. Vor Erteilung des<br />
Feuerbefehls sei ihm glaubhaft bekannt gewesen, dass es<br />
Fälle eines Beschusses ihrer Einheit aus der Umgebung<br />
dieses Hauses gegeben habe.<br />
Die Schuld Budanows und Fjodorows an den ihnen<br />
zur Last gelegten Taten wird nicht nur durch die abgelegten<br />
Teilgeständnisse, sondern darüber hinaus auch durch<br />
109
die Gesamtheit der im Zuge des Ermittlungsverfahrens<br />
gesammelten Beweise bestätigt.<br />
Der Geschädigte Wissa Umarowitsch Kungajew, Tschetschene,<br />
geboren am 19. April 1954, verheiratet, Agronom<br />
in der Sowchose Urus-Martan, Vater der Elsa Kungajewa,<br />
sagte Folgendes aus :<br />
Elsa war die älteste Tochter. Außer ihr hat die Familie<br />
noch vier Kinder. Ihrem Charakter nach war Elsa sehr<br />
bescheiden, ruhig, arbeitsam, ordentlich und ehrlich.<br />
Die gesamte Hausarbeit lag auf ihren Schultern, da die<br />
Mutter krank ist und nicht arbeiten kann. Aus diesem<br />
Grund versorgte Elsa auch die jüngeren Geschwister. Ihre<br />
Freizeit verbrachte sie stets zu Hause, unternahm keine<br />
Besuche, traf sich nicht mit Jungen. Personen männlichen<br />
Geschlechts gegenüber zeigte sie Scheu, intime<br />
Beziehungen unterhielt sie nicht. Elsa war auf gar keinen<br />
Fall eine Heckenschützin, hatte nicht das Geringste mit<br />
Bandenformationen zu tun.<br />
Am 26. März 2000 ging Wissa Kungajew mit seiner<br />
Frau und den Kindern wählen, danach verrichteten sie<br />
häusliche Arbeiten. Seine Frau machte sich für einen<br />
Besuch bei ihrem Bruder Alexej in Urus-Martan fertig<br />
und fuhr gegen 15.00 Uhr los. Der Geschädigte blieb mit<br />
den Kindern allein zu Hause.<br />
Gegen 21.00 Uhr gingen sie zu Bett, weil es keinen<br />
Strom gab. Wissa Kungajew schlief auf dem Sofa in der<br />
Sommerküche. Am 27. März gegen 0.30 Uhr erwachte<br />
er vom Lärm eines Gefechtsfahrzeugs. Es hielt gegen-<br />
110
über ihrem Haus. Er blickte aus dem Fenster und sah<br />
mehrere Personen zu ihnen herüber kommen. Wissa<br />
Kungajew rief Elsa und bat sie, schnell die anderen Kinder<br />
zu wecken, anzuziehen und fortzubringen, weil das<br />
Haus von Soldaten umstellt werde. Er selbst lief auf die<br />
Straße, zu seinem Bruder Adlan, der zwanzig Meter entfernt<br />
wohnt.<br />
Adlan war zu der Zeit bereits in umgekehrter Richtung<br />
unterwegs und betrat das Haus der Kungajews durch den<br />
Haupteingang. Aus der Schilderung seines Bruders wisse<br />
er, Kungajew, dass Adlan dort Oberst Budanow sah, den<br />
er erkannte, weil Budanows Foto bereits in der Zeitung<br />
›Krasnaja swesda‹ abgebildet war.<br />
Budanow habe gefragt : ›Wer bist du denn ?‹ Nach Adlans<br />
Antwort : ›Der Bruder des Hausherrn‹, habe Budanow<br />
in grober Form verlangt : ›Hau ab !‹ Adlan sei aus<br />
dem Haus gelaufen und habe laut gerufen. Aus der Schilderung<br />
der Kinder wisse er, Kungajew, dass Budanow<br />
dann den Soldaten befahl, Elsa zu packen. Sie schrie.<br />
Die Soldaten wickelten Elsa in eine Decke und trugen<br />
sie auf die Straße. Wegen des Vorfalls liefen sämtliche<br />
Verwandten zusammen, die noch in derselben Nacht<br />
versuchten, Elsa zu finden.<br />
Kungajew wandte sich an den Leiter der Dorfverwaltung,<br />
an die Militärkommandanten der Siedlung Tangi<br />
und des Kreises Urus-Martan. Morgens um 6.00 Uhr<br />
fuhr er mit dem Auto in die Kreisstadt, um seine Tochter<br />
vermisst zu melden und offiziell nach ihr suchen<br />
zu lassen. Am 27. März gegen Abend erfuhr er, dass<br />
111
Elsa umgebracht wurde. Nach Kungajews Auffassung<br />
hat Budanow sie entführt und vergewaltigt, weil sie ein<br />
hübsches Mädchen war.<br />
Der Zeuge A. S. Magamajew sagte aus, er wohne neben<br />
den Kungajews. Die Familie lebe ärmlich, arbeite hauptsächlich<br />
auf dem Feld. Elsa kenne er seit ihrer Geburt.<br />
Sie sei ein schüchternes Mädchen, zu Altersgefährten<br />
männlichen Geschlechts habe sie keine Beziehungen<br />
unterhalten. Er könne mit Sicherheit sagen, dass Elsa<br />
niemals an Bandenformationen beteiligt gewesen sei.<br />
Im Zuge der Ermittlungen konnten Kontakte E. W.<br />
Kungajewas zu illegalen bewaffneten Formationen oder<br />
ihre Beteiligung an deren Aktivitäten nicht nachgewiesen<br />
werden. Der als Zeuge vernommene Iwan Alexandrowitsch<br />
Makarschanow, ehemaliger Angehöriger des Truppenteils<br />
13206, sagte aus : Am Abend des 26. März 2000<br />
wurde im Stabszug Alarm ausgelöst. Die Mannschaft<br />
musste auf Befehl des Regimentskommandeurs den Kommandeur<br />
der Aufklärungskompanie Bagrejew fesseln. Er<br />
lag auf dem Boden. Budanow und Fjodorow versetzten<br />
ihm jeweils mindestens drei Fußtritte. Alles ging sehr<br />
schnell. Danach wurde Bagrejew in eine Grube, in einen<br />
so genannten ›Sindan‹, gesteckt.<br />
Einige Zeit später, als es bereits dunkel war, hörte<br />
Makarschanow Schreie und Stöhnen. Er verließ das Zelt<br />
und sah, dass sich in der Grube, in die man Bagrejew<br />
geworfen hatte und die etwa 15–20 Meter vom Zelt entfernt<br />
lag, auch Budanow und Fjodorow befanden. Fjodo-<br />
112
ow versetzte Bagrejew Faustschläge ins Gesicht. Budanow<br />
stand daneben. Jemand leuchtete die Grube mit<br />
einer Taschenlampe aus, deshalb konnte Makarschanow<br />
alles deutlich erkennen. Dann wurde Fjodorow aus der<br />
Grube gezogen.<br />
Am 27. März hielt er, Makarschanow, sich bis zwei<br />
Uhr nachts in Fjodorows Zelt auf, um den Ofen zu heizen.<br />
Gegen ein Uhr hörte er, wie ein Schützenpanzer zu<br />
Budanows Wohncontainer fuhr. Hinter dem Zeltvorhang<br />
hervor beobachtete Makarschanow, was geschah. Er sah,<br />
wie vier Männer (einer von ihnen Budanow selbst) in<br />
den Wohncontainer gingen. Ein Mann trug eine Art<br />
Bündel auf der Schulter, das der Größe nach etwa einem<br />
menschlichen Körper entsprach. An einer Seite hingen<br />
aus dem Bündel lange Haare, wie sie Frauen oder junge<br />
Mädchen tragen.<br />
Derjenige, der das Bündel auf der Schulter hatte, öffnete<br />
die Tür, trug es in den Wohncontainer und legte<br />
es auf den Boden. Weil im Wohncontainer zu dieser<br />
Zeit Licht brannte, konnte Makarschanow alles sehen.<br />
Budanow betrat den Wohncontainer. Die Entfernung<br />
von der Stelle im Zelt, wo sich Makarschanow befand,<br />
bis zum Container betrug höchstens 8–10 Meter. Die<br />
gesamte Zeit nach Budanows Ankunft standen drei Soldaten<br />
von der Besatzung des Schützenpanzers vor dem<br />
Wohncontainer.<br />
Der als Zeuge vernommene J. G. Mischurow, ehemaliger<br />
Angehöriger des Truppenteils 13206, sagte aus, er<br />
habe am 27. März um zwei Uhr nachts seinen Dienst<br />
113
im Zelt des Stabschefs angetreten. Er sah, dass neben<br />
dem Wohncontainer Budanows zwei Soldaten von der<br />
Besatzung des Schützenpanzers standen. Gegen 3.30 Uhr<br />
fuhr der Schützenpanzer weg, kam gegen 5.50 Uhr in die<br />
Einheit zurück und wurde in der Nähe des Wohncontainers<br />
abgestellt.<br />
Der Zeuge Viktor Alexejewitsch Kolzow diente ab dem<br />
1. Februar 2000 als Zeitsoldat im Truppenteil 13206. <strong>In</strong><br />
der Nacht war er ab 23.00 Uhr als Posten eingeteilt, um<br />
die Grube zu bewachen, in der sich der Kompaniechef<br />
befand. <strong>In</strong> dieser Nacht verließ Budanow mit einem<br />
Schützenpanzer das Lager. Nach ungefähr dreißig Minuten<br />
kehrte der Schützenpanzer in die Einheit zurück,<br />
etwa 100 Meter vor dem Stellplatz des Fahrzeugs schrie<br />
Budanow den Fahrer an : ›Mach das Licht aus !‹ Ohne<br />
Beleuchtung fuhr der Schützenpanzer zum Wohncontainer.<br />
Dann hörte Kolzow, wie die Hecktür des Schützenpanzers<br />
klappte und die Tür des Wohncontainers<br />
aufging. Als er von seinem Posten abgelöst wurde und<br />
die Unterkunft betrat, traf er Makarschanow, den Heizer<br />
des Stabschefs. Der erzählte ihm, der Kommandeur<br />
habe ›wieder ein Weib angeschleppt‹.<br />
Der Zeuge Alexander Michailowitsch Saifullin leistete<br />
ab August 1999 seinen Wehrdienst im Truppenteil 13206.<br />
Ende Januar 2000 wurde ihm die Beheizung von Budanows<br />
Wohncontainer übertragen. Am 27. März ungefähr<br />
gegen 5.15 Uhr ging er in den Wohncontainer des Kom-<br />
114
mandeurs, um Brennmaterial nachzulegen. Budanow lag<br />
nicht wie gewohnt im hinteren Teil des Wohncontainers,<br />
sondern auf der rechten Pritsche. Der Fußbodenbelag<br />
war verrutscht und schlug Falten. Die Uhr, die sonst<br />
über Budanows Bett hing, stand neben der rechten Pritsche<br />
auf dem Fußboden, nahe der Tür. Durch den ein<br />
wenig zur Seite gezogenen Vorhang zwischen Schlafteil<br />
und vorderem Teil des Containers sah Saifullin, dass<br />
Budanows Bett nicht hergerichtet war. Budanow schlief.<br />
Gegen sieben Uhr morgens ging Saifullin in den Wohncontainer,<br />
um dem Kommandeur einen Eimer Waschwasser<br />
zu bringen. Budanow befahl ihm, um 7.15 Uhr<br />
wiederzukommen.<br />
Der Kommandeur gab Anweisung, den Wohncontainer<br />
aufzuräumen, zeigte mit dem Kopf auf das Bett<br />
und sagte, Saifullin solle die Zudecke und die gesamte<br />
Bettwäsche wechseln. Als sich Saifullin an die Arbeit<br />
machte, bemerkte er, dass die Decke auf dem Bett nass<br />
war. Der Fleck befand sich ungefähr 20 cm vom Fußende<br />
entfernt an der Wandseite. Als Saifullin die Decke anhob,<br />
erblickte er auf dem Laken einen 15 × 15 cm großen gelben<br />
Fleck. Er wechselte die Bettwäsche. Danach gab<br />
ihm Budanow eine Stunde Zeit, um den Wohncontainer<br />
gründlich zu reinigen. Als Saifullin das Bettzeug von der<br />
Holzpritsche im hinteren Teil nahm, stellte er fest, dass<br />
das Laken in der linken Ecke nass war.<br />
Die Durchsuchung von Budanows Wohncontainer am<br />
27. März 2000 ergab : Auf dem hinteren Bett lag eine<br />
nasse Matratze, die nach Urin roch.<br />
115
Im Zuge der Ermittlungen wurden die Bettwäsche und<br />
die Zudecke aus dem Wohncontainer sichergestellt. Die<br />
Bettwäsche ist den Verfahrensdokumenten als Beweisstück<br />
beigefügt. Die <strong>In</strong>augenscheinnahme des Lakens<br />
ergab, dass es gelbe Flecke aufwies.<br />
Der Zeuge Valeri Wassiljewitsch Gerassimow hatte vom<br />
5. März bis zum 20. April 2000 den Oberbefehl über die<br />
Truppengruppierung ›West‹. Am Morgen des 27. März<br />
erfuhr er vom Militärkommandanten des Kreises Urus-<br />
Martan, dass in der Nacht ein Mädchen aus Tangi entführt<br />
worden war und Soldaten verdächtigt würden. Gerassimow<br />
setzte sich mit den Kommandeuren von drei<br />
Regimentern, darunter auch mit Budanow als Befehlshaber<br />
des 160. Panzerregiments, in Verbindung und gab<br />
Befehl, das Mädchen binnen dreißig Minuten aufzufinden<br />
und zurückzubringen. Zusammen mit General Alexander<br />
Iwanowitsch Werbizki fuhr er zuerst zum 245.,<br />
anschließend zum 160. Regiment.<br />
Im 160. Regiment wurde Gerassimow von Budanow<br />
persönlich empfangen, der ihm meldete, im Regiment<br />
sei alles in Ordnung, über das verschwundene Mädchen<br />
habe er nichts in Erfahrung bringen können. Gerassimow<br />
und Werbizki fuhren weiter nach Tangi, wo sich<br />
zu der Zeit alle Einwohner versammelt hatten. Der Vater<br />
des verschwundenen Mädchens erklärte, in der Nacht<br />
seien ein Oberst und mehrere Soldaten mit einem Schützenpanzer<br />
in das Dorf gekommen, hätten seine Tochter<br />
in eine Decke gewickelt und fortgebracht. Die Einwoh-<br />
116
ner gaben an, diesen Oberst zu kennen, er befehlige das<br />
Panzerregiment. Gerassimow und Werbizki wollten das<br />
zunächst nicht glauben. Aus dem Dorf fuhren sie wieder<br />
in das Panzerregiment zurück, Budanow war nicht<br />
da. Er, Gerassimow, ordnete daraufhin an, Maßnahmen<br />
zur Festnahme Budanows zu ergreifen.«<br />
An dieser Stelle ist eine Erläuterung notwendig :<br />
<strong>In</strong> den Streitkräften der Russischen Föderation gilt die<br />
Vorschrift, dass Militärangehörige nur mit Genehmigung<br />
und auf Anordnung ihrer Vorgesetzten verhaftet werden<br />
dürfen. <strong>In</strong> Bezug auf Budanow konnte also nur General<br />
Gerassimow einen derartigen Befehl erteilen. Dass es<br />
also überhaupt einen Fall Budanow und einen Budanow-<br />
Prozess gab, verdanken wir in erster Linie Valeri Gerassimow.<br />
Immerhin verweigern die meisten Kommandeure<br />
in Tschetschenien nicht nur der Staatsanwaltschaft die<br />
Erlaubnis, ihre Untergebenen festzunehmen, wenn diese<br />
Kriegsverbrechen begangen haben, sondern decken die<br />
Schuldigen auch noch in jedweder Weise. Angesichts<br />
der Zustände in der Zone der »Anti-Terror-Operation«<br />
stellte General Gerassimows Entscheidung zweifellos<br />
einen kühnen Schritt dar, der ihn durchaus die Karriere<br />
hätte kosten können. Das verhinderte jedoch die<br />
große öffentliche Aufmerksamkeit, die der Fall Budanow<br />
erregte, und in der Folgezeit avancierte General Gerassimow<br />
sogar zum Befehlshaber der 58. Armee.<br />
117
»Nach seiner Festnahme wurde Budanow nach Chankala<br />
in das Hauptquartier der russischen Streikräfte in Tschetschenien<br />
überstellt. Am Abend desselben Tages gestand<br />
der Fahrer des Schützenpanzers, dass sie in der Nacht<br />
des 27. März ein Mädchen in die Einheit gebracht und zu<br />
Budanow in den Wohncontainer getragen hätten. Zwei<br />
Stunden später habe Budanow sie zu sich befohlen, da sei<br />
das Mädchen schon tot gewesen. Auf Befehl Budanows<br />
hätten sie die Leiche fortgebracht und vergraben.<br />
Am Morgen des 28. März wurde die Leiche exhumiert<br />
und in das Sanitätsbataillon überführt. Nach der Untersuchung<br />
sowie einer anschließenden Reinigung des<br />
Leichnams erfolgte die Auslieferung an die Eltern.<br />
Der als Zeuge vernommene Igor Wladimirowitsch Grigorjew<br />
sagte aus : Am 27. März 2000 befahl ihnen Budanow<br />
nach der Rückkehr auf das Militärgelände, das in<br />
eine Decke gewickelte Mädchen in seinen Wohncontainer<br />
zu tragen, sich in der Nähe des Containers zu<br />
postieren und aufzupassen, dass niemand hereinkam.<br />
Budanow selbst blieb mit dem Mädchen allein im Wohncontainer.<br />
Etwa 10 Minuten, nachdem sie den Container<br />
verlassen hatten, schrie eine Frauenstimme, auch die<br />
Stimme Budanows war zu hören, danach ertönte Musik<br />
im Wohncontainer. Einzelne Schreie der Frau hörten sie<br />
noch eine Weile.<br />
Budanow war ungefähr 1,5 bis 2 Stunden mit dem<br />
Mädchen im Container. Etwa 2 Stunden später rief Budanow<br />
alle drei Besatzungsmitglieder des Schützenpan-<br />
118
zers herein. Die Frau lag nackt auf dem Bett, das Gesicht<br />
bläulich angelaufen. Auf dem Fußboden war die<br />
Decke ausgebreitet, in der sie sie hergebracht hatten. Auf<br />
der gleichen Decke lag ihre Kleidung. Budanow befahl<br />
ihnen, die Frau heimlich fortzubringen und zu vergraben.<br />
Was sie anschließend taten. Sie hüllten den Körper<br />
in das Plaid, brachten ihn im Schützenpanzer Nr. 391<br />
vom Militärgelände und vergruben die Leiche, worüber<br />
er, Grigorjew, am Morgen des 27. März Budanow Meldung<br />
erstattete.<br />
Bei seiner Vernehmung am 17. Oktober 2000 erklärte<br />
Grigorjew : Ungefähr 10–20 Minuten, nachdem sie den<br />
Wohncontainer verlassen hatten, begann Budanow zu<br />
schreien, was genau, konnte er, Grigorjew, nicht hören.<br />
Ebenso waren einige Aufschreie des Mädchens zu hören,<br />
die angstvoll klangen. Als sie auf Anordnung Budanows<br />
den Wohncontainer betraten, sahen sie das Mädchen<br />
ohne ein Lebenszeichen vollkommen unbekleidet auf<br />
der hölzernen Pritsche liegen. Der Körper lag auf dem<br />
Rücken, das Gesicht nach oben. Auf dem Fußboden<br />
befand sich eine Decke, darauf Kleidung – Schlüpfer,<br />
eine Strickjacke, noch etwas. Am Hals des Mädchens<br />
waren blaue Flecke erkennbar, die wie Würgemale aussahen.<br />
Budanow zeigte auf das Mädchen und sagte mit<br />
eigentümlichem Gesichtsausdruck : ›Das hast du Hündin<br />
abgekriegt für Rasmachin und für die Jungs, die auf der<br />
Höhe umgekommen sind.‹<br />
119
Bei der Untersuchung der Leiche Kungajewas wurden<br />
folgende Verletzungen festgestellt : Hautabschürfungen<br />
und Blutergüsse im oberen Drittel der vorderen Halsseite,<br />
Blutergüsse im Weichgewebe des Halses, Zyanose,<br />
aufgedunsenes Gesicht, punktförmige Blutungen in der<br />
Gesichtshaut und der Schleimhaut der Mundhöhle, intrakonjunktivale<br />
Blutungen, Blutergüsse im Pleuraraum,<br />
Perikardblutungen ; Ekchymosen in der rechten Unteraugenhöhlengegend,<br />
der <strong>In</strong>nenseite des rechten Oberschenkels,<br />
ein Trauma an der Umschlagfalte der Konjunktiva<br />
des rechten Auges, Blutergüsse in der Schleimhaut des<br />
Mundvorraums und des Zahnfleischs sowie des linken<br />
Oberkiefers. Die Leiche war unbekleidet. An Kleidung<br />
wurde neben der Leiche gefunden : eine Strickjacke aus<br />
Wolle, auf der Rückseite zerrissen (zerschnitten) ; ein<br />
Baumwollrock, eine Seitennaht zerrissen ; ein auf dem<br />
Rücken längs entzweigerissenes gelb-weißes T-Shirt ; ein<br />
beigefarbener Büstenhalter, hinterer Träger zerrissen (zerschnitten)<br />
; ein beigefarbener Baumwollschlüpfer.<br />
Das gerichtsmedizinische Gutachten Nr. 22 vom 30.<br />
April 2000 kommt zu dem Schluss : Die an der Leiche<br />
festgestellten Ekchymosen (im Gesicht und an der linken<br />
Hüfte), die Blutergüsse in der Schleimhaut des Mundvorraums<br />
sowie die Wunde am rechten Auge rühren von<br />
der Einwirkung eines stumpfen, festen Gegenstandes<br />
(stumpfer, fester Gegenstände) mit begrenzter Oberfläche<br />
her. Die schädigende Einwirkung bestand in einem<br />
Schlag. Die Ursache für den Tod Elsa Kungajewas bildete<br />
die Kompression des Halses durch einen stumpfen, festen<br />
120
Gegenstand (stumpfe, feste Gegenstände), wodurch sich<br />
eine Asphyxie entwickelte. Die genannten Verletzungen<br />
traten vor dem Tod ein und können in der Zeit und<br />
unter den Umständen entstanden sein, wie sie in der zur<br />
Untersuchungsanordnung gehörenden Fallbeschreibung<br />
ausgewiesen sind.<br />
Der als Zeuge vernommene Ermittler der Militärstaatsanwaltschaft,<br />
Hauptmann der Justiz Alexej Viktorowitsch<br />
Simuchin, sagte aus, dass er am 27. März 2000<br />
die Anordnung erhielt, Budanow für die Überstellung<br />
nach Chankala zum Hubschrauberstartplatz des Truppenteils<br />
13206 zu bringen. Budanow sei im Zusammenhang<br />
mit den Ermittlungen außerordentlich erregt gewesen,<br />
habe ihn, Simuchin, auszufragen versucht, wie<br />
er sich verhalten, was er am besten tun und sagen solle.<br />
Als Mitglied der Untersuchungsgruppe unternahm Simuchin<br />
in Begleitung des Zeugen Jegorow am Morgen<br />
des 28. März 2000 eine Suchaktion zur Auffindung der<br />
Leiche Elsa Kungajewas. Jegorow zeigte ihm freiwillig,<br />
wo die Geschädigte vergraben war. Simuchin stellte fest,<br />
dass auf Grund der äußerst sorgfältigen Tarnung und<br />
Abdeckung der Begräbnisstätte mit Rasenstücken die<br />
Stelle ohne den entsprechenden Hinweis Jegorows zur<br />
gegebenen Zeit nicht zu entdecken gewesen wäre. Die<br />
Leiche war in halb sitzender Haltung vergraben und<br />
vollkommen nackt.<br />
Aussage des Geschädigten Roman Witaljewitsch Bagrejew,<br />
geboren am 12. Februar 1975 in Nikopol, Gebiet Dnepro-<br />
121
petrowsk, Ukraine, Oberleutnant, stellvertretender Stabschef<br />
des Panzerbataillons des Truppenteils 13206.<br />
Seit dem 1. Oktober 1999 war der Geschädigte als Angehöriger<br />
des 160. Regiments an der Anti-Terror-Operation<br />
beteiligt. Nach eigenen Angaben hegte er keine persönlichen<br />
Vorbehalte gegen Budanow und Fjodorow.<br />
Am 20. März 2000 erfolgte die Verlegung der Aufklärungskompanie<br />
aus dem Dorf Komsomolskoje nach<br />
Tangi. Im Regiment wurde unter den einzelnen Einheiten<br />
ein Wettbewerb ausgerufen, welche Kompanie in<br />
Bezug auf Ordnung und Disziplin vorbildlich war. Den<br />
ersten Platz belegte die Fliegerabwehrdivision. Fjodorow<br />
wollte das Ergebnis nicht akzeptieren und erklärte, die<br />
Aufklärungskompanie sei trotzdem die beste. Um dies<br />
gegenüber Budanow zu beweisen, bestand Fjodorow am<br />
26. März darauf, in der Unterkunft der Aufklärungskompanie<br />
eine <strong>In</strong>spektion vorzunehmen. Nach 18.00 Uhr trafen<br />
Budanow, Fjodorow, Siliwanez und Arsumanjan in<br />
der Unterkunft ein. Budanow war nicht nüchtern, hatte<br />
sich jedoch vollständig unter Kontrolle. Fjodorow war<br />
stark betrunken, sprach undeutlich und schwankte. Fjodorow<br />
wollte Budanow veranlassen, die Gefechtsbereitschaft<br />
der Kompanie zu prüfen. Dreimal oder noch öfter<br />
lehnte Budanow ab, doch Fjodorow beharrte weiter auf<br />
seinem Vorschlag. Budanow gab nach und erteilte den<br />
Befehl ›Zu den Waffen, fertig zum Gefecht‹.<br />
Daraufhin lief Bagrejew sofort zu den Schützengräben<br />
der Kompanie, gefolgt von Fjodorow. Die Fahrzeuge<br />
bezogen Stellung an der Feuerlinie. Budanow befand<br />
122
sich zu diesem Zeitpunkt in der Nachrichtenzentrale. Er<br />
wusste, dass in jedem Startfahrzeug auf der Ladeachse<br />
stets 1 Schuss Munition – eine Splittergranate – liegt.<br />
Zu dem Zeitpunkt gab es außer dem Befehl Fjodorows<br />
keinerlei Grund für die Eröffnung des Feuers auf das<br />
Dorf Tangi.<br />
Nachdem die Gefechtsbesatzungen Position bezogen<br />
hatten, befahl Bagrejew, die Splittergranaten durch eine<br />
Hohlladung zu ersetzen und einen Warnschuss abzugeben.<br />
Bei Warnschüssen mit Hohlladungen vernichtet sich<br />
das Geschoss selbst, wenn es auf keinen Widerstand trifft,<br />
während Splittergranaten nicht mit einem Selbstvernichtungsmechanismus<br />
ausgestattet sind. Durch das Auswechseln<br />
der Ladungen kam es zu einer Verzögerung.<br />
Das Fahrzeug Nr. 380 feuerte einen Warnschuss über<br />
die Häuser des Dorfes ab. Als Fjodorow das sah, sprang<br />
er auf das Fahrzeug der zweiten Gefechtsbesatzung und<br />
befahl dem Richtschützen, Tangi zu beschießen. Unzufrieden<br />
mit der Vorgehensweise des Kompaniechefs,<br />
packte Fjodorow Bagrejew an der Uniform und beschimpfte<br />
ihn rüde. Budanow befahl Bagrejew zu sich.<br />
Als dieser in die Nachrichtenzentrale kam, befanden sich<br />
dort Budanow und Fjodorow, die ihn verprügelten.<br />
Die Ortsbesichtigung ergab, dass zu der in Rede stehenden<br />
Zeit am 27. März 2000 südwestlich vom Stab des<br />
Truppenteils 13206 in einer Entfernung von 25 m zum<br />
Befehlsstand eine Grube ausgehoben war. Darüber lagen<br />
drei zurechtgesägte Bohlen. Die Grube wies eine Länge<br />
von 2,4 m, eine Breite von 1,6 m und eine Tiefe von 1,3 m<br />
123
auf, die Wände waren mit Ziegelsteinen ausgemauert, der<br />
Boden bestand aus festgestampfter Erde.«<br />
Diese Stelle der Anklageschrift im Fall Budanow verdient<br />
einen Kommentar :<br />
Das, was Sie gerade gelesen haben, ist die erste juristische<br />
Beschreibung eines so genannten »Sindan«, einer<br />
Foltergrube, wie sie im zweiten Tschetschenien-Krieg bis<br />
heute weite Verbreitung finden und in fast jedem Truppenteil<br />
anzutreffen sind. <strong>In</strong> der Regel werden gefangene<br />
Tschetschenen in die Sindans gesteckt, mitunter auch<br />
Soldaten, die sich etwas zu Schulden kommen lassen,<br />
und in seltenen Fällen Offiziere niederer Dienstränge.<br />
»Aussage des Zeugen Dmitri Igorjewitsch Pachomow,<br />
Soldat :<br />
Am 26. März 2000 gegen 20.00 Uhr schrie Fjodorow<br />
Bagrejew an : ›Dir Jungspund werde ich schon noch beibringen,<br />
meine Befehle zu befolgen.‹ Fjodorow stieß unflätige<br />
Beschimpfungen und Beleidigungen gegen Bagrejew<br />
aus. Es war schrecklich mit anzusehen. Dann erteilte<br />
Fjodorow den Befehl, Bagrejew zu fesseln und in<br />
die Grube zu stecken. Es gab im Regiment schon Fälle,<br />
wo etwas Derartiges mit betrunkenen Zeitsoldaten gemacht<br />
wurde, doch mit dem Kommandeur der Aufklärungskompanie,<br />
das war unfassbar.<br />
Etwa eine Stunde später alarmierte Budanow den Stabszug<br />
ein zweites Mal. Als die Mannschaft an der Grube<br />
eintraf, lag Bagrejew bereits auf der Erde. Budanow und<br />
124
Fjodorow schlugen ihn erneut. Danach musste der Stabszug<br />
auf Budanows Befehl Bagrejew wieder fesseln und<br />
in die Grube stecken. Fjodorow sprang hinterher und<br />
schlug dort weiter auf Bagrejew ein. Bagrejew schrie und<br />
stöhnte. Dann sprang Siliwanez in die Grube und zog<br />
Fjodorow heraus. Gegen zwei Uhr nachts hörte Pachomow,<br />
der sich in seinem Zelt befand, eine Maschinengewehrsalve.<br />
Wie er erfuhr, hatte Suslow die Schüsse<br />
abgegeben, um Fjodorow, der noch einmal zu Bagrejew<br />
wollte, zur Räson zu bringen.<br />
Das Strafverfahren gegen die Beschuldigten Igor Wladimirowitsch<br />
Grigorjew, Artjom Iwanowitsch Li-en-schou<br />
und Alexander Wladimirowitsch Jegorow wegen Vertuschung<br />
und unterlassener Meldung des von Budanow begangenen<br />
Mordes an Elsa Kungajewa gemäß Paragraf 316<br />
des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation wurde<br />
infolge einer Amnestie eingestellt.<br />
Das stationär erstellte gerichtsmedizinische Gutachten<br />
gelangt zu dem Schluss, dass Budanow im Zeitraum<br />
der ihm zur Last gelegten Handlungen gegen Bagrejew<br />
an keiner temporären, krankhaften Störung seiner Psyche<br />
litt und sich nicht im Zustand eines pathologischen<br />
oder physiologischen Affekts befand. Im Augenblick der<br />
Ermordung Elsa Kungajewas befand er sich hingegen in<br />
einem kurzzeitigen, vorübergehenden, situativ bedingten<br />
psycho-emotionalen Zustand des kumulativen Affekts.<br />
Er war sich des faktischen Charakters und der Bedeutung<br />
seiner Handlungen nicht in vollem Maße bewusst,<br />
125
konnte sie nicht willentlich steuern und kontrollieren.<br />
Auf der Grundlage des oben Dargestellten werden<br />
a ngek lag t :<br />
Juri Dmitrijewitsch Budanow<br />
Iwan Iwanowitsch Fjodorow<br />
gezeichnet :<br />
Oberst der Justiz Sch. M. Achmedow<br />
Stellvertretender Militärstaatsanwalt des Militärbezirks<br />
Nordkaukasus«<br />
De r Pr o z e s s<br />
Im Sommer des Jahres 2001 kam der Fall Budanow vor<br />
Gericht. Der erste Richter, der über Budanows Verbrechen<br />
zu befinden hatte, war Oberst Viktor Kostin vom<br />
Militärgericht des Militärbezirks Nordkaukasus in Rostow<br />
am Don, wo auch der Stab des genannten Militärbezirks<br />
seinen Sitz hat. <strong>In</strong> dieser Stadt ist der Einfluss der Militärs<br />
allenthalben spürbar. Hier befindet sich das zentrale<br />
Armeelazarett, das Tausende in Tschetschenien verwundete<br />
Angehörige der Streitkräfte als Krüppel entließ. Hier<br />
leben zahlreiche Familien von Offizieren, die in Tschetschenien<br />
im Einsatz sind. <strong>In</strong> gewissem Sinne ist Rostow<br />
am Don eine Frontstadt, was nicht ohne Einfluss blieb<br />
auf den Verlauf des Gerichtsverfahrens gegen Budanow.<br />
Vor dem Gerichtsgebäude bekundeten Demonstranten mit<br />
Plakaten ihre Unterstützung für Budanow, Protestkundgebungen<br />
unter der Losung »<strong>Russland</strong> wird abgeurteilt !«<br />
126
oder »Freiheit für den Helden <strong>Russland</strong>s !« bildeten die<br />
ständige öffentliche Begleitmusik zu diesem Prozess.<br />
Der erste Teil der Sitzungen dauerte mehr als ein Jahr,<br />
vom Sommer 2001 bis zum Oktober 2002, und diente<br />
nicht der Wahrheitsfindung, sondern ausschließlich dazu,<br />
den Angeklagten von allen ihm zur Last gelegten Verbrechen<br />
reinzuwaschen. Über die gesamte Sitzungsperiode<br />
hinweg demonstrierte Richter Kostin unverhohlen seine<br />
Voreingenommenheit, indem er sämtliche Anträge von<br />
Seiten der Geschädigten, der Familie Kungajew, ablehnte<br />
und keinen einzigen Zeugen zuließ, dessen Aussage<br />
Budanow möglicherweise belasten konnte. Selbst General<br />
Gerassimow und General Werbizki wurden nicht in<br />
den Zeugenstand gerufen. Ebenso offen nahm in dieser<br />
Phase auch der Staatsanwalt Partei für den Angeklagten,<br />
den er faktisch verteidigte, statt, wie es das Gesetz von<br />
ihm verlangt, die <strong>In</strong>teressen des Opfers zu wahren.<br />
Was im Gericht geschah, wiederholte sich außerhalb<br />
seiner Mauern. Die öffentliche Meinung war mehrheitlich<br />
auf Seiten Budanows : Meetings vor dem Gerichtsgebäude<br />
mit kommunistischen roten Fahnen, zu Beginn<br />
jeder Sitzung Blumen für den Angeklagten, ein Verteidigungsminister,<br />
der vor laufenden Kameras und Mikrofonen<br />
erklärte, Budanow sei »zweifelsohne unschuldig«.<br />
Ideologisch wurde die Reinwaschung Budanows<br />
mit folgender Argumentation untermauert : Ja, er hat<br />
ein Verbrechen begangen, aber er hatte das Recht, so<br />
mit Elsa Kungajewa umzuspringen, weil er in einem<br />
Krieg an einem Gegner Vergeltung übte und weil er<br />
127
das Mädchen für diejenige Heckenschützin hielt, die<br />
im Februar 2000, während der schweren Kämpfe in<br />
der Argun-Schlucht, mehrere Offiziere des Regiments<br />
getötet hatte. An »Feinden« Vergeltung zu üben – wobei<br />
mit »Feinden« die Tschetschenen gemeint waren –, das<br />
sei nur zu gerecht.<br />
Für die Kungajews war es zu Beginn des Prozesses<br />
außerordentlich schwer, einen Rechtsanwalt zu finden.<br />
Die Familie, arm, kinderreich und ohne gesichertes Einkommen,<br />
musste nach dem tragischen Tod der Tochter<br />
in ein Flüchtlingslager in <strong>In</strong>guschetien übersiedeln, aus<br />
Furcht, die Militärs könnten sich dafür rächen, dass sie,<br />
die Eltern, die Sache vor Gericht gebracht hatten. Die<br />
Familie wurde mehrfach bedroht. Weil die Kungajews<br />
ganz allein dastanden, gewann die Menschenrechtsgesellschaft<br />
»Memorial« – die eigentlich in Moskau ihren<br />
Sitz hat, aber ein Büro in Rostow am Don unterhält – in<br />
eigener <strong>In</strong>itiative Rechtsbeistände für die Kungajews und<br />
übernahm lange Zeit auch deren Bezahlung.<br />
Der erste Anwalt war Abdula Chamsajew, einer der<br />
dienstältesten tschetschenischen Juristen, allerdings seit<br />
Jahren in Moskau ansässig, und ein weitläufiger Verwandter<br />
der Familie Kungajew. Wenn Chamsajews Verteidigung<br />
über einen langen Zeitraum hinweg ineffektiv<br />
blieb, ist das nicht ihm anzulasten. Unsere Gesellschaft<br />
mit ihren zunehmend rassistischen Zügen hegt ein tiefes<br />
Misstrauen gegenüber Menschen aus dem Kaukasus oder<br />
schlimmer noch : aus Tschetschenien. So brachten die<br />
Pressekonferenzen, die Chamsajew in Moskau einberief,<br />
128
um publik zu machen, wie der Prozess im Militärgericht<br />
von Rostow am Don verlief, keinerlei Nutzen. Die<br />
Journalisten glaubten nicht, was ihnen Chamsajew sagte,<br />
und so entstand in der Öffentlichkeit keine Bewegung<br />
zur Unterstützung der Kungajews. Allein eine solche<br />
Bewegung aber konnte die Fortsetzung dieses bereits<br />
in der unmittelbaren Anfangsphase wieder ins Stocken<br />
geratenen politischen Verfahrens bewirken.<br />
<strong>In</strong> dieser Situation stellte »Memorial« Chamsajew den<br />
jungen Moskauer Rechtsanwalt Stanislaw Markelow zur<br />
Seite. Markelow, der im Übrigen demselben überregionalen<br />
Juristenkollegium angehörte wie auch Budanows Verteidiger,<br />
hatte in der Vergangenheit vor allem durch seine<br />
Vorgehensweise bei Gerichtsverfahren im Zusammenhang<br />
mit Terrorismus und politischem Extremismus (Sprengung<br />
des Denkmals zu Ehren von Zar Nikolaus II. bei<br />
Moskau ; versuchte Sprengung eines Denkmals für Peter<br />
den Großen ; Ermordung eines russischen Staatsbürgers<br />
afghanischer Nationalität durch Skinheads) von sich reden<br />
gemacht.<br />
Markelow war Russe, und diesem Umstand kam<br />
zum damaligen Zeitpunkt grundsätzliche Bedeutung<br />
zu. »Memorial« hatte die richtige Wahl getroffen, denn<br />
in der Folgezeit gelang es Markelow dank seines energischen<br />
Handelns, einer klug ausgearbeiteten Taktik und<br />
großen Geschicks im Umgang mit der Presse, das <strong>In</strong>teresse<br />
einer breiten Öffentlichkeit, vor allem aber der russischen<br />
und ausländischen Journalisten in Moskau auf<br />
das Verfahren zu lenken. Dieser Umstand führte eine<br />
129
entscheidende Wendung in der Entwicklung des Budanow-Prozesses<br />
herbei.<br />
Im Folgenden soll zitiert werden, welches Bild sich<br />
Markelow bei seinem Eintritt in das faktisch nichtöffentlich,<br />
unter Ausschluss der Medien geführte Gerichtsverfahren<br />
bot :<br />
– »Die Atmosphäre im Saal war dadurch geprägt, dass<br />
es das Gericht sehr eilig hatte, kein einziges unserer<br />
Gesuche substanziell prüfen wollte und alles beiseite<br />
schob, was gegen Budanow ausgelegt werden konnte.<br />
Zugelassen war nur, was seiner Verteidigung diente, die<br />
Linie seiner Anwälte unterstützte. Sämtliche Anträge, die<br />
wir stellten, etwa zur Vorladung ›unserer‹ Zeugen, zur<br />
Hinzuziehung von Experten oder der Erstellung unabhängiger<br />
Gutachten, ignorierte das Gericht völlig. Ich<br />
hatte den Eindruck, dass Richter Kostin die Anträge<br />
nicht einmal las. Denn was auch immer ihr Gegenstand<br />
war, wir bekamen sie postwendend mit einer Ablehnung<br />
zurück. Und das bei mehr als zehn Anträgen pro Tag.«<br />
– »Warum haben Sie so viele Anträge eingereicht ? Meinen<br />
Sie nicht, dass diese Antragsflut das Gericht auch reizen<br />
konnte ? War eine derartige Strategie vernünftig ?«<br />
– »Der Grund dafür ist simpel : Das Gericht beging<br />
eine Verletzung der Strafprozessordnung nach der anderen,<br />
und wir als Anwälte mussten darauf reagieren. Warum<br />
es zum Beispiel so viele Anträge gab ? Und woher auf<br />
einmal all die Leute kamen, die wir von Seiten der Geschädigten<br />
als Zeugen vorladen lassen wollten ? Weshalb<br />
zumindest um zwei von ihnen ein so heftiges Tauziehen<br />
130
entbrannte und das Gericht alles tat, damit sie nicht aussagen<br />
konnten ? Ich erinnere an die Tatumstände : Einen<br />
Tag vor dem Verbrechen, am 26. März 2000, hatte Budanow<br />
zusammen mit anderen Offizieren im Dorf zwei<br />
Tschetschenen festgenommen. Einer der beiden habe<br />
ihm, so behauptete Budanow, das Haus gezeigt, in dem<br />
eine Familie wohnte, die angeblich die Terroristen unterstützte<br />
oder deren Mitglieder selbst Terrorgruppen<br />
angehörten. Die Namen der beiden <strong>In</strong>formanten finden<br />
sich in den Prozessunterlagen, sie wurden nicht verheimlicht.<br />
Wir, die Verteidigung, versuchten herauszufinden,<br />
wer diese Leute sein konnten, die Budanow das Haus der<br />
Kungajews zeigten und ihn damit auf eine falsche Fährte<br />
setzten. Wenn sich denn freilich alles so abgespielt, sie<br />
ihn tatsächlich in die Irre geführt hatten. Ein plausible<br />
Position : Sollten die beiden doch vor Gericht erscheinen<br />
und die Gründe für ihr Handeln erklären. Und da begannen<br />
die Ungereimtheiten … Wir fanden heraus : Einer<br />
der ›<strong>In</strong>formanten‹ war taubstumm. Also physisch außer<br />
Stande, Budanows Frage, wo in Tangi-Tschu die Heckenschützin<br />
wohne, überhaupt zu verstehen. Und ebenso<br />
unfähig, darauf zu antworten. <strong>In</strong> den Prozessunterlagen<br />
heißt es aber bemerkenswerterweise, dieser taubstumme<br />
<strong>In</strong>formant habe Budanow alles ›erzählt‹ !«<br />
– »Und der andere ?«<br />
– »Er ließ sich noch leichter finden. Am 26. März hatten<br />
nämlich Journalisten der ›Krasnaja swesda‹, der Armeezeitung<br />
des Verteidigungsministeriums, diesen zweiten<br />
<strong>In</strong>formanten nach seinem Treffen mit Budanow rein<br />
131
zufällig neben dem Oberst fotografiert. Just an diesem<br />
Tag waren die Journalisten in der Siedlung Tangi-Tschu<br />
gewesen, und elf der dort von ihnen aufgenommenen<br />
Fotos sind Bestandteil der Verfahrensunterlagen, auf Beschluss<br />
der Militärstaatsanwaltschaft, die die Voruntersuchung<br />
führte. Folglich durfte es ein Leichtes sein, diesen<br />
Mann anhand der Fotos zu identifizieren und ihn vor<br />
Gericht bestätigen zu lassen, dass Budanow an jenem<br />
verhängnisvollen Abend nach Tangi-Tschu fahren wollte,<br />
um Terroristen festzunehmen. Das war unser Gedankengang,<br />
eine wichtige, prinzipielle Überlegung, darin<br />
werden Sie mir sicher beipflichten. Doch nun begannen<br />
erneut unerklärliche Widersinnigkeiten : Wir betrachteten<br />
die von den Journalisten der ›Krasnaja swesda‹ zur<br />
Verfügung gestellten Fotos genauer und entdeckten, dass<br />
als Aufnahmedatum der 25. März und nicht der 26. ausgewiesen<br />
war. Zur Untermauerung seiner Version hatte<br />
Budanow, wie die Materialien der Voruntersuchung zeigen,<br />
aber stets auf diesem Datum beharrt. Am 26. März<br />
hätten ihm, wie erinnert werden darf, die <strong>In</strong>formanten<br />
von den Heckenschützinnen erzählt. Beseelt von dem<br />
Wunsch, die getöteten Kameraden zu rächen, und durch<br />
das gerade Erfahrene in höchste nervliche Anspannung<br />
versetzt, sei er losgefahren, um die Heckenschützin zu<br />
verhaften. Er kann kaum den Abend abwarten, steht<br />
völlig im Bann heftiger Gefühle, und geleitet von diesen<br />
Empfindungen, die das gerichtsmedizinische Gutachten<br />
bereits für gerechtfertigt erklärt hat, übt er an der als<br />
›Feind‹ betrachteten Heckenschützin Vergeltung für die<br />
132
getöteten Kameraden, nach den Gesetzen des Krieges.<br />
Wenn Budanow die entsprechende <strong>In</strong>formation nun aber<br />
bereits am 25. März erhalten hat, von welchen spontanen<br />
Reaktionen – Gefühlen, die den Oberst vollkommen<br />
überwältigten und sein Verhalten rechtfertigen – kann<br />
dann noch die Rede sein ? Zeugen sagten aus, dass Budanow<br />
den gesamten 25. März über und auch am 26. März<br />
vormittags, bis zum Beginn des von ihm initiierten Umtrunks<br />
anlässlich des Geburtstags seiner kleinen Tochter,<br />
ruhig gewesen sei und keinerlei Absicht bekundet habe,<br />
sich an irgendeiner Heckenschützin zu rächen.«<br />
– »Lassen Sie uns dennoch objektiv sein. Da verwechselt<br />
jemand ein Datum. So etwas kommt vor. Dort ist<br />
schließlich Krieg … Was soll’s.«<br />
– »Nein, nicht ›was soll’s‹. Derartige Unstimmigkeiten<br />
in den Details finden sich im Fall Budanow auf Schritt<br />
und Tritt. Alles, was sich nur irgendwie ›hinbiegen‹ ließ,<br />
wurde hingebogen. So besagen die Materialien der Voruntersuchung<br />
beispielsweise, der <strong>In</strong>formant habe auf ein<br />
›schmutzig weißes Haus‹ gezeigt, in dem die Heckenschützin<br />
wohnen sollte. Das Haus der Kungajews, aus<br />
dem Budanow Elsa entführte, ist jedoch ein roter Backsteinbau,<br />
wie ein Foto, das wir dem Gericht vorlegten,<br />
eindeutig erkennen lässt.«<br />
– »Und wie hat Richter Kostin darauf reagiert ?«<br />
– »Überhaupt nicht, wie immer … Und noch ein Beispiel<br />
: Glaubt man Budanows Worten, dann hatte ihm<br />
der <strong>In</strong>formant berichtet, die Heckenschützin wohne in<br />
der Saretschnaja-Straße. Entführt wurde Elsa Kungajewa<br />
133
jedoch aus ihrem Elternhaus in der Saretschnaja-Straße,<br />
die einen Kilometer von der gleichnamigen Straße entfernt<br />
am entgegengesetzten Ende der Siedlung liegt.<br />
Schwer vorstellbar, dass der <strong>In</strong>formant Budanow nicht<br />
wenigstens die Richtung gezeigt haben soll, in der er<br />
die Heckenschützin finden konnte. All diese Unstimmigkeiten<br />
lassen selbst den juristisch unbedarften Laien<br />
erkennen : Das Gericht war einfach dazu verpflichtet,<br />
den <strong>In</strong>formanten anzuhören, es musste ein <strong>In</strong>teresse<br />
daran haben, ihn vorzuladen. Um der Wahrheitsfindung<br />
willen ! Was geschah wirklich in Tangi-Tschu, bei dem<br />
entscheidenden Treffen zwischen Budanow und seinem<br />
<strong>In</strong>formanten ? Wollte Budanow eine Heckenschützin festnehmen<br />
? Oder einfach ein hübsches Mädchen in seine<br />
Gewalt bringen ? Und wäre dann nicht die gesamte Ideologie,<br />
die ganze ›Anti-Terror-Operation‹, als deren Held<br />
und Opfer Budanow dargestellt werden soll, vollkommen<br />
unerheblich für den Fall ? Dürfte dann das psychiatrische<br />
Gutachten der Gerichtsmedizin seine Schlussfolgerungen<br />
noch ausnahmslos auf diesen ›Heroismus‹ und den<br />
›Drang nach Rache an einer Heckenschützin‹ gründen ?<br />
Umso mehr, als sich in den Unterlagen Zeugenhinweise<br />
auf zahlreiche vorherige ›Weiber des Obersts‹ finden.<br />
›Der Oberst hat schon wieder ein Weib angeschleppt‹,<br />
gab einer der Soldaten während der Ermittlungen wieder,<br />
und auch andere Angehörige des Truppenteils charakterisierten<br />
anschaulich die im 160. Regiment herrschende<br />
Atmosphäre, beschrieben Details des Alltags im Militärlager<br />
bei Tangi-Tschu.«<br />
134
– »Und was geschah dann ?«<br />
– »Dann erklärte das Gericht, es wolle seinen eigenen<br />
Beschluss nicht ausfuhren. Ein Gericht sei schließlich<br />
kein Suchdienst und nicht verpflichtet, diesen Mann<br />
ausfindig zu machen … Natürlich sind wir Anwälte<br />
aktiv geworden und haben ihn selbst gefunden : Ramsan<br />
Sembijew war wegen Menschenraubs verurteilt worden<br />
und verbüßte seine Freiheitsstrafe in einer Arbeitskolonie<br />
mit strengen Haftbedingungen in Dagestan. Doch<br />
es geht hier nicht um die Persönlichkeit des <strong>In</strong>formanten,<br />
nicht darum, dass Budanows Helfershelfer gemeine<br />
Verbrecher waren. Dass wir Sembijew in einer Arbeitskolonie<br />
aufspürten, bedeutete lediglich : Man konnte<br />
ihn problemlos zum Verhör in den Gerichtssaal bringen.<br />
Denn nach den Strafprozessvorschriften der Russischen<br />
Föderation werden alle Personen, die sich in<br />
juristischem Gewahrsam befinden, in einer speziellen<br />
Datenbank erfasst, auf die auch die Gerichte Zugriff<br />
haben. Um Richter Kostin Arbeit abzunehmen, wiesen<br />
wir sogar nach, wo genau Sembijew seine Strafe verbüßt,<br />
nämlich ganz in der Nähe von Rostow am Don.<br />
Doch auch jetzt lautete die Antwort nur wieder : ›Nein.<br />
Wir brauchen diesen Mann nicht. Er kann dem Gericht<br />
keinerlei wesentliche <strong>In</strong>formationen liefern.‹ Mehr noch,<br />
nach der Ablehnung unseres Antrags ergriff Staatsanwalt<br />
Nasarow (er vertrat zu dem Zeitpunkt, im Mai 2002, die<br />
staatliche Anklage) das Wort zu einer Einlassung, die<br />
bei einem so erfahrenen Juristen überaus merkwürdig<br />
anmutet : Weil der Zeuge ein Verbrecher sei, erklärte<br />
135
Nasarow, würde er ohnehin nicht die Wahrheit sagen,<br />
und es habe keinen Sinn, ›ihn herzuschleppen‹. Ich war<br />
konsterniert. Dem Staatsanwalt schien völlig unwichtig,<br />
dass Sembijew in diesem Verfahren als Zeuge aussagen<br />
sollte, in dem anderen aber als Verbrecher vor Gericht<br />
gestanden hatte.«<br />
– »Wo liegt das Motiv für ein solches Verhalten ?«<br />
– »Das Gericht betrachtete den Fall Budanow allein<br />
unter ideologischen Gesichtspunkten. Der Druck des<br />
Kreml ging in eine einzige Richtung : Budanow sollte<br />
reingewaschen werden. Und alle Fakten, die nicht zu<br />
seinen Gunsten sprachen, wurden für unwichtig erklärt<br />
bzw. außer Acht gelassen. Um diese Linie im Gerichtssaal<br />
durchzusetzen, ging die Staatsanwaltschaft sogar<br />
so weit, ihre verfassungsmäßige Rolle umzudeuten.<br />
Denn seinem Status nach ist ein Staatsanwalt Vertreter<br />
der staatlichen Anklage und hat – im Namen des Staates<br />
– vor allem die <strong>In</strong>teressen der geschädigten Seite zu<br />
wahren. Nasarow aber agierte wie ein Verteidiger des<br />
Angeklagten, den es vor den Ansprüchen der Geschädigten<br />
zu schützen galt. <strong>In</strong> der erwähnten Einlassung<br />
Nasarows kamen darüber hinaus völlig unerklärliche<br />
Dinge zur Sprache. Etwa der Umstand, dass nach unserem<br />
Antrag an das Gericht ein namentlich nicht genannter<br />
örtlicher Staatsanwalt in Dagestan Sembijew in<br />
der Arbeitskolonie aufgesucht und befragt haben soll, ob<br />
er Budanow kenne. Worauf Sembijew angeblich antwortete,<br />
er kenne diesen Mann nicht, habe ihn zum ersten<br />
Mal im Fernsehen gesehen.«<br />
136
– »Wurde die Befragung des <strong>In</strong>formanten durch den<br />
Staatsanwalt vor Gericht in protokollarisch fixierter Form<br />
dokumentiert ?«<br />
– »Natürlich nicht. Staatsanwalt Nasarow lieferte eine<br />
freie Nacherzählung. Das Erstaunlichste ist jedoch, dass<br />
das Gericht die Erklärungen als wahrheitsgemäß und beweiskräftig<br />
akzeptierte, sie weder anzweifelte noch einer<br />
Überprüfung unterzog und kein Protokoll forderte.«<br />
– »Was ändert diese Antwort Sembijews, wenn sie denn<br />
überhaupt so gegeben wurde ?«<br />
– »Glaubt man dem Staatsanwalt aufs Wort, war also<br />
alles so, wie er es schilderte, dann trägt das in jedem<br />
Fall zur Wahrheitsfindung bei. Dann stellt sich nämlich<br />
heraus, dass Sembijew, wenn er Budanow nicht kannte,<br />
ihm auch nicht das Wohnhaus der ›Heckenschützin‹<br />
Elsa Kungajewa gezeigt haben kann und aus irgendeinem<br />
anderen Grund neben Budanow auf das Foto des<br />
Armeekorrespondenten geriet.«<br />
– »Kann man so weit gehen zu behaupten, dass das<br />
Bezirksmilitärgericht alle Anstrengungen unternahm,<br />
um in der Strafsache Nr. 14/00/0012-00 gegen Budanow<br />
kein wahres Bild der begangenen Verbrechen entstehen<br />
zu lassen ? Dass dieses Gericht also das Gegenteil von<br />
dem tat, wozu es laut Verfassung und geltender Gesetzgebung<br />
verpflichtet ist ?«<br />
– »Ja. Ich möchte noch eine Episode schildern, bei der<br />
das Gericht keinerlei dokumentarische Beweisführung<br />
forderte. Ein wichtiges <strong>In</strong>diz – sowohl in der Verhandlung<br />
als auch im gerichtsmedizinischen Gutachten – war<br />
137
das Foto, das Budanow angeblich lange Zeit bei sich<br />
trug und auf dem Elsa Kungajewa und ihre Mutter zu<br />
sehen waren. Beide mit Waffen in der Hand. Budanow<br />
behauptete, dieses Foto von Jachjajew, dem Verwaltungschef<br />
der Siedlung Duba-Jurt, erhalten zu haben, damit er<br />
nach den Frauen suchen konnte, die bei den Kämpfen in<br />
der Argun-Schlucht mehrere Offiziere seines Regiments<br />
erschossen hatten. Duba-Jurt, am Eingang zur Argun-<br />
Schlucht gelegen, war tatsächlich im Februar 2000 das<br />
Zentrum schwerer Gefechte, an denen Budanows Regiment<br />
teilnahm. Aber das Foto, auf dem das gerichtsmedizinische<br />
Gutachten seine Schlussfolgerungen aufbaute<br />
und damit den Eindruck erweckte, es liege als Beweisstück<br />
vor, ebendieses Foto findet sich nirgendwo in den<br />
Verfahrensakten. Und war zu keiner Zeit dort. Was erstens<br />
bedeutet, dass das Gutachten lügt. Grund genug,<br />
ihm keinen Glauben zu schenken und die Erstellung einer<br />
neuen Expertise zu fordern. Und zweitens fehlt damit<br />
schlechthin der bei den Ermittlungen von Anfang an ins<br />
Zentrum gerückte Ausgangspunkt für die Reinwaschung<br />
Budanows. Basierte die gesamte Rechtfertigungsstrategie<br />
doch auf diesem Foto. Angeblich hatte Budanow, überwältigt<br />
von starken Empfindungen im Zusammenhang<br />
mit dem tragischen Tod seiner Kampfgefährten durch<br />
die Kugeln von Heckenschützen, das Foto ständig in der<br />
Brusttasche seiner Uniform bei sich getragen und geschworen,<br />
die Heckenschützinnen um jeden Preis zu finden<br />
und zu vernichten. Als er dann von dem <strong>In</strong>formanten<br />
die Adresse erfuhr, gingen, so die Darstellung, seine<br />
138
Nerven mit ihm durch und er beschloss, selbst Gericht<br />
zu spielen, statt die Rechtsschutzorgane einzuschalten.«<br />
– »Nun gut, selbst wenn sich das Foto nicht in den<br />
Verfahrensakten befindet, dann bleibt doch immer noch<br />
der Verwaltungschef von Duba-Jurt als wichtiger Zeuge.<br />
Man konnte Jachjajew doch vor Gericht verhören.«<br />
– »Allerdings nur, wenn man einer normalen verfahrensrechtlichen<br />
Logik folgt, bei der es um die Wahrheitsfindung<br />
und den Nachweis der tatsächlichen Schuld eines<br />
jedes Einzelnen geht. Doch unsere Gerichtsbarkeit ist<br />
eine andere, sie ist ideologisch und schützt die <strong>In</strong>teressen<br />
von Kriegsverbrechern in der Annahme, damit zugleich<br />
die <strong>In</strong>teressen des Staates zu wahren. Also verkündete<br />
Richter Kostin auch diesmal : ›Nein. Wir brauchen Jachjajew<br />
nicht. Er wird uns nichts Wesentliches mitteilen.‹<br />
Dabei hätte Jachjajew eine Wende im Prozessverlauf herbeiführen<br />
können. Wir haben den Chef der Ortsverwaltung<br />
aufgesucht, und er erklärte sich bereit, zur Gerichtsverhandlung<br />
nach Rostow am Don zu kommen. Was er<br />
jedoch nicht einfach so in Eigeninitiative tun konnte,<br />
denn um die Kontrollpunkte in Tschetschenien passieren<br />
und die Republik verlassen zu können, brauchte er eine<br />
richterliche Vorladung. Die er aber nicht erhielt.«<br />
– »Welche Motive bewogen Richter Kostin, selbst eine<br />
Vorladung General Gerassimows abzulehnen ? Immerhin<br />
war es Gerassimow, der am Morgen des 27. März in<br />
das Lager des 160. Regiments fuhr und die Verhaftung<br />
Budanows anordnete.«<br />
– »Dieselben Beweggründe wie in Bezug auf Jachjajew :<br />
139
›Gerassimow kann uns nichts Neues sagen.‹ Eine Formulierung,<br />
an der man sich die Zähne ausbeißt. Richter<br />
Kostin hatte kein <strong>In</strong>teresse an der Vernehmung des Generals,<br />
obwohl der beispielsweise hätte schildern können, in<br />
welchem Zustand sich der Oberst an besagtem Morgen,<br />
unmittelbar nach dem Verbrechen, befand. Dazu gab es<br />
nämlich die unterschiedlichsten Darstellungen. General<br />
Gerassimow hat Budanow damals gesehen und mit ihm<br />
gesprochen. Zeigte Budanow zum Beispiel Anzeichen für<br />
einen Kater ? Das Gutachten bezweifelte ja allen Ernstes,<br />
dass er in der Verbrechensnacht überhaupt betrunken<br />
war, ließ ihn ›nüchtern‹ werden, obwohl Zeugen bei<br />
der Voruntersuchung mehrfach darauf verwiesen, dass<br />
Budanow am Vorabend des Mordes an Elsa Kungajewa<br />
getrunken hatte. Wie war das Verhalten Budanows am<br />
Morgen des 27. März ? Befand er sich, wie das erste der<br />
insgesamt sechs Gutachten formuliert, in einem veränderten<br />
Zustand infolge eines Alkoholrauschs ? Oder als<br />
Ergebnis von Unzurechnungsfähigkeit ? Wenn eine solche<br />
Unzurechnungsfähigkeit aber nach Auffassung unabhängiger<br />
Experten nicht binnen weniger Stunden verschwinden<br />
kann, war Budanow dann also zurechnungsfähig,<br />
sich seiner Handlungen bewusst ? Warum behauptet das<br />
erste Gutachten, er sei sich dieser Handlungen nicht<br />
bewusst gewesen und trüge folglich keine juristische Verantwortung<br />
für die Verbrechen ? Vielleicht, weil Budanow<br />
wiederum reingewaschen werden sollte ?«<br />
– »Außerdem hätte sich durch ein Verhör Gerassimows<br />
feststellen lassen können, ob Budanow beispielsweise bei<br />
140
seiner Festnahme Widerstand leistete. Als General Gerassimow,<br />
begleitet von einer Sonderheit, im 160. Regiment<br />
eintraf, um Budanow festzunehmen, zwang Budanow ja<br />
bekanntlich die Soldaten der Aufklärungskompanie dazu,<br />
bewaffneten Widerstand zu leisten, was um ein Haar<br />
einen verhängnisvollen Schusswechsel zwischen beiden<br />
Einheiten provoziert hätte.«<br />
– »<strong>In</strong> der Tat. Budanow zog damals ebenfalls seinen<br />
Revolver, was General Gerassimow befürchten ließ, er<br />
könne jemanden niederschießen. Doch nach kurzer Überlegung<br />
schoss sich Budanow in den Fuß. All das belegen<br />
die Verfahrensakten, und die hätte das Gericht auswerten<br />
müssen, was es jedoch nicht tat. Zusammenfassend<br />
lässt sich sagen, dass im Verlauf des Prozesses alles vom<br />
Tisch gewischt wurde, was nicht zu Budanows Gunsten<br />
sprach.«<br />
– »Gut, aber wenn der Oberst bei seiner Festnahme<br />
tatsächlich Widerstand leistete, was konnte das schon<br />
noch ändern ?«<br />
– »Sehr viel. Zum einen ist das ein zusätzlicher Straftatbestand.<br />
Und zum anderen eine wichtige Kennzeichnung<br />
der Persönlichkeit Budanows. Dieses Gericht, das<br />
sämtliche Anträge und alle Zeugen der Verteidigung<br />
ablehnte, fand sich sehr wohl bereit, einen Brief General<br />
Wladimir Schamanows, heute Gouverneur des Gebiets<br />
Uljanowsk, zu den Akten zu nehmen. Dieser Brief an die<br />
Richter enthält keinerlei neue Fakten, weil Schamanow<br />
sich zum Zeitpunkt des Verbrechens überhaupt nicht in<br />
Tschetschenien aufhielt, sondern auf Urlaub in Moskau<br />
141
war. Dafür aber umso mehr Ideologie, indem einfach<br />
behauptet wird, Budanow sei ›unschuldig‹, er habe mit<br />
seiner Festnahme der Heckenschützin Kungajewa vollkommen<br />
legitim gehandelt, sie zu Recht umgebracht,<br />
weil sie Widerstand leistete. Schamanow schrieb an das<br />
Gericht als typischer Aktivist des zweiten Tschetschenien-Kriegs,<br />
als unmittelbarer Vorgesetzter des Obersts,<br />
und schon fand sein Schreiben Eingang in die Verfahrensakten.«<br />
– »Ihrer Schilderung nach handelt es sich bei Schamanows<br />
Brief um eine ideologisch begründete Fürsprache.<br />
Kann man sagen, dass der gesamte Budanow-Prozess<br />
unter ideologischem Vorzeichen geführt wird ? Wenn<br />
sich der Vorsitzende Richter weigert, Gerassimow sowie<br />
Sembijew und Jachjajew als unmittelbare Zeugen anzuhören<br />
und von ihnen konkrete <strong>In</strong>formationen zu erhalten,<br />
dafür aber das ›patriotische‹ Schreiben eines General<br />
Schamanow, der nicht das Geringste zur Wahrheitsfindung<br />
beitragen kann, jedoch in ganz <strong>Russland</strong> bekannt<br />
ist als Ideologe eines gnadenlosen Vorgehens gegen die<br />
Zivilbevölkerung Tschetscheniens, als Verfechter der<br />
These, dass das tschetschenische Volk die kollektive Verantwortung<br />
trägt für die Handlungen einzelner Krimineller,<br />
wenn er ein solches Schreiben also zum Prozessdokument<br />
erklärt ?«<br />
– »Allerdings. Bei den Gerichtsverhandlungen herrschten<br />
Wirrwarr, heilloses Durcheinander und absolute<br />
Unberechenbarkeit. Mit Absicht, wie mir scheint. Dies<br />
alles diente dem Ziel, von der wirklichen Auseinander-<br />
142
setzung mit dem Verfahrensgegenstand, dem Wesen der<br />
Budanow’schen Verbrechen, abzulenken. Alles darzustellen,<br />
als werde hier ein ›Vergeltungsschlag gegen einen<br />
russischen Offizier‹ versucht. Außer den bereits erwähnten<br />
gab es noch weitere Verletzungen der Strafprozessordnung<br />
durch das Gericht. So dauerte das Verlesen<br />
der gesamten Prozessmaterialien – immerhin zehn eindrucksvolle<br />
Bände ! – lediglich anderthalb Stunden.«<br />
– »Wie konnte sie der Richter in dieser Zeit verlesen ?«<br />
– »Das ist es ja gerade, er las nicht, sondern blätterte.<br />
Und als er die Bände durchgeblättert hatte, erklärte er<br />
die Beweisaufnahme für beendet. Um sie am nächsten<br />
Tag überraschend fortzusetzen, ohne irgendeinen diesbezüglichen<br />
Beschluss. Das Procedere des Prozessablaufs<br />
wird auf Schritt und Tritt verletzt. Was uns natürlich die<br />
Chance gibt, das spätere Urteil anzufechten.«<br />
– »Stört es Sie nicht, dass Sie als Russe die <strong>In</strong>teressen<br />
einer tschetschenischen Familie vertreten ? Tschetschenen<br />
werden doch vor Gericht üblicherweise von tschetschenischen<br />
Anwälten und Russen von russischen verteidigt.«<br />
– »Ich arbeite im Auftrag der Menschenrechtsgesellschaft<br />
›Memorial‹, die die gesamte Verteidigung der<br />
Familie Kungajew organisiert hat. Die Familie selbst ist<br />
sehr arm und konnte sich keinen Rechtsanwalt leisten.<br />
Anfangs vertrat Rechtsanwalt Chamsajew ihre <strong>In</strong>teressen,<br />
als er jedoch in der Folgezeit schwer erkrankte, standen<br />
die Kungajews völlig ohne juristischen Beistand da, was<br />
das Gericht ausnutzte, indem es den Prozess so schnell<br />
vorantrieb, dass mit einem baldigen Urteilsspruch gerech-<br />
143
net werden musste. Damals, Mitte Mai 2002, wandte<br />
sich ›Memorial‹ an mich. Als ich in Rostow am Don<br />
auftauchte, wurde ich auf dem Gang ganz direkt gefragt,<br />
in welcher Beziehung zur tschetschenischen Diaspora ich<br />
stünde. Ich antwortete : ›Sehen Sie sich mein Gesicht an.<br />
<strong>In</strong> gar keiner.‹ Worauf die zweite Frage lautete : ›Und was<br />
haben Sie für eine Nationalität ?‹ Das fragte mich nicht<br />
nur der eine oder andere von Budanows Sympathisanten<br />
auf den Fluren des Gerichtsgebäudes, sondern auch<br />
Budanow selbst im Gerichtssaal. Er schrie mich übrigens<br />
bei den Sitzungen ständig an, etwa in der Art : ›Was<br />
ereiferst du dich denn so ?‹«<br />
– »Er hat Sie geduzt ?«<br />
– »Natürlich, er ist Offizier und meint, er könne sich<br />
alles herausnehmen. Für sein ungebührliches Benehmen<br />
bei den Verhandlungen wurde er kein einziges Mal vom<br />
Gericht zur Ordnung gerufen oder verwarnt. Er durfte<br />
alles. Mir scheint sogar, der Richter hatte Angst vor ihm.«<br />
– »Und seine Verteidigung, seine drei Rechtsanwälte,<br />
hat er die auch angeschrien ?«<br />
– »Die natürlich nicht. Als mir die Journalisten in<br />
Rostow mit Fragen nach meiner Nationalität zusetzten,<br />
gab ich zur Antwort : ›Ja, ich bin Russe, wie Sie sehen.<br />
Und gerade deshalb finden Sie mich hier in diesem Verfahren.<br />
Weil ich die Rechtsnormen <strong>Russland</strong>s verteidige.‹<br />
Das Gericht aber verteidigte – im Fahrwasser Budanows –<br />
ein Gewohnheitsrecht. Gerade Budanow hatte nämlich<br />
nach den verzerrten Normen mittelalterlichen tschetschenischen<br />
Rechts gehandelt, als er einen Mord beging<br />
144
in der Überzeugung, Rache zu üben. Und Gericht wie<br />
Öffentlichkeit bestärkten ihn darin. Oberst Budanow<br />
verletzte geltendes russisches Recht, das auch für ihn<br />
Gültigkeit besitzt. Was bei diesem Prozess geschah, stellt<br />
unter Beweis : Die Führung des Landes und der gesamte<br />
Staat schreiben gleichsam fest, dass auf dem Territorium<br />
Tschetscheniens nicht das nationale Recht der Russischen<br />
Föderation, sondern ein staatlich sanktioniertes Recht<br />
der Rache gilt.«<br />
ex P e r t e n s P i e l e<br />
Zu einem der wichtigsten Aspekte des Budanow-Prozesses<br />
geriet das Spiel mit diversen gerichtsmedizinischen<br />
Gutachten. Genau das war es : ein Spiel. <strong>In</strong> den drei Jahren,<br />
die das Verfahren insgesamt dauerte, wurden dem<br />
Oberst zunächst vier psychologisch-psychiatrische Begutachtungen<br />
gewährt und später, nach Aufhebung des<br />
ersten Urteils, noch zwei weitere. Fast alle tragen vornehmlich<br />
politischen Charakter. Sie stützen die jeweilige<br />
Linie, die der Kreml im Fall Budanow gerade verfolgte<br />
und dementsprechend von den Richtern einforderte.<br />
Und in dieser Linie gab es jähe Wendungen, je<br />
nach der politischen Konjunktur und dem Image, das<br />
der Präsident brauchte.<br />
Die beiden ersten Gutachten wurden fast unmittelbar<br />
nach der Tat erstellt, im Zuge der Voruntersuchungen im<br />
Mai und August 2000. Die erste Begutachtung erfolgte<br />
durch Psychiater des Armeelazaretts des Militärbezirks<br />
145
Nordkaukasus sowie des Nordkaukasischen Zentrallabors<br />
für forensische Expertisen des Justizministeriums der<br />
Russischen Föderation, allerdings ohne stationäre Unterbringung<br />
Budanows. Die zweite Begutachtung nahmen<br />
Ärzte des zivilen Gebietskrankenhauses für psychoneurologische<br />
Erkrankungen in Nowotscherkassk vor, nun<br />
bereits nach stationärer Einweisung des Obersts.<br />
Die beiden Gutachten erklärten Budanow übereinstimmend<br />
für zurechnungs-, orientierungs- und kontaktfähig.<br />
Was bedeutete, dass er für seine Verbrechen<br />
zur Verantwortung gezogen werden konnte. Dies war<br />
die Zeit, in der Putin allenthalben die »Diktatur des<br />
Gesetzes« beschwor, die in <strong>Russland</strong> durchgesetzt werden<br />
müsse, und dementsprechend verkündete, alle Angehörigen<br />
der Streitkräfte, die in Tschetschenien Verbrechen<br />
begangen hätten, würden ebenso bestraft wie Kriminelle<br />
oder Mitglieder illegaler bewaffneter Formationen. Hinzu<br />
kam, dass <strong>Russland</strong> in dieser Zeit, nach den schweren<br />
Sturmangriffen und Gefechten der Jahre 1999 und 2000,<br />
Versuche einer Annäherung an die Tschetschenen unternahm.<br />
Achmad Kadyrow, ehemaliger Rebellenführer und<br />
Großmufti unter dem 1996 getöteten ersten tschetschenischen<br />
Präsidenten Dshochar Dudajew, wurde in das<br />
höchste Staatsamt gehoben. Zwar hatte er früher zum<br />
Heiligen Krieg gegen <strong>Russland</strong> aufgerufen, dann aber<br />
»alles eingesehen« und sich nun dem Kreml angedient.<br />
Bezeichnenderweise betonen die beiden ersten Gutachten<br />
gleichermaßen einen Umstand : <strong>In</strong> dem Augenblick,<br />
als Budanow Elsa Kungajewa erstickte, habe er sich<br />
146
vermutlich in einer Art Affekt befunden. Der Oberst<br />
offenbare Merkmale, die mit Wahrscheinlichkeit auf eine<br />
organische Schädigung des Gehirns hindeuteten, was<br />
wiederum die Annahme zulasse, der Oberst leide an<br />
einer organischen »Störung der Persönlichkeit und des<br />
Verhaltens«.<br />
Dem Verteidigungsministerium missfielen diese<br />
Schluss folgerungen seinerzeit sehr, weil sie zweierlei bedeuteten<br />
: Erstens musste Budanow entsprechend der Gesetzgebung<br />
der Russischen Föderation mit aller Härte<br />
bestraft werden, wenn er zurechnungsfähig war. Und<br />
zweitens kämpften demnach in den Streitkräften Offiziere<br />
mit organischen Schädigungen des Gehirns und<br />
der Persönlichkeit, wurden von keinem Arzt behandelt<br />
(was absolut der Wahrheit entsprach), befehligten Hunderte<br />
von Menschen, trugen die Verantwortung für modernste<br />
Waffen.<br />
Als der Prozess begann, trat sehr schnell zu Tage, dass<br />
die Schlussfolgerungen der Psychiater auch Richter Kostin<br />
nicht ins Kalkül passten. Zumindest zwei der möglichen<br />
Gründe sind offensichtlich : Erstens war Kostin als Militärrichter<br />
selbst Teil des Verteidigungsministeriums. Das<br />
ist nun einmal der Status quo in <strong>Russland</strong> : Hier gibt es<br />
spezielle Militärgerichte für Verbrechen von Angehörigen<br />
der Streitkräfte, und die Militärrichter, die diese Verbrechen<br />
verhandeln, müssen sich dem Militärsystem bedingungslos<br />
unterordnen, denn sie sind Fleisch von seinem<br />
Fleische und vollkommen abhängig von der Führung der<br />
Truppenteile (sei es nun eine Garnison oder das Vertei-<br />
147
digungsministerium), wenn es um Wohnungen, Gehälter<br />
oder Beförderungen geht. Ein hässliches System, doch es<br />
funktioniert nun einmal so, dass Richter Kostin seine<br />
Wohnung, sein Gehalt und seine Beförderung ausschließlich<br />
vom Stab des Militärbezirks Nordkaukasus zugeteilt<br />
bekommt, von genau jenem Stab also, dem auch Budanow<br />
unterstellt war und der in Bezug auf den angeklagten<br />
Oberst mehrfach verlauten ließ, dieser sei unschuldig und<br />
solle nur für seinen redlichen Dienst am Vaterland büßen.<br />
Der zweite Grund besteht darin, dass zu Beginn des<br />
Budanow-Prozesses eine neue politische Großwetterlage<br />
in <strong>Russland</strong> eintrat. Der Kreml verabschiedete sich peu<br />
à peu von seinen Demokratie-Spielen und der »Diktatur<br />
des Gesetzes«. Nunmehr wurden alle »Tschetschenienkämpfer«<br />
zu Helden erklärt, ganz gleich, wie sie sich dort<br />
aufführten. Der Präsident teilte mit vollen Händen Orden<br />
und Medaillen unter ihnen aus und versicherte bei<br />
jeder Gelegenheit, der Staat werde sie »niemals verraten«.<br />
Im Sprachgebrauch der Macht bedeuteten diese Worte<br />
viel : Bei Kriegsverbrechen in Tschetschenien würde die<br />
politische Führung beide Augen zudrücken und die<br />
Staatsanwaltschaft, wenn sie denn versuchen sollte, gegen<br />
Angehörige der Streitkräfte Strafverfahren wegen<br />
Verbrechen an der tschetschenischen Zivilbevölkerung<br />
einzuleiten, entsprechend an die Kandare nehmen.<br />
Die vom Staat kontrollierten Massenmedien setzten<br />
die neue Losung kreativ um. Über die staatlichen Fernsehkanäle<br />
ergoss sich ein Strom von Berichten, wie rechtschaffen<br />
Budanow seine Pflicht erfüllt habe, General<br />
148
Schamanow (der Verfasser des besagten Briefes an das<br />
Gericht in Rostow am Don) mit seinen patriotischen<br />
Hymnen auf den tapferen Offizier Budanow avancierte<br />
zum Dauergast auf den Bildschirmen, die Behauptung,<br />
die getötete achtzehnjährige Tschetschenin aus Tangi-<br />
Tschu sei eine Heckenschützin oder Rebellin gewesen,<br />
wurde öffentlich nicht mehr in Zweifel gezogen, und alle<br />
vergaßen, dass weder die Ermittler noch die Verteidiger<br />
Budanows auch nur mittelbare Beweise für eine Beziehung<br />
Elsa Kungajewas zu illegalen bewaffneten Formationen<br />
gefunden hatten.<br />
Just in dieser Zeit kamen dem Gericht in Rostow am<br />
Don plötzlich »Zweifel« an der Kompetenz der Gutachter,<br />
die für die beiden ersten psychologisch-psychiatrischen<br />
Expertisen verantwortlich zeichneten, und es wurde ein<br />
weiteres Gutachten – das nunmehr dritte – in Auftrag<br />
gegeben. Die Begutachtung sollte diesmal gemeinsam<br />
durch Militärärzte des Zentrallabors für forensische<br />
Medizin des Verteidigungsministeriums und durch zivile<br />
Experten des Staatlichen wissenschaftlichen Zentrums<br />
für soziale und forensische Psychiatrie »W. P. Serbski«<br />
(im Volksmund kurz Serbski-<strong>In</strong>stitut genannt) in Moskau<br />
erfolgen.<br />
Das Serbski-<strong>In</strong>stitut genießt in <strong>Russland</strong> einen denkbar<br />
schlechten Ruf, der noch aus Sowjetzeiten herrührt. Hier<br />
wurden Dissidenten, die sich gegen den Kommunismus,<br />
gegen totalitäre Lüge und politische Unfreiheit auflehnten,<br />
für verrückt erklärt. Die Mediziner des Serbski-<strong>In</strong>stituts<br />
waren stets willige Erfüllungsgehilfen, wenn ihnen der<br />
149
allmächtige Geheimdienst Aufträge erteilte. <strong>In</strong> dieses<br />
Serbski-<strong>In</strong>stitut überführte man Budanow. Als das bekannt<br />
wurde, zweifelten nur wenige am Zweck der Einweisung<br />
: Es sollte alles unternommen werden, um den Oberst<br />
von der strafrechtlichen Verantwortung zu befreien. Darin<br />
waren sich Sympathisanten wie Gegner Budanows einig.<br />
Offiziell begründete das Gericht die Anforderung eines<br />
dritten Gutachtens mit der »Vagheit, Widersprüchlichkeit<br />
und Unvollständigkeit der Daten« sowie mit dem »Vorliegen<br />
neuer und präzisierter Tatbestände«, die wichtig<br />
seien für die »Bestimmung des wirklichen psychischen<br />
Zustands Budanows«.<br />
Als »Unvollständigkeit« betrachtete Richter Kostin dabei<br />
die im Gerichtsbeschluss wortwörtlich so benannte<br />
»unerwünschte Zurechnungsfähigkeit«, während die<br />
»neuen und präzisierten Tatbestände« sich darauf bezogen,<br />
dass die Strafsache (dank der für die Voruntersuchungen<br />
zuständigen Ermittler) ursprünglich noch<br />
Episoden enthielt, die weitere schwere Verbrechen Budanows<br />
belegten. Diese wurden später faktisch aus den<br />
Verfahrensakten entfernt.<br />
Andere Episoden wiederum, die das Gericht in dem<br />
neuen Gutachten berücksichtigt sehen wollte, existierten<br />
überhaupt nicht, die Mediziner des Serbski-<strong>In</strong>stituts<br />
gingen also schlichtweg von unbewiesenen Behauptungen<br />
aus. Da diese Behauptungen jedoch zu Gunsten des<br />
Obersts sprachen, wurden sie den Gutachtern präsentiert,<br />
und die interpretierten sie dann bereits als absolut<br />
unbestritten und authentisch. Eine unverhohlene Fäl-<br />
150
schung, sowohl von Seiten des Gerichts als auch seitens<br />
des Serbski-<strong>In</strong>stituts.<br />
Welche Fragen stellte Richter Kostin den Gerichtsmedizinern<br />
im Hinblick auf das dritte Gutachten ?<br />
»– Litt Budanow in der Vergangenheit oder leidet er<br />
gegenwärtig an chronischen seelischen Erkrankungen ?<br />
– Befand sich Budanow im Tatzeitraum in einem Zustand<br />
temporärer krankhafter Störung seiner Psyche ?<br />
War er in vollem Umfang fähig, den faktischen Charakter<br />
und die gesellschaftliche Gefährlichkeit seiner Handlungen<br />
zu begreifen und diese zu kontrollieren ?<br />
– Welche individualpsychologischen Besonderheiten<br />
der Persönlichkeit Budanows könnten sein Verhalten in<br />
den strafrechtlich relevanten Situationen befördert oder<br />
wesentlich beeinflusst haben ?<br />
– Befand sich Budanow zur Tatzeit möglicherweise<br />
in einem emotionalisierten Zustand (Stress, Frustration,<br />
A ffekt) ?<br />
– Könnte das Verhalten der Kungajewa eine temporäre<br />
krankhafte psychische Störung bei Budanow ausgelöst<br />
haben ? Provozierten die Handlungen der Kungajewa<br />
Budanows Verhalten ?<br />
– Welchen Einfluss hatte der Genuss von Wodka auf<br />
Budanows Zustand im Tatzeitraum ?<br />
– Wie ist der Zustand Budanows zum Zeitpunkt des<br />
Verbrechens an der Kungajewa im Wohncontainer des<br />
Regimentsstabs in der Nacht vom 26. zum 27. März 2000<br />
zu bewerten unter der Maßgabe, dass (1) Budanow sie für<br />
151
die Tochter einer ›Heckenschützin‹ hielt, die sich weigerte,<br />
den Aufenthaltsort der Mutter preiszugeben, ihn beleidigte,<br />
fliehen wollte und Widerstand leistete sowie (2) die<br />
geladene Waffe an sich zu nehmen versuchte ; und dass<br />
(3) Budanow in Kungajewa selbst eine Heckenschützin<br />
sah und ihr das entlarvende Foto vorlegte ?<br />
– Bedarf Budanow einer zwangsweisen medizinischen<br />
Behandlung ?<br />
– War Budanow im Hinblick auf seinen psychischen<br />
Zustand im Tatzeitraum tauglich für den Armeedienst<br />
und ist er es gegenwärtig ?<br />
– Sind die im Rahmen der Voruntersuchung gezogenen<br />
gerichtsmedizinischen Schlüsse klinisch begründet und<br />
wissenschaftlich haltbar ?«<br />
Gutachten Nr. im des Serbski-<strong>In</strong>stituts für J. D. Budanow<br />
gibt Antwort auf Richter Kostins Fragen. <strong>In</strong> einer Art<br />
und Weise, die mit jedem Detail aus Budanows Lebenslauf,<br />
angefangen von seiner Geburt bis hin zum zweiten<br />
Tschetschenien-Krieg, das »richtige« Bild des Helden<br />
bedient.<br />
»Laut Budanows Darstellung kam er durch eine<br />
schwere Geburt zur Welt, mit einer Asphyxie, die eine<br />
Reanimation notwendig machte. Nach Aussage von Mutter<br />
und Schwester war er sehr verletzlich, konnte aufbrausen,<br />
grobe Antworten geben, eine Prügelei anfangen,<br />
wenn man ihn kränkte ; besonders allergisch reagierte er<br />
auf ungerechte Kritik, wobei er stets versuchte, Schwächere,<br />
Kranke und Arme zu verteidigen.<br />
152
Im April 1982 stufte der Medizinische Dienst des<br />
Wehrkreiskommandos Charzys, Gebiet Donezk, ihn als<br />
wehrtauglich ein. 1983 trat er in die Offiziershochschule<br />
für Kommandeure der Panzertruppen in Charkow ein.<br />
Budanow ist seit 1985 verheiratet, hat einen Sohn und<br />
eine Tochter. Von 1995 bis 1999 absolvierte er ein Fernstudium<br />
an der Militärakademie für Panzertruppen.<br />
<strong>In</strong> dienstlichen Beurteilungen wird Budanow ausschließlich<br />
positiv charakterisiert, als diszipliniert, einsatzfreudig<br />
und beharrlich bezeichnet. Im Januar 1995,<br />
während der ersten Militärkampagne in Tschetschenien,<br />
erlitt Budanow bei der Beteiligung an Kampfhandlungen<br />
eine Gehirnerschütterung mit vorübergehender Bewusstlosigkeit,<br />
nahm jedoch keine medizinische Hilfe in Anspruch.<br />
Nach Aussage von Mutter und Schwester hatte<br />
sich Budanow bei seiner Rückkehr aus dem ersten Tschetschenien-Krieg<br />
in Wesen und Verhalten verändert, war<br />
nervös und reizbar. Im August 1998 erfolgte Budanows<br />
Ernennung zum Regimentskommandeur, im Januar 2000<br />
wurde ihm vorzeitig der Dienstrang eines Obersts verliehen.<br />
<strong>In</strong> den Einheiten schuf Budanow eine Atmosphäre<br />
der Unduldsamkeit gegenüber Unzulänglichkeiten und<br />
passivem Verhalten. Er besaß ein entwickeltes Verantwortungsgefühl.<br />
Budanow ist Träger staatlicher Auszeichnungen,<br />
zweimal wurde ihm der Tapferkeitsorden verliehen.<br />
Alle Kameraden Budanows erklärten, keine Abweichungen<br />
in seiner Psyche bemerkt zu haben. Er befand<br />
sich nicht in psychiatrischer oder neuropathologischer<br />
Behandlung.<br />
153
Budanows Aussagen zufolge nahm sein Regiment nach<br />
der Verlegung aus dem Transbaikal-Militärbezirk nach<br />
Tschetschenien vom 10. Oktober 1999 bis zum 20. März<br />
2000 praktisch ununterbrochen an Kampfhandlungen<br />
teil. Im Oktober und November 1999 erlitt Budanow<br />
zwei mit Bewusstlosigkeit einhergehende Gehirnerschütterungen.<br />
Danach plagten ihn ständig Kopfschmerzen<br />
und Schwindelanfälle einschließlich Sehstörungen, er<br />
konnte keine schrillen, lauten Geräusche ertragen, wurde<br />
aufbrausend, unbeherrscht, reizbar, verfiel in wechselnde<br />
Stimmungen mit Zornesausbrüchen und Wutanfällen,<br />
beging Handlungen, die er hinterher bereute.<br />
Nach Aussagen Budanows waren die Kämpfe in der<br />
Argun-Schlucht zwischen dem 24. Dezember 1999 und<br />
dem 14. Februar 2000 die schwersten. Zwischen dem 12.<br />
und dem 21. Januar verlor das Regiment neun Offiziere<br />
und drei Soldaten. Die meisten starben durch Kopfschüsse<br />
eines Heckenschützen. Am 17. Januar 2000 wurde Budanows<br />
Freund, Hauptmann Rasmachin, von einem Heckenschützen<br />
getötet. Zwei Wochen nach dem Gefecht gelang<br />
es Budanow, die verstümmelte Leiche Major Sorokotjagas<br />
vom Schlachtfeld zu bergen. Sie wies Folterspuren auf.<br />
Am 8. Februar 2000 fuhr Budanow auf Heimaturlaub<br />
in die Republik Burjatien. Nach Aussagen seiner Frau gebärdete<br />
er sich zu Hause gereizt und nervös. Er erzählte<br />
ihr, dass das Regiment in der Argun-Schlucht auf Brigaden<br />
des Rebellengenerals Chattab gestoßen war und in<br />
diesem Gefecht fünfzehn seiner Feldkommandeure vernichtet<br />
hatte. Deshalb nannten die Rebellen Budanows<br />
154
Einheiten fortan, ›das Raubtierregiment‹ und erklärten<br />
ihn zu ihrem Erzfeind, auf dessen Kopf sie eine gewaltige<br />
Summe aussetzten.<br />
Budanow belastete sehr, dass die meisten Offiziere seines<br />
Regiments nicht im offenen Kampf gefallen, sondern<br />
von einem Heckenschützen umgebracht worden waren.<br />
Er erklärte mehrfach, er werde erst nach Hause fahren,<br />
wenn sie den letzten Rebellen totgeschlagen hätten.<br />
Am 15. Februar kehrte Budanow vorzeitig aus dem<br />
Urlaub nach Tschetschenien zurück. Mutter und Schwester<br />
sagten aus, dass Budanow sie auf der Rückreise für<br />
einen Tag besuchte. Er hatte sich bis zur Unkenntlichkeit<br />
verändert, rauchte ununterbrochen, redete kaum<br />
mit ihnen, ging wegen jeder Nichtigkeit in die Luft und<br />
konnte kaum still sitzen. Er zeigte ihnen Fotos der Gefallenen<br />
und ihrer Gräber, weinte dabei. <strong>In</strong> einem derartigen<br />
Zustand hatten sie ihn nie zuvor erlebt.«<br />
An dieser Stelle sei ein kleiner Exkurs erlaubt :<br />
Der Leiter der Sanitätsstelle des 160. Regiments,<br />
Hauptmann Kupzow, der Budanow täglich sah, sagte als<br />
Zeuge aus, dass es Fälle gab, in denen Budanows Stimmung<br />
innerhalb von 10–15 Minuten mehrfach umschlug,<br />
von Ausgeglichenheit und Leutseligkeit zu inadäquater<br />
Wut über Lappalien. Während der Gefechte verstärkten<br />
sich diese Eigenschaften. <strong>In</strong> Momenten des Zorns konnte<br />
Budanow alles, was ihm in die Hände geriet, auf den<br />
Boden schmettern oder jemandem an den Kopf werfen<br />
– eine Wanduhr, Telefonapparate. Budanows psycho-<br />
155
logischer und psychischer Zustand hatte Kupzows Worten<br />
zufolge im Oktober 1999 (also vor dem Tod seiner<br />
Kampfgefährten in der Argun-Schlucht) bereits krankhafte<br />
Formen angenommen.<br />
Doch lassen wir weiter das gerichtsmedizinische Gutachten<br />
sprechen :<br />
»Budanow beteiligte sich selbst mit der Waffe in der<br />
Hand an Sturmangriffen und Nahkämpfen. Nach den<br />
Gefechten in der Argun-Schlucht versuchte er persönlich,<br />
die Leichen der Gefallenen zu bergen. Als seine<br />
Offiziere und Soldaten auf der Höhe 950.8 erschossen<br />
wurden, gab sich Budanow die Schuld an ihrem Tod<br />
und verfiel dauerhaft in eine depressive Stimmung. <strong>In</strong><br />
diesem Zustand schlug er Untergebene oder warf mit<br />
Aschenbechern nach ihnen. Mitte März 2000 verlangte<br />
er von den Offizieren, sie sollten ihre Unterkunft aufräumen,<br />
und schleuderte zur Bekräftigung seiner Forderung<br />
eine Granate ins Feuer.<br />
Ab Mitte Februar befand sich das Regiment in der<br />
Reserve des Oberkommandos und wurde neben der Ortschaft<br />
Tangi stationiert. Budanow erhielt Anordnung,<br />
Aufklärungs- und Erkundungsmaßnahmen durchzuführen,<br />
Hinterhalte anzulegen, in der Siedlung eine erneute<br />
Überprüfung der Meldeordnung sowie der Ausweise der<br />
Dorfbewohner vorzunehmen und verdächtige Personen<br />
zu verhaften.<br />
Budanow und seine Untergebenen sagten aus, die<br />
Situation sei zu der Zeit sehr schwierig gewesen, keiner<br />
156
habe gewusst, wo die gegnerischen und wo die eigenen<br />
Truppen stünden, an welcher Stelle die Frontlinie verlaufe.<br />
Im Zuge von Erkundungs- und Aufklärungsoperationen<br />
wurden zwischen dem 22. und 24. März 2000<br />
einige Häuser in Tangi durchsucht und zwei so genannte<br />
›Sklaven‹ entdeckt, die vor 10–15 Jahren gewaltsam aus<br />
Zentralrussland hierher verbracht worden waren.<br />
Als Budanow davon Kenntnis bekam, beschloss er am<br />
26. März 2000, die Lage in Tangi persönlich zu überprüfen.<br />
Er verhaftete zwei Tschetschenen, ließ sie fesseln und<br />
in einem Schützenpanzer auf das Militärgelände bringen.<br />
Dort bat einer der beiden, laut vorgelegtem Personaldokument<br />
Schamil Sambijew, um ein Vier-Augen-Gespräch<br />
mit dem Regimentskommandeur. 15–20 Minuten später<br />
gab Budanow Befehl, nochmals nach Tangi zu fahren,<br />
was er mit Schamils Bereitschaft begründete, ihnen die<br />
Häuser von Personen zu zeigen, die Rebellen seien oder<br />
diese unterstützten. Bei der Fahrt durch das Dorf identifizierte<br />
Schamil die betreffenden Häuser, unter anderem<br />
auch ein weißes Haus am südöstlichen Dorfrand, in<br />
dem eine Heckenschützin wohnen sollte. Außerdem besaß<br />
Budanow ein Foto, auf dem 2–3 Männer sowie 3–4<br />
Frauen mit Waffen in der Hand zu sehen waren.<br />
Seiner Aussage nach beschloss Budanow, die Heckenschützin<br />
so schnell wie möglich festzunehmen. Am 26.<br />
März gegen 15.00 Uhr trank er in der Offizierskantine<br />
Alkohol. Am 26. März gegen Mitternacht fasste er den<br />
Entschluss, persönlich nach Tangi in die Saretschnaja-<br />
Straße zu fahren. Der Schützenpanzer hielt vor dem<br />
157
Haus Nr. 7, in dem die Familie Kungajew wohnte, und<br />
Budanow ging hinein. Im Haus befanden sich Elsa Wissajewna<br />
Kungajewa, geboren 1982, sowie ihre vier minderjährigen<br />
Geschwister. Budanow befahl, Elsa Kungajewa<br />
festzunehmen. Sie wurde in eine Decke gewickelt und im<br />
Heckraum des Schützenpanzers auf das Militärgelände<br />
gebracht. Nachdem Elsa Kungajewa in Budanows Wohncontainer<br />
getragen und auf den Fußboden gelegt worden<br />
war, gab Budanow der Besatzung des Schützenpanzers<br />
Befehl, sich in der Nähe aufzuhalten und niemanden<br />
hereinzulassen. Als er die Soldaten hinausgeschickt hatte,<br />
verlangte Budanow von Elsa Kungajewa <strong>In</strong>formationen<br />
über die Routen, die die Rebellen nutzten. Elsa lehnte ab,<br />
doch Budanow beharrte auf seiner Forderung.<br />
Er begann sie zu schlagen, versetzte ihr Faustschläge<br />
und Fußtritte ins Gesicht und andere Körperteile, was<br />
zu Ekchymosen an der <strong>In</strong>nenseite des rechten Oberschenkels<br />
sowie Blutergüssen in der Schleimhaut des<br />
Mundvorraums und des Kiefers führte. Die Kungajewa<br />
versuchte sich zu wehren, stieß ihn zurück, wollte aus<br />
dem Wohncontainer fliehen. <strong>In</strong> der Überzeugung, Elsa<br />
Kungajewa gehöre zu einer illegalen bewaffneten Formation<br />
und sei verantwortlich für den Tod seiner Untergebenen,<br />
beschloss Budanow, sie umzubringen. Er packte<br />
die Kungajewa an der Kleidung, warf sie auf die hölzerne<br />
Pritsche und drückte ihr mit Gewalt den Hals zu, bis sie<br />
kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Budanow rief die<br />
Besatzung des Schützenpanzers herein und befahl den<br />
Soldaten, die Leiche fortzubringen und außerhalb des<br />
158
Militärgeländes zu vergraben. Am Morgen des 27. März<br />
meldete der Soldat Grigorjew Budanow die Ausführung<br />
des Befehls.<br />
Nach eigener Darstellung hegte Budanow ursprünglich<br />
keinerlei Absichten, Elsa Kungajewa zu töten, und erst<br />
recht nicht, sie sexuell zu nötigen. Doch als sie begann,<br />
die russischen Streitkräfte, die Russen und ihn persönlich<br />
in übler Weise zu beschimpfen, eskalierte die Situation.<br />
Die Kungajewa drohte, die Tschetschenen würden es<br />
Budanow und seiner Familie heimzahlen. Sie versuchte<br />
aus dem Wohncontainer zu fliehen, und Budanow, der<br />
darauf nicht gefasst war, zog sie mit Gewalt von der Tür<br />
weg, wodurch ihre Kleidung teilweise zerrissen wurde.<br />
Budanows Worten zufolge offenbarte Elsa Kungajewa<br />
erhebliche physische Kräfte, sie zerriss sein Trikot und<br />
ein Goldkettchen mit Kreuz, das er als Geschenk seiner<br />
Tochter um den Hals trug. Dafür riss er Elsa Kungajewa<br />
die Oberbekleidung vom Leib. Die Kungajewa schrie, sie<br />
habe ›noch viel zu wenige von euch abgeknallt‹. Als sie<br />
auf der zweiten Pritsche im hinteren Teil des Wohncontainers<br />
lag, versuchte sie, nach seiner auf dem Nachtschrank<br />
abgelegten Pistole zu greifen. Mit einer Hand<br />
hielt Budanow ihren Arm fest, mit der anderen drückte<br />
er den Körper Elsa Kungajewas durch einen Griff an<br />
ihren Hals auf die Pritsche. Die Kungajewa stieß weiter<br />
Drohungen aus. Vor Budanows Augen tauchten die<br />
Gesichter seiner in der Argun-Schlucht getöteten Soldaten<br />
und Offiziere auf.<br />
An das Weitere kann sich Budanow nicht erinnern. Als<br />
159
er zu sich kam, sah er, dass die Kungajewa reglos auf der<br />
Pritsche lag. Nach Aussage Budanows hatte sie zu dieser<br />
Zeit ihren Rock an, Strickjacke und Büstenhalter lagen<br />
im vorderen Teil des Wohncontainers verstreut. Er selbst<br />
war mit seiner Uniformhose bekleidet. Budanow rief die<br />
Besatzung des Schützenpanzers. Der Soldat Li-en-schou<br />
schlug vor, die Leiche in einem Waldstück zu vergraben.<br />
Budanow trug der Besatzung auf, den Körper wieder in<br />
die Decke zu hüllen und vom Militärgelände zu bringen.<br />
Die Kleidung der Kungajewa wickelten sie mit in das<br />
Plaid. Budanow warnte die Soldaten, sie sollten keinesfalls<br />
einen Kontrollschuss in Elsa Kungajewas Kopf abgeben,<br />
um sich nicht auf eine Stufe mit den tschetschenischen<br />
Rebellen zu stellen. Als die Besatzung losgefahren<br />
war, legte er sich auf die Pritsche und schlief ein.«<br />
An dieser Stelle ist ein Exkurs erforderlich.<br />
Die Soldaten des Regiments, die in der Mordnacht<br />
den Wohncontainer des Kommandeurs bewachten, sagten<br />
bei den Vernehmungen übereinstimmend aus, dass<br />
Budanow, als er sie zu sich befahl, nur eine Unterhose<br />
trug. Das Mädchen lag vollkommen nackt auf der hinteren<br />
Pritsche, auf dem Rücken, mit dem Gesicht nach<br />
oben. Auf dem Fußboden war eine Decke ausgebreitet,<br />
darauf Sachen des Mädchens – ihr Schlüpfer, die Strickjacke.<br />
Budanow fragte die Soldaten : »Wer hat Angst vor<br />
Leichen ?« Nachdem er den Untergebenen befohlen hatte,<br />
den Körper einzuwickeln und in dem Waldstreifen zu<br />
vergraben, zündete er sich eine Zigarette an. Er drohte<br />
160
den Soldaten, sie zu erschießen, wenn sie etwas ausplauderten,<br />
er habe genug Patronen für alle, sie bekämen<br />
eine Kugel in den Körper und eine als Kontrollschuss<br />
in den Kopf.<br />
»Am 27. März gegen 13.30 Uhr hatte Budanow seiner Darstellung<br />
zufolge eine Unterredung mit Generalmajor Gerassimow,<br />
der zeitweilig das Kommando über die Truppengruppierung<br />
›West‹ ausübte. Gerassimow begann sofort,<br />
Budanow Vorhaltungen zu machen, er habe das<br />
halbe Dorf in Brand gesetzt und eine Fünfzehnjährige<br />
vergewaltigt. Gerassimow äußerte sich in beleidigender<br />
Form und beschimpfte Budanow rüde. Budanow zog die<br />
Pistole, hielt den Lauf nach unten und schoss in den Boden,<br />
traf aber den eigenen Fuß. Da richteten die Offiziere<br />
aus Gerassimows Begleitung ihre Waffen auf Budanow,<br />
obwohl er nach dem Schuss seine Pistole freiwillig Gerassimow<br />
übergeben hatte.<br />
Im gleichen Augenblick hörte Budanow Lärm und<br />
sah, dass die Aufklärungskompanie des Regiments näher<br />
kam. Die zwanzig Soldaten und zwei Offiziere nahmen<br />
gegenüber der Eskorte General Gerassimows Aufstellung,<br />
sodass beide bewaffneten Gruppen einander gegenüberstanden.<br />
Budanow befahl seinen Untergebenen, die Waffen<br />
zu strecken. Danach ging Budanow mit den Generälen<br />
Gerassimow und Werbizki in das Stabszimmer.<br />
Anschließend schrieb er eine Selbstanzeige.<br />
Bei einem Verhör im Rahmen der Voruntersuchung<br />
am 5. Oktober 2000 erklärte Budanow die Widersprüche<br />
161
in seinen Aussagen damit, dass er sich bei den Vernehmungen<br />
am 27., 28. und 30. März in einem außerordentlich<br />
depressiven Zustand befunden habe.<br />
Auf der Grundlage obiger Darstellung gelangt die Gutachterkommission<br />
zu dem Schluss, dass Budanow im<br />
Hinblick auf die ihm zur Last gelegten Taten als nicht<br />
zurechnungsfähig zu betrachten ist. Ausgelöst durch die<br />
Handlungen Kungajewas (grobe Beschimpfungen, Versuch,<br />
die Pistole zu ergreifen, Drohungen), trat bei ihm<br />
eine temporäre krankhafte Störung der Psyche ein.<br />
Antwort auf Frage Nr. 5 : Die Handlungen der Geschädigten<br />
Kungajewa stellen einen Faktor für die Entstehung<br />
der temporären psychischen Störung Budanows dar.<br />
Antwort auf Frage Nr. 6 : Die Aussagen bezüglich der<br />
Alkoholisierung Budanows sind widersprüchlich und<br />
schließen sich wechselseitig aus. Überzeugende Angaben<br />
im Hinblick auf einen Alkoholrausch liegen nicht vor.<br />
Antwort auf Frage Nr. 7 : Zum gegenwärtigen Zeitpunkt<br />
ist Budanow im Stande, den Charakter seiner Handlungen<br />
zu begreifen. Er befindet sich in ambulanter psychiatrischer<br />
Behandlung. Budanow ist der Kategorie C – begrenzt<br />
tauglich für den militärischen Dienst – zuzuordnen.«<br />
Die Schlussfolgerungen des dritten Gutachtens gaben<br />
Richter Kostin nach geltendem russischen Recht alle<br />
Möglichkeiten an die Hand, den politischen Auftrag zur<br />
Reinwaschung Budanows zu erfüllen :<br />
Erstens konnte er den Oberst nun von der strafrechtlichen<br />
Verantwortung befreien.<br />
162
Zweitens eine zwar zwangsweise, aber eben nur ambulante<br />
psychiatrische Behandlung anordnen, über deren<br />
Dauer bereits nicht mehr das Gericht, sondern der behandelnde<br />
Arzt entschied, womit alle Unannehmlichkeiten<br />
für den Oberst schon bald nach der Urteilsverkündung<br />
vorüber sein durften. Wenn der Arzt dann nämlich<br />
befand, er sei gesund, musste er nicht einmal mehr in<br />
der Klinik erscheinen.<br />
Und drittens blieb Budanow dadurch das Recht erhalten,<br />
weiterhin in den Streitkräften zu dienen. Auf diesen<br />
Aspekt des Urteils drang besonders die Militärführung –<br />
der Stab des Militärbezirks Nordkaukasus und das Verteidigungsministerium<br />
–, hätte doch sonst der Eindruck<br />
entstehen können, die russischen Regimenter in Tschetschenien<br />
stünden unter dem Kommando nachweislich<br />
Verrückter, die niemand rechtzeitig aus dem Verkehr zog,<br />
die niemand behandelte und die Narrenfreiheit besaßen.<br />
Nach wie vor sind bei der Erstellung gerichtsmedizinischer<br />
Gutachten in <strong>Russland</strong> nicht die Fakten entscheidend,<br />
sondern deren Kompilierung und Aufbereitung.<br />
Das Ergebnis der Begutachtung hängt davon ab, wer sie<br />
durchführt. Im Fall Budanow waren das :<br />
– Prof. Dr. med. habil. T. Petschernikowa, Leiterin<br />
der Gutachterabteilung des Serbski-<strong>In</strong>stituts, namhafte<br />
Medizinerin, psychiatrische Gutachterin der höchsten<br />
Klasse mit mehr als 50 Jahren einschlägiger Erfahrung<br />
(Kommissionsvorsitzende) ;<br />
– Prof. Dr. med. habil. F. Kondratjew, Leiter der Ersten<br />
163
klinischen Abteilung des Serbski-<strong>In</strong>stituts, Verdienter<br />
Arzt der Russischen Föderation ; 42 Jahre als Gutachter<br />
tätig ;<br />
– Dr. med. F. Safujanow, 20 Jahre als Gutachter tätig ;<br />
– Oberst des medizinischen Dienstes A. Gorbatko,<br />
Chefgutachter für forensische Psychiatrie des Verteidigungsministeriums<br />
;<br />
– Oberstleutnant des medizinischen Dienstes G. Fastowzew<br />
;<br />
– G. Burnjaschewa, psychiatrische Gutachterin.<br />
Diese Personen erledigten den Hauptteil der Reinwaschungsarbeit,<br />
indem sie Budanow für die Tatzeit Unzurechnungsfähigkeit<br />
bescheinigten. Und darum ist es<br />
wichtig zu verstehen, um was für eine Gutachterkommission<br />
es sich hier handelt, wer Prof. Dr. med. habil.<br />
Tamara Petschernikowa ist und ob es Zufall sein kann,<br />
dass das Gericht gerade sie mit der Erstellung eines politisch<br />
so brisanten Gutachtens beauftragte.<br />
Meiner Überzeugung nach war hier nichts zufällig.<br />
Solche Zufälle gibt es bei uns in <strong>Russland</strong> nicht. Schon<br />
seit der Sowjetzeit nicht mehr. Wie hatten wir gehofft,<br />
sie wäre unwiederbringlich vorüber, wir seien jetzt frei,<br />
das Phantom der verhängnisvollen Vergangenheit schrecke<br />
uns nicht mehr. Doch nein. Wenn nötig, werden die<br />
Gespenster des Kommunismus wiederbelebt, genau dann<br />
und dort, wo die Macht sie braucht, grausiger als je zuvor.<br />
Tamara Petschernikowa, Psychiatrieprofessorin mit<br />
einem halben Jahrhundert Berufserfahrung, ist keine<br />
164
Unbekannte. Wenn im Folgenden einige Etappen ihres<br />
Wirkens nachvollzogen werden, so um zu zeigen, dass<br />
unter der Präsidentschaft Wladimir <strong>Putins</strong> eines der<br />
abscheulichsten Phänomene unserer Geschichte – die im<br />
Auftrag »von oben« tätige politische Psychiatrie – von<br />
einer ganz unerwarteten Seite wieder in unseren Alltag<br />
zurückkehrt.<br />
Am 25. August 1968 fand auf dem Roten Platz in Moskau<br />
eine Demonstration statt, die in die Geschichte eingehen<br />
sollte. Sieben Personen entfalteten Transparente<br />
mit den Losungen »Für unsere und eure Freiheit !« und<br />
»Schmach den Okkupanten !« <strong>In</strong> einem Land, in dem<br />
schon lange niemand mehr widersprach und sich alle<br />
mit der Linie der KPdSU abgefunden hatten, traten Menschen<br />
aus der Anonymität hervor, um gegen den Einmarsch<br />
sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei<br />
zu protestieren. Die Demonstration dauerte nur wenige<br />
Minuten, dann wurden alle sieben Teilnehmer von KGB-<br />
Mitarbeitern in Zivil, die ständig auf dem Roten Platz<br />
patrouillierten, in Gewahrsam genommen. Das Gericht<br />
verurteilte zwei der Demonstranten zu mehreren Jahren<br />
Arbeitslager, einen zur Zwangseinweisung in eine Nervenheilanstalt,<br />
drei zur Verbannung in Provinzstädte. Unter<br />
den Demonstranten war auch Natalja Gorbanewskaja,<br />
Lyrikerin, Journalistin und Dissidentin. Sie kam zunächst<br />
frei, weil sie ein kleines Kind hatte, wurde jedoch am 24.<br />
Dezember 1969 erneut verhaftet, da sie ihren Kampf als<br />
Menschenrechtlerin fortführte. Und hier, im Jahre 1969,<br />
finden wir die erste Spur Tamara Petschernikowas. Sie<br />
165
war es, die auf Anordnung des KGB die psychiatrischen<br />
Vernehmungen Natalja Gorbanewskajas leitete – in besagtem<br />
Serbski-<strong>In</strong>stitut, das einige Jahrzehnte später auch<br />
Oberst Budanows Begutachtung vornahm.<br />
Petschernikowa sprach das Verdikt aus, das der KGB<br />
verlangte : »Schizophrenie«. Schließlich konnte nicht<br />
normal sein, wer auf den Roten Platz ging, um gegen<br />
»unsere« Panzer in Prag zu demonstrieren. Und sie besiegelte<br />
mit ihrer Unterschrift folgenden weiteren Befund<br />
des KGB : Gorbanewskaja ist ein sozial gefährliches Element,<br />
bedarf der unbefristeten Zwangseinweisung in eine<br />
psychiatrische Spezialklinik.<br />
Für Natalja Gorbanewskaja, Gründerin und erste Redakteurin<br />
des Untergrund-Bulletins der sowjetischen<br />
Menschenrechtler »Chronika tekuschtschich sobytii«<br />
(Chronik der aktuellen Ereignisse), brachen schwere Jahre<br />
an. Von 1969 bis 1972 war sie in einer psychiatrischen<br />
Spezialklinik in Kasan eingesperrt. 1975 konnte Gorbanewskaja<br />
dann emigrieren und lebt heute in Frankreich.<br />
Ich habe mit ihr ein <strong>In</strong>terview geführt :<br />
– »Können Sie sich noch an den Namen Petschernikowa<br />
erinnern ?«<br />
– »Natürlich.«<br />
– »Wie verlief Ihre damalige psychiatrische Begutachtung<br />
?«<br />
– »Der mildeste Ausdruck, den ich dafür gebrauchen<br />
kann, ist : tendenziös. Die Diagnose sollte ›Schizophrenie‹<br />
lauten, das stand bereits vorher fest, und alles wurde darauf<br />
hingetrimmt. Mehr brauchte Petschernikowa nicht zu<br />
166
tun. Sie hatten vom KGB die Direktive erhalten, mich<br />
zur Zwangsbehandlung in eine psychiatrische Spezialklinik<br />
zu schicken, und alle, einschließlich Petschernikowa,<br />
taten, was von ihnen verlangt wurde. Weil sie<br />
wussten, dass das Gericht keine überzeugenden Beweise<br />
für die Diagnose verlangen würde, machten sie sich erst<br />
gar nicht die Mühe, etwas Derartiges im Gutachten anzuführen.<br />
Dort hieß es beispielsweise : ›Zeitweilig ist das<br />
Denken inkonsequent.‹ Worin sich dies äußerte, blieb<br />
offen. Oder : ›Gorbanewskaja offenbart Veränderungen<br />
des Denkens, der emotionalen und kritischen Fähigkeiten,<br />
wie sie für Schizophrenie typisch sind.‹ Welche<br />
Veränderungen ? Wieder kein Wort. Dabei war gerade<br />
dies der Kernsatz, der entscheidende Punkt, denn unmittelbar<br />
danach folgt im Gutachten der Schluss, dass<br />
eine Zwangsbehandlung unabdingbar sei. Während des<br />
gesamten Monats der Begutachtung im Serbski-<strong>In</strong>stitut<br />
wurde ich beispielsweise kein einziges Mal nach meinen<br />
Gedichten gefragt, obwohl ich Lyrikerin bin. Als würde<br />
es diese Gedichte überhaupt nicht geben. Ich hatte Angst,<br />
sie könnten mir vielleicht Größenwahn anhängen wollen,<br />
mich fragen : ›Halten Sie sich etwa für eine Dichterin<br />
?‹ Aber nichts dergleichen, und heute weiß ich auch,<br />
warum. Ihr Konzept der ›emotionalen Kälte und Verhärtung‹<br />
als Folge einer ›Schizophrenie‹ ließ keine Gedichte<br />
zu. ›Die begutachtete Patientin … lässt sich bereitwillig<br />
auf ein Gespräch ein. Sie verhält sich ruhig.<br />
Lächelt.‹ Alles richtig, nur was mich diese Ruhe kostete !<br />
Ich begriff, dass ich Ruhe an den Tag legen musste, ih-<br />
167
nen keinen Vorwand liefern durfte, irgendwelche Symptome<br />
zu erfinden. Mit der Konsequenz, dass nun genau<br />
diese Ruhe zu einem Symptom gemacht wurde, über<br />
das sie im Gutachten schrieben : ›… zeigt keine Beunruhigung<br />
im Hinblick auf die Zukunft und das Schicksal<br />
ihrer Kinder.‹ Und wie ich mich um meine Kinder<br />
sorgte, aber das würde ich doch nicht KGB-Psychiatern<br />
auf die Nase binden ! Ich zitiere weiter : ›Sagt sich nicht<br />
los von ihren Taten. Ist unerschütterlich überzeugt von<br />
der Richtigkeit ihres Handelns. Erklärt beispielsweise,<br />
so gehandelt zu haben, um sich später nicht schuldig<br />
fühlen zu müssen vor ihren Kindern.‹ Ich sage mich<br />
auch heute nicht los von meinen Taten, bin nach wie<br />
vor überzeugt, richtig gehandelt zu haben, und meine<br />
Kinder sind stolz auf mich und mein Schicksal … Doch<br />
lesen wir weiter : ›Kann die gegebene Situation nicht kritisch<br />
einschätzen.‹ Die Psychiater, unter ihnen Petschernikowa,<br />
meinten, mich für verrückt erklären zu müssen,<br />
weil ich meinen eigenen Kopf zum Denken gebrauchte.<br />
Wobei anzumerken ist, dass ich während des gesamten<br />
Monats der Begutachtung lediglich Kontakt hatte mit<br />
Petschernikowa und dem Arzt Martynenko. Nur von<br />
ihnen stammten all diese ›Beobachtungen‹, auf denen<br />
die Kommission ihre endgültigen Schlussfolgerungen<br />
aufbaute. Ich denke, dass sie sehr wohl begriffen, welche<br />
Verdrehungen und Verzerrungen sie da vornahmen,<br />
doch dies hinderte sie nicht, den verwerflichen Auftrag<br />
auszuführen. Petschernikowa hat also Erfahrung mit<br />
solchen kriminellen Missionen. Mir scheint, die Arbeit<br />
168
im Serbski-<strong>In</strong>stitut untergrub zwangsläufig sowohl den<br />
menschlichen Anstand als auch die berufliche Qualifikation<br />
der Psychiater. Wenn die Ärzte dort nicht absolute<br />
Zyniker waren, musste dieser Job zu einer schizophrenen<br />
Persönlichkeitsspaltung fuhren.«<br />
– »Wie ging alles weiter ? Welche Konsequenzen hatte<br />
Petschernikowas Gutachten für Sie ? Wie lange waren Sie<br />
schließlich in der psychiatrischen Spezialklinik ?«<br />
– »Zwei Jahre und zwei Monate. Ich nenne diese Anstalten<br />
psychiatrische Gefängnisse. <strong>In</strong> dem schlimmsten,<br />
in Kasan, verbrachte ich neuneinhalb Monate. Aus<br />
dem Moskauer Butyrka-Gefängnis kam ich im Januar<br />
1971 nach Kasan. 1972 wurde ich, wieder mit Zwischenstation<br />
in der Butyrka, erneut in das Serbski-<strong>In</strong>stitut gebracht,<br />
zu einer weiteren Begutachtung. Noch einmal<br />
drei Monate. Aber es geht nicht um die Zeit, sondern<br />
darum, dass ich zwangsweise schwere Neuroleptika gespritzt<br />
bekam. Haloperidol, dessen Anwendung schon<br />
lange als Folter gilt. <strong>In</strong> der klinischen Praxis wurde es<br />
zur Behandlung von Wahnvorstellungen und Halluzinationen<br />
eingesetzt. Ich hatte weder das eine noch das andere,<br />
sofern man damit nicht meine Anschauungen meint,<br />
aber die habe ich ja auch heute noch. Eine normale Haloperidol-Behandlung<br />
sieht so aus, dass es einen Monat<br />
lang verabreicht wird und dann eine Pause mit Korrektur-Medikamenten<br />
folgt, weil Haloperidol als Nebenwirkung<br />
Parkinsonkrankheit auslöst. Mir wurde Haloperidol<br />
neuneinhalb Monate lang gespritzt, ohne Korrekturmittel,<br />
ohne Unterbrechung. Als sie mich aus Kasan zum<br />
169
zweiten Mal in das Serbski-<strong>In</strong>stitut brachten und wieder<br />
mit Haloperidol behandelten, sagte Petschernikowa zu<br />
mir : ›Sie verstehen doch sicher, dass Sie das Medikament<br />
weiter einnehmen müssen.‹ So eine Scheinheiligkeit !«<br />
– »Und was kam dann ?«<br />
– »Ich emigrierte. Über Wien nach Paris. Und dann<br />
kam das große Gelächter, als ich später französischen<br />
Psychiatern meinen Krankenbericht aus dem Serbski-<br />
<strong>In</strong>stitut zeigte. Einer der französischen Experten sagte<br />
zu mir : ›Na, da müssen wir wohl noch einmal bei den<br />
sowjetischen Psychiatern in die Schule gehen, denn wenn<br />
man ihrer Diagnose traut, haben wir den wunderbaren<br />
Fall einer Heilung von Schizophrenie vor uns.‹«<br />
Natalja Gorbanewskaja gehörte zu den ersten, die in der<br />
UdSSR von psychiatrischen Zwangsmaßnahmen gegen<br />
Andersdenkende betroffen waren. Erst recht entfalten<br />
konnte sich Tamara Petschernikowa, die diese Zwangspsychiatrie<br />
aktiv mit verantwortete, in den bedrückenden<br />
siebziger Jahren, als das kommunistische Regime einen<br />
hartnäckigen Krieg gegen die Bürgerrechtler in unserem<br />
Land führte. Wir hatten damals eine ganz passable Verfassung,<br />
und damit sich der Westen nicht allzu sehr über<br />
den in der UdSSR herrschenden Totalitarismus empörte,<br />
zog es der KGB vor, Andersdenkende mit psychiatrischen<br />
Methoden mundtot zu machen, indem man sie einfach<br />
für psychisch krank erklärte und zur Zwangsbehandlung<br />
in spezielle Nervenheilanstalten einwies.<br />
Allein 1971 wurden, wie Ljudmila Alexejewa, eine be-<br />
170
kannte Menschenrechtlerin und Dissidentin der Sowjetzeit<br />
– durch politische Repressalien zur Emigration in<br />
die USA gezwungen und heute Präsidentin der »<strong>In</strong>ternational<br />
Helsinki Federation for Human Rights« – in ihrem<br />
Buch »Istorija inakomyslija v SSSR« (Die Geschichte<br />
der Dissidentenbewegung in der UdSSR) schreibt, »von<br />
fünfundachtzig politisch Verurteilten vierundzwanzig<br />
für unzurechnungsfähig erklärt, also fast jeder Dritte«.<br />
Wen man absolut nicht als verrückt abstempeln konnte,<br />
der bekam sein Urteil wegen Diffamierung der sowjetischen<br />
Ordnung, und auch das wiederum mit Hilfe besagter<br />
Tamara Petschernikowa.<br />
So ging im Sommer 1978 ein solcher Prozess gegen<br />
den Dissidenten Alexander Ginsburg über die Bühne.<br />
Und nun trat Tamara Petschernikowa bereits als Zeugin<br />
der Anklage in Erscheinung.<br />
Alexander Ginsburg war einer der bekanntesten sowjetischen<br />
Menschenrechtler, Journalist, Mitglied der Moskauer<br />
Helsinki-Gruppe, Herausgeber der im Samisdat verbreiteten<br />
Lyrik-Anthologie »Sintaksis« (Syntax), von 1974<br />
bis 1977 erster Geschäftsführer des von Alexander Solshenizyn<br />
aus seinen Honoraren für den »Archipel GULAG«<br />
gestifteten »Gesellschaftlichen Fonds zur Unterstützung<br />
der politischen Häftlinge in der UdSSR und ihrer Familien«.<br />
Zwischen 1961 und 1969 stand er dreimal als Dissident<br />
vor Gericht und erhielt Haftstrafen, die er in Arbeitslagern<br />
verbüßen musste. 1978 wurde er zu 8 Jahren<br />
Freiheitsentzug verurteilt, jedoch 1979 unter dem Druck<br />
des Westens gegen in den USA inhaftierte sowjetische<br />
171
Spione ausgetauscht. Danach lebte er lange in Frankreich,<br />
in Paris, wo er 2002 starb – an den Krankheiten, die<br />
ihm die Arbeitslager in der Sowjet union beschert hatten.<br />
Auf meine Bitte beschreibt Arina Ginsburg, seine Frau<br />
und Mitstreiterin, die Atmosphäre jenes Prozesses im<br />
mittelrussischen Kaluga, an dem Tamara Petschernikowa<br />
mitwirkte.<br />
»Bei Alexanders Verfahren war es gerade die Psychiatrie,<br />
die große Probleme bereitete. Für die Verhandlungen<br />
pumpten sie ihn mit Neuroleptika voll, und er schaltete<br />
mitten in den Sitzungen völlig ab. Die ganze Zeit<br />
haben sie ihm Spritzen gegeben, Alexander sah seltsam<br />
aus : Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, ging<br />
schlurfend, in der Hand hielt er ein Netz mit Büchern<br />
(Alexander verzichtete auf einen Anwalt, verteidigte sich<br />
selbst), und er trug einen langen grauen Bart. Er konnte<br />
nicht zusammenhängend reden, war unkoordiniert, als<br />
er darum bat, sich setzen zu dürfen, wurde ihm das verweigert,<br />
und er fiel bewusstlos um … Gleich nach der<br />
Verurteilung haben sie ihn dann in Ruhe gelassen, ihm<br />
keine Spritzen mehr gegeben …«<br />
Auszug aus den Protokollen der Gerichtsverhandlung :<br />
»<strong>In</strong> Bezug auf das Dokument Nr. 8 erfolgte die Befragung<br />
von Petschernikowa, Leiterin der Abteilung für<br />
medizinische Gutachten des Serbski-<strong>In</strong>stituts, und Kusmitschewa,<br />
Ärztin der psychiatrischen Klinik Nr. 14 in<br />
Moskau. Sie bestätigten, dass in der UdSSR keinerlei<br />
Missbrauch der Psychiatrie existiert.«<br />
172
Ginsburg hatte während der Verhandlungen nachdrücklich<br />
das Gegenteil zu beweisen versucht : dass es<br />
diesen Missbrauch eben doch gab. Und darüber vor seiner<br />
Verhaftung auch in den Samisdat-Publikationen geschrieben,<br />
die eklatante Zunahme psychiatrischer Repressionen<br />
angeprangert, die Tätigkeit der Petschernikowa<br />
und ihresgleichen beschrieben.<br />
Nachfolgend sei das oben erwähnte »Dokument Nr. 8«,<br />
ein Artikel aus dem Menschenrechts-Bulletin »Chronik<br />
der aktuellen Ereignisse« vom 12. Oktober 1976, auszugsweise<br />
zitiert :<br />
»Vor kurzem wandte sich die Unterstützer-Gruppe zur<br />
Durchsetzung der Helsinki-Verträge an den Obersten<br />
Sowjet der UdSSR und den Kongress der Vereinigten<br />
Staaten mit dem Vorschlag, eine gemeinsame<br />
Kommission zur Untersuchung sämtlicher Fakten eines<br />
Missbrauchs der Psychiatrie ins Leben zu rufen. <strong>In</strong><br />
diesem Dokument führt die Gruppe alle ihr bekannt<br />
gewordenen Fälle psychiatrischer Repressionen aus der<br />
jüngsten Vergangenheit auf.<br />
Pjotr Startschik, Komponist und Sänger, wurde am 15.<br />
September 1976 durch die Miliz in die psychiatrische Klinik<br />
Stolbowaja verbracht. Ihm werden dort hohe Dosen<br />
Haloperidol injiziert … Die Krankenakte für Pjotr Startschik<br />
enthält folgenden Eintrag : ›S. g. E.‹ (sozial gefährliches<br />
Element). War zwangsweise nach Paragraf 70 in<br />
der psychiatrischen Klinik Perm untergebracht. Entlassen<br />
1975. Schreibt in letzter Zeit Lieder antisowjetischen<br />
<strong>In</strong>halts, versammelt in seiner Wohnung 40–50 Personen.<br />
173
Macht bei der Untersuchung einen beherrschten Eindruck.<br />
Bestreitet nicht, dass er Lieder verfasst, ›ich habe<br />
meine eigene Weltanschauung‹ …<br />
Eduard Fedotow war Kirchendiener in Pskow. Als er<br />
von der Verfolgung gläubiger Christen erfuhr … reiste er<br />
nach Moskau. Dort wurde er von der Miliz festgenommen<br />
und in die psychiatrische Klinik Nr. 14 gebracht,<br />
wo er sich bis heute befindet.<br />
Nadeshda Gaidar wollte am 7. Mai 1976 in der Generalstaatsanwaltschaft<br />
der UdSSR eine Beschwerde abgeben,<br />
wurde von Milizionären überwältigt und in die<br />
psychiatrische Klinik Nr. 13 gebracht, wo man ihr sofort<br />
Aminasin-<strong>In</strong>jektionen verabreichte … Die Leiterin der<br />
Abteilung 2 des Krankenhauses, L. I. Fjodorowa, erklärte :<br />
›Damit sie sich nicht mehr beschwert, behalten wir sie<br />
eine Zeit lang hier, dann geht es – über die Spezialsammelstelle<br />
– ab nach Kiew. Dort behält man sie auch eine<br />
Weile da … Das nächste Mal wird sie gründlich nachdenken,<br />
ehe sie sich beschwert.‹<br />
Dr. Tamara Petschernikowa aber behauptete vor Gericht,<br />
derlei gäbe es nicht in der sowjetischen Psychiatrie,<br />
Ginsburg sei ein Verleumder. Ihre Zeugenaussage trug<br />
dazu bei, dass Alexander Ginsburg wegen Diffamierung<br />
des Staates und antisowjetischer Propaganda abgeurteilt<br />
wurde. Das Ergebnis für ihn : acht Jahre Freiheitsentzug,<br />
Gefängnis, Arbeitslager, Tuberkulose, nur noch ein Viertel<br />
eines Lungenflügels, der andere komplett entfernt ; die<br />
gesamten letzten Lebensjahre sechzehn Stunden täglich<br />
angeschlossen an einen Sauerstoffapparat.<br />
174
Um zu begreifen, was gegenwärtig in <strong>Russland</strong> geschieht,<br />
muss man nicht nur wissen, dass die politisch<br />
gelenkte Psychiatrie faktisch zu neuem Leben erweckt<br />
wurde, sondern auch, wie sie heute funktioniert.<br />
Bezeichnenderweise sind die Akten fast aller ›Petschernikowa-Fälle‹<br />
– von Gorbanewskaja bis Budanow – durchsetzt<br />
mit Termini wie ›Suche nach sozialer Gerechtigkeit‹.<br />
Nur, dass sich deren <strong>In</strong>terpretation heute ins Gegenteil verkehrt<br />
hat. <strong>In</strong> den Jahren der Sowjetmacht untermauerte<br />
Tamara Petschernikowa ihr Verdikt der ›Schizophrenie‹<br />
mit dem Argument, diese ›Suche nach sozialer Gerechtigkeit‹<br />
sei das Symptom eines psychischen Gebrechens und<br />
unvereinbar mit einem weiteren Verbleib in der Gesellschaft.<br />
Jetzt aber vertritt sie genau die entgegengesetzte Position,<br />
nach der sogar ein brutaler Mord gerechtfertigt sein<br />
kann durch das ›positive‹ Empfinden ›sozialer Gerechtigkeit‹,<br />
und zwar dann, wenn die Tat ›sozial motiviert‹ ist.<br />
Die entscheidende Frage lautet : Ist es Zufall, dass<br />
gerade Tamara Petschernikowa in den Gerichtsverfahren<br />
gegen Alexander Ginsburg und Natalja Gorbanewskaja<br />
eine Rolle spielte ?<br />
Nein, natürlich nicht. Sie war eine treue Kampfgefährtin<br />
des KGB, die wusste, was man von ihr als ›Auftragsärztin‹<br />
erwartete.<br />
Fragen wir also weiter : Kann es Zufall sein, dass sie<br />
fünfundzwanzig Jahre nach ihrer Rolle als Zeugin im<br />
Ginsburg-Prozess in der Strafsache Juri Budanow wieder<br />
auftaucht ?<br />
Mitnichten. Weil sie eine treue ›Auftragsärztin‹ blieb.<br />
175
<strong>In</strong> den KGB-FSB-Kreisen der letzten drei Jahrzehnte<br />
wusste man, dass auf Tamara Petschernikowa Verlass ist.<br />
Kaum fasst der FSB nach den Jelzin-Jahren unter Putin<br />
wieder Tritt, da wird auch die Petschernikowa erneut<br />
mit Aufträgen versorgt. Keiner kennt sich schließlich in<br />
Sachen Gefälligkeitsgutachten so exzellent aus wie sie.<br />
Unter dem ›späten‹, demokratischen Gorbatschow und<br />
unter Boris Jelzin verhielt sie sich still und unauffällig,<br />
damals war sie nicht gefragt, doch als in <strong>Russland</strong> die<br />
Ära eines KGB-Obersts mit zwanzigjähriger Dienstzeit<br />
anbrach, da schlüpften ehemalige KGB-Leute ihm hinterdrein<br />
auf alle nur möglichen Pöstchen. Sie brauchen<br />
Tamara Petschernikowa wieder, wie früher.<br />
Unabhängige Quellen – offizielle Statistiken existieren<br />
selbstredend nicht – gehen davon aus, dass bereits mehr<br />
als 6000 ehemalige Mitarbeiter von KGB und FSB in<br />
<strong>Putins</strong> Gefolge Machtstrukturen erobern und wichtige<br />
staatliche Ämter besetzen konnten. Darunter in so entscheidenden<br />
Schaltstellen wie der Verwaltung des Präsidenten<br />
(zwei stellvertretende Leiter des Präsidialamts ;<br />
zwei Chefs von Dezernaten – des <strong>In</strong>formationsdienstes<br />
und der Kaderabteilung), im Sicherheitsrat (ein stellvertretender<br />
Sekretär), im Regierungsapparat, im Verteidigungs-<br />
und im Außenministerium, den Ministerien für<br />
Justiz, Atomindustrie, <strong>In</strong>neres, Steuern und Abgaben<br />
sowie Pressewesen, Funk, Fernsehen und Massenmedien,<br />
im Staatlichen Zollkomitee, der Agentur für Staatsreserven<br />
der Russischen Föderation, dem Komitee für finanzielle<br />
Konsolidierung usw. usw.<br />
176
Wie eine chronische Krankheit neigt die Geschichte<br />
zu Rückfällen. Heilung hätte nur eines bringen können :<br />
eine moderne Chemotherapie, die alle todbringenden<br />
Zellen vernichtet. Diese Heilungschance wurde verpasst,<br />
wir haben sämtliche sowjetischen Wanzen aus der UdSSR<br />
in das »neue <strong>Russland</strong>« mit hinübergeschleppt. Das Ende<br />
vom Lied – Staatssicherheit, wohin man blickt, und wieder<br />
Petschernikowa …<br />
Doch um zu unserer zentralen Frage zurückzukehren,<br />
ob das erneute Auftauchen einer Frau Professor Petschernikowa<br />
im Budanow-Prozess rein zufällig ist, was sich<br />
ohne Substanzverlust auch anders formulieren lässt : Ist<br />
der gegenwärtige Höhenflug der Tscheka in <strong>Russland</strong><br />
Zufall ? Oder die Tatsache, dass sich jene <strong>In</strong>frastruktur,<br />
die dem Fortbestand des sowjetischen Unterdrückungs-<br />
und Zwangssystems diente, in das 21. Jahrhundert hinüberretten<br />
konnte ?<br />
All das sind keine Zufälle. Schauen wir zurück in das<br />
Jahr 2000, auf die Zeit vor den Präsidentschaftswahlen.<br />
Damals sagten viele : »Der Teufel wird schon nicht so<br />
schwarz sein, wie man ihn an die Wand malt. Und<br />
was macht es schon, dass er aus dem sowjetischen KGB<br />
kommt ? Das schleift sich ab.«<br />
Hat es aber nicht. Und heute sehen wir uns umringt<br />
von Putin-Freunden und -Freundesfreunden, die nur<br />
ihresgleichen vertrauen. Also sind die Schaltzentralen<br />
der Macht wie die machtnahen Strukturen im neuen<br />
<strong>Russland</strong> voll von Bürgern mit sehr speziellen Traditionen,<br />
einer ausgeprägt repressiven Mentalität und der<br />
177
entsprechenden Art, die Probleme des Staates zu lösen.<br />
Was nun Tamara Petschernikowa anbelangt, so hat sie<br />
es verstanden, in zwanzig Jahren Praxis »zur Verteidigung<br />
der sowjetischen Staats- und Gesellschaftsordnung«<br />
den Mechanismus dieser Verteidigung in ihrem Fach zu<br />
perfektionieren, die Psychiatrie auf die Erfordernisse der<br />
Staatssicherheit auszurichten. Was Wunder, wenn ein<br />
Jahrzehnt nach dem äußeren Zusammenbruch des Sowjetsystems<br />
ihre spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />
wieder gefragt sind.<br />
Es geht hier nicht um graue politische Theorie. Im Fall<br />
Budanow konnten Tamara Petschernikowas Entscheidungen<br />
Leben oder Tod bedeuten. Wie in den siebziger<br />
und achtziger Jahren.<br />
Ob Budanow freigesprochen oder verurteilt wurde,<br />
war eine prinzipielle Frage. Vor allem für die Armee, die<br />
sich in Tschetschenien zu einer repressiven politischen<br />
Struktur entwickelt hatte und nun darauf wartete, welches<br />
Präjudiz das Gericht in Rostow am Don schaffen<br />
würde. Schuldurteil oder Freispruch ? Hing doch davon<br />
ab, ob man auch »durfte« wie Budanow.<br />
Man durfte, befand Petschernikowa. Und spielte damit<br />
Richter Kostin die juristische Möglichkeit zu, gleichfalls<br />
zu befinden : Man darf.<br />
Dieses Signal wurde in Tschetschenien richtig verstanden.<br />
Die Offiziere, die in der »Anti-Terror-Operation« im<br />
Einsatz waren, machten dort weiter, wo Budanow aufgehört<br />
hatte. Die entsprechenden Beispiele reichen für ein<br />
weiteres Buch. Ende Mai 2002 gab es erneut eine Serie<br />
178
von Entführungen und Ermordungen junger Frauen. Am<br />
22. Mai wurde in Argun, in der Schali-Straße Nr. 125,<br />
die hübsche sechsundzwanzigjährige Grundschullehrerin<br />
Swetlana Mudarowa frühmorgens von Militärs aus ihrem<br />
Haus verschleppt, in Hausschuhen und Nachthemd verfrachtete<br />
man sie in einen Schützenpanzer. Zwei Tage<br />
lang taten die Militärs alles, um zu verschleiern, wo sie<br />
die Entführte versteckt hielten. Und am 31. Mai wurde<br />
der verstümmelte Leichnam Swetlana Mudarowas in die<br />
Ruinen eines zerstörten Hauses geworfen.<br />
Mehr als ein Jahr verging. Die Strafsache Budanow<br />
wuchs um drei weitere gerichtsmedizinische Gutachten,<br />
die Tamara Petschernikowas Schlussfolgerungen als unhaltbar<br />
widerlegten. Der Oberste Gerichtshof verwies daraufhin<br />
den Fall Budanow zur Neuverhandlung an das<br />
Militärgericht zurück, die nunmehrigen Richter gaben<br />
ein weiteres Gutachten in Auftrag, Staatsanwalt Nasarow<br />
wurde faktisch aus dem Verfahren hinausexpeditiert.<br />
Und Tamara Petschernikowa ? Erhielt sie eine Strafe<br />
für ihre Lügen ? Oder wenigstens die Entlassung aus<br />
dem Serbski-<strong>In</strong>stitut ? Natürlich nicht. Petschernikowa<br />
ist immer mit uns. Man hält sie in Reserve, bis ihre<br />
Dienste wieder vonnöten sind.<br />
Kommen wir nun zu einer Seite des Falls Budanow, die<br />
Professor Tamara Petschernikowa vollkommen außer<br />
Acht ließ. Es ist die widerwärtigste, die abscheulichste<br />
und schmutzigste Seite, an der man am liebsten nicht<br />
rühren würde. Doch es muss sein. Zum einen um der<br />
179
Wahrheit willen. Zum anderen, damit wir verstehen, was<br />
sich in Tschetschenien unter dem Getöse der offiziellen<br />
Lüge und Propaganda abspielt.<br />
Die achtzehnjährige Elsa Kungajewa wurde nicht nur<br />
brutal ermordet, sie wurde auch vergewaltigt. Worüber<br />
das Protokoll der gerichtsmedizinischen Vor-Ort-Untersuchung<br />
vom 28. März 2000 Auskunft gibt :<br />
»Die Fundstelle befindet sich in einem Waldstreifen,<br />
950 m von der Kommandozentrale des Panzerregiments<br />
entfernt. Aufgefunden wurde eine vollkommen nackte<br />
Frauenleiche, die in eine Decke (Plaid) gewickelt war.<br />
Die Leiche lag auf der linken Seite, die Beine waren<br />
an den Bauch gezogen, die Arme gebeugt und an den<br />
Oberkörper gepresst. Das Perineum im Bereich der äußeren<br />
Genitalien war blutverschmiert, die Decke an dieser<br />
Stelle ebenfalls blutig.<br />
Die gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche<br />
Elsa Kungajewas erfolgte am 28. März 2000 von 12.00<br />
bis 14.00 Uhr am Ortsrand von Tangi-Tschu bei ausreichendem<br />
Tageslicht durch den Leiter der medizinischen<br />
Abteilung des 124. Labors, Hauptmann des medizinischen<br />
Dienstes W. Ljanenko. Die Körpergröße der<br />
Frauenleiche beträgt 164 cm … An den äußeren Genitalien,<br />
den Hautdecken des Perineums, dem oberen Drittel<br />
der hinteren Oberschenkelfläche finden sich feuchte<br />
dunkelrote Schmierstellen, die mit Schleim vermischtem<br />
Blut ähneln … Das Hymen weist eine kreisförmige Öffnung<br />
von ca. 0,6 cm Durchmesser auf. Im Hymen wurden<br />
ekchymotische, strahlenförmig verlaufende lineare<br />
180
Risse festgestellt. <strong>In</strong> der Gesäßfalte sind angetrocknete<br />
Spuren mit rötlicher, schwarzbrauner und gräulicher<br />
Färbung nachweisbar. 2 cm vom Afterausgang entfernt<br />
befindet sich eine bis zu 3 cm lange Schleimhautruptur.<br />
Der Einriss ist mit geronnenem Blut gefüllt, was seine<br />
prämortale Entstehung beweist. Die Decke hat auf der<br />
dem Körper zugewandten Seite einen feuchten schwarzbraunen,<br />
18 × 20 × 21 cm großen Fleck, der wie Blut aussieht.<br />
Der Fleck befindet sich auf dem Teil der Decke,<br />
der unter dem Perineumsbereich der Leiche lag.<br />
Neben der Leiche wurden sichergestellt : 1. eine Wollstrickjacke,<br />
Rückenteil über die gesamte Länge hinweg<br />
vertikal zerrissen (zerschnitten) ; … 3. ein getragenes T-<br />
Shirt, Rückenteil über die gesamte Länge zerrissen (zerschnitten)<br />
; 4. ein getragener Büstenhalter, hinten links<br />
über die gesamte Breite zerrissen (zerschnitten) ; 5. ein<br />
getragener Schlüpfer, an der Außenseite im Bereich des<br />
Perineums mit trockenen dunkelbraunen und gelben Flecken,<br />
die wie Spuren von Kot und Harn aussehen. Eine<br />
Entnahme von Material für eine histologische Untersuchung<br />
erfolgte auf Grund fehlender Voraussetzungen<br />
für die Aufbewahrung und Konservierung nicht. Entnommen<br />
wurden Abstriche aus Vagina und Rektum<br />
auf Gazetampons, ein Blutabstrich auf Mulltupfer. Die<br />
genannten Objekte sowie die Bekleidungsteile, die zusammen<br />
mit der Leiche geborgen werden konnten, wurden<br />
dem Untersuchungsführer übergeben.<br />
Die an der Leiche Elsa Kungajewas nachgewiesenen<br />
Einrisse des Hymens und der Schleimhaut des Rektums<br />
181
entstanden durch Einführung eines stumpfen, festen<br />
Gegenstands (stumpfer, fester Gegenstände). Es ist nicht<br />
auszuschließen, dass es sich dabei um einen erigierten<br />
Penis gehandelt haben könnte. Ebenso kommt auch der<br />
Schaft eines kleinen Pionierspatens in Frage. Die Gutachter<br />
sind sich jedoch darin einig, dass die bei der Untersuchung<br />
der Leiche festgestellte Verletzung des Hymens<br />
sowie des Rektums prämortaler Natur ist.«<br />
Budanow bestritt von Anfang an vehement, Elsa Kungajewa<br />
vergewaltigt zu haben. Wer war es dann, der sie<br />
missbrauchte ? Und nicht nach, sondern vor ihrem gewaltsamen<br />
Tod. Immerhin haben wir noch in Erinnerung,<br />
dass in Elsas letzten Stunden Budanow mit ihr allein<br />
war und die Soldaten den Wohncontainer erst betraten,<br />
als das Mädchen bereits nicht mehr lebte.<br />
Außer den psychologisch-psychiatrischen Gutachten<br />
für Budanow wurden im Rahmen der Voruntersuchung<br />
noch zwei gerichtsmedizinische Expertisen erstellt, und<br />
zwar in Rostow am Don, von den Sachverständigen des<br />
dem Verteidigungsministerium unterstellten 124. Zentrallabors<br />
für medizinisch-forensische Identifizierung.<br />
Beide Dokumente ließen keinen Zweifel am Tatbestand<br />
der Vergewaltigung.<br />
Als das Gericht mit der großen Reinwaschung des<br />
Angeklagten begann, forderte es eine dritte gerichtsmedizinische<br />
Untersuchung. Die ebenso wie die neuerliche<br />
Begutachtung Juri Budanows im Moskauer Serbski-<strong>In</strong>stitut<br />
endlich die »richtigen«, dem Kreml und der Militär-<br />
182
führung genehmen Schlussfolgerungen erbringen sollte.<br />
Schließlich konnte ein Offizier, zweifach dekoriert mit<br />
dem Tapferkeitsorden, nicht in den Verfahrensakten als<br />
Vergewaltiger dastehen.<br />
Zu welchen Feststellungen gelangten nun die neuen<br />
Sachverständigen im Unterschied zu Hauptmann Ljanenko,<br />
der seine Schlussfolgerungen im Zuge der unmittelbaren<br />
<strong>In</strong>augenscheinnahme traf ?<br />
»Die Einrisse des Hymens und der Darmschleimhaut<br />
entstanden postmortal, als die für lebendes Gewebe typische<br />
Kontraktionsfähigkeit vollkommen erloschen war.«<br />
Was nur heißen konnte, dass zwar zweifelsfrei irgendjemand<br />
das Mädchen missbraucht hatte, aber dafür keinesfalls<br />
Budanow in Frage kam, denn der besaß ein<br />
Alibi : Nach dem Mord war er seelenruhig schlafen gegangen.<br />
Um dem Ganzen noch mehr Glaubhaftigkeit zu verleihen,<br />
verwandeln die Sachverständigen die von Hauptmann<br />
Ljanenko konstatierten massiven Blutergüsse in<br />
ein »Vorhandensein von Blutmarkierungen im Bereich<br />
der äußeren Genitalien, was der Annahme eines postmortalen<br />
Ursprungs der Schädigungen nicht widerspricht …«<br />
Und sie finden auch noch eine »objektive« Handhabe,<br />
um von »Nichtvergewaltigung« zu sprechen : »Der unbegründete<br />
Verzicht des gerichtsmedizinischen Gutachters<br />
auf die Entnahme von Material für eine forensisch-histologische<br />
Untersuchung erlaubt zum gegenwärtigen Zeitpunkt<br />
keine stichhaltigeren Ausführungen …«<br />
Was wahr ist, ist wahr. Im Krieg lassen sich histolo-<br />
183
gische Proben nirgendwo aufbewahren (was nicht das<br />
Geringste zu tun hat mit »unbegründetem Verzicht«),<br />
und so verhilft dieser Krieg Budanow zu einem Alibi.<br />
Ohne histologisches Material, darin waren sich später<br />
die Experten der anatomischen Pathologie einig, sind alle<br />
Versuche, den Tatbestand einer Vergewaltigung nachzuweisen<br />
und Budanow als Täter zu überführen, zum<br />
Scheitern verurteilt.<br />
Nun konnte die »richtige« Schlussfolgerung präsentiert<br />
werden :<br />
»Es gibt keine Anhaltspunkte für die Vermutung, dass<br />
die postmortalen Schädigungen von einem im erigierten<br />
Zustand befindlichen männlichen Geschlechtsteil stammen.<br />
Die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung<br />
der Leiche sowie der Beweisstücke bieten keine<br />
Grundlage für den Schluss, dass an E. Kungajewa ein<br />
gewaltsamer Geschlechtsakt verübt wurde.«<br />
Die Vergewaltigung hat also nicht stattgefunden.<br />
Und wer war es diesmal, der mit seiner Unterschrift<br />
Budanows »reinwusch« ?<br />
– Dr. med. habil. I. Gedyguschew, stellvertretender<br />
Direktor des Gerichtsmedizinischen Zentrums des Gesundheitsministeriums<br />
der Russischen Föderation, Verdienter<br />
Arzt <strong>Russland</strong>s ;<br />
– Dr. med. A. Issajew, Leiter der Abteilung für komplexe<br />
Expertisen des genannten Gerichtsmedizinischen<br />
Zentrums, Gutachter der höchsten Klasse ;<br />
– Dr. med. O. Budjakow, Facharzt für Gerichtsmedizin<br />
in der Abteilung für komplexe Expertisen des genann-<br />
184
ten Gerichtsmedizinischen Zentrums, Verdienter Arzt<br />
<strong>Russland</strong>s.<br />
Sicher glaubten sie, mit ihren Bemühungen die russische<br />
Armee reinzuwaschen von einem Schandfleck. Mag<br />
sein, dass dieser Fleck auf den Uniformjacken nicht mehr<br />
zu sehen ist. Auf den Uniformhosen allemal.<br />
Was aber bedeutet dies alles für <strong>Russland</strong> ? <strong>In</strong> den<br />
drei Jahren, die der Budanow-Prozess dauerte, konnte<br />
ich mich nur wundern über die Reaktion der russischen<br />
Frauen, die ja immerhin in unserem Land mehr als die<br />
Hälfte der Bevölkerung ausmachen und bereits von ihrer<br />
Geschlechtszugehörigkeit her eigentlich abgrundtiefen<br />
Hass gegen Vergewaltiger empfinden müssten. Doch<br />
offenbar nicht.<br />
Außerdem haben Millionen von Eltern heranwachsende<br />
Töchter. Und müssten deshalb, wie mir schien,<br />
den Schmerz der Familie Kungajew verstehen und teilen.<br />
Aber nein.<br />
Das staatliche Fernsehen zeigte ein <strong>In</strong>terview mit<br />
der Ehefrau Budanows. Sie schwafelte etwas von ihrem<br />
armen Mann, der, gepeinigt von Begutachtungen und<br />
Gerichtsverhandlungen, Mitgefühl verdiene, von Mitleid<br />
mit ihrer kleinen Tochter, die das vergebliche Warten auf<br />
den Papa leid sei. Und das Land bekundete Anteilnahme,<br />
bedauerte sie. Nicht aber die Kungajews, die ihre Tochter<br />
nie wiedersehen werden.<br />
Es gab keinen gesellschaftlichen Aufschrei, als das<br />
Gutachten Oberst Budanow für die Tatzeit Unzurechnungsfähigkeit<br />
bescheinigte. Keine einzige Protestkund-<br />
185
gebung einer Frauenorganisation, als der Vorwurf der<br />
Vergewaltigung fallen gelassen wurde. Kein Menschenrechtsaktivist<br />
demonstrierte auf der Straße.<br />
Nach der offiziellen gerichtsmedizinischen »Rechtfertigung«<br />
Juri Budanows im Jahr 2002 witterten alle diejenigen<br />
Morgenluft, die unter dem Deckmantel des Krieges<br />
und der wechselseitigen Grausamkeit beider Konfliktparteien<br />
in Tschetschenien Kriegsverbrechen begingen.<br />
Während Richter Kostin im Militärgericht von Rostow<br />
am Don mit monotoner Stimme die Reinwaschungsgutachten<br />
vortrug, gab es das ganze Jahr über in Tschetschenien<br />
brutale Massensäuberungen. Dörfer wurden<br />
umzingelt, die Männer abgeführt, die Frauen vergewaltigt,<br />
viele kamen um, noch mehr verschwanden spurlos.<br />
Rache erhielt den Status einer Rechtfertigung für Mord,<br />
Vergeltung zu üben war recht und billig, wenn es nur<br />
im Namen der »richtigen« Sache geschah. Vom Kreml<br />
abgesegnet, durfte Lynchjustiz geübt werden – Auge um<br />
Auge, Zahn um Zahn. Wir fanden uns wieder im typischen<br />
Mittelalter, oder besser : im nicht ganz so weit zurückliegenden<br />
Bolschewismus. Der Gerichtsprozess gegen<br />
Oberst Juri Budanow wurde zu einer Offenbarung – für<br />
die Entwicklungsstufe, auf der sich die russische Gesellschaft<br />
im Jahr 2002 befand. Nicht dort, wo wir uns<br />
hingedacht hatten, als wir Gorbatschow begrüßten und<br />
mit Jelzin Meetings abhielten, sondern irgendwo zwischen<br />
Stalin und Breshnew. Nur dass es diesmal rückwärts<br />
ging, von der Breshnew’schen Stagnation hin zur<br />
Stalin’schen Willkür. Es war furchtbar, begreifen zu müs-<br />
186
sen, was für eine Führung wir haben und wie wir sind.<br />
Genauer gesagt : dass die Regierung ist, wie wir sind.<br />
Das Gericht in Rostow am Don hatte für den 1. Juli<br />
2002 das Schlusswort Juri Budanows vorgesehen. Wenn<br />
der Angeklagte die Möglichkeit zu einer letzten Erklärung<br />
erhält, bedeutet dies, dass der Prozess vorbei ist.<br />
Das juristische Spektakel namens Budanow-Prozess ging<br />
also seinem Ende zu. Die Eltern Elsa Kungajewas und<br />
ihre Verteidiger verließen den Gerichtssaal, unfähig,<br />
die Lügen, die Gesetzesverdrehung und Pervertierung<br />
von Ethik und Moral zu ertragen. Die Sympathisanten<br />
Budanows sowie seine Armeekameraden triumphierten<br />
angesichts der Aussicht, schon in wenigen Tagen mit<br />
Budanow auf den Sieg anstoßen zu können.<br />
Da geriet ganz oben etwas in Bewegung. Das Schlusswort<br />
wurde plötzlich abgesetzt, der für den 3. Juli erwartete<br />
Urteilsspruch blieb aus. Stattdessen verkündete der<br />
Richter überraschend eine Prozesspause bis Anfang Oktober.<br />
Und Budanow wurde nach Moskau gebracht, zu einer<br />
neuerlichen – der nunmehr vierten – Begutachtung, in<br />
das nämliche Serbski-<strong>In</strong>stitut. Weshalb ? Um ein weiteres<br />
Mal zu beweisen, dass Tamara Petschernikowas<br />
Schlussfolgerungen »stichhaltig« waren, und damit alle<br />
Chancen auf Anfechtung des Urteils zunichte zu machen ?<br />
Welche Winde in diesem Augenblick über dem Kreml<br />
geweht haben mögen, weiß keiner. Man kann nur mutmaßen<br />
und indirekte Hinweise heranziehen. So ist es beispielsweise<br />
kein Geheimnis, dass der Deutsche Bundestag<br />
starken Druck auf Putin ausübte, in Form von Briefen<br />
187
und Appellen, die sich direkt an ihn richteten. Auf alles,<br />
was aus Deutschland kommt, reagiert Putin bekanntlich<br />
aktiver als auf die Meinungsbekundungen der russischen<br />
Parlamentarier und Vertreter gesellschaftlicher Organisationen,<br />
von den normalen Bürgern ganz zu schweigen.<br />
Auch Bundeskanzler Schröder versäumte nicht, sich<br />
bei seinen Gipfeltreffen mit dem Präsidenten danach zu<br />
erkundigen, warum im Kriegsverbrecherprozess gegen<br />
Budanow alles auf einen einzigen Ausgang gepolt zu<br />
sein schien. Quellen in der Umgebung des Präsidenten<br />
wollen wissen, dass Putin die Antwort schuldig blieb.<br />
So erstaunlich es klingt, in unserem Land mit seinen<br />
byzantinischen Sklaventraditionen reichen derartige Kleinigkeiten,<br />
um den Gang der Geschichte zu verändern<br />
und ein Gericht zu einem Urteilsspruch zu bewegen, mit<br />
dem sich Putin auf dem internationalen Parkett wohler<br />
fühlen konnte.<br />
Erst am 3. Oktober wurde der Prozess fortgesetzt, und<br />
im Mittelpunkt des <strong>In</strong>teresses standen dabei wiederum<br />
die Ergebnisse des psychologisch-psychiatrischen Gutachtens.<br />
Wie würden sie lauten – »unzurechnungsfähig«,<br />
»zurechnungsfähig« oder »begrenzt zurechnungsfähig« ?<br />
Viele erwarteten eine Sensation, doch es blieb alles<br />
beim Alten : »zeitweilig unzurechnungsfähig«. Womit<br />
auch der Ausgang des Verfahrens vorhersagbar schien :<br />
keine strafrechtliche Verantwortung, stattdessen eine<br />
gerichtlich angeordnete medizinische Behandlung, über<br />
deren Dauer der zuständige Arzt entschied, und ein sauberer<br />
Lebenslauf ohne Vorstrafe.<br />
188
Die Urteilsverkündung erfolgte am 31. Dezember,<br />
einem Tag, der in <strong>Russland</strong> kein Tag wie jeder andere<br />
ist. Am 31. Dezember arbeitet fast niemand mehr, und<br />
man findet nur wenige, die am letzten Tag des Jahres<br />
noch über ernsthafte Dinge nachdenken wollen. Das ist<br />
beinahe ein heiliges Datum, an diesem Tag empören<br />
sich selbst die letzten Verfechter der Zivilgesellschaft<br />
und die demokratisch eingestellten Parlamentarier über<br />
nichts mehr, geben keine politischen Erklärungen ab.<br />
Alle erwarten das Neue Jahr.<br />
<strong>In</strong> dieser Hinsicht war das Datum der Urteilsverkündung<br />
klug gewählt. Der gesellschaftliche Aufschrei blieb<br />
aus, komplett und relativ lange. Nach Silvester folgen in<br />
<strong>Russland</strong> nämlich noch zwei weitere denkfreie Wochen,<br />
in denen das Fernsehen nichts als Festkonzerte überträgt,<br />
keine Zeitungen erscheinen.<br />
Natürlich legten die Anwälte der Familie Kungajew<br />
beim Militärkollegium des Obersten Gerichts Berufung<br />
ein. Sie hofften zwar, den Ausgang des Verfahrens dadurch<br />
noch ändern zu können, doch, ehrlich gesagt,<br />
nicht allzu sehr. Deshalb erklärte Abdula Chamsajew unmittelbar<br />
nach der Urteilsverkündung, seine Hoffnungen<br />
würden fast ausschließlich auf dem Europäischen Gerichtshof<br />
für Menschenrechte und nicht auf dem Rechtssystem<br />
der Russischen Föderation ruhen, der Antrag auf<br />
Kassation beim Obersten Gericht sei folglich eher nur<br />
eine prozedurale Voraussetzung für das Einreichen einer<br />
Klage in Straßburg.<br />
189
Und da plötzlich die Sensation : Anfang März 2003 hebt<br />
das Militärkollegium des Obersten Gerichts unerwartet<br />
das Urteil auf, räumt Verstöße in der Prozessführung<br />
ein und ordnet neue Verhandlungen an, dort, wo das<br />
Verfahren seinen Ausgang genommen hatte – im Bezirksmilitärgericht<br />
von Rostow am Don, allerdings nicht mehr<br />
unter dem Vorsitzenden Richter Viktor Kostin.<br />
Wenn man weiß, dass das Oberste Gericht seit langem<br />
weniger als höchstes Organ einer unabhängigen<br />
Justiz denn als Abteilung der Präsidialverwaltung gilt,<br />
konnte diese Entscheidung im politischen Koordinatensystem<br />
<strong>Russland</strong>s nur bedeuten, dass der Wind im Kreml<br />
gedreht hatte und nun bereits kräftig in die entgegengesetzte<br />
Richtung blies.<br />
Der entscheidende Grund dafür lag auf der Hand : Es<br />
blieb nur noch ein Jahr bis zu den Präsidentschaftswahlen.<br />
Und bei den Parlamentswahlen im Dezember 2003<br />
musste <strong>Putins</strong> Partei »Jedinaja Rossija« (Einiges <strong>Russland</strong>)<br />
– deren Generalsekretär unter Verletzung geltenden<br />
Rechts <strong>In</strong>nenminister Boris Gryslow war – um jeden<br />
Preis gewinnen. Schon tüftelte die Kreml-Führung an<br />
der zentralen Losung für die Wahlkampagnen von Partei<br />
und Präsident : »Recht und Gesetz über alles.«<br />
Am 9. April 2003 wurde der Prozess in Rostow am<br />
Don fortgesetzt. Der Angeklagte Juri Budanow, der seit<br />
dem 27. März 2000 in Haft saß, war nicht wiederzuerkennen.<br />
Von dem unverschämten Offizierstyp, der dem<br />
Gericht über den Mund fuhr und die Eltern der von<br />
ihm ermordeten Elsa Kungajewa fortwährend anpöbelte,<br />
190
spürte der Prozessbeobachter nur noch wenig. Budanow<br />
fühlte sich verraten, war sichtlich nervös, verlangte ein<br />
Geschworenengericht, was abgelehnt wurde. Danach<br />
beantwortete er keine einzige Frage mehr, stopfte sich<br />
demonstrativ Watte in die Ohren, saß lesend in der vergitterten<br />
Anklagekabine.<br />
Den Richterstuhl nahm nun der stellvertretende Vorsitzende<br />
des Bezirksmilitärgerichts Oberst Wladimir<br />
Bukrejew ein. Zum ersten Mal in zwei Jahren wurden<br />
von der Verteidigung benannte Zeugen zur Vernehmung<br />
geladen, was einer Revolution gleichkam.<br />
Zunächst sagte General Gerassimow aus, der im März<br />
2000 die Truppengruppierung »West« der russischen<br />
Streitkräfte in Tschetschenien befehligt hatte. Er erklärte,<br />
Budanow habe als Kommandeur eines Panzerregiments<br />
keinerlei Befugnis besessen, die Siedlung Tangi-Tschu<br />
zu inspizieren, in die Ortschaft zu fahren und dort eine<br />
»Heckenschützin« zu suchen. Dies ginge aus den entsprechenden<br />
Befehlen des Generalstabs hervor. Das Aufspüren<br />
und Verhaften von Personen, die im Verdacht<br />
stünden, illegalen bewaffneten Formationen anzugehören,<br />
obliege den Ermittlern der Staatsanwaltschaft, den<br />
Mitarbeitern des FSB sowie der Miliz, nicht aber einem<br />
Oberst der Panzertruppen.<br />
Mehr noch, General Gerassimow führte aus, von Februar<br />
bis März 2000 sei das Regiment »überhaupt nicht<br />
vor die Aufgabe gestellt gewesen, Erkundungsmaßnahmen<br />
durchzuführen«. »Budanow war nicht berechtigt,<br />
in Ortschaften die Meldeordnung zu überprüfen oder<br />
191
Wohngebäude zu kontrollieren, hatte kein Recht, dort<br />
Aufklärungsaktivitäten zu entfalten.«<br />
Im Weiteren lud das Gericht den Leiter der Ortsverwaltung<br />
von Duba-Jurt, Jachjajew, vor. Von ihm wollte<br />
Budanow das Foto bekommen haben, das mehrere Personen,<br />
darunter zwei Frauen mit Scharfschützengewehren,<br />
zeigte. Dieses Foto sei dann, so Budanow, der Hauptauslöser<br />
dafür gewesen, dass er eine der Heckenschützinnen<br />
in Tangi-Tschu suchte. Jachjajew erklärte vor Gericht,<br />
er habe Budanow keinerlei Foto übergeben. Seine Aussage<br />
bestätigte der FSB-Mitarbeiter Pankow, der sich<br />
Ende Dezember 1999 und Anfang Januar 2000 – dem<br />
von Budanow angegebenen Zeitraum für das Treffen<br />
mit Jachjajew – als Chefermittler einer FSB-Abteilung<br />
in Tschetschenien aufhielt. Pankow sagte aus, Budanow<br />
sei damals tatsächlich mehrfach in seiner Gegenwart<br />
mit dem Leiter der Ortsverwaltung zusammengetroffen,<br />
jedoch habe Jachjajew Budanow dabei kein Foto übergeben<br />
und auch nichts von einer Heckenschützin erzählt.<br />
Ebenso wie Budanow auch ihm, Pankow, gegenüber weder<br />
ein Foto noch eine Heckenschützin erwähnt habe.<br />
Sämtliche Schutzbehauptungen des Angeklagten Budanow<br />
waren damit widerlegt.<br />
Am 25. Juli 2003 fällte das Gericht seinen Schuldspruch<br />
: zehn Jahre Arbeitskolonie mit strengen Haftbedingungen.<br />
Erst am 27. März 2010 wird Budanow wieder<br />
auf freien Fuß kommen.<br />
Zweifellos hat Budanow bekommen, was er verdient.<br />
Selbst wenn sie in erster Linie einem Wahlkampfmanöver<br />
192
oder einer kurzzeitigen politischen Konjunktur geschuldet<br />
sein sollte, kann man die gerechte Entscheidung der<br />
Richter nur begrüßen. Dies kommt in <strong>Russland</strong> selten<br />
vor. Das Gericht des Militärbezirks Nordkaukasus und<br />
der Vorsitzende Richter Wladimir Bukrejew offenbarten<br />
großen Mut. Der Stimmungswandel in Moskau war ja<br />
schön und gut, aber hier in Rostow am Don befand man<br />
sich mitten in der Hochburg der Militärs und bot der<br />
in Armeekreisen vorherrschenden Stimmung die Stirn.<br />
Der Schuldspruch gegen Budanow wurde von der militärischen<br />
Führung mehrheitlich und von der Offizierskaste<br />
ausnahmslos kategorisch abgelehnt. Die Offiziere,<br />
insbesondere im Nordkaukasus, fühlten sich angegriffen<br />
durch das Urteil, waren überzeugt, Budanow büße allein<br />
dafür, dass er die Heimat entschlossen verteidigt habe.<br />
Zehn Jahre Haft unter Aberkennung aller Auszeichnungen<br />
und Dienstränge empfanden sie als einen Schlag ins<br />
Gesicht.<br />
Und die anderen Kriegsverbrecher ?<br />
So dramatisch die <strong>In</strong>teressenkollisionen in diesem Prozess<br />
auch gewesen sein mögen, der Schuldspruch gegen<br />
Budanow bleibt eine Ausnahme von der allgemeinen Regel.<br />
Die politischen Umstände rückten Budanows Verbrechen<br />
ins Blickfeld einer breiten Öffentlichkeit, was<br />
wiederum weitreichende politische Konsequenzen hatte,<br />
die die Führung letztendlich dazu zwangen, ihr Plazet<br />
193
zur Verurteilung des Obersts zu geben. Doch das waren<br />
Zufälle. Alle anderen Verfahren wegen Kriegsverbrechen,<br />
begangen von Angehörigen der Streitkräfte, liegen zumeist<br />
auf Eis, und die Rechtsschutzorgane arbeiten nur<br />
in eine Richtung : die Angeklagten von der juristischen<br />
Verantwortung zu befreien, selbst wenn sie Ungeheuerliches<br />
getan haben.<br />
Am 12. Januar 2002 setzte ein Hubschrauber in der<br />
Nähe der tschetschenischen Bergsiedlung Dai sechs russische<br />
Erkundungstrupps ab, die Rebellen und unter ihnen<br />
vornehmlich den Feldkommandeur Chattab suchen sollten.<br />
Operativen <strong>In</strong>formationen des FSB zufolge war Chattab<br />
kurz zuvor verwundet worden und hielt sich in der<br />
Umgebung von Dai auf. Was nun geschah, erhielt später<br />
die Bezeichnung »Budanow II«. Die Angehörigen eines<br />
der Erkundungstrupps – zehn Kämpfer einer Spezialeinheit<br />
der Hauptverwaltung Aufklärung des Generalstabs<br />
der Russischen Föderation – sahen nach der Landung<br />
auf einer Gebirgsstraße einen kleinen Linienbus, hielten<br />
ihn an, befahlen den sechs <strong>In</strong>sassen auszusteigen,<br />
folterten sie zunächst, um herauszubekommen, wo sich<br />
die Rebellen befanden, erschossen dann alle sechs und<br />
verbrannten die Leichen.<br />
Die offiziellen Nachrichtenagenturen beeilten sich,<br />
diese brutale, sinnlose Hinrichtung als »Zusammenstoß<br />
mit einer illegalen bewaffneten Formation« darzustellen,<br />
doch fanden sich Zeugen, die diese Lüge bald widerlegten.<br />
Sämtliche <strong>In</strong>sassen des Kleinbusses waren Zivilpersonen,<br />
die aus der Kreisstadt Schatoi nach Hause fuhren.<br />
194
Unter ihnen die vierzigjährige Sainap Dshawatchanowa,<br />
Mutter von sieben Kindern zwischen zwei und siebzehn<br />
Jahren und mit dem achten schwanger. Von ihr blieb<br />
nur eine Sohle übrig, ihr Mann und die ältesten Kinder<br />
identifizierten sie anhand ihres Schuhs. An diesem Tag<br />
war Sainap zur gynäkologischen Untersuchung in Grosny<br />
gewesen. Ebenso unter den Getöteten : der Direktor der<br />
Dorfschule von Nochtschi-Keloi, der neunundsechzigjährige<br />
Said-Magomed Alaschanow und Abdul-Wachab Satabajew,<br />
der Geschichtslehrer der Schule. Sie kamen von<br />
einer pädagogischen Konferenz in Schatoi zurück. Der<br />
vierte Tote war Schachban Bachajew, der Forstwart von<br />
Nochtschi-Keloi. Der fünfte Dshamalaili Mussajew, ein<br />
Neffe der kinderreichen Sainap, der nach hiesiger Sitte<br />
seine Tante auf der Fahrt begleitete. Und der sechste der<br />
Fahrer Chamsat Tuburow, Vater von fünf Kindern und<br />
weithin bestens bekannt, weil er mit seinem Linienbus<br />
jeden Tag Fahrgäste aus Schatoi in die Bergdörfer und<br />
zurück beförderte.<br />
Am Abend des 12. Januar wurden die Mörder festgenommen.<br />
Dank der Aussage eines Zeugen, des Majors<br />
der Militäraufklärung Vitali Newmershizki, der sich zufällig<br />
am Ort des Geschehens aufgehalten hatte, konnte<br />
die Staatsanwaltschaft des Kreises Schatoi bei der militärischen<br />
Führung die Verhaftung durchsetzen. Ein beispielloses<br />
Ereignis für Tschetschenien. Bald darauf wurden<br />
die Kämpfer der Sondereinheit der Militärstaatsanwaltschaft<br />
überstellt, es folgte die Eröffnung des Strafverfahrens<br />
Nr. 76002.<br />
195
Alles schien seinen geregelten juristischen Gang zu<br />
gehen. Ich traf mich mit Oberst Andrej Werschinin, dem<br />
Militärstaatsanwalt des Kreises Schatoi, der die Ermittlungen<br />
in diesem spektakulären Fall leitete. Damals, im<br />
Frühjahr 2002, war er noch voller Optimismus, betonte,<br />
es gäbe mehr als genug Beweise, die Sache käme unbedingt<br />
vor Gericht, das Verfahren könne gar nicht gekippt<br />
werden. Obwohl das auf Schritt und Tritt geschieht, Hunderte<br />
ähnlicher Strafsachen nicht vor dem Richter landen,<br />
sondern bei den Staatsanwaltschaften aller Ebenen<br />
schmoren. Zumeist, weil die Kommandeure der Einheiten<br />
beschuldigte Untergebene schnellstmöglich aus<br />
Tschetschenien herausbefördern. Die Ermittlungen geraten<br />
ins Stocken, der Staatsanwaltschaft werden Knüppel<br />
zwischen die Beine geworfen, es gibt Einschüchterungen,<br />
Drohungen.<br />
Staatsanwalt Werschinin aber schaffte das beinahe Unmögliche<br />
: Er setzte durch, dass die Kämpfer der Sondereinheit<br />
während der Voruntersuchung in der Arrestanstalt<br />
des 291. Regiments blieben. Auf dem Gelände dieses<br />
Regiments befindet sich auch die Militärstaatsanwaltschaft<br />
des Kreises Schatoi, sodass der Oberst die <strong>In</strong>haftierten<br />
quasi rund um die Uhr unter Kontrolle hatte.<br />
Werschinin trifft keine Schuld an dem, was geschah,<br />
nachdem die Beschuldigten doch aus Schatoi in ein<br />
Gefängnis außerhalb Tschetscheniens überfuhrt und<br />
damit der Befugnis des Militärstaatsanwalts entzogen<br />
wurden. Die unmittelbaren Vollstrecker der Exekution<br />
von Dai – Leutnant Alexander Kalaganski und Fähn-<br />
196
ich Wladimir Wojewodin – kamen nach neunmonatiger<br />
Haft in Pjatigorsk auf freien Fuß, weil die Oberste<br />
Militärstaatsanwaltschaft <strong>Russland</strong>s nicht einmal einen<br />
Antrag auf Verlängerung ihrer <strong>In</strong>haftierung bei Gericht<br />
einreichte, womit die beiden automatisch entlassen werden<br />
mussten, mit der schriftlichen Auflage, »den Kreis<br />
Schtscholkowo, Gebiet Moskau, nicht zu verlassen«.<br />
Warum sollten sich die beiden Verbrecher gerade in<br />
dem bei Moskau gelegenen Kreis Schtscholkowo aufhalten<br />
? Das kam einer Belobigung, ja Beförderung gleich.<br />
Vor Tschetschenien und dem Massaker in Dai hatten Kalaganski<br />
und Wojewodin in Burjatien gedient, am Ende<br />
der Welt, nun fanden sie sich in der Nähe der Hauptstadt<br />
wieder. So etwas konnte in <strong>Russland</strong> nur bedeuten, dass<br />
die Hauptverwaltung Aufklärung und der Generalstab<br />
die beiden auszeichnen wollten für ihren treuen Dienst<br />
am Vaterland, den dieses Vaterland ungerechterweise<br />
nicht genügend würdigte. Wie bei Budanow.<br />
Hinter Gittern blieb nur Hauptmann Eduard Ulman,<br />
der am 12. Januar 2002 den Befehl zur Erschießung der<br />
sechs Zivilisten gegeben hatte. Während der Anstifter<br />
des Mordes, Major Alexej Perelewski, damals stellvertretender<br />
Kommandeur der Abteilung 641 der Hauptverwaltung<br />
Aufklärung des Generalstabes und Leiter des Sondereinsatzes,<br />
frei herumläuft. Dabei war er es gewesen,<br />
der Ulman befohlen hatte, aus allen sechs Businsassen<br />
eine »Fracht 200« – im Armeejargon die Bezeichnung<br />
für Leichen – zu machen.<br />
Ich stelle mir vor, was geschehen wäre, hätte irgendein<br />
197
Rebell in Tschetschenien sechs russische Armeeangehörige<br />
erschossen und ihre Leichen verbrannt. Auf freiem<br />
Fuß würde er sich garantiert nicht befinden. Wie sagte<br />
doch Abdula Chamsajew, der Verteidiger der Familie<br />
Kungajew ? »<strong>In</strong> den einundvierzig Jahren meiner Tätigkeit<br />
bei den Justizorganen, der Staatsanwaltschaft und<br />
als Rechtsanwalt habe ich kein einziges Mal erlebt, dass<br />
eine Person, die wegen vorsätzlichen Mordes unter strafverschärfenden<br />
Umständen zur Verantwortung gezogen<br />
wurde, einfach freigekommen ist mit der Auflage, einen<br />
bestimmten Ort nicht zu verlassen.«<br />
Damals fragte ich Chamsajew :<br />
– »Wenn die vom Europarat diskutierte Idee eines internationalen<br />
Tschetschenien-Tribunals in die Tat umgesetzt<br />
werden sollte, könnten Sie diesem Gremium dann<br />
Material zur Verfügung stellen über Fälle, wo Rechtsschutzorgane<br />
der Russischen Föderation nicht gewillt<br />
waren, gegen Kriegsverbrecher zu ermitteln, die Untersuchungen<br />
nach Kräften behinderten und die Täter laufen<br />
ließen ?«<br />
– »Soviel Sie wollen. Es gibt Hunderte derartiger Fälle.«<br />
Was also sind sie, die Offiziere und Soldaten, die täglich<br />
morden, rauben, foltern und vergewaltigen ? Helden<br />
im Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder<br />
gewöhnliche Kriegsverbrecher ? Ein Zeitgenosse mit westlichem<br />
Erfahrungshintergrund wird sofort sagen : Wozu<br />
haben wir Gerichte, die sind verpflichtet, alles Beweismaterial<br />
zu sichten und dann ein objektives Urteil zu fällen.<br />
198
Unser Zeitgenosse in <strong>Russland</strong>, der in der Ära von<br />
Präsident Putin und seinem Propagandaapparat lebt,<br />
doch das unter Jelzin erlaubte selbständige Denken noch<br />
nicht wieder ganz verlernt hat, wird erst einmal nachdenklich.<br />
Hinter uns liegen vier lange Jahre des brutalen<br />
zweiten Tschetschenien-Kriegs, den mehr als eine<br />
Million Soldaten und Offiziere durchlaufen haben und<br />
noch durchlaufen, Soldaten und Offiziere, die, vergiftet<br />
durch diesen Krieg auf eigenem Territorium, zu einem<br />
Faktor im zivilen Leben werden, der sich nicht mehr<br />
einfach abtun lässt.<br />
Fragen über Fragen. Die wichtigste aber lautet : Wofür<br />
haben sie eigentlich gekämpft ? Wofür kämpfen sie ?
PROVINZGESCHICHTEN oder<br />
WIE STAATSORGANE HELFEN, STAATLICHES<br />
EIGENTUM KRIMINELL UMZUVERTEILEN<br />
Februar 2003. Moskau. So überraschend wie ein Schneesturm<br />
aus heiterem Winterhimmel ernennt Präsident<br />
Putin einen neuen Mann zum stellvertretenden <strong>In</strong>nenminister<br />
und Leiter der Hauptverwaltung zur Bekämpfung<br />
der organisierten Kriminalität (GUBOP) : Nikolai<br />
Owtschinnikow, ein unscheinbarer Duma-Abgeordneter,<br />
der im öffentlichen Wirken des Parlaments kaum<br />
wahrgenommen wurde, nie bei den Sitzungen das Wort<br />
ergriff, sich in keinerlei gesetzgeberische <strong>In</strong>itiative einbrachte<br />
und politisch eine blasse Figur war. Außerdem<br />
kam er nicht aus St. Petersburg, was bei der gegenwärtigen<br />
Kaderpolitik eigentlich als entschiedenes Manko<br />
gelten durfte. Unmittelbar nach seiner Ernennung gab<br />
Owtschinnikow ein <strong>In</strong>terview, in dem er erklärte, er<br />
wolle das Vertrauen des Präsidenten rechtfertigen und<br />
sähe seine Aufgabe darin, »die Korruption auf ein Minimum<br />
zu reduzieren«, dafür zu sorgen, dass »der gesunde<br />
Teil der Gesellschaft« nicht länger abhängig sei »vom<br />
Handeln einer kleinen kriminellen Minderheit«. Eine<br />
sehr gute, respektable Aufgabenstellung. Doch warum<br />
konnten im Ural so viele über die Versprechungen des<br />
stellvertretenden Ministers nur lachen ?<br />
Die Kaderentscheidung des Präsidenten war natürlich<br />
201
kein Zufall. Amt und Person fanden zueinander, weil<br />
sie im Putin’schen <strong>Russland</strong> einfach zueinander finden<br />
mussten.<br />
Zunächst einige Bemerkungen über das Amt. Welchen<br />
Platz nimmt es ein in der Behördenhierarchie <strong>Russland</strong>s<br />
? Und warum wird so aufmerksam registriert, wer<br />
es innehat ?<br />
Leiter der GUBOP zu sein ist nicht irgendein Posten.<br />
Dieser Chefsessel gilt als Schlüsselposition, als grundlegende<br />
Schaltstelle innerhalb der militärischen Führungsstrukturen<br />
des Landes.<br />
Zum einen, weil die organisierte Kriminalität nicht<br />
mehr wegzudenken ist aus unserem Alltagsleben, das<br />
bestimmt wird durch eine beispiellose Korruption, bei<br />
der sich alles regelt nach dem Prinzip : mit Geld darf<br />
man alles. Zum anderen hat die Bedeutsamkeit dieses<br />
Postens quasi »historische« Wurzeln, die zurückgehen auf<br />
Wladimir Ruschailo, ein Urgestein unter den hochrangigen<br />
Militärkadern ; sowohl in der Jelzin- als auch in der<br />
Putin-Zeit fest im politischen Sattel, vormals <strong>In</strong>nenminister<br />
und heute Chef des Sicherheitsrates der Russischen<br />
Föderation. Ruschailo hatte seine Karriere als Leiter der<br />
GUBOP begonnen und dieses Tätigkeitsfeld auch als<br />
<strong>In</strong>nenminister nicht aus dem Auge verloren. Auf sein<br />
Betreiben hin wurden überall in <strong>Russland</strong> die Abteilungen<br />
zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens<br />
personell aufgestockt und verstärkt. Sie erhielten nicht<br />
nur mehr Stellen, sondern auch weitreichende Kompetenzen<br />
zur Durchführung militärischer Operationen unter<br />
202
Waffeneinsatz und außerhalb des gesetzlich vorgegebenen<br />
Rahmens, was sie deutlich von den anderen Milizstrukturen<br />
abhob. Und natürlich sorgte Ruschailo für den<br />
Aufstieg früherer Kollegen aus den Reihen der Mafia-<br />
Bekämpfer in hohe staatliche Ämter. Mit der Konsequenz,<br />
dass heute die Anzahl der »Ruschailo-Leute« in den zentralen<br />
militärischen Führungsapparaten höchstens noch<br />
übertroffen wird von den »Petersburgern«, denjenigen<br />
also, die seinerzeit mit Putin in St. Petersburg arbeiteten<br />
und in seinem Schlepptau in Moskau zu Amt und<br />
Würden kamen, sowie den »Tschekisten« – ehemaligen<br />
Angehörigen von KGB und FSB.<br />
Nun zur Person Nikolai Owtschinnikow : Äußerlich<br />
betrachtet wirkte seine Ernennung durchaus angebracht<br />
und von der Beamtenlogik her folgerichtig. Er hat, betrachtet<br />
man die offizielle Biografie des neuen Amtsinhabers,<br />
den Posten verdient. Vor seiner Wahl zum<br />
Duma-Abgeordneten arbeitete der Milizionär Owtschinnikow<br />
dreißig Jahre lang in der Provinz, in verschiedenen<br />
Leitungsfunktionen der Rechtsschutzorgane. Sein<br />
Abgeordneten-Mandat erhielt er als Chef der Milizverwaltung<br />
von Jekaterinburg. Und Jekaterinburg ist nicht<br />
irgendeine Stadt in <strong>Russland</strong>, kein Allerweltsort. Die<br />
»Hauptstadt des Ural«, wie man bei uns sagt, ist das<br />
Zentrum des Gebiets Swerdlowsk, der größten <strong>In</strong>dustrieregion<br />
des Ural, wo man in den Jahren der Jelzin-<br />
Herrschaft den berühmten Appell des ersten russischen<br />
Präsidenten an die einzelnen Landesteile »Nehmt euch<br />
Souveränität, soviel ihr wollt !« sehr wörtlich verstan-<br />
203
den und über die Gründung einer Ural-Republik mit<br />
Jekaterinburg als Hauptstadt nachgedacht hatte. Wer in<br />
dieser Stadt die Miliz leitet, steht im Blickfeld des gesamten<br />
Landes, verfügt der Ural doch über reichste Bodenschätze,<br />
metallurgische Kombinate, ein Potential an<br />
natürlichen Ressourcen und industrieller Kapazität, mit<br />
dem ein jeder Staat überleben könnte. Außerdem ist Jekaterinburg<br />
traditionell die Hochburg einer der größten<br />
kriminellen Vereinigungen – anfangs der Sowjetunion,<br />
dann der Russischen Föderation –, der so genannten<br />
Uralmasch-Gruppe. Was bedeutet, dass der oberste Milizionär<br />
der Stadt schon von Haus aus mit der Bekämpfung<br />
der Mafia befasst sein musste.<br />
Doch die offizielle Darstellung des Werdegangs Nikolai<br />
Owtschinnikows sagt nicht alles, sie lässt außer Betracht,<br />
was im Hinblick auf den neuen Mann an der Spitze<br />
der GUBOP vielleicht sogar am wichtigsten gewesen<br />
wäre : Wie versah Owtschinnikow im heimatlichen Jekaterinburg<br />
sein Amt ? Womit befasste er sich ? Welche<br />
Mitglieder der Mafia verfolgte er, welche protegierte er<br />
möglicherweise ? Welche Heldentaten in Sachen Verbrechensbekämpfung<br />
gehen auf sein Konto ? Welche Größen<br />
aus <strong>In</strong>dustrie und Wirtschaft genossen seine Gunst ? <strong>In</strong><br />
welche Ereignisse war er unmittelbar involviert ? Wie sah<br />
das Jekaterinburg der Owtschinnikow-Zeit überhaupt<br />
aus ? Und was für eine Stadt ist es heute geworden ?<br />
Natürlich erzähle ich hier nicht die persönliche Erfolgsstory<br />
des Milizionärs aus dem fernen Ural, der es in der<br />
Hauptstadt Moskau zu einem Chefsessel brachte. Mich<br />
204
interessiert etwas anderes : ein Phänomen russischen<br />
Lebens namens Korruption. Was ist das – Korruption ?<br />
Welche Mechanismen halten sie in Gang, obwohl alle<br />
Welt sie verurteilt ? Wie muss man sich die neue russische<br />
Mafia vorstellen, die nicht mehr zu Jelzins Zeiten,<br />
sondern unter Putin ihr Unwesen treibt ? Wie gelangt sie<br />
heute in höchste Staatsämter ? Welche <strong>In</strong>teressen stehen<br />
dahinter, wenn der Präsident bestimmte Personen protegiert<br />
? Am Beispiel der Ernennung Nikolai Owtschinnikows<br />
zum ranghöchsten Mafia-Bekämpfer im Land<br />
lässt sich die Kaderpolitik Wladimir <strong>Putins</strong> und seines<br />
Apparats demonstrieren.<br />
Diese Geschichte von Putin, Owtschinnikow und der<br />
Mafia wird lang. Ich muss dazu weit ausholen.<br />
FEDULEW<br />
Eine Nachricht machte im ganzen Land die Runde :<br />
Am 13. September 2000 – der Tschetschenien-Krieg war<br />
bereits im Gange und Putin, der im Unterschied zu allen<br />
anderen Kandidaten einen zweiten tschetschenischen<br />
Waffengang gutgeheißen hatte, saß nun im Sessel des<br />
Staatsoberhaupts – wurde in Jekaterinburg das Kombinat<br />
Uralchimmasch, einer der größten <strong>In</strong>dustriebetriebe und<br />
ein Chemiemaschinenbau-Unternehmen von nationaler<br />
Bedeutung, besetzt.<br />
Unterstützt von einer örtlichen Milizabteilung, drangen<br />
mit Baseballschlägern bewaffnete Männer in das<br />
205
Gebäude der Kombinatsverwaltung ein, richteten ein<br />
unglaubliches Chaos an und versuchten, Kombinatsdirektor<br />
Sergej Glotow durch ihren eigenen »Boss« zu ersetzen.<br />
Die Fernsehsender im Ural zeigten damals, wie die<br />
Kommunisten den Sieg feierten und proklamierten :<br />
»Hurra ! Das Volk übernimmt die Macht ! Nieder mit<br />
dem Kapitalismus !« Die gleichen Losungen verkündeten<br />
auch die Gewerkschaftsführer vor Ort. Sie erklärten<br />
die Besetzung von Uralchimmasch zur »Arbeiterrevolution«,<br />
bekundeten ihre Unterstützung und versprachen,<br />
derartige »Revolutionen« in Bälde über das ganze Land<br />
auszubreiten.<br />
Altpräsident Jelzin schwieg, was allerdings niemanden<br />
verwunderte, wussten doch alle, dass er krank und<br />
kaum arbeitsfähig war. Doch auch der neue Staatschef<br />
Putin schwieg – und ebenso die gesamte übrige Führung<br />
des Landes. <strong>In</strong>nenminister Ruschailo kommentierte die<br />
Beteiligung einer Milizabteilung an der Erstürmung des<br />
Kombinats mit keinem einzigen Wort.<br />
Ein vielsagendes Schweigen, denn derartige Ereignisse<br />
kommen in <strong>Russland</strong> nicht von ungefähr, und einfach so,<br />
aus purer Solidarität mit den für ihre Rechte kämpfenden<br />
Arbeitern, unterstützen die bewaffneten Sondereinheiten<br />
niemand. Am Abend des 13. September, als die »Arbeiterrevolution«<br />
ein wenig abgeflaut war, verbarrikadierte<br />
sich die Kombinatsleitung, die der Ablösung des Direktors<br />
nicht zustimmen wollte, im Verwaltungsgebäude.<br />
Da kam eine wahre Panzerkolonne – eine Armada aus<br />
nagelneuen schwarzen Jeeps – auf das Kombinatsgelände<br />
206
gerollt. Respektvoll gaben die Kämpfer der Sondereinheiten<br />
den Weg frei, die Fahrzeuge stießen auf keinerlei<br />
Widerstand.<br />
Aus einem Jeep stieg ein mittelgroßer, unscheinbarer<br />
Mann, in feinem Anzug, mit teurer Brille und Goldkettchen<br />
an Hals und Handgelenken. Dem Augenschein<br />
nach ein typischer neuer Russe mit den Spuren eines<br />
mehrtägigen Gelages im Gesicht. Auf dem Weg zum<br />
Arbeitszimmer des Direktors umringte den Herrn eine<br />
vielköpfige Leibwache, die aus Jekaterinburger Milizionären<br />
bestand. Wenig zimperlich schoben die Angehörigen<br />
der Sondereinheit die Betriebsangehörigen beiseite.<br />
»Paschka macht mal wieder Randale. Der rechnet hier<br />
mit wem ab«, zischten die alten Hasen unter den Uralchimmasch-Arbeitern<br />
durch die Zähne.<br />
»Der führende <strong>In</strong>dustrielle unserer Region und Abgeordnete<br />
des Gebietsparlaments Pawel Anatoljewitsch<br />
Fedulew unternimmt alle Anstrengungen, um auf der<br />
Grundlage entsprechender Gerichtsentscheidungen Recht<br />
und Gesetz wiederherzustellen«, vermeldeten die Jekaterinburger<br />
Fernsehsender und zeigten die besorgte Miene<br />
des »führenden <strong>In</strong>dustriellen« im bunten Wechsel mit<br />
den blutüberströmten Gesichtern der Kombinatsverteidiger,<br />
zwischen Baseballschlägern sah man Stahlruten<br />
blitzen.<br />
Der Herr mit Brille aber betrat das Gebäude und präsentierte<br />
der abgesetzten Kombinatsleitung einen Stoß<br />
Papiere : Gerichtsurteile, die besagten, dass er und kein<br />
anderer nunmehr Mitbesitzer des Unternehmens sei, und<br />
207
in dieser Eigenschaft sowie als Mitglied des Aufsichtsrats,<br />
erklärte der Herr, werde er einen Direktor seiner Wahl<br />
einsetzen, weshalb er alle Unbefugten ersuchen müsse,<br />
das Zimmer zu räumen.<br />
Betont lässig ließ sich der feine Herr in einem Sessel<br />
nieder. Doch einige Zeit später, als die abgesetzte<br />
Kombinatsleitung die Papiere gesichtet hatte, musste er<br />
nicht nur einen Schwall wenig feiner Bemerkungen über<br />
sich ergehen lassen, sondern auch mehrere gerichtliche<br />
Dokumente zur Kenntnis nehmen, aus denen hervorging,<br />
dass der bisherige Direktor rechtmäßig amtierte und der<br />
Aufsichtsrat hinter ihm stand, mit Ausnahme einiger<br />
weniger Mitglieder, deren Unterschrift auf den Papieren<br />
des Herrn Mitbesitzers prangte.<br />
Um zu verstehen, was hier vor sich ging, ist ein weiterer<br />
Exkurs in die jüngere Geschichte Jekaterinburgs<br />
nötig. Damit wir uns ein Bild machen können, welche<br />
Gesetze in den zehn Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion<br />
in dieser Stadt herrschten und wie sich eine<br />
Gesellschaft entwickeln konnte, in der die Besetzung<br />
eines so gigantischen Kombinates wie Uralchimmasch<br />
möglich war, warum es in dieser Geschichte mehrere verschiedene<br />
Gerichtsurteile gibt – und wer eigentlich dieser<br />
»Paschka«, wer Pawel Anatoljewitsch Fedulew ist. Wen<br />
auch immer ich damals in Jekaterinburg ansprach – Fußgänger<br />
auf der Straße, Diensthabende auf dem Bahnhof,<br />
Mitarbeiter der Gebietsverwaltung, Prostituierte, die im<br />
Hotelfoyer flanierten, Richter, Milizionäre, Lehrer, auf<br />
meine Frage »Was geht denn bloß hier bei euch vor ?«,<br />
208
erhielt ich stets die gleiche Antwort : »Das ist alles der<br />
Fedulew.« Der einzige Unterschied bestand darin, dass<br />
ihn einige schlicht Paschka nannten, während ihn andere<br />
ehrfurchtsvoll Pawel Anatoljewitsch titulierten.<br />
De r an f a n g<br />
Vor zehn Jahren, als sich das gesamte heutige Leben auszuprägen<br />
begann, Jelzin die Macht innehatte und überall<br />
die Demokratie »brodelte«, wie wir seinerzeit witzelten,<br />
war Paschka Fedulew nur ein kleiner Rowdy, Erpresser<br />
und Gewalttäter. <strong>In</strong> Swerdlowsk, so hieß Jekaterinburg zu<br />
Sowjetzeiten, herrschten allenthalben kriminelle Banden<br />
und teilten die Einflusssphären unter sich auf. Paschka<br />
gehörte nicht dazu, er betrieb sein kleines Gaunergeschäft<br />
auf eigene Kosten. Und obwohl er bereits ein beeindruckendes<br />
Vorstrafenregister besaß, ließ ihn die Miliz<br />
weitgehend in Ruhe, als kleiner Fisch war er uninteressant.<br />
Solche wie er landeten zu der Zeit nur hinter Gittern,<br />
wenn es sein musste, d. h. wenn sie fremde Kreise<br />
störten oder maßlos wurden. Das stand bei Paschka Fedulew<br />
nicht zu befürchten, damals konnte er sich noch<br />
arrangieren.<br />
Paschka war Anfang der neunziger Jahre in das kriminelle<br />
Geschäft eingestiegen, wie wohl die meisten seiner<br />
Gaunerbrüder nicht nur in Swerdlowsk, sondern in ganz<br />
<strong>Russland</strong>. Er besaß nichts, und zum »Gemeinschaftstopf«<br />
der Verbrecher, dem »Obschtschak« – in Swerdlowsk,<br />
das bekannt war für seine Unterwelt, gab es einen der<br />
209
größten »Gemeinschaftstöpfe« des Landes –, hatte er als<br />
kleiner Ganove keinen Zugang und musste sich deshalb<br />
sein Startkapital selbst besorgen.<br />
Das erste große Geld verdiente Fedulew leicht und<br />
schnell mit illegal abgefülltem Wodka, der in <strong>Russland</strong><br />
»Ballerwasser« hieß. Der Mechanismus war simpel. Im<br />
Gebiet Swerdlowsk mit seinen gottverlassenen Provinzstädtchen<br />
und kleinen Dörfern hatten ein paar Spirituosenfabriken<br />
die Sowjetära überlebt. <strong>In</strong> den ersten Jahren<br />
der Jelzin-Herrschaft waren sie dann, wie alle anderen<br />
Betriebe auch, so heillos heruntergewirtschaftet, dass<br />
jeder, der dem Direktor ein symbolisches Sümmchen<br />
in die Hand drückte, so viel Alkohol bekam, wie er nur<br />
transportieren konnte.<br />
Natürlich handelte es sich dabei um eine unverhohlene<br />
Ausplünderung der kleinen Staatsbetriebe, doch im<br />
damaligen postsowjetischen Leben war das normal. Die<br />
Menschen hungerten, um über die Runden zu kommen,<br />
und die eine Hälfte plünderte die andere aus, niemand<br />
nahm daran Anstoß. Jeder überlebte so gut er konnte,<br />
und wir meinten, das sei genau das Business, von dem<br />
wir geträumt hatten.<br />
Der fast umsonst erstandene Alkohol wurde dann<br />
in irgendwelchen Kellern in Flaschen abgefüllt und als<br />
billiger Wodka verkauft. Er ging weg wie warme Semmeln.<br />
Es gab damals noch keine Verbrauchssteuer für<br />
Alkohol, keine einschlägige Gesetzgebung, und die Miliz<br />
war machtlos, selbst wenn sie gegen den illegalen Vertrieb<br />
des »Ballerwassers« hätte angehen wollen. Doch sie<br />
210
wollte es erst gar nicht, sondern versuchte lieber, gleichfalls<br />
zu überleben so gut es ging : durch Beteiligung an<br />
dem illegalen Geschäft. Die Wodka-Händler bezahlten<br />
die Milizionäre dafür, dass sie ihnen Konkurrenten und<br />
Schutzgelderpresser vom Leibe hielten.<br />
<strong>In</strong> dieser Zeit lernte der Gauner und Schwarzhändler<br />
Paschka Fedulew den Milizionär Nikolai Owtschinnikow<br />
kennen. Wie alle damals wollte Owtschinnikow<br />
Geld verdienen, denn die Gehälter bei der Miliz waren<br />
lächerlich gering und wurden nur unregelmäßig ausgezahlt.<br />
Paschka und Owtschinnikow verstanden einander<br />
also. Owtschinnikow »übersah« Paschkas Geschäfte,<br />
und Paschka, der eine Goldader aufgetan hatte, ließ sich<br />
nicht lumpen. Das Hungerleben war für den Milizionär<br />
vorbei.<br />
Schließlich reichte Paschkas Startkapital, um größer<br />
einzusteigen. Und, worauf es ihm besonders ankam, legal.<br />
Ein bezeichnender Zug unserer Gesellschaft : Wie ein<br />
Soldat davon träumt, General zu werden, träumt jeder<br />
Verbrecher in <strong>Russland</strong> vom großen legalen Geschäft.<br />
Ein Spezifikum der russischen Wirtschaft – unter Jelzin<br />
wie unter Putin – besteht nun darin, dass jeder, der an diesem<br />
großen Geschäft teilhaben und sich darin behaupten<br />
will, drei Spielregeln respektieren muss. Die erste lautet :<br />
Erfolg hat in der Regel, wer ein Stück des Staatskuchens,<br />
also des staatlichen Eigentums, an sich reißen kann. Deshalb<br />
kommt ja auch die Mehrzahl der Geschäftsleute in<br />
<strong>Russland</strong> aus der sowjetischen Nomenklatura, aus den<br />
Reihen der Partei- und Komsomolfunktionäre. Sie kamen<br />
211
am leichtesten an den Kuchen heran. Die zweite Spielregel<br />
besteht darin, dass man auch nach der erfolgreichen<br />
Einverleibung des staatlichen Kuchenstücks immer im<br />
Dunstkreis der Macht bleiben, die Staatsdiener regelmäßig<br />
füttern (schmieren) muss, weil das die beste Garantie<br />
ist für ein Prosperieren des privaten Geschäfts. Und die<br />
dritte Spielregel : Ohne die (erkaufte) Freundschaft der<br />
Rechtsschutzorgane geht nichts.<br />
Da Fedulew keine Möglichkeit besaß, die erste Erfolgsbedingung<br />
zu erfüllen, konzentrierte er sich auf die beiden<br />
anderen.<br />
Die re c h t s s c h ü t z e r<br />
Damals lebte in Jekaterinburg ein gewisser Wassili Rudenko,<br />
seines Zeichens stellvertretender Leiter der städtischen<br />
Kriminalpolizei und Arbeitskollege Nikolai Owtschinnikows.<br />
Alle wussten, dieser Rudenko war nicht gerade<br />
der <strong>In</strong>begriff eines sympathischen Menschen, sondern<br />
käuflich und aalglatt, doch auf Grund seiner Stellung<br />
kam keiner, der im Business nach Erfolg strebte, an<br />
ihm vorbei. Rudenko hielt bei jedem Banditen, der seine<br />
kriminelle Vergangenheit hinter sich lassen wollte, die<br />
Hand auf und frisierte als Gegenleistung die Führungsakten<br />
der neuen Unternehmer, indem er ihre Verbrecherbiografie<br />
aus der Milizkartei verschwinden ließ.<br />
Unter denen, die Rudenkos Gunst suchten, war auch<br />
Pascha Fedulew. <strong>In</strong> Jekaterinburg galt er bereits als vermögender<br />
Schnapskönig, wurde als Sponsor in örtliche<br />
212
Altenheime und Waisenhäuser eingeladen, flog von Zeit<br />
zu Zeit über das Wochenende nach Moskau, um die<br />
hauptstädtischen Nachtclubs zu besuchen, wobei er (ein<br />
besonderes Privileg, das ihn als Günstling der Macht<br />
ausweist) auch Beamte der Gebietsverwaltung mit auf<br />
Tour nahm. Die richtige Zeit also für eine Bereinigung<br />
des eigenen Lebenslaufs. Paschka befand, dass er seine<br />
kriminelle Vergangenheit, die ihre dokumentarische Spur<br />
in den Milizarchiven von Jekaterinburg hinterlassen<br />
hatte, nicht mehr brauchte, und er ließ sie verschwinden.<br />
Paschka besaß, wie man zugeben muss, ein glückliches<br />
Händchen, und er hielt es auch später so : Was er sich<br />
vornahm, setzte er hundertprozentig um.<br />
Kennen gelernt hatten sich Rudenko und Fedulew über<br />
einen gewissen Juri Altschul, von dem alle, die ihm je<br />
begegneten, mit Sympathie, ja sogar mit Begeisterung<br />
sprechen. Altschul stammte nicht aus dem Ural, nach<br />
Jekaterinburg hatte es ihn fast zufällig verschlagen – auf<br />
Befehl des Vaterlandes. Er war Kommandeur einer Spezialeinheit<br />
der Hauptverwaltung Aufklärung des Generalstabs<br />
der Russischen Föderation und kam hierher, als<br />
seine Kompanie im Zuge der Auflösung der Gruppe<br />
West der russischen Streitkräfte nach dem Fall der Berliner<br />
Mauer aus Ungarn in den Ural versetzt wurde. Er<br />
quittierte den Dienst und blieb in der Stadt. Geld zahlte<br />
die Armee damals ihren ehemaligen Angehörigen nicht,<br />
also stürzte sich der nunmehrige Zivilist Altschul in<br />
die Wirtschaft. Wie viele entlassene Militärs gründete<br />
er einen privaten Sicherheitsdienst, eine Detektei sowie<br />
213
einen gemeinnützigen Verein für ehemalige Mitglieder<br />
der Sondereinheiten.<br />
Derartige Unternehmen und Organisationen, entstanden<br />
auf den Ruinen der Armee, gibt es in <strong>Russland</strong> massenhaft.<br />
Jede große Stadt hat ihre ehemaligen Militärs,<br />
deren wichtigster Broterwerb im Personenschutz für Geschäftsleute<br />
besteht. So arbeitete auch Altschul für Fedulew,<br />
und er, der frühere Offizier der Hauptverwaltung<br />
Aufklärung, war es, der Paschka half, mit Rudenkos Unterstützung<br />
seine kriminellen Spuren in der Datenbank<br />
der Jekaterinburger Miliz zu löschen.<br />
Schon bald stieg Altschul von Fedulews Bodyguard zu<br />
dessen Vertrautem auf. <strong>In</strong>telligent, entscheidungsfreudig<br />
und gebildet, führte er Pascha, der über keinerlei Berufsausbildung<br />
verfügte, in den Wertpapiermarkt ein, wo<br />
Pascha allerdings bald heimisch wurde und Spielerqualitäten<br />
entwickelte. Da das eigene Geld nicht reichte, tat<br />
er sich mit Andrej Jakuschew zusammen, der Mitte der<br />
neunziger Jahre als Chef der weit über den Ural hinaus<br />
bekannten Firma »Goldenes Kalb« eine Kapazität war.<br />
Gemeinsam kauften sie erfolgreich die Aktien mehrerer<br />
Unternehmen auf. So auch des Jekaterinburger<br />
Fleischkombinats, des größten seiner Art im Ural. Dieser<br />
»Fleischcoup« war von einem solchen Kaliber, dass<br />
er Paschka beinahe zum König von Jekaterinburg gemacht<br />
hätte, zu einem Oligarchen, vor dem sich selbst<br />
die Türen im Amtssitz des Gebietsgouverneurs Eduard<br />
Rossel öffneten. Wenn, ja wenn Pascha nicht den Erfolg<br />
für sich allein gewollt hätte. Er konnte mit anderen zu-<br />
214
sammen gegen Schwierigkeiten ankämpfen, doch den finanziellen<br />
und gesellschaftlichen Erfolg teilen konnte er<br />
nicht. <strong>In</strong> diese Zeit fällt der erste und sehr bezeichnende<br />
Auftragsmord in Fedulews Karriere. Genauer gesagt, der<br />
erste, der bekannt wurde. Und bezeichnend deshalb, weil<br />
danach alle Pawel Fedulew zu fürchten begannen, begriffen<br />
sie doch, dass er nun tatsächlich über seine eigenen<br />
Grenzen hinausgewachsen und kein kleiner Ganove und<br />
Erpresser mehr war. So ist das nun einmal in <strong>Russland</strong> :<br />
Bringst du einen um, respektiert man dich.<br />
Fedulew hatte sich bei Jakuschew eine gewaltige Menge<br />
Geld geliehen für die nächste Transaktion. Er hatte<br />
es erfolgreich angelegt und die Summe um ein Vielfaches<br />
vermehrt. Nur zurückzahlen wollte er seine Schulden<br />
plötzlich partout nicht mehr. Jakuschew zeigte sich<br />
anfangs eher kulant … und dann kam er nicht mehr<br />
dazu, das Geld einzufordern. Am 9. Mai 1995 wurde er<br />
vor den Augen von Frau und Kind im Vestibül seines<br />
Hauses erschossen.<br />
Und die juristische Konsequenz ? Es wurde Strafantrag<br />
gestellt, das Verfahren erhielt sogar eine Nummer –<br />
772801. Und in diesem Dokument figurierte Fedulew,<br />
Kompagnon und Schuldner des Ermordeten, als Hauptperson.<br />
Und dann ? Die Strafsache 772801 liegt bis heute in<br />
den Archiven. Unberührt in dem Sinne, dass es keinerlei<br />
Ermittlungen gab oder gibt. Es sollten noch viele<br />
derartige Strafsachen folgen, jedes Mal mit dem gleichen<br />
Ergebnis, oder besser : mit gar keinem. Zu dieser Zeit<br />
215
wusste in Jekaterinburg bereits jeder, der es wissen wollte,<br />
dass Paschka sein Geld äußerst vorteilhaft investierte :<br />
Er hatte die Miliz gekauft, und die hielt ihm zuverlässig<br />
jegliche Unannehmlichkeit vom Leibe.<br />
Tatsächlich, ein cleverer Coup. Und sehr sicher. Paschka<br />
hatte sie ausgezeichnet gelernt, die Spielregeln des neuen<br />
Geschäftslebens in <strong>Russland</strong>, deren wichtigste lautet :<br />
Du bist nichts, wenn du nicht zweierlei Connec tions besitzt.<br />
Zum einen die erkaufte Freundschaft hochrangiger<br />
Staatsbeamter, die du als unabdingbare Voraus setzung<br />
für dein eigenes Überleben fortwährend schmieren musst,<br />
ihre Abhängigkeit von deiner Brieftasche ist wie eine<br />
Lebensversicherung. Und zum anderen das Wohlwollen<br />
der oberen Milizchargen, die nach deinen Dollars süchtig<br />
werden müssen wie nach Heroin. Eine ebenso unverzichtbare<br />
Voraussetzung für geschäftlichen Erfolg.<br />
Seit dieser Zeit sind Rudenko und Owtschinnikow<br />
Paschkas beständige »Partner«. Sie helfen ihm, zu einem<br />
der »neuen <strong>In</strong>dustrieunternehmer des Ural« aufzusteigen<br />
und sein Vermögen zu vervielfachen. Natürlich mit den<br />
gleichen, im Falle Jakuschew erprobten Methoden, denn<br />
andere beherrschen sie nicht.<br />
Eines Tages schlägt Fedulew vor, mit Andrej Sosnin,<br />
einem weiteren Jekaterinburger Oligarchen, zu kooperieren.<br />
Fedulew und Sosnin legen ihre Geldmittel zusammen<br />
und bewerkstelligen auf dem Wertpapiermarkt des<br />
Ural eine beispiellose, alles bisher Dagewesene übersteigende<br />
Spekulation. Sosnin hält nun die beherrschende<br />
Aktienmehrheit an den lukrativsten Unternehmen der<br />
216
Region, ist praktisch Herr über das gesamte industrielle<br />
Potential, das mehrere Generationen von Sowjetbürgern<br />
geschaffen haben, angefangen von der Zeit des Zweiten<br />
Weltkriegs, als die größten und leistungsfähigsten<br />
Betriebe aus dem europäischen Teil der UdSSR hierher<br />
in den Ural verlagert wurden. Zu den Unternehmen, über<br />
die Sosnin und Fedulew dank des Deals Kontrolle erlangen,<br />
zählen das Hüttenkombinat Nishni Tagil und die<br />
Erzaufbereitungswerke von Katschkanar, die Kombinate<br />
Uralchimmasch und Uraltelekom, die Grubenverwaltung<br />
Bogoslowskoje sowie drei Hydrolysewerke in den Städten<br />
Tawda, Iwdel und Lobwa.<br />
Es war ein riesiger Erfolg. Für die Spekulanten natürlich.<br />
Doch auch für den Staat ? Sosnin und Fedulew<br />
hatten ja keinerlei unternehmenspolitisches Konzept für<br />
diese Betriebe, sie spielten einfach ihr spekulatives Spiel.<br />
Und die Staatsdiener an der Spitze der Gebietsverwaltung<br />
trugen die beiden auf Händen, ohne zu fragen, was sie<br />
denn mit den Werken anzufangen gedächten, nur daran<br />
interessiert, möglichst viel abzubekommen. Korruption<br />
von Amts wegen. Und die Kompagnons zeigten sich<br />
nicht kleinlich, reichten etwas herüber von dem Zusammengeraubten,<br />
schließlich ging es hier um Gönner, die<br />
nicht verprellt werden durften.<br />
Nun mussten die beiden Geschäftspartner nur noch<br />
das Eigentum unter sich aufteilen. Und da wiederholte<br />
sich die alte Geschichte. Fedulew hatte kein Problem<br />
damit, Staatsdiener und Milizoberste zu bedenken, weil<br />
er das für eine <strong>In</strong>vestition hielt, die sich für ihn aus-<br />
217
zahlen würde, doch mit seinem Partner wollte er nicht<br />
teilen : Andrej Sosnin starb durch eine verirrte Kugel,<br />
es wurde Strafanzeige erstattet, der Fall Sosnin am 22.<br />
November 1996 als Strafsache Nr. 474802 aktenkundig<br />
gemacht, die Hauptrolle darin spielte wiederum Fedulew<br />
und … nichts weiter.<br />
Man hat schließlich Verbindungen, damit sie funktionieren.<br />
Als Sosnin ermordet wird, sind Fedulews Miliz-<br />
Freunde – sowohl Rudenko als auch Owtschinnikow –<br />
schon keine armen Leute mehr, und alle in Jekaterinburg<br />
sehen, dass ihr Wohlstand proportional zum Geschäftserfolg<br />
des Patrons wächst. Keine Frage, Strafsache Nr.<br />
474802 wird geschlossen, nicht einmal archiviert, nein,<br />
einfach vergessen.<br />
sc h n a P s k r i e g e<br />
Die Zahl der Unternehmen, die Fedulew bis Ende der<br />
neunziger Jahre in der Ural-Region hatte an sich reißen<br />
können, ist allein schon beeindruckend, doch ihm gelang<br />
ein noch viel größerer Wurf. Jekaterinburg, das ist<br />
vor allem Uralmasch. Uralmasch dominiert den Ural.<br />
Nicht der bekannte Maschinenbaubetrieb, sondern die<br />
organisierte kriminelle Vereinigung (OKV) gleichen Namens,<br />
die weitläufigste und mächtigste Mafia <strong>Russland</strong>s,<br />
ein vieltausendköpfiger, streng hierarchisch gegliederter<br />
Apparat, dessen Repräsentanten in sämtlichen Bereichen<br />
der Macht zu finden sind. Staatsdiener zu kaufen und<br />
Geschäftspartner umbringen zu lassen war also für Pa-<br />
218
scha Fedulew das eine, sich mit den Banditen von Uralmasch<br />
zu arrangieren jedoch etwas ganz anderes. Aber<br />
1997 gelang ihm auch das. Er tat sich mit den Uralmasch-<br />
Bossen zusammen, um die Aktien des Hydrolysewerks<br />
in Tawda in seinen Besitz zu bringen. Die Elefantenhochzeit<br />
machte Sinn. Fedulew, der bereits damals einen<br />
luxuriösen, aufwendigen Lebensstil pflegte, brauchte<br />
Bargeld, um auf dem Markt mitzumischen, und dieses<br />
Geld lag im »Gemeinschaftstopf« der Uralmasch-Banditen.<br />
Und das Erstaunlichste ist, dass sich Uralmasch<br />
auf einen Deal mit Fedulew einließ, obwohl die Gangsterbosse<br />
wussten, wen sie vor sich hatten.<br />
Noch eine kurze Erläuterung : Warum übten gerade<br />
die Hydrolysewerke einen so großen Reiz auf Fedulew<br />
und Uralmasch aus ? Einen so unwiderstehlichen Reiz,<br />
dass sich um dieser Werke willen Kriminelle ganz unterschiedlichen<br />
Kalibers, hinter denen darüber hinaus verschiedene<br />
Rechtsschutzstrukturen standen, zu einem<br />
Bündnis zusammenschlossen.<br />
Der Hintergrund ist folgender : Die Hydrolysewerke<br />
produzierten Spiritus, und aus dem ließ sich »Ballerwasser«,<br />
ein in <strong>Russland</strong> viel getrunkener minderwertiger<br />
Wodka, herstellen und zu Dumpingpreisen verkaufen.<br />
Ein Geschäft, das fantastische Gewinne abwarf, Gewinne<br />
in bar, in richtigem, nicht »kreditiertem« Geld, das über<br />
keine Bank floss und für die Steuerbehörde unauffindbar<br />
war. Etwas Besseres als dieses Bare konnte es gar nicht<br />
geben.<br />
Also kauften Fedulew und die Uralmasch-Bosse 97 %<br />
219
der Aktien des Hydrolysewerks Tawda. Es folgte das<br />
bewährte Konzept : Beide Kooperationspartner gründeten<br />
Nebenfirmen, denen die Gewinne zuflossen, die Aktien<br />
wurden aufgeteilt, danach ließ man diese Firmen entweder<br />
wieder erlöschen, oder sie übernahmen die gesamten<br />
Produktionsprozesse des Hauptunternehmens, und<br />
irgendwann gab es dann das Hydrolysewerk als solches<br />
gar nicht mehr, alles war nunmehr im Besitz der besagten<br />
Firmen. Kein Zweifel, das Unternehmen wurde regelrecht<br />
gefleddert, systematisch ausgeplündert.<br />
Was nach dem Deal kam, kennen wir schon : Bei der<br />
Aufteilung der Aktien vergaß Fedulew den ursprünglich<br />
vereinbarten Verteilungsmodus, und er nahm auch<br />
keinen Uralmasch-Vertreter in den neuen Vorstand auf,<br />
beließ dort nur Direktoren, die unter seiner Kontrolle<br />
standen.<br />
Warum dieses Gebaren ? Fedulew strebte noch weiter<br />
nach oben, wollte es zum Ural-Oligarchien, zum Ersten<br />
unter den ganz Großen bringen, keine Rücksicht mehr<br />
nehmen müssen auf Kompagnons, selbst wenn sie so<br />
einflussreich waren wie Uralmasch. Und er erreichte<br />
sein Ziel : Die Uralmasch-Banditen erschossen ihn nicht,<br />
wie zu erwarten gewesen wäre, sondern zogen sich erst<br />
einmal zurück. Denn zum Zeitpunkt des Tawda-Coups<br />
besaß Fedulew nicht mehr einfach nur gute Beziehungen<br />
zur Miliz, deren Chefs mit ihm gemeinsame kriminelle<br />
Sache machten. Fedulew kontrollierte praktisch die<br />
gesamte Miliz des Gebiets Swerdlowsk – dank seiner ausgezeichneten<br />
persönlichen Kontakte zu Gouverneur Edu-<br />
220
ard Rossel – und traf sogar interne Kaderentscheidungen.<br />
So hievte er beispielsweise in das Amt des Gebietsleiters<br />
der Verwaltung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens<br />
(UBOP) ebenjenen Rudenko, der ihm seinerzeit<br />
beim Frisieren seiner Führungsakte geholfen hatte, und<br />
zum Chef der Jekaterinburger Miliz machte er Nikolai<br />
Owtschinnikow.<br />
Doch die Uralmasch-Banditen hatten auch ihre Beziehungen,<br />
die sie gegen Fedulews Verbindungen aufbieten<br />
konnten. Der Augenblick der direkten Konfrontation war<br />
gekommen, als die Uralmasch-Bande das Hydrolysewerk<br />
in Tawda kurzerhand besetzte. Fedulew zahlte mit gleicher<br />
Münze : Ein Anruf genügte, und schon erschien<br />
eine schnelle Eingreiftruppe der Gebietsverwaltung zur<br />
Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Die in staatlichen<br />
Diensten stehenden Kämpfer wendeten Gewalt<br />
an. Aber gegen wen ? Gegen andere Kämpfer, die auch<br />
im Staatsdienst standen. Im Hydrolysewerk von Tawda,<br />
im Hauen und Stechen um seinen profitablen Alkohol<br />
bekriegten sich also in erster Linie nicht die beiden lokalen<br />
kriminellen Vereinigungen – Fedulews Leute und die<br />
Uralmasch-Banditen –, sondern diejenigen, die hinter<br />
ihnen standen. Auf Fedulews Seite waren das Rudenko<br />
und Owtschinnikow mit einem Trupp bewaffneter Milizionäre,<br />
auf Seiten von Uralmasch stand General Krajew,<br />
der Milizchef des Gebiets Swerdlowsk, mit seinen<br />
Untergebenen. Eine direkte Konfrontation von Kräften<br />
der Rechtsschutzorgane mit dem Ziel, die rechtswidrige<br />
Umverteilung staatlichen Eigentums gewaltsam durchzu-<br />
221
setzen ; nachdem die einen wie die anderen »Hintermänner«<br />
bereits zuvor nach besten Kräften dazu beigetragen<br />
hatten, dass sich die kriminellen Gruppen immer neuen<br />
Besitz aneignen konnten.<br />
Und wie reagierte das <strong>In</strong>nenministerium in Moskau ?<br />
Dort wurde der unerhörte Vorfall einfach als interner<br />
Konflikt der Jekaterinburger Miliz hingestellt, als persönliche<br />
Animosität zwischen General Krajew auf der<br />
einen sowie Rudenko-Owtschinnikow auf der anderen<br />
Seite. Krajew und Rudenko mussten ihre Posten räumen,<br />
wobei man Ersteren öffentlich beschuldigte, in engem<br />
Kontakt zur Uralmasch-Bande zu stehen, während Letzterer<br />
zum Opfer seines unversöhnlichen Kampfes gegen<br />
die gefährlichste Verbrechervereinigung des Ural hochstilisiert<br />
wurde. Rudenko, das »Opfer«, erhielt eine Versetzung<br />
nach Moskau, wo man ihn auf Beschluss des<br />
<strong>In</strong>nenministers Wladimir Ruschailo an die Spitze der<br />
für das Gebiet Moskau zuständigen UBOP-Verwaltung<br />
stellte. Seither hat sich ihr »Ruhm« bis in die Hauptstadt<br />
herumgesprochen : Nirgendwo gibt es ein so kriminogenes,<br />
korruptes Milieu, in dem Banditen von Staats wegen<br />
protegiert werden und gedungene Killer im Auftrag verfeindeter<br />
krimineller Gruppierungen brutal morden.<br />
Währenddessen drehte sich nach Rudenkos Versetzung<br />
in Jekaterinburg das Kaderkarussell. Den Mitarbeiterstab<br />
der für das Swerdlowsker Gebiet zuständigen UBOP-Verwaltung<br />
wählte Fedulew höchstpersönlich entsprechend<br />
seinen kommerziellen <strong>In</strong>teressen aus. Faktisch ernannte<br />
er diejenigen, in deren Händen die Befehlsgewalt über<br />
222
die bewaffneten Milizabteilungen lag, damit er diese<br />
staatlichen Truppen, falls nötig, zu seiner Verteidigung<br />
mobilisieren konnte. Als Ersatz für Rudenko bestimmte<br />
er beispielsweise Juri Skworzow, der nicht nur die rechte<br />
Hand seines Amtsvorgängers gewesen war, sondern viele<br />
Jahre auch als eine Art Geschäftsträger Fedulews fungiert<br />
hatte. Zu Skworzows erstem Stellvertreter machte<br />
er einen gewissen Andrej Taranow, im gesamten Ural<br />
bekannt als Patron des hiesigen Schnapskönigs Oleg<br />
Fleganow. Fleganow, über dessen Netz von Einzelhandelsverkaufsstellen<br />
ein Großteil des Alkoholumsatzes<br />
erfolgte, bot die Chance, gepanschten Wodka unter das<br />
Volk zu bringen.<br />
Zum zweiten Stellvertreter Skworzows wurde – wiederum<br />
nicht ohne Fedulews Zutun – Wladimir Putjaikin<br />
ernannt. Ihm fiel die Aufgabe zu, die Reihen der Gebietsmiliz<br />
zu säubern, weshalb er sofort damit begann, Missliebige,<br />
die noch gegen die Mafia aufzubegehren wagten<br />
oder sich nicht von Fedulew kontrollieren ließen, aus den<br />
Rechtsschutzorganen zu verdrängen. Wie das geschah,<br />
zeigt das folgende Beispiel : Eines Tages forderte Skworzow<br />
von Putjaikin eine Aufstellung, wer von den Milizionären<br />
gegen Fedulew und seine Leute opponierte ; womit<br />
er Putjaikin in die Bredouille brachte, denn der emsige<br />
Stellvertreter hatte gerade keine entsprechenden <strong>In</strong>formationen<br />
parat. Also verfrachtete er kurzerhand in der<br />
Nacht einen Milizoffizier zu sich nach Hause, pumpte<br />
ihn mit Wodka voll und verlangte, er solle sofort alle<br />
Fedulew-Gegner unter seinen Miliz-Kollegen benennen.<br />
223
Doch der junge Offizier wollte nicht zum Denunziant<br />
werden. Also zwang ihn Putjaikin, sich mit der eigenen<br />
Dienstpistole zu erschießen, indem er ihm androhte, er<br />
habe keine andere Wahl, Fedulews Leute würden ihn<br />
sowieso aus dem Weg räumen.<br />
»Das kann doch gar nicht sein !«, höre ich den vollkommen<br />
konsternierten Leser rufen. »So etwas ist einfach<br />
nicht möglich !«<br />
Immer schön ruhig, es ist möglich – und wie es möglich<br />
ist. Genau so entstanden und erstarkten unter Jelzin<br />
die stabilen kriminellen Strukturen, die heute, unter<br />
Putin, das Leben des Staates bestimmen. Genau sie,<br />
die allmächtigen, einflussreichen, im Gelde schwimmenden<br />
Verbrecherbünde, hat der jetzige Präsident im Auge,<br />
wenn er erklärt, eine Umverteilung des Eigentums sei<br />
unmöglich, alles solle so bleiben, wie es ist. Nun mag<br />
Putin zwar in Tschetschenien Zar und Gott sein, nach<br />
Gutdünken strafen und begnadigen, aber die Mafiosi<br />
rührt er lieber nicht an. Denn da stehen Summen auf<br />
dem Spiel, von denen wir nicht einmal zu träumen wagen.<br />
Der Preis eines Lebens, der Wert eines Versprechens,<br />
Anstand und Ehre – all das wird absolut nichtig, wenn<br />
es um Millionenprofite geht.<br />
Die un a n ta s t B a r e n<br />
Als Fedulews Mafia an die Macht gekommen war, ging<br />
das Leben im Ural nicht mehr »nach den Regeln« vonstatten<br />
(ein Ausdruck der Gaunersprache, die sich in<br />
224
unserem Alltag so festgesetzt hat, dass sie selbst der<br />
Präsident bei seinen öffentlichen Auftritten gebraucht),<br />
im Gebiet Swerdlowsk herrschte nun die blanke kriminelle<br />
Willkür, die totale Abwesenheit jeglicher Regel :<br />
der Fedulew-Stil.<br />
Ich fragte in Jekaterinburg Passanten auf der Straße :<br />
»Vor wem empfinden Sie Respekt ? Vor Gouverneur Rossel<br />
? Vor Fedulew ? Vor Bürgermeister Tschernezki ?« Und<br />
sie antworteten : »Vor denen von Uralmasch.« Also vor<br />
den Kriminellen alter Schule, aus den Zeiten vor Fedulew.<br />
Ich war entgeistert. Wie kann man Banditen achten ?<br />
Wofür ? Die Erklärung war einfach : »Weil sie zwar nach<br />
ihrem Ganovengesetz leben, aber immerhin haben sie<br />
eins. Die neuen Banditen achten nicht einmal mehr die<br />
Gesetze der Unterwelt.«<br />
So weit haben wir es gebracht. Der kleine Mann auf<br />
der Straße schenkt sein Herz der einen Mafia, nur weil<br />
die andere unvergleichlich schlimmer ist.<br />
Doch kehren wir zurück zum Jahr 1997. Fedulew<br />
hatte die Jekaterinburger Miliz und den illegalen Wodka-<br />
Markt erobert und agierte weiter auf dem Wertpapiermarkt.<br />
Jetzt war das Objekt seiner Begierde eine Moskauer<br />
Firma. Und nicht irgendeine. Sie gehörte zum Konsortium<br />
eines bekannten hauptstädtischen Oligarchen,<br />
der Jelzin und seinen Familienclan sponserte. Hier betrügerische<br />
Spielchen anzuzetteln kam in jenen Zeiten<br />
einem Selbstmord gleich. Zweimal erstattete die Firma<br />
denn auch bei der für das Gebiet Swerdlowsk zuständigen<br />
UBOP-Verwaltung Strafanzeige wegen Betrugs, doch<br />
225
dort saß Owtschinnikow, und der blockte alle <strong>In</strong>formationen<br />
ab, die Fedulews Geschäfte stören konnten. Die<br />
Ermittlungen wurden auf Eis gelegt.<br />
Erst nach einer <strong>In</strong>tervention von Seiten der Generalstaatsanwaltschaft<br />
und der Untersuchungskommission<br />
des Parlaments erfolgte die Eröffnung des Strafverfahrens<br />
Nr. 142114 gegen Fedulew. <strong>In</strong> Moskau, nicht in Jekaterinburg.<br />
Fedulew tauchte unter und wurde 1998 russlandweit<br />
zur Fahndung ausgeschrieben.<br />
Erinnern Sie sich noch an Juri Altschul, den ehemaligen<br />
Armeeaufklärer und späteren Bodyguard Fedulews ?<br />
Den alle, die mit ihm zu tun hatten, für einen grundehrlichen<br />
Menschen hielten, für einen, der zu seinem Wort<br />
stand, nichts fürchtete. Altschul hatte in Jekaterinburg<br />
ein Detektivbüro und einen Sicherheitsdienst gegründet<br />
und verhalf den Rechtsschutzorganen zu mancher<br />
vertraulichen <strong>In</strong>formation. Auf Grund der von ihm an<br />
Staatsanwaltschaft und FSB übermittelten Daten landeten<br />
beispielsweise einige Unterweltbosse des Ural hinter<br />
Gittern. Dieser Altschul nun hatte eine Idee fixe, die<br />
sein gesamtes Leben nach dem Ausscheiden aus den<br />
Streitkräften bestimmte. Er wollte die kriminelle Vereinigung<br />
Uralmasch bekämpfen. Man mag das für ein<br />
bizarres Ansinnen halten, kann darüber lachen, doch<br />
ebendieses Ziel brachte Altschul Fedulew nahe, zog ihn<br />
in dessen Dunstkreis : Fedulew bekriegte die Uralmasch-<br />
Gangster ebenfalls.<br />
Der untergetauchte Fedulew kannte Altschuls fixe Idee<br />
und bestellte ihn deshalb zu einer Unterredung. Fedulew<br />
226
efürchtete nämlich, dass während seiner erzwungenen<br />
Abwesenheit die Uralmasch-Bosse die beiden anderen<br />
Hydrolysewerke des Gebiets Swerdlowsk, auf die<br />
er gleichfalls ein Auge geworfen hatte, unter ihre Kontrolle<br />
bringen würden. Darum bat er Altschul bei dem<br />
Gespräch, mit allen Mitteln seine, Fedulews, <strong>In</strong>teressen<br />
gegenüber Uralmasch zu verteidigen, wofür er ihm eine<br />
fünfzigprozentige Beteiligung am Gewinn des Hydrolysewerks<br />
Lobwa versprach.<br />
Altschul stimmte zu und fuhr nach Lobwa, einem Ort,<br />
in dem es außer besagter Hydrolysefabrik kaum etwas<br />
gibt. Er fand das Werk in einem katastrophalen Zustand<br />
vor, es war völlig heruntergewirtschaftet, die Produktion<br />
so gut wie zum Erliegen gekommen. Altschul musste sich<br />
also fragen, wozu Fedulew so viele Aktien von Betrieben<br />
aufkaufte, was er mit diesen Werken anfangen wollte.<br />
Vor Fedulew hatte das Hydrolysewerk Lobwa eine<br />
gesunde wirtschaftliche Grundlage. Doch kaum war er<br />
der Boss, umgab er den Betrieb nach bewährter Manier<br />
mit einer Vielzahl eigener Minifirmen (offiziell nur für<br />
Vertriebszwecke gegründet), die die Produktion von<br />
Lobwa übernahmen – die Herstellung von Spiritus, den<br />
sie dann entweder verkauften oder schwarz weiterverarbeiteten.<br />
Der Rückfluss der Gewinne erfolgte ebenfalls<br />
nur über die Konten dieser Firmen, und natürlich nicht<br />
in vollem Umfang. Monat für Monat, Prozent um Prozent<br />
saugte Fedulew das Werk aus.<br />
Als Altschul nach Lobwa kam, hatten die Arbeiter<br />
bereits sieben Monate keinen Lohn mehr bekommen,<br />
227
das gesamte Kapital kreiste in Fedulews Nebenfirmen,<br />
die Betriebskasse war absolut leer, kein Geld vorhanden,<br />
um Steuern zu zahlen, Strom- und Gasrechnungen zu<br />
begleichen. Der Bankrott schien nur noch eine Frage<br />
der Zeit. Und das bei einem Betrieb, der im Grunde die<br />
ganze Stadt ausmachte : Alle in Lobwa waren auf die eine<br />
oder andere Weise mit dem Hydrolysewerk verbunden.<br />
Starb das Werk, starb auch die Stadt.<br />
<strong>In</strong> dieser Situation beschloss Altschul, auf eigene Faust<br />
zu handeln – und distanzierte sich damit von der Absprache<br />
mit Fedulew. Er gab den Arbeitern sein Offiziersehrenwort,<br />
dass er Ordnung schaffen werde, und warf<br />
als Erstes Fedulews Statthalter Sergej Tschupachin und<br />
Sergej Leschukow hinaus. Sie waren im Auftrag ihres<br />
Herrn für die gezielte Misswirtschaft verantwortlich, und<br />
sie waren interessanterweise vor nicht allzu langer Zeit<br />
noch Milizionäre gewesen : ehemalige Milizoffiziere, Mitarbeiter<br />
der Abteilung zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität<br />
in der Gebietsverwaltung für <strong>In</strong>neres und<br />
obendrein persönliche Freunde Wassili Rudenkos und<br />
Nikolai Owtschinnikows. Sie hatten die Milizuniform an<br />
den Nagel gehängt, um nun die finanziellen <strong>In</strong>teressen<br />
der Miliz in Fedulews Business zu vertreten.<br />
Doch Altschul machte ihnen einen Strich durch die<br />
Rechnung. Kurz darauf traf Wassili Rudenko aus Moskau<br />
in Jekaterinburg ein : Das Geld war in Gefahr ! Man bat<br />
Altschul zu einer Unterredung in das Büro der UBOP-<br />
Gebietsverwaltung, wo Rudenko von ihm verlangte, er<br />
solle sich aus dem Werk in Lobwa zurückziehen : was<br />
228
Altschul kategorisch ablehnte. Wenige Tage später, am<br />
30. März 1999, wurde der ehemalige Militäraufklärer in<br />
seinem Wagen erschossen. Danach folgte die übliche Prozedur<br />
: Eröffnung des Strafverfahrens Nr. 528006, wieder<br />
mit Fedulew als Hauptperson. Es ist nun bereits seine<br />
dritte Strafsache wegen eines Auftragsmords. Und wie<br />
gehabt landet auch Nr. 528006 bei den Akten.<br />
Fedulew kalkulierte banditenhaft geradlinig : Ohne<br />
Altschul war der Weg in das Hydrolysewerk wieder frei.<br />
Doch der Ermordete hatte dort noch seinen Freund und<br />
Stellvertreter Wassili Leon, früher ebenfalls Aufklärer<br />
und Angehöriger einer Spezialeinheit. Er lehnte alle Forderungen<br />
der Fedulew-Clique, seinen Posten zu räumen,<br />
rundheraus ab. Sollte man ihn auch noch erledigen ?<br />
Das Trio Rudenko-Tschupachin-Leschukow schlägt<br />
Leon lieber einen Deal vor : Er bleibt Direktor, doch die<br />
Kontrolle über den Großhandelsverkauf – also das Kerngeschäft<br />
– geht wieder an Tschupachin und Leschukow.<br />
Leon wird nicht um sein Einverständnis gebeten, sondern<br />
unter massiven Druck gesetzt. Die Mafia spielt Vabanque<br />
: Skworzow, der von Fedulew ins Amt gehievte<br />
Leiter der Gebietsverwaltung zur Bekämpfung des organisierten<br />
Verbrechens, lädt Leon vor und drängt ihn zu<br />
dem Kompromiss. Aus Moskau ruft pausenlos Wassili<br />
Rudenko an, der in der Hauptstadt weiter Karriere gemacht<br />
hat und nun im Kriminalamt des <strong>In</strong>nenministeriums<br />
arbeitet. Der Dritte, der Leon terrorisiert, ist Leonid<br />
Fesko, ein Freund Rudenkos und ranghoher Milizoffizier,<br />
der die Abteilung für operative Ermittlungen<br />
229
in der Gebietsverwaltung leitet, bald darauf jedoch wie<br />
Rudenko nach Moskau übersiedelt, dort den Dienst quittiert<br />
und die Leitung des so genannten »Fonds zur Verteidigung<br />
und Unterstützung von Mitarbeitern der Verwaltung<br />
zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens<br />
im Gebiet Swerdlowsk« übernimmt. <strong>In</strong> Fedulews Mafia<br />
fungiert Fesko als Buchhalter, denn dieser Hilfsfonds ist<br />
ein typischer Kanal zum legalen Transfer illegaler Barreserven,<br />
Bestechungsgelder und »Zuwendungen«. Offiziell<br />
sieht alles respektierlich aus : Sponsoren stiften Geld für<br />
die Nöte der Miliz. <strong>In</strong> Wirklichkeit aber handelt es sich<br />
um das zweite Gehalt der Milizangehörigen in Fedu lews<br />
Mafia-Diensten.<br />
Der Gerechtigkeit halber sei angemerkt, dass nicht<br />
Fedulew die »Verteidigungs- und Unterstützungsfonds«<br />
erfand, sondern andere Herren gleichen Kalibers, Mitte<br />
der neunziger Jahre. Derartige Einrichtungen gibt es<br />
heute in <strong>Russland</strong> wie Sand am Meer, jedes Gebiet hat<br />
gleich mehrere davon, und faktisch pumpen sie alle<br />
Bestechungsgelder in die Rechtsschutzorgane, ohne dass<br />
auch nur irgendjemand daran Anstoß nehmen kann.<br />
Noch später macht Fedulew diesen Leonid Fesko zu<br />
seinem Stellvertreter im Bereich der Wach- und Ordnungsdienste<br />
in den von ihm kontrollierten Unternehmen.<br />
Fesko sorgt dafür, dass bei Bedarf, bei Konflikten<br />
mit den Konkurrenten, sofort Sonderabteilungen der<br />
Miliz anrücken. Und Fesko ist es auch, der im September<br />
2000 die Besetzung des Kombinats Uralmasch leitet.<br />
Doch jetzt schreiben wir das Jahr 1999, und Wassili<br />
230
Leon lässt sich von den Erpressern nicht unter Druck<br />
setzen. Da erschießt im Dezember des gleichen Jahres ein<br />
Mann aus der unmittelbaren Umgebung des Leiters der<br />
UBOP-Gebietsverwaltung, der Sonderermittler Jewgeni<br />
Antonow, Leons Stellvertreter, der für den Großhandelsabsatz<br />
des produzierten Alkohols zuständig gewesen war,<br />
also genau den Posten innegehabt hatte, den Tschupachin<br />
und Leschukow beanspruchten.<br />
<strong>In</strong> der Gebietsverwaltung Swerdlowsk des <strong>In</strong>landsgeheimdienstes<br />
FSB liegt eine schriftliche Eingabe Leons<br />
vor, in der er unmittelbar nach der Erschießung seines<br />
Stellvertreters die Vorgeschichte des Mordes schildert :<br />
»Mitte Januar hatte ich ein Gespräch mit dem Abteilungsleiter<br />
der UBOP-Gebietsverwaltung Sergej Wassiljew.<br />
<strong>In</strong> scharfer Form hielt er mir vor, ich hätte durch<br />
mein Verbleiben im Hydrolysewerk in Lobwa der UBOP<br />
den Geldhahn zugedreht. Außerdem sagte er : ›Du hast<br />
dich am gemeinsamen Finanzpolster des FSB, der UBOP<br />
und der anderen bewaffneten Organe des Gebiets vergriffen.‹<br />
Wassiljew verlangte ultimativ von mir, ich solle<br />
mit ihnen zusammenarbeiten. Als ich fragte, worin diese<br />
Zusammenarbeit bestünde, sagte er : ›Du schaffst das<br />
Geld heran !‹«<br />
<strong>In</strong> dieser Aussage schreit förmlich jede Zeile nach einem<br />
Strafverfahren, nach der Aufnahme von Ermittlungen.<br />
Doch wieder versackt alles im Sumpf der Rechtsschutzstrukturen,<br />
die unter gar keinen Umständen publik<br />
werden lassen möchten, was sich in Jekaterinburg<br />
abspielt. Auch Leons Eingaben an die Generalstaatsan-<br />
231
waltschaft und das <strong>In</strong>nenministerium sowie an Präsident<br />
Putin persönlich verhallen vollkommen ungehört.<br />
Zu der schrankenlosen kriminellen Willkür gesellt sich<br />
absolute Gleichgültigkeit. Während Fedulews weiterem<br />
Geschick größte Aufmerksamkeit zuteil wird.<br />
Im Januar 2000 wird Pawel Fedulew auf persönliche<br />
Anordnung des stellvertretenden Generalstaatsanwalts<br />
der Russischen Föderation, Wassili Kolmogorow, aus<br />
dem Gefängnis entlassen. Einfach so – ohne Freispruch<br />
durch ein Gericht, ohne Amnestierung. Als er nach Jekaterinburg<br />
zurückkehrt, empfangen ihn die Gebietsobersten<br />
wie einen Sieger. Gouverneur Rossel lässt ihn zum<br />
»Unternehmer des Jahres« in der Ural-Region ausrufen.<br />
Nach seinem Aufenthalt im Gefängnis, nach der Erschießung<br />
Juri Altschuls, der Erpressung Wassili Leons und<br />
dem Mord an dessen Stellvertreter hat Fedulew endgültig<br />
aufgehört, der Kriminelle Paschka zu sein. Nun<br />
wird er in den Rang des »führenden Unternehmers der<br />
Stadt Jekaterinburg« erhoben, nur als solcher noch von<br />
den lokalen Massenmedien dargestellt. Binnen kurzem<br />
bringt er es zum Abgeordneten des Gebietsparlaments<br />
und erhält parlamentarische Immunität. Jetzt ist es noch<br />
schwerer, dem Unantastbaren etwas anzuhaben.<br />
Sehen wir einmal von den Details ab, wer ist dann<br />
dieser Pawel Fedulew ? Oligarch der Ural-Region. Parlamentarier.<br />
Großkapitalist. Und Begründer eines VER-<br />
BRECHERSYNDIKATS. Die bekannte italienische Bezeichnung<br />
dafür lautet MAFIA. Das Strafgesetzbuch der<br />
Russischen Föderation nennt sie OKV – organisierte kri-<br />
232
minelle Vereinigung. Im Herbst 2000, zum Zeitpunkt<br />
der Besetzung der Uralchimmasch-Werke, ist Fedulews<br />
Cosa Nostra nach bestem Mafia-Standard organisiert.<br />
Sie hat ihre jahrelang gemästeten Rechtsschutzorgane.<br />
Sie hat ihre Richter. Sie hat ihre Gewährsleute auf allen<br />
Ebenen der Macht, bis hin zur Spitze. Sie hat nur<br />
ein kleines Problem : Der Pate ist für ein Weilchen hinter<br />
Gittern gewesen, und während er einsaß, sind ihm<br />
seine Fabriken und Kombinate außer Kontrolle geraten.<br />
Panik packt das Syndikat : Was wird mit unserem Geld ?<br />
<strong>In</strong> dieser Situation erfolgte Fedulews Entlassung aus dem<br />
Gefängnis.<br />
umV e r t e i l u n g nu m m e r z W e i<br />
Natürlich waren Fedulews neue Regalien und Würden<br />
nur die Spitze des kriminellen Eisbergs. Denn seine Entlassung<br />
aus dem Gefängnis bedeutete für die Ural-Region<br />
einen Wendepunkt. Als Fedulew noch gar nicht<br />
in Jekaterinburg eingetroffen, sondern nur die Nachricht<br />
von seiner Freilassung bis hierher vorgedrungen<br />
war, wussten die Jekaterinburger bereits, was die brüderlichen<br />
Umarmungen mit Gouverneur Eduard Rossel<br />
bald darauf nur bestätigen sollten : Im Ural stand eine<br />
neuerliche Umverteilung der Pfründe bevor, und Fedulew<br />
würde dabei die Rolle des Bahnbrechers zukommen.<br />
Schließlich hatte man ihn nicht einfach so aus dem Gefängnis<br />
entlassen, sondern zu einem ganz bestimmten<br />
Zweck : Damit er sich seinen Besitz zurückholte, wodurch<br />
233
auch sämtliche Gewährsleute wieder in den Genuss ihrer<br />
Anteile kämen.<br />
Die Rechnung ging auf. Das Erste, was Fedulew nach<br />
der Haftentlassung in Angriff nahm, war die Rückeroberung<br />
des Hydrolysewerkes Lobwa. Denn Lobwa bedeutete<br />
Alkohol : großes, schnelles und bares Geld.<br />
Ein Bild von der Art und Weise, wie Fedulew dabei<br />
vorging, vermittelt die Eingabe des amtierenden Direktors<br />
Wassili Leon an die FSB-Gebietsverwaltung : »Fedulew<br />
erklärte mir, früher wären solche Fragen auf juristischem<br />
Wege gelöst worden, durch Privatisierung oder<br />
Aktienkauf … Jetzt werde alles mit Methoden der Gewalt<br />
entschieden.«<br />
Diese Aussage stammt vom Februar 2000. Leon hatte<br />
sich damals schriftlich an den FSB gewandt mit der<br />
Bitte um Unterstützung im Kampf gegen die Mafia. Die<br />
Kraft des Gesetzes sollte ihn schützen vor der organisierten<br />
kriminellen Erpressung. Zum einen von Seiten der<br />
UBOP-Gebietsverwaltung, die ihn nötigen wollte, seinen<br />
Platz im Hydrolysewerk Lobwa zu Gunsten Fedulews zu<br />
räumen. Und zum anderen durch Fedulew selbst, der<br />
nicht einfach nur Leons Rücktritt von seinem Posten,<br />
sondern obendrein noch 300 000 Dollar als Kompensation<br />
forderte.<br />
Leons Hilfeersuchen blieb unbeantwortet. Der Staat<br />
ließ Gesetz Gesetz sein und warf das Hydrolysewerk der<br />
Mafia zum Fraß vor. Und die »Methoden der Gewalt«,<br />
von denen Fedulew gesprochen hatte, ließen nicht lange<br />
auf sich warten.<br />
234
Am 14. Februar 2000 rief Fedulew das Gläubigerkomitee<br />
des Hydrolysewerks zusammen, einfach so, auf persönliche<br />
Einladung, ohne jegliche juristische Berechtigung,<br />
mit dem Ziel, die Leitung des Betriebes durch ein<br />
von ihm kontrolliertes Direktorium zu ersetzen. <strong>In</strong>teressant,<br />
was nun geschieht : Von den fünf Hauptgläubigern<br />
gelang es Fedulew nur zwei auf seine Seite zu ziehen,<br />
für ein Quorum waren aber drei nötig. Also präsentierte<br />
er die gefälschte Vollmacht eines dritten Kredit<br />
gebenden Unternehmens, und das »Komitee« traf<br />
die Entscheidung, die Gläubigerversammlung nicht am<br />
Firmensitz in Lobwa durchzuführen, sondern in Fedulews<br />
Büro in der Jekaterinburger Malyschew-Straße 36.<br />
Warum gerade dort, war allen klar. Es könnten ja die<br />
wirklichen Gläubiger auftauchen, und dann müsste man<br />
sie aufhalten ; was in dem wie eine Festung gesicherten<br />
Fedulew’schen Büro ein Leichtes sein würde, nicht aber<br />
in Lobwa. Wozu sich unnötige Probleme aufhalsen ? Es<br />
ging um zu viel Geld, als dass man sich einen Misserfolg<br />
leisten konnte.<br />
Kurz vor der Versammlung traf auch Rudenko aus<br />
Moskau ein. Er und Fedulew mussten noch die wichtigste<br />
Frage klären : Was wird mit Leon, dem sturen unbotmäßigen<br />
Direktor ? Und sie fanden eine Lösung.<br />
Am 17. Februar, einen Tag vor dem Termin, schickte<br />
Fedulew zwei seiner Leute, Pilschtschikow und Naimuschin,<br />
zur UBOP-Verwaltung. Die beiden Herren waren<br />
dort gut bekannt, wurde doch seit mehreren Jahren<br />
– sehr gemächlich – gegen sie ermittelt, weil sie als<br />
235
Auftragsmörder einen Kompagnon Fedulews aus dem<br />
Weg geräumt haben sollten. Diesmal aber erstatteten<br />
sie schriftlich Anzeige gegen Leon, der angeblich 10 000<br />
Dollar von ihnen erpresst hatte. <strong>In</strong> der für die russische<br />
Justiz schier unglaublichen Geschwindigkeit von<br />
einer Stunde wurde ein entsprechendes Strafverfahren<br />
eröffnet. Selbstredend ohne Voruntersuchung, Tonbandaufzeichnung<br />
oder Überprüfung, allein auf Grund einer<br />
Denunziation. Und schon kurvte ein Milizfahrzeug<br />
durch Lobwa und verteilte Flugblätter ( !) : Direktor Leon<br />
werde polizeilich gesucht, sei flüchtig und als suspendiert<br />
zu betrachten.<br />
Am 18. Februar versammelten sich die Gläubiger in<br />
Fedulews Büro. Wie üblich erfolgte zunächst die Registrierung.<br />
Eingangsbereich, Korridore und Arbeitsräume<br />
wurden von bewaffneten Sicherheitskräften in Milizuniform<br />
überwacht. Alles schien nach Plan zu laufen. Doch<br />
plötzlich geschah, was keinesfalls geschehen sollte und<br />
der eigentliche Grund für die Verlegung der Sitzung<br />
nach Jekaterinburg gewesen war : Galina Iwanowa, Vorsitzende<br />
der Betriebsgewerkschaftsleitung und als <strong>In</strong>teressenvertreterin<br />
der Beschäftigten teilnahmeberechtigt,<br />
zog überraschend ein Papier aus der Handtasche. Diese<br />
Frau, von der niemand ernstlich Schwierigkeiten erwartet<br />
hatte, präsentierte die alles entscheidende Vollmacht des<br />
Hauptgläubigers, die der zur Fahndung ausgeschriebene<br />
Direktor Leon besorgt hatte – und hinter der ein Stimmanteil<br />
von vierunddreißig Prozent stand. Alles hing<br />
also davon ab, wie Galina Iwanowa stimmte.<br />
236
Fedulew erteilte Order, und die Iwanowa wurde unverzüglich,<br />
noch vor der Abstimmung, verhaftet. Von wem ?<br />
Von Mitarbeitern der UBOP in Zivil, die sich unter die<br />
Versammlungsteilnehmer gemischt hatten. Sie hielten<br />
Galina Iwanowa genau drei Stunden und zwanzig Minuten<br />
in der UBOP-Verwaltung fest, bis Fedulew anrief und<br />
mitteilte, die Registrierung sei abgeschlossen.<br />
Die Nacht nach der Gläubigerversammlung. Was nun<br />
geschah, schildert Alexander Naudshjus, Wassili Leons<br />
Stellvertreter, in seiner schriftlichen Stellungnahme an<br />
die Gebietsverwaltung des FSB folgendermaßen :<br />
»Ich traf gegen 22.30 Uhr im Betrieb ein. Gegen<br />
1.30 Uhr legte ich mich schlafen. Um 4.30 Uhr wurde<br />
ich wach … Die Tür zum Gebäude der Betriebsleitung<br />
war bereits eingeschlagen, die Gitter vor den Fenstern<br />
hatte man herausgerissen. Überall standen Bewaffnete,<br />
außerdem sah ich ungefähr dreißig PKW sowie einen<br />
Bus. Sie ließen uns durch zur Betriebsleitung, dort stand<br />
der Werkschutz mit erhobenen Händen, bewacht von Soldaten<br />
in Milizuniform. Hinter dem Schreibtisch saß der<br />
Oberleutnant der UBOP Oleschkewitsch. Ich ging in das<br />
Zimmer des kaufmännischen Geschäftsführers, wo ich<br />
Fedulew sah. Ich fragte : ›Auf welcher Grundlage erfolgte<br />
die Betriebsübernahme ?‹ Sie zeigten mir das Protokoll<br />
der Gläubigerversammlung und den Arbeitsvertrag des<br />
neuen Direktors. Der Vertrag war gefälscht.«<br />
Die gemeinsame Operation Fedulews und der UBOP-<br />
Gebietsverwaltung zur rechtswidrigen Übernahme des<br />
Hydrolysewerks Lobwa endete erfolgreich und unter ekla-<br />
237
tanter Missachtung geltender Gesetze und fortgesetztem<br />
Amtsmissbrauch durch Staatsbedienstete. Das organisierte<br />
Verbrechen, das die UBOP eigentlich bekämpfen<br />
soll, wurde von dieser UBOP nach besten Kräften selbst<br />
organisiert.<br />
Gab es Bestrafungen ? Bis heute, bis zum vierten Jahr<br />
der von Präsident Putin ausgerufenen »Diktatur des<br />
Gesetzes«, keine einzige.<br />
»Ich bitte mich vor weiteren Provokationen durch<br />
UBOP-Mitarbeiter zu schützen«, hatte Wassili Leon seinerzeit<br />
an den FSB geschrieben und auf fünf Seiten die<br />
Situation ausführlich dargestellt. Das Ergebnis – gleich<br />
Null. Am 18. Februar war er ein Direktor ohne Werk und<br />
musste den Fedulew-Leuten an jedem darauf folgenden<br />
Tag Tausende Dollar in bar abliefern. Lobwa, das war<br />
Spiritus, Spiritus war »Ballerwasser«, und »Ballerwasser«,<br />
das war Fedulew mitsamt seinem Syndikat. Die Neuaufteilung<br />
des Alkoholmarkts im Ural hatte wunschgemäß<br />
stattgefunden.<br />
Heute fristet das Hydrolysewerk Lobwa eine traurige<br />
Existenz, von Fedulew restlos ausgeplündert und dann<br />
fallen gelassen. Was zu erwarten war. Doch damals, im<br />
Jahr 2000, konnte Pawel Fedulew aus dem Unternehmen<br />
so viel Bargeld herauspressen, dass er sieben Monate<br />
nach der Betriebsbesetzung bereits ungehindert die Eroberung<br />
eines neuen Marktes in Angriff nahm. Jetzt hatte<br />
es ihm die Metallurgie angetan, und als Erstes ein Filetstück<br />
namens Katschkanar.<br />
238
kat s c h k a n a r<br />
Die Erzaufbereitungswerke (EAW) Katschkanar waren<br />
ein nationales Vorzeigeobjekt und in der ganzen Welt berühmt.<br />
Das einzige Unternehmen weltweit, das Eisen erz<br />
förderte, anreicherte und Vanadium produzierte. Ohne<br />
das EAW gäbe es keine Hochofenschmelze, zumindest<br />
nicht in unserem Land, und keine einzige Eisenbahnschiene.<br />
Mitte der neunziger Jahre wurde das EAW Katschkanar<br />
wie viele andere wirtschaftstragende Unternehmen<br />
mehrfach privatisiert, was zur Folge hatte, dass es ökonomisch<br />
völlig herunterkam. Besonders kritisch war die<br />
Lage 1997–1998. <strong>In</strong> dieser Zeit übernahm Fedulew die<br />
Leitung des Direktoriums und tat, was er immer tat,<br />
wenn er ein Unternehmen in seine Macht gebracht hatte :<br />
Er plünderte es restlos aus, indem er eine Reihe kleiner<br />
Vertriebsfirmen gründete, die die produzierten Waren<br />
abzogen, die Verkaufserlöse aber nicht zurückfließen<br />
ließen. Ende 1998 hatte Fedulew das EAW Katschkanar<br />
ruiniert, nur die Verhaftung des »besten Unternehmers<br />
der Ural-Region« wendete den Bankrott ab und sicherte<br />
einen Neuanfang, indem nunmehr die anderen Aktionäre<br />
aktiv wurden. Sie holten ein Team fähiger Manager<br />
unter Leitung von Dshalol Chaidarow nach Katschkanar,<br />
mit ihm kamen zahlungskräftige <strong>In</strong>vestoren.<br />
1999 hatte sich das Kombinat verändert : Die Produktionskapazität<br />
war voll ausgelastet, der Nettowert der<br />
Aktiva stieg, die Beschäftigten erhielten wieder Lohn. Ein<br />
239
wichtiger Faktor, wenn man bedenkt, dass ganz Katschkanar<br />
abhing von seinem EAW, in dem 10 000 Menschen<br />
arbeiteten, fast die gesamte erwerbsfähige Bevölkerung.<br />
Mit der Gesundung des Unternehmens stieg auch das<br />
<strong>In</strong>teresse an EAW-Aktien auf dem Wertpapiermarkt.<br />
An dieser Stelle ist ein politischer Exkurs notwendig.<br />
Wie jeder Gouverneur in <strong>Russland</strong>, hatte auch Eduard<br />
Rossel im Gebiet Swerdlowsk einen Mann, der dieselbe<br />
Rolle spielte wie Putin für Jelzin : einen potentiellen<br />
Nachfolger, ausgesprochen loyal und intelligent, zum<br />
Kronprinzen gekürt für den Tag X, an dem seine Loyalität<br />
und <strong>In</strong>telligenz notwendig sein würden, um den<br />
Ersten Mann finanziell abzufedern und seine persönliche<br />
Sicherheit zu gewährleisten, wenn er die politische<br />
Arena verließ.<br />
Für Gouverneur Eduard Rossel war dieser Mann<br />
Andrej Kosizyn, der »Kupferkönig« des Ural, dem die<br />
Kupferhütten im Gebiet Swerdlowsk gehörten. Je näher<br />
die nächsten Gouverneurswahlen heranrückten, umso<br />
deutlicher spürte man in Jekaterinburg, dass Kosizyn<br />
sein Geschäftsfeld nunmehr auch auf die Metallurgie<br />
ausweitete, unter Rossels Patronage, versteht sich.<br />
Doch wieso der Vergleich von Rossel und Kosizyn<br />
mit Jelzin und Putin und der Verweis auf <strong>Putins</strong> Rolle<br />
als Garant der finanziellen Sicherheit des Präsidenten ?<br />
Weil Rossel nicht ewig Gouverneur sein würde und im<br />
Hinblick auf den möglichen Ausgang der nächsten Gouverneurswahlen<br />
Schritte unternahm, um die leistungsstärksten<br />
<strong>In</strong>dustrieunternehmen der Uralregion in einer<br />
240
Hand zu konzentrieren – in der Kosizyns, was so viel<br />
bedeutete wie in seiner eigenen.<br />
Wenn wir auf Fedulew zurückkommen, so hatte der<br />
unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Moskauer<br />
Gefängnis Gouverneur Rossel in Jekaterinburg einen<br />
Besuch abgestattet. Was dabei besprochen wurde, ist<br />
nicht bekannt, doch sofort nach der Audienz übertrug<br />
Fedulew Kosizyn die von ihm gehaltenen Aktien zweier<br />
Kombinate – der Eisenerzaufbereitungswerke Katschkanar<br />
und des Hüttenkombinats Nishni Tagil – zur treuhänderischen<br />
Verwaltung. Offenbar hatte Fedulew mit<br />
dem Gouverneur gekungelt ; sich dadurch das Recht erkauft,<br />
im Gebiet Swerdlowsk nach Gutdünken schalten<br />
und walten zu können, während Kosizyn Katschkanar<br />
an die Angel bekam.<br />
Damals hielt Fedulew allerdings nur neunzehn Prozent<br />
der Aktien, und auch die waren weitgehend wertlos,<br />
wie wir im Folgenden sehen werden. Damit besaß<br />
Kosizyn nicht die bestimmende Aktienmehrheit, und<br />
es würde schwer sein, in dieser Lage einen »eigenen«<br />
Direktor durchzubringen. Außerdem widersetzte sich das<br />
Management unter Leitung von Dshalol Chaidarow den<br />
Expansionsplänen des Duos Fedulew-Kosizyn, und hinter<br />
den Managern standen immerhin siebzig Prozent der<br />
Aktienhalter. Was konnten Fedulew und Kosizyn tun ?<br />
Am 28. Januar 2000 wurden die Eisenerzaufbereitungswerke<br />
Katschkanar gewaltsam besetzt, mit einer Schießerei,<br />
gefälschten Dokumenten und unter Beteiligung<br />
der Miliz. Also das gleiche Szenario wie in Lobwa. Und<br />
241
die gleiche beredte <strong>In</strong>aktivität des Gouverneurs Eduard<br />
Rossel. Am Morgen des 29. Januar erschien der neue<br />
Direktor Andrej Kosizyn, und durch die leeren Arbeitsräume<br />
der Werksleitung schritt geschäftig und ganz Herr<br />
des Hauses ein Mann namens Pawel Fedulew.<br />
Allerdings würde diese Gewaltherrschaft nicht lange<br />
währen, höchstens bis zur ersten Aktionärsversammlung.<br />
Das wussten Kosizyn und Fedulew nur zu gut. Hier hatten<br />
sie es nicht mit den Gläubigern von Lobwa zu tun,<br />
die Aktionäre von Katschkanar würden die Besetzer<br />
schlichtweg hinauswerfen. Also beschloss das Duo : Erstens<br />
durfte es keine Aktionärsversammlung geben. Und<br />
zweitens musste das EAW ein zweites Mal in den Ruin<br />
getrieben werden, weil darin die einzige Chance bestand,<br />
die Aktionäre um ihre weitreichenden Vollmachten zu<br />
bringen. Denn nach russischer Rechtsprechung werden<br />
aus Aktionären eines insolventen Unternehmens stille<br />
Teilhaber.<br />
Fedulew und Kosizyn agierten nun nach einem Schema,<br />
das der Staat bereits in Tschetschenien erprobt hat.<br />
Es besteht darin, die Ein- und Ausreise in eine Stadt zu<br />
unterbinden. Die Aktionäre und das abgesetzte Management<br />
wollten an der Aktionärsversammlung teilnehmen,<br />
doch an den Zufahrtsstraßen wurden sie von Milizposten<br />
aufgehalten. Wie so etwas möglich ist ? Ganz einfach.<br />
Bürgermeister Suchomlin erließ auf Betreiben Fedulews<br />
und Kosizyns im Eilverfahren die Anordnung Nr.<br />
14, die »auswärtigen Bürgern« die Einfahrt in die Stadt<br />
Katschkanar verwehrte. Und sämtliche Aktionäre sowie<br />
242
das Management des EAW waren für Herrn Suchomlin<br />
eben solche »Auswärtigen«. <strong>In</strong> der gleichen Anordnung<br />
wurde zudem jede »Zusammenrottung auswärtiger Bürger«<br />
verboten, für den Fall, dass es einigen Feinden Fedulews<br />
und Kosizyns dennoch gelingen sollte, in die Stadt<br />
vorzudringen, und man sie festnehmen musste, wenn<br />
sie versuchen würden, eine Aktionärsversammlung abzuhalten.<br />
Die konnte man dann als »Zusammenrottung<br />
auswärtiger Bürger« definieren. Eine absurde Geschichte,<br />
die wie eine Satire auf das wahre Leben klingt. Aber es<br />
ist das wahre Leben. Die Aktionärsversammlung fand<br />
nicht statt, und das verbrecherische Duo machte sich<br />
an den zweiten Teil des Plans, das EAW Katschkanar<br />
bewusst in den Bankrott zu treiben.<br />
Aber die Eisenerzaufbereitungswerke arbeiteten doch<br />
gewinnbringend. Wie konnten die beiden es schaffen,<br />
das Unternehmen zu ruinieren ?<br />
Kosizyn nahm bei der Moskauer Geschäftsbank »Moskowski<br />
delowoi mir« einen Kredit in Höhe von 15 Millionen<br />
Dollar auf, verbürgt durch das Vermögen des Kombinats.<br />
Natürlich bekam er das Geld, wer würde sich<br />
nicht gern das EAW Katschkanar unter den Nagel reißen<br />
? Und mit diesem Kredit brachte er Wechsel des Unternehmens<br />
in Umlauf, wobei er den Erlös nicht in das<br />
EAW investierte, sondern in sein Werk Swjatogor, ebenfalls<br />
im Gebiet Swerdlowsk. Angeblich mit der Absicht,<br />
ein Joint Venture zu gründen. Als nächsten Schritt übertrug<br />
Kosizyn dann die Wechsel sozusagen von Katschkanar<br />
auf Swjatogor.<br />
243
Warum dieses »angeblich« und »sozusagen« ? Weil<br />
sich im Endeffekt herausstellte, dass nichts dergleichen<br />
passierte, alles nur virtuell geschah und die Wechsel in<br />
Wirklichkeit in der Hand einer winzigen Firma konzentriert<br />
worden waren, einer Scheinfirma natürlich. Registriert<br />
unter der Adresse einer bescheidenen Jekaterinburger<br />
Privatwohnung, auf den Namen einer Dame, die<br />
sich trotz größter Bemühungen später als unauffindbar<br />
erweisen sollte. Diese virtuelle Dame wurde nun über<br />
Nacht zur Hauptgläubigerin eines Unternehmens, das<br />
auf dem Weltmarkt eine Monopolstellung in der Produktion<br />
von Vanadium innehatte. Wie das ? <strong>In</strong>dem ihre<br />
Eintagsfirma die Wechsel des EAW zu vierzig Prozent<br />
des Nennwerts aufkaufte, den Eisenerzaufbereitungswerken<br />
aber zur einhundertprozentigen Auszahlung präsentierte<br />
und das Kombinat für bankrott erklärte, weil<br />
es seine eigenen Wechsel nicht für hundert Prozent des<br />
Nennwerts zurückkaufen konnte. Auf diesem Wege verschaffte<br />
sich die unbekannte Dame neunzig Prozent der<br />
Stimmen für die Gläubigerversammlung. Ein offenkundiger<br />
Betrug, unter den Augen von Gebietsverwaltung<br />
und Gouverneur.<br />
Die wahren Eigentümer aber, die Millionen Dollar in<br />
das Unternehmen investiert hatten, wurden vollkommen<br />
entrechtet, um ihre Einlagen gebracht. Und damit sich<br />
solche unliebsamen Zwischenfälle wie das Auftauchen<br />
der Betriebsratsvorsitzenden Galina Iwanowa bei der<br />
Gläubigerversammlung des Hydrolysewerks Lobwa in<br />
Katschkanar nicht wiederholten, ließ die UBOP-Gebiets-<br />
244
verwaltung das Werksgelände rund um die Uhr bewachen.<br />
Von derselben Spezialeinheit wie bei dem Handstreich<br />
in Lobwa.<br />
Hält man einen Dieb nicht auf, wird er dreist. Nach<br />
Lobwa folgte Katschkanar, nach Katschkanar – Uralchimmasch.<br />
Im September 2000 wurde das Kombinat<br />
mit Waffengewalt besetzt, nach dem bewährten Schema.<br />
Und dann folgte wieder die Entmachtung der Aktionäre<br />
durch virtuellen Bankrott, begünstigt und befördert<br />
durch die Behörden.<br />
<strong>Putins</strong> so genannte »gelenkte Demokratie« ist auf dem<br />
Vormarsch. Oder besser : ein Wildwest-Kapitalismus unter<br />
der Führung mafioser Gruppierungen, die sich alle<br />
und alles dienstbar gemacht haben, die Rechtsschutzorgane,<br />
die korrumpierte Staatsmacht und … die Justiz.<br />
Die k o r r u P t e s t e Ju s t i z D e r We lt<br />
Genau so ist es. Schließlich wurde bei der Besetzung<br />
von Uralchimmasch, der bewaffneten Übernahme von<br />
Katschkanar und Lobwa nicht mit gefälschten Unterlagen<br />
gewedelt. Studiert man die Dokumente etwas eingehender,<br />
stellt man fest, dass in allen drei Fällen Bescheinigungen<br />
von Gerichten des Gebiets Swerdlowsk vorlagen.<br />
Nur dass die eine Seite stets die einen Richter und<br />
die andere ebenso beständig andere hatte, so als gäbe<br />
es keine Gesetze, keine Verfassung. Im Grunde vollzog<br />
sich im Ural parallel zur Aufteilung der Einflusssphären<br />
unter den kriminellen Vereinigungen ein Bürgerkrieg<br />
245
innerhalb des Rechtsprechungssystems. Die Gerichte<br />
wurden – und werden bis heute – missbraucht als Organe<br />
zur Absegnung von Entscheidungen, die bestimmten<br />
<strong>In</strong>teressengruppen nützen.<br />
Im Folgenden zitiere ich aus einem Schreiben, das<br />
I. Kadnikow, renommierter Jurist und ehemaliger Vorsitzender<br />
des Jekaterinburger Stadtbezirksgerichts Oktjabrski,<br />
gemeinsam mit dem ehemaligen Vorsitzenden<br />
des Stadtbezirksgerichts Leninski, W. Nikitin, an den<br />
Obersten Richter <strong>Russland</strong>s, Wjatscheslaw Lebedew, richtete.<br />
Darin geht es um Iwan Owtscharuk, der bereits seit<br />
Sowjetzeiten dem Swerdlowsker Gebietsgericht vorsteht :<br />
»Owtscharuk nimmt seit Jahren unmittelbaren Einfluss<br />
auf die Zusammensetzung und Ausrichtung der<br />
Richterschaft im Ural, bestimmt und kontrolliert die<br />
Auswahl der Kandidaten für jedes Richteramt. Ohne<br />
seine persönliche Zustimmung wird kein einziger Bewerber<br />
bestätigt, die Bestallung für keinen von uns verlängert.<br />
Alle Richter, die ihm persönlich nicht genehm sind,<br />
werden nach und nach aus ihren Positionen gedrängt,<br />
schikaniert oder zur Kündigung gezwungen, während<br />
dafür Personen in das Richterkollegium gelangen, denen<br />
oft die entsprechende Qualifikation und Berufserfahrung<br />
fehlt, die aber Schwachstellen besitzen und damit manipulierbar<br />
sind. Außerordentlich viele hoch qualifizierte<br />
Richter, die lange Jahre im Justizsystem gearbeitet haben<br />
und über eine reiche Erfahrung verfügen, über solche<br />
wichtigen Qualitäten wie Prinzipienfestigkeit, Unabhängigkeit,<br />
Konsequenz in der Entscheidungsfindung, Unbe-<br />
246
stechlichkeit und Mut, wurden gezwungen, ihr Amt aufzugeben.<br />
Aus einem einzigen Grund : Wer unbestechlich<br />
ist, kann unter Owtscharuk als Oberstem Richter nicht<br />
normal arbeiten.«<br />
Sehen wir uns einmal an, wer diesem Iwan Owtscharuk<br />
genehm und wer ihm missliebig ist, wen er für gut<br />
und wen für schlecht hält.<br />
De r »B e s t e ri c h t e r« im ur a l<br />
Anatoli Kriski, Vorsitzender des Jekaterinburger Stadtbezirksgerichts<br />
von Werch-Issetski, ist nicht nur ein »guter<br />
Richter«, er ist der »beste Richter« des Ural. Lange Zeit<br />
war gerade Kriski ein treuer Hüter der <strong>In</strong>teressen Iwan<br />
Owtscharuks. Und wie hütete er die <strong>In</strong>teressen seines<br />
Herrn ?<br />
Das Gericht im Bezirk Werch-Issetski gilt als das<br />
schwierigste der Stadt, denn in seinem Einzugsbereich<br />
liegt das Gefängnis von Jekaterinburg. Was nach geltendem<br />
Recht bedeutet, dass hier sämtliche Anträge verhandelt<br />
werden, die mit einer Veränderung des Strafmaßes<br />
für die <strong>In</strong>sassen dieses Gefängnisses im Zusammenhang<br />
stehen. Und alle in Jekaterinburg wissen : Entscheidend<br />
für die Beurteilung eines solchen Antrags ist nicht, welches<br />
Verbrechen der <strong>In</strong>haftierte begangen hat, ob er möglicherweise<br />
eine soziale Gefahr darstellt, sondern einzig<br />
und allein – Geld. Am schnellsten landen Angehörige<br />
mächtiger krimineller Gruppierungen wieder auf freiem<br />
Fuß, sie werden einfach freigekauft.<br />
247
Dem Werch-Issetsker Stadtbezirksgericht verhalf das<br />
zu Wohlstand. Üblicherweise sind Stadtbezirksgerichte<br />
arm wie Kirchenmäuse, haben nicht einmal genug Geld<br />
für Papier, sodass die rechtsuchenden Bürger ihr eigenes<br />
mitbringen müssen, und die Gehälter der Richter reichen<br />
mit Ach und Krach zum Überleben. Das Werch-Issetsker<br />
Stadtbezirksgericht bietet da ein ganz anderes Bild. Um<br />
das Gebäude herum stehen viele tausend Dollar teure<br />
Jeeps, Wagen der Marken Mercedes und Ford. Und morgens<br />
entsteigen ihnen die Halter : bescheidene Stadtbezirksrichter<br />
mit wenigen tausend russischen Rubeln Monatsgehalt.<br />
Den besten Wagen besaß stets Anatoli Kriski.<br />
Auf besonders gutem Fuß stand Kriski mit Pawel<br />
Fedulew. Über Jahre hinweg wurden sämtliche Verfahren,<br />
die auch nur irgendwie mit Fedulew zu tun hatten,<br />
von Kriski höchstpersönlich bearbeitet. Er war sozusagen<br />
Fedulews Hausrichter. Oder besser : Auftragsrichter.<br />
Niemals hätte sich Kriski im Hinblick auf Fedulews Fälle<br />
eine Verzögerung oder Verschleppung erlaubt, sie wurden<br />
stets im Eilverfahren verhandelt. Ohne Vorladung<br />
von Zeugen, ohne Rücksicht darauf, ob die getroffenen<br />
Entscheidungen den Rechtsgrundsätzen entsprachen.<br />
Wollte Fedulew von Kriski gerichtlich bestätigt haben,<br />
dass bestimmte Aktien ihm gehörten, machte sich dieser<br />
nicht die Mühe, die vom Gesetz vorgeschriebenen<br />
Beweise oder zumindest Nachweise für den Besitzanspruch<br />
Fedulews zu fordern, der Richter stempelte einfach<br />
ab : Diese Aktien gehören dem Kläger. Mit derartigen<br />
Gerichtsbescheiden in der Hand erschien Fedulew<br />
248
dann auch im Kombinat Uralchimmasch, nachdem er<br />
es mit Waffengewalt hatte besetzen lassen.<br />
Bemerkenswerterweise fand die Verhandlung der Fedulew-Fälle<br />
manchmal sogar in »häuslicher Umgebung«<br />
statt, indem Kriski die richterlichen Bescheide nicht an<br />
dem einzig vom Gesetz dafür vorgesehenen Ort – im<br />
Gerichtssaal – aufsetzte, sondern direkt in Fedulews Büro.<br />
Und es kam sogar vor, dass er das nicht einmal selbst<br />
tat, sondern nur die von Fedulews Anwalt verfassten<br />
Papiere unterschrieb.<br />
Als im Sommer 1998 die Staatsanwaltschaft Fedulew<br />
zusetzte, weil ihn eine Moskauer Firma wegen Betrugs<br />
angezeigt hatte, flog Kriski zusammen mit Fedulews<br />
Anwalt in die Hauptstadt, zum damaligen Generalstaatsanwalt<br />
Juri Skuratow, um die Einstellung des Strafverfahrens<br />
zu erwirken. Skuratow, ein Jugendfreund Kriskis,<br />
empfing den Vorsitzenden des Werch-Issetzker Stadtbezirksgerichts<br />
natürlich, und es kam, wie es kommen<br />
musste : Das damalige Verfahren wurde eingestellt. Bei<br />
seiner Rückkehr nach Jekaterinburg überreichte Fedulews<br />
Frau Kriski dafür eine lustigbunte Plastiktüte mit<br />
Rubeln im Gegenwert von 20 000 Dollar. Als Dank für<br />
seine Bemühungen, was sie gar nicht verhehlte. Und auch<br />
Kriski zeigte seine Freude darüber ganz offen : Einige<br />
Tage später kaufte er sich einen Ford Explorer.<br />
Mancher Leser im Westen mag das für normal halten.<br />
Schließlich ist ein Richter kein Hungerleider, und ein<br />
Luxusschlitten ist ein Ford Explorer nach westlichem<br />
Verständnis nun auch wieder nicht. Kauft sich in Russ-<br />
249
land der Vorsitzende eines Stadtbezirksgerichts ein solches<br />
Auto, kann das nur zweierlei bedeuten : Entweder<br />
er hat eine reiche Erbschaft gemacht oder er nimmt<br />
Bestechungsgelder. Eine andere Möglichkeit gibt es für<br />
ihn nicht. Denn in <strong>Russland</strong> entspricht ein Ford Explorer<br />
dem Standard eines Unternehmers, unternehmerische<br />
Tätigkeit aber ist dem Vorsitzenden eines Gerichts<br />
per Gesetz untersagt. Für den Kaufpreis eines Wagens<br />
Marke Ford Explorer muss ein Richter zwanzig Jahre<br />
lang arbeiten.<br />
Aber damit hören die Wunder um Anatoli Kriski<br />
noch nicht auf. Bereits einen Monat nach der Auto-Geschichte<br />
hatte Fedulew wieder Probleme mit der Staatsanwaltschaft,<br />
Kriski flog erneut zu Skuratow, diesmal<br />
nicht nach Moskau, sondern nach Sotschi am Schwarzen<br />
Meer, wo der Generalstaatsanwalt gerade Urlaub<br />
machte. Die dunklen Wolken über Fedulews Haupt zerstreuten<br />
sich ein weiteres Mal, und Kriski tauschte seinen<br />
Ford Explorer – ohnehin Stadtgespräch in ganz Jekaterinburg<br />
– gegen einen Mercedes 600. Der Mercedes<br />
600, das Aushängeschild der »neuen Russen«, ist nun<br />
wahrhaftig kein Auto mehr, das dem Lebensniveau eines<br />
Richters entspricht.<br />
Und erst Kriskis berühmte Geburtstagspartys ! Diese<br />
dreiste Herrenmanier, die keine Grenzen mehr kannte,<br />
dieser Pomp, als würde ein reich und maßlos gewordener<br />
Kaufmann im alten <strong>Russland</strong> seinen Namenstag feiern.<br />
Wenn Kriski Geburtstag hatte, wurde auf seine Weisung<br />
das ganze Gericht geschlossen, die Sprechstunden fielen<br />
250
aus, Kriski mietete ein Restaurant im Zentrum von Jekaterinburg,<br />
die Geldscheine flogen nur so nach links<br />
und rechts, der Alkohol floss in Strömen, Jekaterinburgs<br />
Staatsdienerschaft feierte, was das Zeug hielt – vor den<br />
Augen der mehrheitlich armen Jekaterinburger, die nur<br />
staunen konnten. Die Geburtstagsgäste pfiffen darauf,<br />
dass sich ein Richter in der Öffentlichkeit eigentlich nicht<br />
so aufführen darf, weil es ihm nicht nur die ungeschriebenen<br />
Regeln des Anstands, sondern auch die Buchstaben<br />
des Gesetzes verbieten. So verlangt beispielsweise das<br />
Gesetz Ȇber den Status der Richter in der Russischen<br />
Föderation« Richtern nachdrücklich eine besonders asketische<br />
Lebensweise ab, außerhalb des Dienstes (vom<br />
Dienst ganz zu schweigen) darf ein Richter keine persönlichen<br />
Beziehungen unterhalten, die seinen Ruf schädigen<br />
könnten, muss seine Handlungen sorgsam abwägen,<br />
um die Autorität der ihm anvertrauten Gerichtsbarkeit<br />
auf höchstem moralischen Niveau zu wahren.<br />
Gerade dieser Kriski nun mit seinem mafiösen Hintergrund<br />
war der Liebling von Gebietsrichter Iwan Owtscharuk.<br />
Bei allen beruflichen Zusammenkünften hieß<br />
es : Kriski ist einer der besten Richter des Ural. Wieso<br />
gerade er ? Eine legitime Frage. Stand Owtscharuk als<br />
Oberster Richter vielleicht auch auf der Gehaltsliste der<br />
Mafia ? Oder konnte er einfach gut und schlecht nicht<br />
unterscheiden ?<br />
Weder das eine noch das andere. Wir alle, die wir<br />
heute in <strong>Russland</strong> leben, kommen aus der Zeit der Sowjetmacht<br />
und haben die sowjetische Lebensweise mehr<br />
251
oder weniger verinnerlicht. Owtscharuk war ein Richter<br />
alter sowjetischer Schule und Prägung. Eine typische<br />
sowjetische Führungskraft – in seinem Falle des Rechtswesens<br />
–, ein »Ehemaliger«, wie man jetzt in <strong>Russland</strong><br />
sagt. Während seiner gesamten Tätigkeit im sowjetischen<br />
Justizsystem hatte er gelernt, sich unter gar keinen<br />
Umständen mit Vorgesetzten anzulegen, sondern nur<br />
ihre Weisungen auszuführen und die jeweilige Stimmung<br />
des Chefs daran abzulesen, wohin sich dessen Braue<br />
bewegt. Er konnte nur deshalb Karriere machen, weil er<br />
niemals das Ansinnen eines Höherstehenden in Zweifel<br />
gezogen hatte, ganz gleich, wie ungesetzlich oder unsinnig<br />
es auch sein mochte.<br />
Als die neuen Zeiten anbrachen, mit ihnen Demokratie<br />
und Kapitalismus Einzug hielten, da geriet Owtscharuk,<br />
wie Augenzeugen berichten, in Panik. Wem sollte er<br />
jetzt dienen, wo die gewohnte Hierarchie zerfiel ? Denn<br />
nicht dienen, das konnte er nicht. Doch die Verwirrung<br />
war nur von kurzer Dauer, sein besonderes sowjetisches<br />
Feeling für Macht- und Kräfteverhältnisse gab<br />
ihm bald die optimale Lösung ein. Owtscharuk wählte<br />
zwei neue Herren : Zum einen das Geld (die Welt des<br />
aufkommenden Unternehmertums ; den Kreis der Akkumulierer<br />
von Kapital), zum anderen die administrative<br />
Macht (die Schicht der Verwaltungsbürokratie, die trotz<br />
aller Ausrottungsversuche traditionell monolithisch und<br />
unverrückbar wie ein Granitblock geblieben war und für<br />
Owtscharuk durch Gouverneur Eduard Rossel verkörpert<br />
wurde). Und da in Jekaterinburg beide Herrschafts-<br />
252
kreise in Freundschaft zueinander gefunden hatten und<br />
neben dem alten Uralmasch-Syndikat eine neue Mafia<br />
entstanden war, musste Owtscharuk nicht lange überlegen,<br />
wem er dienen sollte : Er wurde zum Erfüllungsgehilfen<br />
sowohl für Rossel als auch für Fedulew. Denn er<br />
sah sehr wohl, wie freundschaftlich Rossel mit Fedulew<br />
verkehrte, und dass Anatoli Kriski wiederum Fedulews<br />
Mann war. Also musste er Kriski unterstützen und über<br />
dessen »kleine Schwächen« hinwegsehen.<br />
Erst Ende 2001 gelang es, Richter Kriski als Vorsitzenden<br />
des Jekaterinburger Stadtbezirksgerichts von Werch-<br />
Issetski abzulösen. Aber wie und letztendlich mit welchem<br />
Ausgang.<br />
Die Bezirksverwaltung des FSB wusste seit Jahren, dass<br />
Kriski die kriminellen Aktivitäten Fedulews im Ural juristisch<br />
absicherte, doch beweisen konnten es ihm die<br />
Ermittler nicht. Also ließ man ihn schließlich (gesetzeswidrig)<br />
rund um die Uhr überwachen, und der Stadtbezirksrichter<br />
wurde überführt … als Pädophiler. Die<br />
Beweise legte der FSB sowohl Kriski als auch seinen<br />
Gönnern Owtscharuk und Rossel vor. Mit dem Ergebnis,<br />
dass Kriski sein Amt niederlegte. Ohne öffentliche<br />
Schande. Ohne Aberkennung seiner richterlichen Vollmacht.<br />
Ohne erniedrigende Erklärungen. Von Entlassung<br />
keine Rede, und erst recht nicht von so unschönen Einträgen<br />
in der Kaderakte wie »im Zusammenhang mit<br />
Handlungen, die die Ehre und Würde der Gerichtsbarkeit<br />
beflecken«. Kriski wurde versetzt, arbeitete nunmehr<br />
als juristischer Berater des Jekaterinburger Bürgermeis-<br />
253
ters. Das war alles. Vielleicht hatte wirklich jemand den<br />
Filz aus Mafia und Justiz im Stadtbezirk Werch-Issetski<br />
bekämpfen wollen, doch dabei kam nur heraus, dass<br />
aus dem korrumpierten Richter ein allseits angesehener<br />
Rechtsberater wurde.<br />
Nun zu den Missliebigen, die nicht mit Owtscharuk<br />
und Kriski zusammenarbeiteten, nicht zulassen wollten,<br />
dass sich ein unabhängiges Gericht in die totale Abhängigkeit<br />
von Kriminellen begibt. Zu den Richtern, die<br />
versuchten, Richter zu bleiben – in einer Region unter<br />
Mafia-Diktat. Und die wegen ihrer Kompromisslosigkeit<br />
aus dem Justizdienst entlassen wurden, mit ebenjener<br />
Begründung, die Kriski erspart blieb : »im Zusammenhang<br />
mit Handlungen, die die Ehre und Würde der<br />
Gerichtsbarkeit beflecken«.<br />
Die »s c h l e c h t e n« ri c h t e r<br />
Olga Wassiljewa arbeitete elf Jahre lang als Richterin.<br />
Eine solide Dienstzeit. Äußerlich ist sie eine ruhige, ausgeglichene,<br />
besonnene Frau. Eine Richterin, die sich aus<br />
prinzipiellen Gründen kategorisch weigerte, Fedulews<br />
gerichtliche »Wunschpapiere« durch ihre Unterschrift<br />
abzusegnen. Obwohl sie in demselben Werch-Issetsker<br />
Stadtbezirksgericht arbeitete und Kriski direkt unterstand.<br />
Olga Wassiljewa wurde massivem Druck ausgesetzt,<br />
es hagelte Drohungen gegen sie und ihre Familie,<br />
doch sie gab kein einziges Mal nach. Und nicht nur,<br />
wenn es um Fedulew ging, sondern auch bei so genann-<br />
254
ten »einfachen« dienstlichen Weisungen, in denen Kriski<br />
von ihr verlangte, das Haftmaß zu ändern, damit der<br />
eine oder andere seiner kriminellen Proteges aus dem<br />
Gefängnis freikam.<br />
Der Konflikt eskalierte, als Olga Wassiljewa eine Klage<br />
zuließ, die sie auf Verlangen Kriskis unbedingt hätte<br />
abweisen sollen, denn er wollte keinen Präzedenzfall. Der<br />
Beklagte war der Vorsitzende des Swerdlowsker Gebietsgerichts<br />
Iwan Owtscharuk höchstpersönlich, dem die<br />
Kläger – mehrere Einwohner Jekaterinburgs – vorwarfen,<br />
die Prüfung ihres Gesuchs an das Gebietsgericht absichtlich<br />
zu verschleppen, weil es sich gegen die <strong>In</strong>teressen<br />
bestimmter Bürokraten im Apparat des Gouverneurs<br />
Eduard Rossel richtete. Für Jekaterinburg – eine Stadt fest<br />
in der Hand der Mafia, in der jeder weiß, dass Unbotmäßigkeiten<br />
dieser Art nicht mit einem lautstarken Krach,<br />
sondern mit Erschießung enden – war die Zulassung<br />
eine Art Revolution, eine Ungeheuerlichkeit. Andere<br />
Stadtbezirksgerichte nahmen, um sich aus der Schusslinie<br />
zu halten, so etwas nicht einmal zur Registrierung an,<br />
wiesen derartige Klagen – unberechtigterweise – bereits<br />
ab, wenn sie eingereicht wurden.<br />
Das System rächte sich an Olga Wassiljewa, weil sie<br />
die Gesetze respektierte. Man entließ sie nicht nur aus<br />
dem Richteramt, sondern überschüttete sie auch noch<br />
mit Schmutz. Dem Antrag zur Aberkennung ihrer richterlichen<br />
Vollmachten waren in der Personalakte die<br />
Beschwerden der Kriski-Proteges, deren vorzeitige Haftentlassung<br />
Olga Wassiljewa abgelehnt hatte, beigeheftet.<br />
255
Eine ungeheure Frechheit, hatten die Gefängnisinsassen<br />
diese Beschwerden doch auf offiziellen Formblättern des<br />
Gerichts verfasst, in deren Besitz sie gar nicht gelangen<br />
konnten, es sei denn, Kriski hätte sie ihnen direkt in die<br />
Haftanstalt gebracht.<br />
Nun begann ein langer Weg durch die <strong>In</strong>stanzen. Olga<br />
Wassiljewa musste beweisen, dass das alles ein abgekartetes<br />
Spiel war. Erst ein Jahr später erhob sie das<br />
Oberste Gericht der Russischen Föderation wieder in<br />
den Richterstand. Aber damit hatte ihr Leidensweg noch<br />
längst kein Ende, denn das Oberste Gericht blieb in Moskau,<br />
ihr aber stand die Rückkehr nach Jekaterinburg<br />
bevor, und dort war sie vollkommen schutzlos. Zu Hause<br />
angekommen, legte sie Kriski das Urteil des Obersten<br />
Gerichts vor, doch der verwehrte ihr den Zutritt zu<br />
ihrem Arbeitsplatz und richtete einen offiziellen Antrag<br />
an den für das Gebiet zuständigen Qualifikationsausschuss.<br />
Darin betonte Kriski : »… trotz ihrer Wiedereinsetzung<br />
beschreitet sie nicht den Weg der Besserung«,<br />
eine typische Formulierung aus Häftlingsbeurteilungen,<br />
die bezogen auf eine Richterin nur als Verhöhnung und<br />
Demütigung gemeint sein konnte.<br />
Kriskis Anliegen fand die Unterstützung Iwan Owtscharuks,<br />
und der Qualifikationsausschuss beschloss,<br />
Olga Wassiljewa nicht mehr zur Wiederbestätigung als<br />
Richterin vorzuschlagen. <strong>In</strong> <strong>Russland</strong> müssen nämlich<br />
Richter in bestimmten Zeitabständen im Amt bestätigt<br />
werden, sich quasi neu bestallen lassen. Diese Prozedur<br />
besteht darin, dass die Qualifikationsausschüsse auf Ge-<br />
256
iets- und Republikebene entsprechende »Empfehlungen«<br />
abgeben, die dann die Grundlage für einen Wiederbestallungserlass<br />
des Präsidenten bilden.<br />
Niemand in diesem von Iwan Owtscharuk, dem Obersten<br />
Richter des Gebiets Swerdlowsk, beherrschten und gesteuerten<br />
Qualifikationsausschuss machte sich natürlich<br />
die Mühe nachzuprüfen, welche Fakten Kriski denn zur<br />
Begründung seines Antrags anführte. Es waren dieselben<br />
auf offiziellen gerichtlichen Formblättern verfassten<br />
Häftlingsbeschwerden, die das Oberste Gericht in Moskau<br />
gerade als nicht stichhaltig verworfen hatte.<br />
Olga Wassiljewa ist ein mutiger Mensch mit Prinzipien.<br />
Sie wandte sich wieder an das Oberste Gericht,<br />
forderte die Durchsetzung der Gerechtigkeit. Doch das<br />
sollte Jahre dauern, ermüdende, frustrierende Jahre, in<br />
denen Olga Wassiljewa die Möglichkeit genommen war,<br />
als Richterin zum Wohle des Staates zu arbeiten.<br />
Kann man von der Mehrheit fordern, dass sie den von<br />
Olga Wassiljewa gewählten Weg geht ? Nein. <strong>In</strong> Jekaterinburg<br />
sagten mir viele Richter (die unter allen Umständen<br />
ungenannt bleiben wollen) : »Lieber die Urteile fällen, die<br />
Owtscharuk verlangt, als dass es uns so ergeht wie der<br />
Wassiljewa.« Und zur Bekräftigung erzählten sie zahllose<br />
Geschichten über das Schicksal von Kollegen, die versucht<br />
hatten, sich der Mafia zu widersetzen. Eine davon,<br />
die Geschichte des Jekaterinburger Richters Alexander<br />
Dowgi, soll hier angeführt werden.<br />
Dowgis »Schuld« bestand einzig und allein darin, dass<br />
er Kriskis Forderung, einen seiner kriminellen Proteges<br />
257
aus der Haft zu entlassen, nicht nachkam. Wenige Tage<br />
später wurde der Richter auf der Straße mit Stahlruten<br />
zusammengeschlagen. Die Miliz suchte nicht einmal<br />
nach den Tätern, obwohl sie sonst bei Übergriffen auf<br />
Richter gewöhnlich große Aktivität entwickelt. Dowgi<br />
lag lange im Krankenhaus, arbeitet jetzt zwar wieder als<br />
Richter, verhandelt jedoch nur Scheidungssachen, andere<br />
Fälle will er nicht mehr übernehmen.<br />
»Der gegenwärtige Status quo ist so, dass Professionalität<br />
das Vorurteil weckt, keine eigene Meinung zu haben,<br />
dass Menschen, die sich nicht von bolschewistischen<br />
Methoden trennen können, Befugnisse des Staates auf<br />
dem Gebiet der Rechtsprechung wahrnehmen. Sie drohen<br />
mit hoch erhobenem Zeigefinger und sehen nichts<br />
Verwerfliches darin, ein bestimmtes Urteil zu fordern<br />
und Richter vor das Parteiaktiv (den Qualifikationsausschuss)<br />
zu zitieren, ebenso wenig wie in der Möglichkeit,<br />
in unserem Namen und mit unseren Händen zu begnadigen<br />
oder hinzurichten …« Das schrieb ein junger, sehr<br />
aussichtsreicher Jurist (der ebenfalls ungenannt bleiben<br />
will). Wie Olga Wassiljewa sah er sich massivem Druck<br />
von Seiten Kriskis und Owtscharuks ausgesetzt. Er hielt<br />
diesem Druck nicht stand, hatte keine Kraft zu kämpfen,<br />
sondern ging lieber. Die obigen Zeilen stammen aus<br />
einem Brief an Kriski, in dem er um seine Entlassung<br />
ersuchte und bat, »die Frage in meiner Abwesenheit zu<br />
behandeln«. Er verließ Jekaterinburg für immer.<br />
Dieser junge Richter hätte nie an eine Entlassung aus<br />
dem Justizdienst gedacht. Wäre nicht eines Tages gesche-<br />
258
hen, was immer geschah : Er bekam ein Verfahren auf<br />
den Tisch, in dem es um verbrecherische Machenschaften<br />
einer kriminellen Gruppierung ging. Stadtbezirksrichter<br />
Kriski verlangte die sofortige Einstellung. Als sich<br />
der junge Richter Bedenkzeit erbat, erhielt er anonyme<br />
Anrufe und Drohbriefe, wurde vor seinem Haus verprügelt,<br />
noch nicht ernsthaft, eher als Warnung. Von »unbekannten<br />
Tätern«, die man nicht fand. Der junge Richter<br />
schrieb sofort ein Entlassungsgesuch. Der besagte Fall<br />
wurde ihm entzogen und einem anderen Richter übertragen.<br />
Am Vorabend der Prozesseröffnung erhielt dieser<br />
ein vom Obersten Richter Iwan Owtscharuk persönlich<br />
unterzeichnetes Fax aus dem Gebietsgericht, mit der<br />
Aufforderung, das Verfahren einzustellen. Am nächsten<br />
Tag wurde der Fall geschlossen.<br />
Sergej Kasanzew, Richter am Kirowsker Stadtbezirksgericht,<br />
traf die Anordnung, dass ein gewisser Uporow,<br />
gegen den ein Strafverfahren wegen Raubes und Diebstahls<br />
lief, auf Grund seiner Allgemeingefährlichkeit bereits<br />
vor der eigentlichen Verhandlung in Vorbeugehaft<br />
zu nehmen sei. Danach bearbeitete er einen anderen Fall<br />
und zog sich in das Beratungszimmer zurück, um das<br />
Urteil zu diesem Verfahren aufzusetzen. Nach russischem<br />
Recht darf in dieser Zeit niemand den Richter stören, das<br />
hätte die sofortige Kassation des Urteils durch die übergeordnete<br />
<strong>In</strong>stanz zur Folge. Doch Gebietsrichter Iwan<br />
Owtscharuk ließ sich in das Beratungszimmer zu Kasanzew<br />
durchstellen und verlangte kategorisch, er solle unverzüglich<br />
Uporow aus der Vorbeugehaft entlassen. Als<br />
259
Kasanzew die Forderung ablehnte, erklärte Owtscharuk,<br />
dann müsse er mit seiner Entlassung rechnen.<br />
Und Sergej Kasanzew wurde entlassen.<br />
Es gibt viele derartige Geschichten in Jekaterinburg.<br />
Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Und die<br />
Richter, die diese Geschichten kennen und weiter im<br />
Justizdienst arbeiten, gleichen einander ebenfalls. Sie sind<br />
vor allem absolut manipulierbar, bereit, alles abzusegnen,<br />
nur um keine Schwierigkeiten mit den Vorgesetzen<br />
zu bekommen. Das Wort Widerstand kennen sie nicht.<br />
Eine Herrschaft der Doppelmoral unter der Losung der<br />
Diktatur des Gesetzes. Sind das die Richter, die <strong>Russland</strong><br />
braucht ?<br />
Bei der Besetzung des Kombinates Uralchimmasch<br />
präsentierten beide Seiten gegensätzliche Entscheidungen<br />
verschiedener Richter zu ein und derselben Sache, gefällt<br />
auf ein und derselben Rechtsgrundlage. Wenn jahrelang<br />
jegliche richterliche <strong>In</strong>itiative unterdrückt und die Ausprägung<br />
einer Sklavenmentalität unter den Männern<br />
in den schwarzen Roben befördert wird, wenn Berufserfahrungen<br />
aus der Zeit der gelenkten sowjetischen<br />
Gerichtsbarkeit hoch geschätzt werden, welche kühnen<br />
und gerechten Urteile kann man da erwarten ? Wer sich<br />
diesem System entgegenstellte und entschieden verweigerte,<br />
ist längst nicht mehr im Justizdienst. Diejenigen,<br />
die sofort strammstehen, wenn von oben die Missachtung<br />
von Recht und Gesetz befohlen wird, sind in Amt<br />
und Würden, machen Karriere.<br />
260
Die »g u t e n« ri c h t e r<br />
Hinter jedem »Erfolg« Fedulews stehen seine exzellenten<br />
Beziehungen zu den Richtern der Ural-Region. Er ist<br />
ihr Freund, sie sind mit ihm befreundet. Alles beruht<br />
auf Gegenseitigkeit. Am bekanntesten dürften in diesem<br />
Zusammenhang die Namen der Herren Rjasanzew<br />
und Balaschow sein. Ersterer bekleidet das bescheidene<br />
Amt eines Richters am Stadtgericht von Katschkanar, das<br />
gleichfalls Gebietsrichter Iwan Owtscharuk untersteht.<br />
Dieser Rjasanzew versorgte Fedulew mit den nötigen<br />
Gerichtsurteilen in Bezug auf die Eisenerzaufbereitungswerke<br />
Katschkanar, indem er bestätigte, dass der billige<br />
Aufkauf der Betriebswechsel durch eine Scheinfirma und<br />
die anschließende Einlösung zum einhundertprozentigen<br />
Nennwert rechtmäßig gewesen waren. Damit besiegelte er<br />
das Schicksal eines Unternehmens von Weltrang. Auch<br />
Richter Balaschow ist ein sehr bescheidener Mann. Er<br />
arbeitet am Kirowsker Stadtbezirksgericht in Jekaterinburg<br />
und traf im Fall Uralchimmasch – sowie in anderen<br />
Fällen – für Fedulew vorteilhafte Entscheidungen.<br />
Richter Balaschow wurde zum Auslöser für das, was<br />
sich im Kombinat Uralchimmasch abspielen sollte, indem<br />
er an einem Freitagabend Fedulews Klage gegen<br />
das Direktorium des Kombinats entgegennahm und ihm<br />
bereits am Montagmorgen die gewünschten Gerichtsbeschlüsse<br />
aushändigte. Ein für russische Verhältnisse einfach<br />
unglaubliches Tempo, bei dem natürlich von Zeugenanhörungen,<br />
dem Einholen weiterer Auskünfte oder<br />
261
der Befragung Dritter keine Rede sein konnte. Balaschow<br />
segnete einfach ab, was Fedulew verlangte.<br />
Und Richter Balaschow bewegte sich dabei, wie man<br />
festhalten muss, nicht einmal außerhalb des Gesetzes,<br />
er nutzte nur geschickt die Schlupflöcher in unserer<br />
Gesetzgebung, die Schnellverfahren gestattet. Und erließ<br />
eine einstweilige Verfügung unter Berufung auf Fedulews<br />
Darstellung, dass die Kombinatsleitung angeblich<br />
Managemententscheidungen getroffen und Maßnahmen<br />
eingeleitet habe, die eine Verschleuderung des Betriebsvermögens<br />
zur Folge hätten. Das primäre Ziel eines solchen<br />
Antrags auf einstweilige Verfügung besteht darin,<br />
den Status quo zu sichern. Und das Gericht darf tatsächlich<br />
intervenieren und dem Management jegliche<br />
Aktivitäten untersagen, bis prinzipiell geklärt ist, wer<br />
das Verfügungsrecht über das Betriebsvermögen besitzt.<br />
Äußerlich betrachtet berührte Balaschows Verfügung im<br />
Schnellverfahren also den grundsätzlichen Streit um die<br />
Eigentumsverhältnisse nicht, sondern verbot nur Handlungen<br />
des Managements in Bezug auf dieses Eigentum,<br />
scheinbar alles im Rahmen von Recht und Gesetz. Doch<br />
unter diesem glatten äußeren Schein verbirgt sich ein<br />
eklatanter Rechtsbruch.<br />
Nach geltendem Gesetz kann ein Gericht der Russischen<br />
Föderation in einem Verfahren keine neue Entscheidung<br />
fällen, solange dieser Streitfall bei einem anderen<br />
Gericht anhängig ist. Doch Richter Balaschow<br />
tat so, als sei ihm nicht bekannt, dass der Rechtsstreit<br />
um das Kombinat Uralchimmasch noch gar nicht ent-<br />
262
schieden, die Verhandlung vor dem für derartige Fälle<br />
zuständigen Schiedsgericht nicht abgeschlossen war. Und<br />
er hatte auch gleich eine Rechtfertigung parat : Wenn es<br />
im Gebiet Swerdlowsk kein einheitliches <strong>In</strong>formationssystem<br />
gibt (was ja stimmte), wie soll ein Stadtbezirksrichter<br />
da immer auf dem Laufenden sein ?<br />
Natürlich spielte er hier ein infames Spiel : Balaschow<br />
wusste alles. Und beschloss gerade deshalb, Fedulews<br />
Antrag stattzugeben, ohne ihn im Detail zu prüfen. Er<br />
hätte Zeugen aufrufen, dokumentarische Beweise fordern,<br />
die Entscheidung bis zur Klärung sämtlicher Umstände<br />
vertagen können, was er jedoch nicht tat. Weil Fedulew<br />
die einstweilige Verfügung wollte, um damit bereits<br />
wenige Stunden später, kaum dass die Tinte auf dem<br />
Papier getrocknet war, vor den Nasen der Direktoren von<br />
Uralchimmasch, nach der gewaltsamen Besetzung des<br />
Kombinats durch bewaffnete Brigaden, herumzuwedeln.<br />
Wir erkennen hier ein Charakteristikum der Rechtsprechung<br />
im heutigen <strong>Russland</strong> : Begünstigt und bevorteilt<br />
das Gericht eine Partei, so hat es dabei das Gesetz<br />
auf seiner Seite. Denn angeblich sind unsere Gerichte<br />
ja unabhängig. Der Richter muss sich also lediglich der<br />
entsprechenden Unterstützung »von oben« versichern.<br />
Ist ihm die gewiss, favorisiert die richterliche Obrigkeit<br />
also auch eine bestimmte Entscheidung, kann die Basis<br />
schalten und walten, wie sie will. Nach der gewaltsamen<br />
Besetzung des Kombinats Uralchimmasch rief Balaschows<br />
unmittelbarer Dienstvorgesetzter, der Vorsitzende<br />
des Kirowsker Stadtbezirksgerichts Valeri Baidukow, den<br />
263
Richter zu sich und verlangte eine Stellungnahme. Als<br />
Richter Balaschow erklärte, das Gebietsgericht habe »eine<br />
solche Entscheidung gewünscht«, alles sei mit Iwan Owtscharuk<br />
abgestimmt, wurde der Tagesordnungspunkt auf<br />
der Stelle fallen gelassen.<br />
Und die Öffentlichkeit ? Immerhin löste die dreiste Besetzung<br />
des Kombinats eine Welle von Anfragen aus. Bei<br />
Uralchimmasch arbeiteten Tausende Menschen, alle hatten<br />
Familien. Womit wurden sie abgespeist ? Damit, dass<br />
Baidukow das Geschehen als humanitären Akt in ihrem<br />
ureigensten <strong>In</strong>teresse hinstellte : Wenn Betriebsvermögen<br />
verloren zu gehen droht, zählt jede Minute, das wissen<br />
wir Richter und haben deshalb im Sinne der Beschäftigten<br />
wie der Eigentümer operativ entschieden.<br />
Richter Baidukow, von dem diese Erklärung stammt,<br />
ist übrigens Vorsitzender des Richterrates des Gebiets<br />
Swerdlowsk. Der Hüter der Ehre des Berufsstands sozusagen.<br />
Dieser Richterrat bildet – genauso wie der Qualifikationsausschuss<br />
– ein Organ der Richterschaft einer<br />
Region. <strong>In</strong> Jekaterinburg stehen beide Gremien unter der<br />
absoluten Kontrolle von Gebietsrichter Iwan Owtscharuk.<br />
<strong>In</strong> diese <strong>In</strong>teressenvertretungen wird nur gewählt, wer<br />
sein Vertrauen genießt, deshalb segnen die Mitglieder<br />
jeden Antrag Owtscharuks kritiklos ab.<br />
Valeri Baidukow, der Vorsitzende des Richterrates, ist<br />
ein so eingeschüchterter, angepasster Mensch, dass er den<br />
eigenen Schatten fürchtet. Kaum vorstellbar, er könne<br />
auch nur irgendjemanden verteidigen. Wenn er sich über-<br />
264
haupt eine eigene Meinung erlaubt, dann nur hypothetisch.<br />
Zwar hört man ihn theoretisieren, die Stadtbezirks-<br />
und Stadtgerichte seien »das wichtigste Glied im judikatorischen<br />
System <strong>Russland</strong>s«, doch wenn es um konkrete<br />
Fakten geht oder das Gespräch auf Handlungen seines<br />
Vorgesetzten Owtscharuk kommt, verstummt er augenblicklich.<br />
Auch der Fall Olga Wassiljewa ging natürlich<br />
mehrfach über Baidukows Schreibtisch, und jedes Mal<br />
entschied Baidukow in der vom Obersten Richter Iwan<br />
Owtscharuk gewünschten Richtung.<br />
Ein kurzer, aber unumgänglicher Exkurs : Die Stadtbezirks-<br />
und Stadtgerichte der allgemeinen Jurisdiktion<br />
verhandeln fünfundneunzig Prozent der Straf- und Zivilrechtsfälle<br />
und sind in diesem Sinne tatsächlich das<br />
wichtigste Glied im judikatorischen System <strong>Russland</strong>s –<br />
aber eben nur im Prinzip. <strong>In</strong> Wirklichkeit ist ein Stadtbezirks-<br />
oder Stadtgericht außerordentlich manipulierbar<br />
und abhängig. Der Grund dafür liegt vor allem darin,<br />
dass die übergeordneten <strong>In</strong>stanzen – die Gebiets- und<br />
Republiksgerichte – kein <strong>In</strong>teresse an einer Reform des<br />
Rechtsprechungssystems haben, weil ihnen dadurch die<br />
Möglichkeit der Einflussnahme auf die erstinstanzlichen<br />
Gerichte genommen würde. Letztere sind nur konstitutionell<br />
unabhängig. Die Verfassung besitzt in <strong>Russland</strong><br />
zwar die rechtliche Prärogative, doch dies ändert nichts<br />
an der wirklichen Sachlage, dass die Stadtbezirks- und<br />
Stadtgerichte eben keine verfahrensrechtliche Souveränität<br />
genießen.<br />
265
Was hat man sich nun vorzustellen unter einer derartigen<br />
verfahrensrechtlichen Unabhängigkeit, ohne die<br />
ein Gericht nicht eigenverantwortlich arbeiten kann ?<br />
Die gegenwärtig geltende Gesetzgebung verlangt von den<br />
übergeordneten <strong>In</strong>stanzen (Gebietsgerichten), die Prozessaufsicht<br />
über die untergeordneten (Stadtbezirks- und<br />
Stadtgerichte) auszuüben, sie in ihrer Rechtsprechungspraxis<br />
anzuleiten. Was de facto so aussieht, dass die<br />
unteren gerichtlichen Ebenen Urteile fällen und die übergeordneten<br />
<strong>In</strong>stanzen darüber befinden, ob diese Urteile<br />
richtig oder falsch sind. Daraus erwächst eine Praxis der<br />
Rechtsprechung, bei der über die prozessuale Abhängigkeit<br />
hinaus auch eine Subordination im Blick auf organisatorische<br />
Aspekte und Karrierebelange entsteht. Ein<br />
Richter der untergeordneten Ebenen ist absolut schutzlos<br />
gegenüber den übergeordneten <strong>In</strong>stanzen – und damit<br />
vollkommen abhängig. Die »Obrigkeit« kann ihn kritisieren,<br />
schikanieren und vernichten, ohne sich dafür vor<br />
dem Gesetz verantworten zu müssen. Hebt ein Gebietsgericht<br />
das Urteil eines Stadtbezirks- oder Stadtgerichts<br />
auf, argumentiert es nicht, warum dieses Urteil unrichtig<br />
ist und wie es hätte lauten sollen, sondern stellt sein<br />
Prädikat »falsch« einfach unkommentiert in den Raum.<br />
Das Gebietsgericht übernimmt keinerlei Verantwortung<br />
für die Richtersprüche der unteren <strong>In</strong>stanzen, führt<br />
aber eine Statistik, wie viele Urteile welches subordinierten<br />
Gerichts als »falsch« eingestuft wurden. Im Endeffekt<br />
bestimmt diese Statistik darüber, welche Prämien und<br />
Zusatzleistungen die Richter bekommen oder ihnen gege-<br />
266
enenfalls vorenthalten werden, ob ihnen im Sommer<br />
Urlaub gewährt wird oder vielleicht nur im Winter, ob<br />
sie bei der nächsten Evaluierung zur Wiederbestallung<br />
empfohlen werden oder eben nicht, wie schnell sie auf<br />
der Warteliste für eine Wohnung voranrücken (den staatlichen<br />
Wohnungsfonds verwaltet das Gebietsgericht, eine<br />
Eigentumswohnung aber ist für die meisten Richter zu<br />
teuer). Dadurch sind die Richter der unteren Ebenen, der<br />
»wichtigsten Glieder des judikatorischen Systems«, noch<br />
abhängiger von den Vorsitzenden der Gebietsgerichte, als<br />
sie es zu sowjetischen Zeiten waren. Wobei die Existenz<br />
einer derartigen Hierarchie ja eigentlich im Widerspruch<br />
steht zur Verfassung, die alle Richter als gleich und gleichermaßen<br />
unabhängig ansieht, allein schon deshalb,<br />
weil sie ausnahmslos per Erlass des Präsidenten bestallt<br />
werden. Im Leben aber ist damit die Gleichheit auch<br />
bereits wieder zu Ende. Keine Spur mehr davon, wenn<br />
es etwa um Entlassungen geht. Will der Vorsitzende des<br />
Gebietsgerichts einen missliebigen Richter der unteren<br />
Ebene loswerden, hat er alle Trümpfe in der Hand. Gibt<br />
es hingegen bei den Richtern der unteren <strong>In</strong>stanzen Vorbehalte<br />
gegenüber dem Vorsitzenden des Gebietsgerichts,<br />
so ist das ihre persönliche Angelegenheit, sie verfügen<br />
über keinerlei Hebel, um seine Absetzung zu bewirken.<br />
Diesen Prinzipien und Regeln der Rechtsprechungspraxis,<br />
die sich nach dem Zerfall der UdSSR, nach der<br />
Proklamierung der Demokratie herausgebildet haben,<br />
verdankt Oberrichter Iwan Owtscharuk, dass er werden<br />
konnte, was er wurde : der Wachhund des Richterkorps,<br />
267
der alle diejenigen wegbeißt, die zu eigenständigen, für<br />
ihn nicht kalkulierbaren Urteilen fähig wären. Das judikatorische<br />
System ist selbst juristisch schutzlos gegenüber<br />
der Willkür selbstherrlicher Vorgesetzter. Die Verpflichtungen,<br />
die der richterlichen Obrigkeit im Umgang mit<br />
der Basis auferlegt sind, tragen lediglich den Charakter<br />
von moralischen Empfehlungen. Dieses System würde<br />
nur dann der Gesellschaft nicht schaden, wenn an Owtscharuks<br />
Stelle ein Vorgesetzter mit anderen ethischen<br />
Qualitäten stände. Doch darauf sollten wir uns lieber<br />
nicht verlassen.<br />
Kehren wir zurück zu Stadtbezirksrichter Balaschow.<br />
Konnte er im Fall Fedulew anders handeln ? Wie hätte er<br />
handeln sollen im Sinne von Objektivität und Unvoreingenommenheit<br />
? Gab es eine solche Handlungsalternative<br />
überhaupt ? Natürlich. Sie hätte darin bestanden, die<br />
Entscheidung zu vertagen. Das wäre Richter Balaschows<br />
gutes Recht gewesen.<br />
Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass Fedulew<br />
und seine Komplizen im Vorfeld der Besetzung von<br />
Uralchimmasch bei mehreren Stadtbezirksgerichten in<br />
Jekaterinburg anklopften, um zu eruieren, ob sich die<br />
jeweiligen Richter vereinnahmen lassen würden oder<br />
nicht. Und alle, alle waren bereit, so zu handeln wie<br />
Balaschow. Nur ein einziges Gericht – das des Stadtbezirks<br />
Tschkalowski – lehnte es ab, Fedulews Antrag im<br />
Eilverfahren zu prüfen. Was dem Vorsitzenden dieses<br />
Gerichts, Richter Sergej Kijaikin, eine Versetzung nach<br />
Magadan, in den äußersten Nordosten des Landes, ein-<br />
268
trug. Das bedeutet im traditionellen russischem Sprachgebrauch<br />
»verbannt nach Magadan«. Und stellen Sie sich<br />
vor, dieser einzige unbotmäßige Richter, ein waschechter<br />
Jekaterinburger übrigens, der selbst bei Uralchimmasch<br />
gelernt, dann eine Fachschule für Chemiemaschinenbau<br />
absolviert und später wieder im Kombinat gearbeitet<br />
hatte, Richter Sergej Kijaikin also, war auch noch<br />
glücklich darüber, seine Heimatstadt so weit wie möglich<br />
hinter sich lassen zu können. Um aus der Schusslinie zu<br />
sein, damit der Familie nichts passierte.<br />
Fedulews »Auftragsrichter« Balaschow hingegen erwies<br />
sich nicht nur im Fall Uralchimmasch als verlässlicher<br />
juristischer Verbündeter seines Patrons. Gerichtsurteile<br />
im <strong>In</strong>teresse Fedulews verstanden sich bei ihm von selbst.<br />
So entschied er beispielsweise am 28. Februar 2000 einen<br />
Rechtsstreit, in dem es um eine Verkaufsoperation<br />
Fedulews ging : Fedulew hatte seine wichtigste geschlossene<br />
Aktiengesellschaft, Uralelektromasch, veräußert, ein<br />
Unternehmen, bei dem es sich nicht, wie der Name vielleicht<br />
vermuten lässt, um einen Produktionsbetrieb handelte,<br />
sondern einfach um eine Firma zur Abwicklung<br />
von Fedulews Wertpapiergeschäften. Zu ihren Aktiva<br />
hatten auch die Aktien des EAW Katschkanar und des<br />
Kombinats Uralchimmasch gehört. Einige Zeit nach dem<br />
Verkauf mussten die Käufer feststellen, dass sie trotz Entrichtung<br />
des Kaufpreises keinerlei Zugang zu den Unternehmensdokumenten<br />
und -beständen erhielten. Warum ?<br />
Weil Fedulew sie ihnen nicht übergab, die Aktien faktisch<br />
selbst behielt. Die Käufer wollten den Betrug nicht<br />
269
hinnehmen, setzten Fedulew unter Druck. Doch der erklärte<br />
kurzerhand, er habe es sich anders überlegt und<br />
wolle alles wiederhaben. Die Käufer waren fassungslos :<br />
»Wie – wiederhaben ? Der Kaufpreis ist doch bereits bezahlt.<br />
Also zuerst das Geld zurück und dann die Firma !«<br />
Doch Fedulew fertigte sie ab : »Das Geld kriegt ihr nicht.<br />
Und die Dokumente habe ich. Ihr könnt mir gar nichts.<br />
Seht zu, wo ihr bleibt. Auf Wiedersehen.«<br />
Mit dem Aktienpaket des Kombinats Uralchimmasch<br />
verhielt es sich ähnlich. Als Fedulew aus dem Moskauer<br />
Gefängnis freikam, holte er sich auch hier zurück, wofür<br />
er bereits mehrere Millionen Dollar eingestrichen hatte.<br />
<strong>In</strong>dem er schlichtweg behauptete, es läge keine ordnungsgemäße<br />
Registrierung vor und deshalb sei der Wertpapierverkauf<br />
ungültig. Was ihm Richter Balaschow eilfertig<br />
in einer entsprechenden Gerichtsentscheidung bestätigte.<br />
Fedulew erhielt damit Recht, das verkaufte Aktienpaket<br />
wurde ihm zugesprochen, der neue Besitzer musste<br />
es zurückgeben, ohne sein Geld wiederzuerhalten.<br />
Das ist keine Übertreibung, sondern reine Wahrheit.<br />
Um zu begreifen, wie ein derartig abenteuerliches Geschäftsgebaren<br />
möglich sein kann, muss man wissen,<br />
dass <strong>Russland</strong>s Gesetzgebung Schwachstellen aufweist.<br />
Und die machte sich Fedulew geschickt zu Nutze. Jedes<br />
Unternehmen, ganz gleich, ob geschlossene oder offene<br />
Aktiengesellschaft, hat die Pflicht, seine Aktienemissionen<br />
registrieren zu lassen. Anfangs wusste jedoch niemand<br />
in <strong>Russland</strong>, wie das geht, hatte es doch in der<br />
Sowjetunion weder Aktien noch einen Wertpapiermarkt<br />
270
gegeben. Nach dem Zerfall der UdSSR konnten die entsprechenden<br />
staatlichen Behörden in dieser Frage lange<br />
Zeit keine Klarheit schaffen, sich nicht auf eine allgemein<br />
gültige Prozedur verständigen. Mit der Konsequenz, dass<br />
in zahlreichen Aktiengesellschaften die Ausgabe von Aktien<br />
unregistriert blieb, die Wertpapiere aber trotzdem<br />
auf dem Markt gehandelt wurden.<br />
Wie konnte so etwas funktionieren ? Einfach, indem man<br />
das schweigende Einverständnis des Handelspartners voraussetzte<br />
und auf seine Redlichkeit baute. Der Betrüger<br />
und Erpresser Fedulew aber war von ganz anderem<br />
Schrot und Korn. Für den Uralelektromasch-Deal schloss<br />
er zunächst den Kaufvertrag, erst danach beantragte er<br />
die Registrierung der bereits veräußerten Aktien bei der<br />
zuständigen Behörde, der Föderalen Wertpapier-Kommission<br />
FWPK. Dort fehlte eine einheitliche Verfahrensordnung,<br />
was unzählige Nachfragen, Präzisierungen und<br />
Abstimmungen nötig machte, und die wiederum brauchten<br />
ihre Zeit. Als die Aktien endlich registriert waren,<br />
ließ Fedulew die Käufer wissen, die Veräußerung von<br />
Uralelektromasch sei vor der ordnungsgemäßen Registrierung<br />
der Wertpapiere erfolgt, deshalb fordere er sein<br />
Eigentum zurück. Und das Geld ? Das Geld würde er<br />
ebenfalls behalten, schließlich läge der Fehler bei den<br />
Käufern, also müssten sie dafür geradestehen. Das Gericht<br />
schloss sich dieser Argumentation an und lieferte<br />
Fedulew wie gewünscht die juristische Rechtfertigung<br />
für seinen Coup.<br />
271
Das sind nur einige von vielen betrügerischen Aktivitäten<br />
Fedulews, bei denen er Schwachstellen in der Gesetzgebung<br />
der Russischen Föderation zu seinen Gunsten<br />
nutzte. Was bedeutet denn ein einheitliches System der<br />
Jurisdiktion ? Dass es gleiche Gesetze gibt, die mit den<br />
gleichen Begriffen operieren, deren Auslegung ebenfalls<br />
gleich ist. Nicht so in <strong>Russland</strong>. Hier versuchen verschiedene<br />
<strong>In</strong>teressengruppen der Wirtschaft unterschiedliche<br />
gesetzgeberische <strong>In</strong>itiativen durchzusetzen. Jede Gruppe<br />
verfolgt dabei eigene Ziele, fokussiert ihre Lobbyarbeit<br />
auf das Gesetz, von dem sie sich für den gegenwärtigen<br />
Zeitpunkt die größten Vorteile verspricht.<br />
War nun Fedulew so viel klüger als andere, dass er<br />
diese Mechanismen durchschaute und zu nutzen wusste ?<br />
Keineswegs. Er war einfach reich genug, um sich die<br />
gewieftesten Juristen leisten zu können, Anwälte und<br />
Richter, die jedes gesetzgeberische Schlupfloch kannten<br />
und ihm rieten, wie es sich umgehen ließ. Außerdem<br />
hatte er, wie wir uns erinnern, ein Syndikat aufgebaut,<br />
eine oligarchische Pyramide, die alle Beteiligten zu<br />
einem reibungslos funktionierenden <strong>In</strong>teressenverband<br />
zusammenschweißte.<br />
Doch wie kann ein Richter, dem Unabhängigkeit und<br />
Objektivität abverlangt werden, die Schwachstellen des<br />
Gesetzes zu Gunsten eines Betrügers auslegen, damit<br />
dieser redliche Käufer um das prellen kann, was sie in<br />
bestem Glauben erworben haben ? Das juristische Prozedere<br />
lief im Fall von Uralelektromasch und Uralchimmasch<br />
nach dem gleichen Muster ab : Fedulews Anträge<br />
272
wurden im Eilverfahren – über Nacht – geprüft. Komplizierteste<br />
Sachverhalte des russischen Wertpapierhandelsrechts,<br />
die nur hoch spezialisierte Experten durchschauten,<br />
entschied Stadtbezirksrichter Balaschow quasi<br />
im Handumdrehen. Ohne dass sein leichthin gefälltes<br />
Urteil für ihn auch nur je die geringsten dienstlichen<br />
Konsequenzen nach sich gezogen hätte. So geriet Balaschows<br />
Entscheidung im Hinblick auf die Uralelektromasch-Aktien<br />
zum Prolog für die blutigen Ereignisse im<br />
Kombinat Uralchimmasch.<br />
Und ein »zweiter Balaschow« namens Rjasanzew sorgte<br />
beim Stadtgericht von Katschkanar dafür, dass sich Fedulew<br />
die dortigen Eisenerzaufbereitungswerke einverleiben<br />
konnte. Nachdem Fedulews bewaffnete Brigaden<br />
das Kombinat am 28. Januar 2000 besetzt hatten, landete<br />
der Fall vor dem Stadtgericht Katschkanar, wo Richter<br />
Rjasanzew am 1. Februar 2000 keinerlei Rechtsverletzung<br />
darin zu erkennen vermochte, dass ein Direktorium vor<br />
Maschinengewehrläufen hatte tagen müssen. Natürlich<br />
wurde die Gegenseite, das im Handstreich entmachtete<br />
Management des Kombinats, nicht gehört, die Entscheidung<br />
bereits am nächsten Tag verkündet. Am 15. Februar<br />
bestätigte die Zivilrechtskammer des Swerdlowsker Gebietsgerichts<br />
– also Iwan Owtscharuks Erbhof- das Urteil<br />
des Stadtgerichts Katschkanar. Ebenfalls ohne ordentliche<br />
Verhandlung und nur vierzehn Tage nach der erstinstanzlichen<br />
Entscheidung. Schier unglaublich, wenn man<br />
bedenkt, dass die Bearbeitungsfrist für Kassationsverfahren<br />
in <strong>Russland</strong> üblicherweise ein halbes Jahr beträgt.<br />
273
Doch damit hatte die Verhöhnung Justitias noch kein<br />
Ende. Kaum war das Urteil des Gebietsgerichts bekannt,<br />
da untermauerte das Stadtgericht, wiederum in Person<br />
von Richter Rjasanzew, noch am gleichen Tag die eigene<br />
Entscheidung, indem es nunmehr verfügte, dass auch<br />
keine Versammlung der Aktionäre des EAW Katschkanar<br />
mehr einberufen werden durfte, ganz gleich, von<br />
wem eine solche <strong>In</strong>itiative ausgehen sollte. Dieses Urteil,<br />
das die Position der Besetzer stärkte, hätte einem Stadtbezirksgericht<br />
allgemeiner Jurisdiktion rechtlich überhaupt<br />
nicht zugestanden. Mehr noch, das Stadtbezirksgericht<br />
fällte eine Entscheidung, die es überhaupt nicht<br />
geben durfte, denn ein Handlungsverbot für dritte Personen,<br />
die nicht beteiligte Seiten des Rechtsstreits sind,<br />
ist in der Zivilprozessordnung der Russischen Föderation<br />
überhaupt nicht vorgesehen. Aber kümmert das die<br />
Hüter von Recht und Gesetz im Gebiet Jekaterinburg ?<br />
Keineswegs. Wurde Richter Rjasanzew für seine gesetzwidrigen<br />
Handlungen zur Verantwortung gezogen ? Aus<br />
dem Amt entlassen ? Mitnichten. Wer die Macht hat, hat<br />
das Recht, das ist der entscheidende Punkt. Der mächtige<br />
Fedulew bekam maßgeschneiderte Urteile, ohne dass<br />
sich die Richter der Mühe unterzogen, die Berechtigung<br />
seiner Besitzansprüche überhaupt zu prüfen. Beispielsweise<br />
gehörten ihm die neunzehn Prozent der Aktien<br />
der Eisenerzaufbereitungswerke Katschkanar, die Fedulew<br />
so gern als seine eigenen ausgab, in Wirklichkeit<br />
gar nicht mehr. Sie waren seit langem beschlagnahmt<br />
im Zusammenhang mit Ermittlungen, die der Untersu-<br />
274
chungsausschuss des <strong>In</strong>nenministeriums der Russischen<br />
Föderation gegen Fedulew führte. Wie Sie sich erinnern,<br />
hatte ihn eine Moskauer Firma wegen Betrugs angezeigt<br />
und – wenn auch nur für kurze Zeit – hinter Gitter gebracht.<br />
Und seine betrügerischen Aktivitäten hatten eben<br />
gerade darin bestanden, dass er seinen Anteil in Höhe<br />
von neunzehn Prozent der EAW-Katschkanar-Aktien an<br />
unterschiedliche Firmen und Personen verkaufte.<br />
Nach dem Februar 2000 sollte noch so manches geschehen.<br />
Das Oberste Gericht der Russischen Föderation<br />
legte gegen die Willkür des Gebietsgerichts Kassationsprotest<br />
ein, und das mehrfach. Doch in der Realität änderte<br />
sich dadurch nichts. Fedulew saß weiter im EAW<br />
Katschkanar. Diejenigen, die er aus der Unternehmensleitung<br />
verdrängt hatte, verließen die Stadt und versteckten<br />
sich im Ausland. Die Rechtsprechungspraxis des Stadtgerichts<br />
Katschkanar wie des Swerdlowsker Gebietsgerichts<br />
hingegen wurde bereichert durch zahlreiche weitere Prozesse<br />
im Zusammenhang mit dem faktischen Bankrott<br />
des Unternehmens, den Fedulew nach bewährtem Schema<br />
betrieben hatte. Und die willfährigen Richter fällten<br />
auch hier die gewünschten Entscheidungen.<br />
Im Dienste der Fedulew-Mafia beförderten die Gerichte<br />
des Gebiets Swerdlowsk eine Reihe krimineller Machenschaften,<br />
die in ihrer Gesamtheit die <strong>In</strong>solvenz der<br />
Eisenerzanreicherungswerke herbeiführten. Ein Straftatbestand.<br />
Doch wen kümmerte das schon ? Im Gegenteil,<br />
als Putin an die Macht kam, schlug er sich auch noch auf<br />
die Seite von »Entscheidungsträgern« vom Schlage eines<br />
275
Pawel Fedulew oder Eduard Rossel, indem er erklärte, er<br />
werde keine Umverteilung des Eigentums zulassen. Was<br />
nur bedeuten konnte : Wer sich etwas unter den Nagel<br />
gerissen hat, steht unter dem Schutz des Gesetzes, muss<br />
nichts wieder herausrücken. Am 14. Juli 2000, kurz nach<br />
seinem ersten Wahlsieg, flog Putin nach Jekaterinburg,<br />
um an der feierlichen Grundsteinlegung für das »Walzwerk<br />
5000« im Hüttenkombinat Nishni Tagil, dem weltweit<br />
größten seiner Art, teilzunehmen. <strong>In</strong> diesem Kombinat<br />
agierten dieselben Personen, dieselben Darsteller<br />
wie in Katschkanar. Auch Fedulew mischte wieder kräftig<br />
mit. Und der Bau des »Walzwerks 5000« bildete das<br />
größte <strong>In</strong>vestitionsprojekt Eduard Rosseis. Das Spektakel<br />
namens »Grundsteinlegung durch Präsident Putin« war<br />
die beste PR-Aktion, die Fedulew sich für seine weitere<br />
kriminelle Expansion nur denken konnte. <strong>In</strong> der Folge<br />
floss neues Geld heran, weshalb Fedulew und Rossel aus<br />
Dankbarkeit für all diese Wohltaten jetzt aktive Anhänger<br />
des Präsidenten sind. Sie sponsern die Putin-Partei<br />
»Einiges <strong>Russland</strong>« in der Ural-Region und machten nie<br />
einen Hehl daraus, dass sie Putin bei den Präsidentschaftswahlen<br />
im Frühjahr 2004 unterstützten.<br />
Was bleibt noch zu sagen ? Oberflächlich betrachtet<br />
ist in <strong>Russland</strong> alles wunderbar und maximal demokratisch.<br />
Vollmundig wurde das Prinzip der absoluten<br />
Unabhängigkeit der Judikative proklamiert und jegliche<br />
Einmischung in die Rechtsprechung unter Strafe gestellt.<br />
Es gibt ein fortschrittliches föderales Gesetz »Über den<br />
Status der Richter«, das deren Souveränität quasi recht-<br />
276
lich festschreibt. Doch im wirklichen Leben werden die<br />
verfassungsmäßig garantierten demokratischen Prinzipien<br />
zynisch mit Füßen getreten. Ohne die geringsten<br />
Folgen. Wer sich über diese Gesetze stellen kann,<br />
der ist stärker als Recht und Gesetz. Wie die Mühlen<br />
der Justiz mahlen, hängt davon ab, welcher Klasse man<br />
angehört. Die oberste Schicht, die VIP-Klasse, besteht<br />
aus Mafia und Oligarchie. Und diejenigen, die keine<br />
Mafiosi, keine Oligarchen sind ? Wo kein Geld ist, ist<br />
auch kein Richter.<br />
Wo wir nun einmal den Kapitalismus aufbauen, muss<br />
es Eigentum geben. Wenn es Eigentum gibt, findet sich<br />
stets einer, der es besitzen möchte. Und ein anderer,<br />
der es ihm nicht abtreten will. Alles nur eine Frage der<br />
Methoden, der Spielregeln, an die man sich in einem<br />
Staat zu halten hat. <strong>In</strong> unserem durch und durch korrupten<br />
<strong>Russland</strong> leben wir nach den Gesetzen eines Paschka<br />
Fedulew. Einst kleiner Gauner und Erpresser in Jekaterinburg,<br />
heute Oligarch des Ural.<br />
Noch eine Episode zum Abschluss. März 2003. Jekaterinburg.<br />
Das Leben in der Provinz geht langsam, als sei es<br />
noch nicht aus der Winterstarre erwacht. Doch bereits<br />
mehrere Tage hintereinander, vom 25. bis zum 28. März,<br />
wird auf dem zentralen Platz der Stadt ununterbrochen<br />
demonstriert. Die Aktivisten der Rechtsschutzorganisationen<br />
des Gebiets Swerdlowsk machen mobil : das <strong>In</strong>ternationale<br />
Zentrum für Menschenrechte, das Bürgerkomitee<br />
zum Schutz der Rechte <strong>In</strong>haftierter, die Vereinigung<br />
277
gesellschaftlicher Organisationen »Die Union – ein Territorium<br />
der Volksmacht«. Sie sammeln Unterschriften<br />
für einen sofortigen Rücktritt Iwan Owtscharuks, stellen<br />
ihn als Helfershelfer der kriminellen Autoritäten, als<br />
Hauptverursacher der Willkürjustiz im Ural, als Bremsklotz<br />
für eine Reform des Rechtsprechungssystems an<br />
den Pranger. Owtscharuk, klären sie die Öffentlichkeit<br />
auf, unterdrückt noch immer jede Form von Demokratie<br />
und leistet erbitterten Widerstand gegen die Einführung<br />
von Geschworenengerichten, die er als »nicht den<br />
<strong>In</strong>teressen der Menschen im Gebiet Swerdlowsk entsprechend«<br />
abqualifiziert. Und das alles nur, um das von ihm<br />
geschaffene korrumpierte Justizsystem uneingeschränkt<br />
funktionstüchtig zu erhalten – im <strong>In</strong>teresse der Unterwelt<br />
des Ural.<br />
Immer noch derselbe März 2003. Nun allerdings nicht<br />
mehr in Jekaterinburg, sondern in Moskau. Iwan Owtscharuk<br />
wird vom Präsidenten der Russischen Föderation<br />
erneut in seinem Amt als Vorsitzender des Gebietsgerichts<br />
Swerdlowsk bestätigt. Wer wollte da noch bestreiten,<br />
dass die Mafia unsterblich ist ?
TANJA, MISCHA, LENA, RINAT …<br />
WAS IST AUS UNS GEWORDEN ?<br />
Tatsächlich, wo sind wir hingeraten ? Wir, die wir in der<br />
Sowjetunion lebten. Zumeist eine feste Arbeitsstelle besaßen<br />
und an stets dem gleichen Tag unser Gehalt bekamen.<br />
Wir mit unserem grenzenlosen, unerschütterlichen<br />
Vertrauen in das Morgen, das für uns so gewiss war wie<br />
das Heute. Unserem Glauben, dass uns die Ärzte ganz<br />
sicher heilen, die Lehrer klüger machen würden. Und wir<br />
dafür nicht eine Kopeke ausgeben müssten. Wie leben<br />
wir jetzt, wo es das alles nicht mehr gibt ? Oder anders<br />
gefragt : Welches Los ist uns beschieden ? Wohin hat es<br />
uns verschlagen im postsowjetischen Raum, als die neue<br />
Zeit begann, die dreifach neue ?<br />
Dreifach neu, weil wir zuerst neben der gesellschaftlichen<br />
unsere persönliche Revolution erlebten mit dem Fall<br />
der Sowjetunion, in den Jahren der Jelzin-Herrschaft, als<br />
binnen kurzem alles verschwand : die Ideologie, die billige<br />
Wurst in den Läden, das Geld, der Glaube, irgendwo<br />
dort im Kreml säße ein Übervater, der – mochte er noch<br />
so schlecht und despotisch sein – für uns die Verantwortung<br />
trug.<br />
Zum zweiten Mal brach eine neue Zeit an, als infolge<br />
der Wirtschaftskrise des Jahres 1998 viele von uns das<br />
verloren, was sie sich erarbeitet hatten seit 1991, als die<br />
279
Marktwirtschaft Einzug hielt und ein russischer Mittelstand<br />
zu entstehen begann (der zwar kaum vergleichbar<br />
war mit einem westlichen, aber doch die Basis für die<br />
Demokratie und den Markt darstellte). Alles löste sich<br />
in Rauch auf, man musste noch einmal ganz von vorn<br />
anfangen. Viele aber hatte der Lebenskampf schon so<br />
zermürbt, dass sie es nicht mehr schafften, auf die Beine<br />
zu kommen, und ins soziale Abseits fielen.<br />
Und schließlich die dritte Umbruch-Zeit unter Putin.<br />
Vor dem Hintergrund einer neuen Phase des russischen<br />
Kapitalismus mit unübersehbar postsowjetischem Anstrich.<br />
Eines ökonomischen Modells, das der Herrschaftszeit<br />
des zweiten Präsidenten <strong>Russland</strong>s ganz und gar entspricht<br />
und gekennzeichnet ist durch einen eklektischen<br />
Mix aus Markt und Dogma, eine Vermischung von allem<br />
mit allem. Wo es beträchtliche Mengen an disponiblem<br />
Kapital gibt und ebenso viel typisch sowjetische Ideologie,<br />
die diesem Kapital Vorschub leistet, sowie noch mehr<br />
Verarmte und Mittellose. Außerdem erlebte die alte Führungskaste<br />
der Nomenklatura einen neuen Aufschwung.<br />
Diese breite Schicht sowjetischer Staatsfunktionäre, die<br />
wieder in ihre Funktion eingesetzt wurde und sich an<br />
die neuen ökonomischen Bedingungen sehr schnell und<br />
nur allzu gern anpasste. Die Nomenklatura will jetzt<br />
genauso üppig leben wie die »neuen Russen«, und das<br />
bei verschwindend geringen offiziellen Gehältern ; sie<br />
will um keinen Preis der Welt die neue Ordnung gegen<br />
die alte sowjetische eintauschen, doch so ganz geheuer<br />
ist ihr diese neue Ordnung mit ihrem – von der Gesell-<br />
280
schaft immer nachdrücklicher eingeklagten – Streben<br />
nach Recht und Ordnung nun auch wieder nicht, also<br />
verwendet sie einen Großteil ihrer Zeit darauf, sich unter<br />
Umgehung von Recht und Ordnung persönlich zu bereichern.<br />
Mit dem Ergebnis, dass die Korruption unter<br />
Putin ein beispielloses Ausmaß erreichte, von der neuen,<br />
alten Putin’schen Nomenklatura zu einer Blüte geführt,<br />
wie sie weder zur Zeit der Kommunisten noch unter Jelzin<br />
denkbar war. Diese Korruption verschlingt das kleine<br />
und mittlere Unternehmertum, also den Mittelstand,<br />
lässt nur das große und supergroße Kapital überleben,<br />
Monopole und staatsnahe Unternehmen, denn in <strong>Russland</strong><br />
sind gerade sie es, die nicht nur für ihre Eigentümer<br />
und Manager hohe, stabile Gewinne abwerfen, sondern<br />
auch für die jeweiligen Protektoren in den staatlichen<br />
Verwaltungsstrukturen, ohne die bei uns kein einziges<br />
Großunternehmen existieren kann. <strong>In</strong> diesem Sumpf, der<br />
nichts mit Marktwirtschaft zu tun hat, kann die neue<br />
russische Parteinomenklatura (wie sie wieder wie in alten<br />
Sowjetzeiten genannt wird) ihre Sehnsucht nach der<br />
UdSSR, nach ihren Mythen und Phantomen ausleben.<br />
Putin versammelt recht gern »Ehemalige«-Leute aus den<br />
sowjetischen Führungsstäben – unter seinen Fahnen, da<br />
nimmt es nicht Wunder, dass der ideologische Überbau<br />
des Putin’schen Kapitalismus immer stärker Züge der<br />
späten Breshnew-Zeit annimmt, die Ende der siebziger,<br />
Anfang der achtziger Jahre von extremster wirtschaftlicher<br />
Stagnation gekennzeichnet war.<br />
281
Tanja, Mischa, Lena und Rinat sind reale Personen, keine<br />
erfundenen Helden. Gesichter in der Menge, normale<br />
Menschen, die wie wir alle in der neuen Zeit zu überleben<br />
versuchten, es aber nicht unbedingt schafften. Ich<br />
nenne keine Familiennamen, weil sie meine Freunde<br />
waren oder sind, weil ich sie sehr gut kenne. Würde<br />
ich ihre Nachnamen erwähnen, könnte ich nicht ehrlich<br />
und rückhaltlos über sie schreiben, mich nicht offen und<br />
unumwunden ausdrücken. Doch um zu begreifen, wie<br />
sich unser Überleben gestaltete, bedarf es gerade dieser<br />
schonungslosen Offenheit.<br />
TANJA<br />
Wir schreiben das Jahr 2002. Es ist Winteranfang. Die<br />
Geiselnahme im Musicaltheater »Nord-Ost« liegt gerade<br />
hinter uns, die Öffentlichkeit steht noch immer unter<br />
Schock, besonders hier in Moskau. Während der dramatischen<br />
Ereignisse wurde ich im Fernsehen gezeigt,<br />
weil ich ein wenig beteiligt war, und das brachte alte<br />
Bekannte dazu, sich wieder bei mir zu melden. So auch<br />
Tanja.<br />
»Na, kennst du mich noch ?«<br />
»Wie hast du mich gefunden ?«<br />
»Wollen wir uns treffen ?«<br />
»Natürlich.«<br />
Ich hatte Tanja, meine alte Freundin und ehemalige<br />
Nachbarin, vielleicht zehn Jahre nicht mehr gesehen.<br />
282
Damals war sie eine abgekämpfte junge Frau, heute stand<br />
eine Königin vor mir. Sie sah großartig aus. Nicht einmal<br />
so sehr wegen ihrer Aufmachung, obwohl auch die<br />
natürlich stimmte, vor allem aber wirkte sie selbstsicher<br />
und ruhig, was man weder vor zehn noch vor fünfzehn<br />
oder zwanzig Jahren von ihr hätte behaupten können.<br />
Zu sowjetischen Zeiten war Tanjas Leben einfach bedrückend,<br />
und sie kam fast jeden Abend zu mir (ich<br />
wohnte im Erdgeschoss, sie im obersten Stock eines alten<br />
Hauses), um sich auszuweinen über ihr verpfuschtes<br />
Dasein, das uns beiden damals unabänderlich schien.<br />
Tanja arbeitete als <strong>In</strong>genieurin in einem Forschungsinstitut,<br />
gehörte also zur technischen <strong>In</strong>telligenz : in der<br />
Sowjetunion eine breite soziale Schicht, die es heute so<br />
nicht mehr gibt, weil sie zusammen mit der UdSSR verschwand.<br />
Seinerzeit verstand es sich von selbst, dass ein Mädchen<br />
aus »guter Familie« (aus einer solchen kam Tanja,<br />
sie war die einzige Tochter achtbarer Eltern) an einer<br />
Hochschule studierte, und wenn bei Abschluss der Mittelschule<br />
keine bestimmten Neigungen oder Talente zu<br />
erkennen waren, bot sich eben eine der unzähligen technischen<br />
Hochschulen an. Ein Abschluss als <strong>In</strong>genieur.<br />
Weil jeder Absolvent nach dem Studium zunächst drei<br />
Jahre lang dort arbeiten musste, wohin ihn die Lenkungskommission<br />
der Hochschule schickte, gab es im<br />
ganzen Land Heerscharen unzufriedener junger <strong>In</strong>genieure,<br />
die ohnehin nicht von diesem Beruf geträumt<br />
hatten, nun ihre Arbeitszeit in irgendeinem Forschungs-<br />
283
institut absaßen und im Grunde nicht das Geringste<br />
produzierten. Wie Tanja.<br />
Als <strong>In</strong>genieurin für kommunale Dienste in Atomkraftwerken<br />
war sie eine typische Soldatin dieser Armee.<br />
Tagelang zeichnete Tanja in ihrem Forschungsinstitut<br />
für ein lächerliches Gehalt Wasserleitungs- und Kanalisationsnetze,<br />
die niemals gebaut wurden. Sie ärgerte<br />
sich grün und blau, weil das Geld nie reichte, versuchte<br />
die Familie anständig zu verköstigen und zu kleiden,<br />
zerriss sich zwischen zwei ewig kränkelnden kleinen<br />
Kindern und ihrem Ehemann, einem etwas seltsamen<br />
Typen namens Andrej, der es zwar bereits in jungen<br />
Jahren zum Dozenten an einer renommierten Technischen<br />
Universität der Hauptstadt gebracht hatte, aber<br />
auch nicht viel zum Familienbudget beitrug.<br />
Dieses Leben ließ Tanja zur typischen Neurasthenikerin<br />
werden. Ständig malträtierte sie sich, Andrej und<br />
die Kinder mit schlechter Laune, hysterischen Anfällen,<br />
Depressionen und permanenter Frustration.<br />
Obendrein stammte Tanja aus dem südrussischen<br />
Rostow am Don, nach Moskau (das Auswärtige nicht<br />
gerade freundlich empfing und sie nur als »begrenzt zuzugsberechtigte«<br />
Arbeitskräfte für bestimmte wenig attraktive<br />
Bereiche aufnahm) kam sie erst Mitte der siebziger<br />
Jahre, als sie Andrej heiratete. Sie hatte ihn an<br />
einem Schwarzmeerstrand kennen gelernt. Solche mit<br />
Moskauern verheirateten <strong>In</strong>genieurinnen aus der Provinz<br />
gab es damals sehr viele. Die armen, heruntergekommenen<br />
Regionen besaßen keinerlei Wert, und Mädchen aus<br />
284
»guten Familien« versuchten, den Sprung in die Hauptstadt<br />
zu schaffen.<br />
Wo Tanja dann kreuzunglücklich wurde, weil sie nicht<br />
wusste, was sie wollte. Nur was sie nicht wollte, das<br />
wusste sie genau : nicht als <strong>In</strong>genieurin arbeiten, nicht<br />
arm sein an der Seite eines ebenso armen Andrej. Wir<br />
sprachen oft darüber : Es machte Tanja rasend, dass es<br />
keinen Ausweg gab. Sie musste bei Andrej bleiben und<br />
weiter als miserabel bezahlte <strong>In</strong>genieurin die Arbeitszeit<br />
im Forschungsinstitut absitzen.<br />
Als die neue Ära anbrach, waren es gerade die Frauen,<br />
die zu ihrer Triebkraft wurden, die sich selbständig machten,<br />
sich von ihren Partnern trennten. Viele Männer drifteten<br />
ab in die Unterwelt, etliche kamen um in den Bandenkämpfen<br />
der frühen Jelzin-Jahre. Vor der Perestroika<br />
hatten viele Frauen gedacht wie Tanja, nicht mehr darauf<br />
gehofft, ihrem Leben jemals eine andere Richtung geben<br />
zu können, und plötzlich diese Riesenchance …<br />
Doch kehren wir zurück in die Mitte der achtziger<br />
Jahre. Bei Tanja zu Hause gab es oft Krach. Wie in sowjetischen<br />
Zeiten üblich, hatte Andrej keine eigene Bleibe,<br />
und als er und Tanja heirateten, zog sie mit in die große<br />
Altbauwohnung seiner Eltern, wo außerdem auch noch<br />
seine beiden älteren Brüder mit ihren Frauen und je<br />
zwei Kindern lebten. Ein richtiger Bienenstock, eine typisch<br />
sowjetische Gemeinschaftsbehausung eben. Und<br />
keinerlei Aussicht, jemals allein wohnen und unabhängig<br />
sein zu können. Zudem handelte es sich bei Andrej<br />
nicht um einen Herrn Jedermann, er stammte aus einer<br />
285
alten Moskauer Adelsfamilie, in der es alle zu etwas gebracht<br />
hatten. Andrejs Eltern waren Professoren für Physik<br />
und Mathematik. Die Großmutter – Professorin für<br />
Violine am Staatlichen Konservatorium der Hauptstadt,<br />
ihr zweiter Mann ebenfalls ein berühmter Violin-Pädagoge.<br />
Andrejs älterer Bruder machte als Professor für<br />
Chemie an der Moskauer Universität eine Entdeckung<br />
nach der anderen, was sich in materieller Hinsicht allerdings<br />
kaum auszahlte.<br />
Tanja nervte dieser familiäre Hintergrund immer<br />
mehr. Sie hielt Andrejs Sippe für lebensuntüchtig, für<br />
Versager, trotz aller wissenschaftlichen Meriten, und die<br />
Familie zahlte es ihr mit gleicher Münze heim, mochte<br />
sie nicht und fand ewig etwas an ihr auszusetzen.<br />
Wie gesagt, Tanja war ein Mädchen aus dem russischen<br />
Süden, wo selbst zu Sowjetzeiten jeder, der nur<br />
irgendwie konnte, mit irgendetwas handelte. Dort gab es<br />
nicht genehmigte Kleinbetriebe, die illegal Waren herstellten,<br />
viele reiche Männer vertrieben sich mit derartigen<br />
Geschäften die Zeit zwischen Freiheit und Gefängnis,<br />
und das war nicht ehrenrührig ; auch wenn sie in den<br />
Zeitungen nur als »Spekulanten« und »illegale Geschäftemacher«<br />
bezeichnet wurden, galten diese Männer unter<br />
den Schönen von Rostow doch als lukrative Partie.<br />
Mitte der achtziger Jahre, als wir uns kennen lernten,<br />
glaubte Tanja bereits fest, dass ihre Ehe mit Andrej ein<br />
Reinfall war, obwohl sie ihn aus Liebe geheiratet hatte.<br />
Oder einfach, weil Moskau lockte, weil es als Glückstreffer<br />
galt, einen Hauptstädter abzubekommen, und sie<br />
286
anders nicht aus ihrer Provinz fortkam. Und nun saß<br />
sie in diesem lockenden Moskau, war bettelarm und litt<br />
fürchterlich. Tanja blühte nur auf, wenn sie irgendwo<br />
hübsche Sachen aufgetrieben hatte, die sie mir vorführen<br />
und zum Kauf anbieten konnte. Sie besaß zweifelsohne<br />
ein ganz besonderes Verkaufstalent, man nahm Tanja<br />
einen unsäglichen Pullover zu einem Wucherpreis ab,<br />
nur weil sie so glaubhaft versicherte : »Das trägt man jetzt<br />
in Europa«, und wenn der Schwindel aufflog, schämte<br />
sie sich kein bisschen, wurde nicht einmal rot. Andrejs<br />
traditionsbewusste <strong>In</strong>telligenzlerfamilie betrachtete Tanjas<br />
Hang zum Kaufen und Verkaufen als etwas, das den<br />
eigenen Lebensvorstellungen völlig fremd war, und verachtete<br />
sie dafür.<br />
Nun also, im Frühwinter des Jahres 2002, lud mich<br />
Tanja zu sich nach Hause ein, in ebenjene große Altbauwohnung<br />
im Zentrum von Moskau, in der Nähe<br />
des Kreml.<br />
Die Wohnung war ungewöhnlich leer, überhaupt ganz<br />
anders als früher. Komplett renoviert und umgebaut,<br />
überall modernste Haustechnik, an den Wänden gekonnte<br />
Reproduktionen berühmter Gemälde, die Möbel<br />
– geschmackvoll auf antik getrimmt. Tanja ist jetzt<br />
fast fünfzig, ihre Haut wirkt jugendlich frisch, sie trägt<br />
leuchtende Farben, spricht laut, selbstbewusst und frei<br />
heraus. Wenn sie lacht, was sie oft tut, sieht man keine<br />
Fältchen, sie hat sich also liften lassen, schlussfolgere<br />
ich. Also geht es ihr gut, schließe ich weiter, sie muss<br />
reich sein, denn arme Leute haben bei uns kein Geld für<br />
287
sündhaft teure Schönheitsoperationen, deshalb sieht man<br />
einer armen Frau auch gleich ihr Alter an.<br />
»Ob es Andrej zu Wohlstand gebracht hat ?«, überlege<br />
ich. Tanja bewegt sich ungezwungen in der Wohnung,<br />
früher, vor zehn Jahren, flüsterte sie meist und hockte<br />
am liebsten in einem Zimmer, bloß um der angeheirateten<br />
Verwandtschaft nicht zu begegnen.<br />
»Wo sind denn deine Leute ?«<br />
»Erzähl ich dir gleich, aber fall nicht um – das hier<br />
gehört jetzt alles mir.«<br />
»Dir ? Gratuliere ? Und wo sind sie hin ?«<br />
»Wirst du gleich erfahren. Immer der Reihe nach.«<br />
Das Zimmer betritt leise ein schöner junger Mann.<br />
So alt müssten Tanjas Söhne jetzt sein, überschlage ich.<br />
Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, waren sie kleine<br />
Jungs. Deshalb kann ich nicht an mich halten :<br />
»Mich trifft der Schlag … bist das wirklich du, Igor ?«<br />
Igor ist der ältere der beiden Söhne von Tanja und<br />
Andrej, er müsste jetzt vierundzwanzig oder fünfundzwanzig<br />
sein.<br />
Tanja lacht schallend, wie über einen guten Witz. Melodiös,<br />
kokett, klangvoll. Ein junges Lachen. Gar nicht<br />
so wie früher.<br />
»Ich heiße David«, haucht der dunkel gelockte, sanftäugige<br />
Schöne und küsst Tanjas gepflegte Hand. Die<br />
habe ich anders in Erinnerung, rot und aufgequollen vom<br />
stundenlangen Wäscherubbeln für die ganze Familie,<br />
an eine Waschmaschine war nicht zu denken. Ich weiß<br />
noch, wie sich Tanja mit diesen Händen die Tränen aus<br />
288
dem Gesicht wischte in meiner Küche. »Also, ihr Hübschen,<br />
ich will euch nicht stören«, David entschwindet<br />
gemächlich in den Weiten der Wohnung.<br />
Wie »Hübsche« sehen wir ja nun wirklich nicht aus.<br />
»Nun erzähl doch endlich ! Lass deine alte Freundin<br />
wissen, wie du das alles hingekriegt hast, diese Jugend,<br />
diesen Reichtum. Und wo deine Leute sind.«<br />
»Das sind nicht mehr meine Leute.«<br />
»Und Andrej ?«<br />
»Wir haben uns getrennt, die Qual ist vorbei.«<br />
»Hast du wieder geheiratet ? Diesen David etwa ?«<br />
»David ist mein Liebhaber, nicht auf Dauer, bloß so,<br />
fürs Wohlbefinden. Ich halte ihn aus. Solange es mir<br />
gefällt.«<br />
»Großer Gott … Für wen arbeitest du denn jetzt ?«<br />
»Für niemanden. Ich arbeite allein für mich«, versetzt<br />
Tanja hart, und der metallische Ton in ihrer Stimme<br />
passt so gar nicht zu dem gepflegten Luxusgeschöpf mit<br />
dem jungen Liebhaber, das mir gegenübersitzt. Tanja ist<br />
ein glückliches Produkt der neuen Zeit. Im Sommer 1992,<br />
als die »marktwirtschaftlichen Reformen« oder besser<br />
gesagt : die Schocktherapie des damaligen Premierministers<br />
Jegor Gaidar dazu führte, dass die meisten Moskauer<br />
Haushalte nichts mehr zu essen hatten, hielt sich<br />
Tanja mit den Kindern und der übrigen Verwandtschaft<br />
außerhalb der Stadt auf, im alten »Erbsommerhaus« der<br />
Professorensippe.<br />
Jeder Moskauer, der auch nur so etwas wie eine Datscha<br />
sein Eigen nannte, hockte in diesem Hungersom-<br />
289
mer auf dem Lande und baute Gemüse an, um über<br />
den Winter zu kommen. Das Forschungsinstitut, in dem<br />
Tanja arbeitete, war für den ganzen Sommer geschlossen<br />
worden, die Mitarbeiter hatten ohnehin schon seit<br />
Monaten keinen Lohn mehr bekommen, und Arbeit<br />
gab es auch nicht, also fuhren sie, die Städter, zu ihren<br />
Kleingärten und verkauften die Erträge auf den Märkten,<br />
die im hungernden Moskau wie Pilze aus dem Boden<br />
schossen. Tanja baute Gemüse an und kümmerte sich<br />
um die Kinder. Andrej blieb oft in der Stadt, weil seine<br />
Technische Hochschule im Gegensatz zu den meisten<br />
Forschungsinstituten nicht geschlossen worden war, der<br />
Lehrbetrieb lief, es mussten Prüfungen abgenommen<br />
werden ; also gingen die Mitarbeiter weiter zur Arbeit,<br />
aus purem Enthusiasmus und aus Pflichtgefühl, denn<br />
Gehalt bekamen auch sie schon lange nicht mehr.<br />
Eines Morgens, als Tanja etwas zu besorgen hatte und<br />
unangekündigt zurück nach Moskau fuhr, ertappte sie<br />
Andrej mit einer Studentin – in ihrem Ehebett. Wo er<br />
doch eigentlich in der Universität sein sollte. Tanja hatte<br />
ein lautes, südliches Temperament, und an dem Tag<br />
schrie sie, dass es das ganze Haus hörte. So sähen also<br />
seine »Seminare« aus, und noch manches andere mehr.<br />
Andrej stritt erst gar nichts ab, sagte, er liebe diese<br />
Studentin. Die verlor kein Wort, zog sich an, ging in<br />
die Küche, wo sie Tee kochte, sehr routiniert, offenbar<br />
nicht das erste Mal.<br />
Dieses Schweigen und die gute Ortskenntnis der Konkurrentin<br />
gaben Tanja den Rest. Sie begriff, dass sie nicht<br />
290
ihr ganzes Eheleben lang die Professorensippe ertragen<br />
hatte, um sich jetzt von einer anderen aus der Wohnung<br />
vergraulen zu lassen. Da sollte sich Andrej erst gar keine<br />
Hoffnungen machen. Das sagte ihm Tanja klipp und klar.<br />
Andrej packte ein paar Sachen und verschwand, mitsamt<br />
seiner Studentin. Der Tee blieb unausgetrunken stehen.<br />
Im Grunde begann an diesem Tag Tanjas neues Leben :<br />
das absolut selbständig und in nichts mit dem früheren<br />
vergleichbar war. Andrej zeigte sich von der übelsten<br />
Seite, zahlte weder für die Kinder noch für sie auch nur<br />
eine Kopeke Unterhalt. Zu keinem Zeitpunkt. Im Gegenteil,<br />
später war er auch noch so schäbig, sich von ihr<br />
aushalten zu lassen. Ein paar Jahre nach der Trennung –<br />
Tanja hatte es schon zu ein bisschen Geld gebracht – gab<br />
sie ihm hin und wieder etwas zu essen, kleidete ihn<br />
sogar ein. Nicht aus Herzensgüte oder Mitleid mit dem<br />
nunmehrigen Professor der Technischen Hochschule, der<br />
noch immer bettelarm war, seiner beruflichen Orientierung<br />
aber treu blieb und bewusst darauf verzichtete, sich<br />
ein einträglicheres Auskommen auf dem freien Markt zu<br />
suchen, wie es viele seiner Kollegen taten.<br />
Tanja fütterte Andrej durch, weil darin ihre Revanche<br />
lag. Immer wieder sprach sie laut vor sich hin : »Du hast<br />
gedacht, du könntest mich demütigen ? Jetzt bin ich es,<br />
die dich demütigt !« Und servierte ihm roten Kaviar – zu<br />
Sowjetzeiten der <strong>In</strong>begriff für Luxus. Den konnte sie sich<br />
jetzt leisten. Und Andrej stopfte sich den Mund voll mit<br />
diesem Kaviar, wurde nicht einmal rot vor Scham und<br />
Erniedrigung, der Hunger setzte ihm so sehr zu, dass<br />
291
er manchmal in den Suppenküchen der Kirchen nach<br />
einem Mittagessen anstand, wobei er so tat, als sei er<br />
gläubig, und sogar lernte, sich zu bekreuzigen.<br />
Natürlich war er da schon lange nicht mehr mit seiner<br />
wortkargen Studentin zusammen, hauste wer weiß wo<br />
und wer weiß wie, sah abgerissen aus, völlig heruntergekommen,<br />
man konnte ihn für einen Penner halten.<br />
Doch kehren wir zurück in das Jahr 1992, in den Sommer<br />
des Aufbruchs zur Marktwirtschaft. Nach einer Woche,<br />
als Tanja überhaupt nicht mehr wusste, was sie den<br />
Kindern zu essen geben sollte, und ihre Schwiegermutter<br />
verlangte, sie solle Andrej verzeihen, ihn zurückholen,<br />
da kroch sie vor niemandem zu Kreuze, sondern ging<br />
auf den nahe gelegenen Markt arbeiten.<br />
Die Schwiegermutter greinte : »Was für eine Schande !<br />
Was für eine Schande !«, legte sich hin und wurde krank.<br />
Aber später fand sie sich damit ab – als ihr Tanja für das<br />
»schändliche« Geld vom Markt Medikamente kaufte. Die<br />
konnten sich weder ihr Mann, der Mathematik-Professor,<br />
noch ihre Professoren-Söhne nebst Ehefrauen leisten,<br />
weil sie allesamt keine Kopeke besaßen. Aber der Dünkel<br />
war ihnen noch nicht abhanden gekommen : Der Familienrat<br />
tagte nämlich und beschloss (mit nachdrücklicher<br />
Zustimmung der bettlägerigen Schwiegermutter, die lieber<br />
sterben als »diese Schande« ertragen wollte), dass<br />
die Erbstücke – wertvolle Möbel, seit Generationen in<br />
Familienbesitz, seltene Noten, Bilder russischer Meister<br />
des 19. Jahrhunderts – unter gar keinen Umständen<br />
292
verkauft werden dürften. Obwohl viele ähnliche Sippen<br />
Anfang der neunziger Jahre ihre glücklich über die Stalin-Zeit<br />
hinweggeretteten Erbstücke verscherbelten, »für<br />
ein Mittagbrot«, wie es damals hieß.<br />
Tanja stand auf dem Markt. Von sechs Uhr morgens<br />
bis dreiundzwanzig Uhr nachts. Das war keine Arbeit,<br />
das war reinste Sklavenfron. Und es gab nichts, was diese<br />
endlose Qual aufwiegen konnte, außer einem : Sie brachte<br />
reales Geld ein, das in ihrer Tasche knisterte, das sie<br />
jeden Tag bar auf die Hand erhielt. Sie stand einen Tag<br />
und wurde abends ausbezahlt. Nicht irgendwann, sondern<br />
gleich, das war die Hauptsache. Tanja kam täglich<br />
mit Geld nach Hause. Mit so dicken Beinen, dass sie<br />
kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte,<br />
mit krebsroten, geschwollenen Händen, zu müde, sich<br />
noch zu waschen oder irgendwie in Ordnung zu bringen.<br />
Und doch – beinahe glücklich !<br />
»Du wirst es nicht glauben, aber ich war glücklich,<br />
von niemandem mehr abhängig zu sein. Weder vom<br />
Direktor dieses <strong>In</strong>stituts, das einem keinen Lohn zahlt,<br />
noch von Andrej, der einem nichts gibt, oder von der<br />
Schwiegermutter mit ihren Familienerbstücken und Traditionen.<br />
Alles hing nur noch von mir selbst ab«, erzählt<br />
die schöne, reiche Tanja von heute über die Tanja von<br />
damals, vor zehn Jahren. »Die Schwiegermutter ? Eines<br />
schönen Tages habe ich ihr einfach gesagt, sie solle mir<br />
den Buckel runterrutschen. Und was glaubst du ? Zum<br />
ersten Mal hat sie mir keine Moralpredigt gehalten. Das<br />
war eine Offenbarung für mich. Vor meinen Augen voll-<br />
293
zog sich eine Revolution : Diese alte Moskauer <strong>In</strong>telligenzija,<br />
die immer so prinzipienfest und unbestechlich<br />
getan hatte, sie kuschte auf einmal. Kuschte wegen des<br />
Geldes, das ich der Schwiegermutter gab. Und die hörte<br />
auf zu meckern, weil ich es war, die für ihren Lebensunterhalt<br />
sorgte. Ich, die ihr nie etwas hatte recht machen<br />
können. Die ganze Professorensippe, die mich jahrelang<br />
verachtet hatte, weil ich keinen Stammbaum besaß, weil<br />
meine Vorfahren Bauern waren, weil ich ihrer Meinung<br />
nach Andrej nur geheiratet hatte, um nach Moskau zu<br />
kommen, diese ganze Horde von Verwandten also lernte<br />
auf einmal, mich anzulächeln und sogar zu liebedienern<br />
vor mir. Nur weil ich sie alle unterhielt mit meinem Geld<br />
vom Markt. Ich triumphierte. Und war bereit, dort rund<br />
um die Uhr zu schuften, bloß um noch mehr zu verdienen.<br />
Damit ich ihnen eine lange Nase zeigen konnte.«<br />
Wenn Tanja gegen Mitternacht nach Hause kam, fiel<br />
sie ins Bett wie ein Stein, hatte keinen Blick mehr für<br />
die beiden Söhne, kontrollierte ihre Hausaufgaben nicht.<br />
Sie fiel ins Bett und schlief sofort ein. Und am nächsten<br />
Morgen fing alles von vorne an. Tanjas Schwiegermutter<br />
übernahm es, sich um die Kinder zu kümmern, zum<br />
ersten Mal, seit sie unter einem Dach lebten. Tanja kam<br />
aus dem Staunen nicht heraus.<br />
Mitte der neunziger Jahre erreichte bei uns die Drogensucht<br />
unter den Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen ein<br />
solches Ausmaß, dass morgens, wenn wir die Wohnung<br />
verließen und die Treppe hinuntergingen, die Spritzen<br />
unter unseren Sohlen knackten. Sie waren Kinder von<br />
294
Müttern, die zur Arbeit auf dem Markt hasteten, die<br />
Geld verdienen wollten. Kinder, um die sich den ganzen<br />
Tag niemand kümmerte, die nicht zur Schule gingen<br />
(weil es damals auch keinen regelmäßigen Unterricht<br />
gab), die Leidtragenden des Runs auf das große Geld.<br />
Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, gibt es viele Mütter<br />
zwischen vierzig und fünfzig, die ihre Kinder verloren<br />
haben. Schätzungen besagen, dass die Hälfte der Jungen<br />
und Mädchen der Geburtenjahrgänge 1978 bis 1982 Mitte<br />
der neunziger Jahre an einer Überdosis starb.<br />
Tanjas Chef auf dem Markt war ein umtriebiger junger<br />
Bursche, ein »Pendler«, wie man damals sagte. Dieser<br />
Nikita schleppte aus der Türkei billige Kleidung heran,<br />
aus Usbekistan billige Melonen, aus Georgien billiges<br />
Gemüse, fuhr sonstwo hin, um billige Ware aufzutreiben,<br />
die Tanja und die anderen Frauen aus Nikitas Truppe<br />
dann verkauften. Steuern gab es ebenso wenig wie andere<br />
staatliche Abgaben. Auf dem Markt herrschten die Sitten<br />
eines Straflagers, Streitigkeiten wurden mit dem Messer<br />
ausgetragen, die Fäuste saßen locker, Schutzgelderpressung<br />
hatte Hochkonjunktur, und dazwischen Tanja und<br />
ihre Kolleginnen, die meisten alleinerziehend wie sie,<br />
ehemalige Vertreterinnen der technischen <strong>In</strong>telligenz<br />
aus <strong>In</strong>stituten, Verlagen und Redaktionen, die hatten<br />
schließen müssen.<br />
Bald ging Tanja mit Nikita ins Bett, er hatte ein Auge<br />
auf sie geworfen, trotz des Altersunterschieds, und nahm<br />
sie sogar ein paar Mal mit in die Türkei, zur Waren-<br />
295
eschaffung. Nach zwei Monaten hatte Tanja mit ihrer<br />
besonderen Ader für das Kommerzielle den Bogen raus<br />
und wurde selbst Pendlerin. Auch weil es keinen Chef<br />
mehr gab, denn eines Morgens fanden sie Nikita tot auf<br />
dem Markt, mit einem Loch im Kopf. Nikitas Verkäuferinnen<br />
freuten sich, dass sie bei Tanja unterkamen. Die<br />
war noch geschäftstüchtiger als Nikita und außerdem<br />
menschlich nicht so ein Dreckstück wie ihr ehemaliger<br />
Chef. Das Geschäft boomte.<br />
Ein halbes Jahr später fuhr Tanja nicht mehr in die<br />
Türkei. Zum einen, weil sie es leid war, denn diese Arbeit<br />
war kein Zuckerlecken, die Pendler schleppten die eingekauften<br />
Waren in riesigen Bündeln auf dem Rücken,<br />
buckelten sie selbst durch Flughäfen und Bahnhöfe, um<br />
das Geld für einen Gepäckkarren zu sparen. Und zum<br />
anderen, weil sie es nicht mehr nötig hatte : Was Tanja<br />
mit ihrem besonderen Riecher für gängige Ware einkaufte,<br />
ging auf dem Markt weg wie warme Semmeln.<br />
Die Geschäfte liefen so gut, dass Tanja zunächst einen,<br />
dann noch einen zweiten Fünf-Mann-Trupp von Pendlern<br />
anheuerte und damit zu einer Art Großhändlerin<br />
avancierte. Die Pendler holten Waren heran, die Verkäuferinnen<br />
verkauften sie auf dem Markt, und Tanja lenkte<br />
das Ganze. Jetzt kleidete sie sich schon nicht mehr »türkisch«,<br />
sondern europäisch, war ständig in Restaurants<br />
zu finden, wo sie aß und trank, mit Geld um sich warf<br />
und ein bisschen Spaß haben wollte nach dem Markt.<br />
Trotzdem reichte es noch für sie, ihre Familie und die<br />
Angestellten. <strong>In</strong> jenen Jahren ließ sich irrsinniges Geld<br />
296
verdienen. Also entsprachen auch Tanjas Liebhaber – allesamt<br />
Typ leidenschaftlicher Draufgänger – ihren Einnahmen<br />
und dem Zeitgeschmack. Tanja wechselte sie nach<br />
Belieben. Denn ehrlich gesagt war Andrej auch in dieser<br />
Hinsicht nicht viel wert gewesen, Tanja hatte oft geweint<br />
deswegen, damals, vor dem neuen Leben.<br />
Im Jahr darauf beschloss sie, die Wohnung auf Vordermann<br />
bringen zu lassen. Natürlich musste ihr dazu<br />
alles erst einmal gehören. Also kaufte Tanja mehrere<br />
kleine Wohnungen – für Andrej, den Schwiegervater, die<br />
Schwäger, die gar nicht schnell genug umziehen konnten.<br />
Die Schwiegermutter aber ließ sie weiter bei sich wohnen,<br />
irgendetwas regte sich in ihrer Seele, Tanja hatte Mitleid<br />
mit der einsamen alten Frau, deren Mann, der Mathematik-Professor,<br />
sie längst verlassen hatte. Außerdem<br />
musste sich jemand um die Kinder kümmern, Igor, der<br />
Ältere, war in der Pubertät und entsprechend schwierig,<br />
der Jüngere kränkelte oft.<br />
Aber die Renovierung war auch ein Teil von Tanjas<br />
Revanche.<br />
»Ich wollte denen zeigen, wer jetzt hier das Sagen hat !«<br />
Sie warf alles weg. Restlos alles. Verkaufte die Familienerbstücke,<br />
den Plunder der adligen Vergangenheit aus<br />
sämtlichen Ecken und Winkeln. Und niemand hinderte<br />
sie daran. Die Schwiegermutter fuhr in das Sommerhaus<br />
und ließ sich die ganze Zeit nicht blicken. So bekam<br />
Tanja eine supermoderne Wohnung, eingerichtet nach<br />
dem neuesten europäischen Standard. Danach entschloss<br />
sie sich, noch einen Schritt nach vorn zu wagen. Sie<br />
297
wollte nicht länger im Pendlergeschäft bleiben, sondern<br />
zur richtigen Businessfrau werden. Also kaufte Tanja<br />
mehrere Geschäfte in Moskau.<br />
»Nein, das gibt es doch nicht ! Diese Läden gehören<br />
dir ?« Ich traue meinen Ohren nicht. Tanja ist die Besitzerin<br />
der beiden guten Supermärkte, in denen ich nach<br />
der Arbeit einkaufe. »Gratuliere. Aber Preise sind das<br />
vielleicht bei dir !«<br />
»Das Land ist reich«, pariert Tanja bestimmt, aber mit<br />
einem Lachen.<br />
»Es ist überhaupt nicht reich. Du bist einfach eine<br />
imperialistische Hyäne geworden. Gnadenlos …«<br />
»Na klar. Die Jelzin-Zeiten sind vorbei, und damit<br />
auch die des leicht verdienten Geldes und der Romantik.<br />
Jetzt herrschen bei uns die unersättlichen Pragmatiker,<br />
wie ich sie nenne. Und ich gehöre dazu. Du bist gegen<br />
Putin, ich – für ihn. Er könnte mein Verwandter sein,<br />
genau so ein unersättlicher Pragmatiker, dem unser vergangenes<br />
Leben hart mitgespielt hat und der nun seine<br />
Revanche will.«<br />
»Was meinst du mit ›unersättlich‹ ?«<br />
»Die Bestechungsgelder. Diese ewigen Bestechungsgelder,<br />
die man überall zahlen muss. Damit ich die Läden<br />
behalten kann, zahle ich. Was meinst du, wem ich alles<br />
etwas geben muss. Den Beamten in der Stadtverwaltung,<br />
den Feuerwehrleuten, den Ärzten vom Gesundheitsamt,<br />
der Moskauer Regierung … natürlich auch den Gangstern,<br />
auf deren Territorium meine Läden stehen. Und<br />
denen ich sie eigentlich abgekauft habe.«<br />
298
»Hast du keine Angst, dich mit denen einzulassen ?«<br />
»Nein. Ich habe ein Ziel : Ich will reich sein. Und das<br />
heißt unter unseren heutigen Bedingungen, dass ich zahlen<br />
muss, tue ich es nicht, knallen sie mich sofort ab und<br />
setzen einen anderen an meine Stelle.«<br />
»Übertreibst du nicht ein bisschen ?«<br />
»Ich untertreibe.«<br />
»Und die Beamten ?«<br />
»Einen Teil von ihnen bezahle ich direkt, die anderen<br />
kriegen ihren Anteil über die Gangster. Denen gebe ich<br />
das Geld, und die einen Gangster werden sich dann mit<br />
den anderen Gangstern in den staatlichen Diensten einig.<br />
Das ist sogar bequemer für mich.«<br />
»Und Andrej ?«<br />
»Ist gestorben, hat es wohl doch nicht ausgehalten, dass<br />
ich mich hochgearbeitet und ihn mit meinem roten Kaviar<br />
gefüttert habe. Er wollte zu mir zurückkommen, aber<br />
ich habe ihn nicht gelassen. Such dir doch eine neue Studentin,<br />
habe ich gesagt. Außerdem mag ich keine hässlichen<br />
Männer mehr … wenn man sich einmal an Schönheit<br />
gewöhnt hat. Also gehe ich zu Stripshows, suche mir<br />
dort meine Partner aus. Viele sagen nicht nein.«<br />
»Mannomann, so kenne ich dich gar nicht. Hast du<br />
keine Sehnsucht nach dem Familienleben ? Nach einem<br />
häuslichen Herd ?«<br />
»Nein, das kannst du mir glauben. Ich habe gerade<br />
erst angefangen zu leben. Vielleicht ist nicht alles ideal,<br />
vielleicht findest du mein Leben schmutzig … aber habe<br />
ich früher sauber gelebt ?«<br />
299
»Was machen deine Kinder ?«<br />
»Schade, Igor ist nach seinem Vater geraten, ist ein<br />
schwacher Mensch, ganz wie Andrej, nimmt Drogen, und<br />
ich musste ihn schon zum fünften Mal zum Entzug bringen.<br />
Ich kann nur hoffen … Stas studiert in London. Mit<br />
ihm bin ich sehr zufrieden. Wirklich sehr ! Er ist dort<br />
überall der Beste. Meine Schwiegermutter schaut nach<br />
ihm, ich habe in London eine Wohnung für sie gemietet.<br />
Die Woche über lebt Stas im Wohnheim, und am Wochenende<br />
ist er bei ihr. Sie hat sich operieren lassen in<br />
der Schweiz, alles von meinem Geld. Mit ihrem neuen<br />
Hüftgelenk geht es ihr prächtig, sie springt herum wie ein<br />
junges Reh … und vergöttert mich. Weißt du, ich glaube,<br />
sie meint das sogar ehrlich. Geld ist etwas Großartiges.«<br />
David kommt elegant hereingetänzelt. Mit einem Tablett.<br />
»It’s teatime, ihr Hübschen.« Er lässt sich den Teeduft<br />
in die Nase steigen. »Darf ich euch Gesellschaft leisten ?<br />
Sag ja, Tanjalein.«<br />
Tanja nickt und erklärt, sie sei gleich zurück, wolle<br />
sich nur schnell umziehen zum Tee. David verströmt<br />
einen Ruch von Laster und Müßiggang. Ich fühle mich<br />
nicht ganz wohl in dieser Umgebung. Doch bald darauf<br />
kommt Tanja zurück. Im Glanz ihrer Brillanten. Die<br />
Ohren glitzern, das Dekolletee schimmert, sogar im Haar<br />
funkelt es. Das ist natürlich für mich. Und ich tue ihr<br />
den Gefallen, finde alles wunderschön. Warum nicht<br />
einem Menschen etwas Angenehmes sagen ? Und Tanja<br />
genießt es unübersehbar, sie strahlt mit den Brillanten<br />
300
um die Wette, zufrieden, dass ihr der Auftritt so gut<br />
gelungen und die alte Freundin beeindruckt ist.<br />
Dann trinken wir schnell den Tee aus – wir haben es<br />
beide eilig – und verabschieden uns.<br />
»Wir sehen uns doch hoffentlich nicht erst in zehn<br />
Jahren wieder ?«, meint Tanja zum Schluss.<br />
»Geben wir uns Mühe«, antworte ich und denke, als<br />
ich die Treppe hinuntergehe, dass sich heute, in der Putin-Zeit,<br />
tatsächlich alle wieder häufiger treffen. Die alten<br />
Freunde, meine ich. Es gab eine Phase am Ende von<br />
Jelzins Regierungszeit, da hatten alle so furchtbar viel<br />
zu tun mit dem Überlebenskampf und Geldverdienen,<br />
dass sie einander jahrelang nicht anriefen, sich genierten,<br />
die einen wegen ihrer Armut, die anderen wegen ihres<br />
Reichtums, viele waren überhaupt weggegangen und lebten<br />
im Ausland, mancher hatte sich eine Kugel in den<br />
Kopf gejagt vor Verzweiflung darüber, nicht mehr gebraucht<br />
zu werden, mancher schnupfte Kokain, um die<br />
Erinnerung an die eigenen schlimmen Taten ertragen zu<br />
können. Doch jetzt trafen sich die Überlebenden wieder<br />
häufiger als früher. Die Gesellschaft hatte Struktur gewonnen,<br />
es gab Freizeit.<br />
Eine Woche später nahm ich an einer Pressekonferenz<br />
teil. Wenn ich mich recht erinnere, ging es um Nachwahlen<br />
für das Stadtparlament, wo ein Sitz frei geworden<br />
war. Zu meiner größten Überraschung traf ich Tanja.<br />
Die <strong>In</strong>haberinnen von Supermärkten gehen in unserer<br />
durchstrukturierten, wie zu Sowjetzeiten nach Clanzu-<br />
301
gehörigkeit organisierten Gesellschaft eigentlich nicht zu<br />
politischen Pressekonferenzen.<br />
Tanja präsentierte sich der Medienwelt absolut stilsicher<br />
– im klassischen schwarzen Business-Kostüm, ohne<br />
einen einzigen Brillanten. David war auch da, gab den perfekten<br />
Sekretär ab, taktvoll und immer im Hintergrund.<br />
Seine Sprüche von den »Hübschen« schenkte er sich hier.<br />
Ich saß unter den Journalisten, Tanja auf der anderen<br />
Seite der Barrikade. Sie trat als Letzte vor das Mikrofon.<br />
Wie sich herausstellte, kandidierte sie für den vakanten<br />
Sitz in der Stadtduma und erläuterte deshalb den Medienvertretern,<br />
wie sie die Probleme der Obdachlosen in<br />
Moskau sah und deren <strong>In</strong>teressen zu vertreten gedachte,<br />
wenn die Wähler ihr das Vertrauen erweisen und sie in<br />
das Stadtparlament wählen würden.<br />
»Großer Gott, Tanja, wozu hast du das nötig ? Du bist<br />
doch reich genug«, sagte ich, als wir uns nach der Pressekonferenz<br />
begegneten.<br />
»Wie du schon weißt, will ich noch reicher werden.<br />
Ist doch ganz einfach : Ich habe keine Lust, unserem<br />
Abgeordneten Bestechungsgeld zu zahlen.«<br />
»Das soll der ganze Grund sein ?«<br />
»Und kein geringer, nebenbei gesagt. Simples Management.<br />
Du verstehst einfach nicht, auf welchem Niveau<br />
sich die Korruption jetzt bewegt. Das hätten die Gangster<br />
zu Jelzins Zeit sich nicht vorzustellen gewagt. Wenn ich<br />
selbst Abgeordnete bin, macht das eine ›Steuer‹ weniger.<br />
Eine Menge Geld, das darfst du mir glauben.«<br />
»Und warum muss es gerade der Schutz der Obdach-<br />
302
losen sein ?« Wir waren inzwischen in das französische<br />
Café nebenan hinübergewechselt. Tanja hatte es ausgesucht,<br />
ich verkehre nicht in solchen Etablissements, sie<br />
sind mir zu teuer.<br />
»Ich glaube, das nützt meinem Image. Außerdem kann<br />
ich ihnen wirklich helfen, da rauszukommen.«<br />
»Weshalb hast du dir das mit Putin nicht verkniffen<br />
am Schluss ? Wie sehr du ihn liebst und achtest, an ihn<br />
glaubst. Da haben dich deine Imagemaker aber schlecht<br />
beraten. Das ist unfeiner Stil.«<br />
Ȇberhaupt nicht. Das erwartet man heute einfach.<br />
Ich brauche keine Imagemaker …«, hier verschluckte<br />
sich Tanja an dem schwierigen englischen Wort, das mit<br />
dem neuen Leben in unsere Sprache geschwappt war,<br />
»… keine Imagemaker, um eines zu wissen : Erwähne<br />
ich Putin nicht, kommt morgen der FSB-Mann unseres<br />
Stadtteils zu mir ins Geschäft und reibt mir unter die<br />
Nase, dass ich nicht gesagt habe, was alle sagen. So leben<br />
wir Unternehmer heutzutage.«<br />
»Lass ihn ruhig kommen und dir was unter die Nase<br />
reiben. Das kostet dich doch nichts.«<br />
»Nein. Bloß ein Bestechungsgeld.«<br />
»Wof ür ?«<br />
»Dafür, dass er ›vergisst‹, was ich vergessen habe zu<br />
sagen.«<br />
»Sag mal, hast du das alles nicht satt ?«<br />
»Nein. Wenn es nötig ist, Putin den Arsch zu küssen,<br />
um noch ein paar Läden abzukriegen, dann küsse ich<br />
ihm den Arsch.«<br />
303
»Was meinst du mit ›abkriegen‹ ? Du kaufst die Läden<br />
doch, bezahlst dafür, wie es sich gehört.«<br />
»Nein, heute geht das anders. ›Abkriegen‹ heißt, sich<br />
bei den Staatsdienern in den Behörden das Recht zu<br />
verdienen, für das eigene Geld einen Laden kaufen zu<br />
dürfen. Das ist russischer Kapitalismus. Mir persönlich<br />
gefällt er. Sollte er mir einmal nicht mehr gefallen, kaufe<br />
ich mir irgendeine andere Staatsangehörigkeit und – weg<br />
bin ich …«<br />
Wir gingen auseinander. Natürlich wurde Tanja ins<br />
Stadtparlament gewählt. Es heißt, sie soll keine schlechte<br />
Abgeordnete sein, zugänglich, immer bereit, sich für die<br />
Armen in die Bresche zu werfen, noch eine Suppenküche<br />
für Obdachlose und Flüchtlinge in Moskau zu organisieren.<br />
Sie hat drei weitere Supermärkte gekauft. Oft<br />
hört man sie im Fernsehen die heutigen Zeiten rühmen.<br />
Vor kurzem rief sie an und bat mich, etwas über sie zu<br />
schreiben. Was ich auch getan habe. Das Ergebnis sehen<br />
Sie vor sich. Tanja, die das Material vor der Veröffentlichung<br />
lesen wollte, war entsetzt. »Es stimmt alles«, sagte<br />
sie nur und verbot mir, auch nur eine Zeile davon zu<br />
ihren Lebzeiten in <strong>Russland</strong> zu veröffentlichen. Was ich<br />
ihr versprach.<br />
»Und im Ausland ?«<br />
»Im Ausland meinetwegen. Sollen sie dort ruhig wissen,<br />
wonach unser Geld riecht.«<br />
304
MISCHA<br />
Mischa war der Mann meiner alten Freundin Lena, die<br />
ich seit frühester Schulzeit kenne. Lena hatte Mischa<br />
geheiratet, als sie beide noch studierten. Das liegt schon<br />
lange zurück, Ende der siebziger Jahre. Mischa war ein<br />
unheimlich kluger, begabter Bursche – Dolmetscher und<br />
Übersetzer für Deutsch, schon während des Studiums am<br />
Fremdspracheninstitut wurde er bei Konferenzen eingesetzt,<br />
alle sagten ihm eine glänzende Zukunft voraus,<br />
und nach dem Diplom rissen sich die verschiedensten<br />
<strong>In</strong>stitutionen um ihn, machten ihm lukrative Angebote,<br />
was damals selten vorkam.<br />
Mischa wählte das Außenministerium. Das war ein<br />
Glückstreffer, denn in sowjetischen Zeiten, besonders in<br />
den späten Jahren, schaffte kaum ein junger Mann ohne<br />
Beziehungen den Einstieg in eine so geschlossene Welt<br />
wie die unseres Außenministeriums. Und Beziehungen<br />
konnte Mischa nicht vorweisen, seine Oma, eine einfache<br />
Reinemachfrau, hatte ihn großgezogen, nachdem<br />
die Mutter früh an einem Hirntumor gestorben und der<br />
Vater kurz darauf zu einer anderen Frau gezogen war.<br />
Mischa arbeitete also im Außenministerium. Er, Lena<br />
und ich klebten zusammen wie Pech und Schwefel. Oft<br />
fuhren wir zum Picknick in den Wald, grillten Schaschliks<br />
über dem offenen Feuer und waren glücklich. Lena<br />
und ich standen uns sowieso sehr nahe, nun wollte<br />
Mischa unbedingt der Dritte im Bunde sein.<br />
Die Basis für unsere Freundschaft war eher ungewöhn-<br />
305
lich : Ich hatte zwei kleine Kinder, und wenn Mischa<br />
kam, konnte er sie einfach stundenlang mit Begeisterung<br />
betrachten, ganz gleich, was für Albernheiten sie<br />
anstellten, konnte sich endlos mit ihnen unterhalten,<br />
mit ihnen spielen. Alle Freunde wussten, dass Mischa<br />
geradezu verrückt war nach Kindern und so gern Nachwuchs<br />
wollte. Doch meine Freundin Lena, eine begabte<br />
Sprachwissenschaftlerin, schrieb gerade ihre Doktorarbeit<br />
und verschob das Kinderkriegen immer wieder<br />
auf den Zeitpunkt, wenn sie die Dissertation verteidigt<br />
haben würde.<br />
Mischa machte es sehr zu schaffen, dass sie keine<br />
Kinder hatten, er bekam einen regelrechten Komplex,<br />
litt selbst und malträtierte seine Umgebung, vor allem<br />
Lena. Aber Lena war eine Frau mit starkem Charakter,<br />
wenn sie etwas für richtig hielt, setzte sie es in jedem<br />
Fall durch. Und sie wollte nun einmal promovieren und<br />
erst dann schwanger werden.<br />
Lena hatte ihre Wahl getroffen, Mischa aber fing an<br />
zu trinken. Vor Kummer. Zuerst trank er nicht viel, alle<br />
belächelten ihn nur und machten sich ein bisschen lustig.<br />
Dann dauerten seine Zechtouren schon mehrere Tage, an<br />
denen er irgendwohin verschwand, wer weiß wo nächtigte.<br />
Noch später kam er wochenlang aus dem Rausch<br />
nicht heraus. Lena überlegte schon nachzugeben und<br />
die Dissertation sausen zu lassen. Doch wie konnte sie<br />
ein Kind von einem Mann bekommen, der nur noch<br />
tra nk ?<br />
<strong>In</strong>zwischen waren neue Zeiten angebrochen : Gorba-<br />
306
tschow, Jelzin … und Mischa wurde nur deshalb nicht<br />
wegen chronischer Trunksucht entlassen (was ihm unter<br />
den Kommunisten sofort gedroht hätte), weil es niemanden<br />
mehr gab, der ihn ersetzen konnte. Alle guten Leute,<br />
die mehrere Sprachen beherrschten und Erfahrungen mit<br />
Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs hatten, waren<br />
plötzlich Gold wert. Sie verließen das finanziell wenig<br />
einträgliche Außenministerium, verstreuten sich über<br />
die neu entstandenen Firmen und die Niederlassungen<br />
ausländischer Unternehmen. Um Mischa riss sich jetzt<br />
natürlich keiner mehr, auch wenn die Deutschen die Ersten<br />
waren, die auf den russischen Markt drängten, und<br />
Deutsch-Dolmetscher händeringend gesucht wurden.<br />
Aber auch im Außenministerium waren Mischas Tage<br />
gezählt, er wurde entlassen. Eines späten Abends ganz<br />
am Ende des Jahres 1996 klingelte es an der Tür. Draußen<br />
stand Lena, im Nachthemd, und das bei fast dreißig<br />
Grad Frost. So läuft in Moskau keiner herum, das dürfen<br />
Sie mir glauben. Am allerwenigsten Lena, eine sehr<br />
gepflegte, beherrschte, wohl erzogene und intelligente<br />
Dame. Ein Fuß war nackt wie bei der allerletzten Pennerin,<br />
der andere steckte in einem halb offenen Stiefel,<br />
dessen Schaft beim Gehen schlappte. Meine Freundin<br />
bibberte, als sei sie im Eis eingebrochen und gerade halb<br />
tot aus dem Wasser gezogen worden. Etwas musste sie<br />
zu Tode erschreckt haben, und der Schock hatte ihr die<br />
Sprache verschlagen.<br />
»Mischa, Mischa«, wiederholte sie wie ein Roboter, der<br />
nur ein einziges Wort beherrscht, und schluchzte laut,<br />
307
völlig außer sich und ohne auch nur das Geringste um<br />
sich herum wahrzunehmen.<br />
<strong>In</strong>zwischen waren meine Kinder aufgewacht von dem<br />
eigenartigen Lärm, kamen leise aus ihrem Zimmer und<br />
blieben neben Lena stehen, wie gebannt von dem für<br />
sie unbegreiflichen Leid. Da kam Lena endlich zu sich,<br />
die Kinder waren das Einzige, auf das sie reagierte. Wir<br />
flößten ihr ein Beruhigungsmittel ein, und sie begann<br />
zu erzählen.<br />
Mischa war schon die dritte Nacht nicht nach Hause<br />
gekommen. Lena erwartete ihn eigentlich auch gar nicht<br />
mehr, weil sie sich an seine Sauftouren gewöhnt hatte.<br />
Deshalb war sie zu Bett gegangen, denn sie musste bereits<br />
zeitig im <strong>In</strong>stitut sein. Doch kurz nach Mitternacht<br />
tauchte Mischa plötzlich auf, was ungewöhnlich war,<br />
denn wenn er irgendwo trank, kam er immer erst morgens<br />
zurück.<br />
So wie er war, in Mantel und schmutzigen Stiefeln,<br />
stinkend und ungewaschen, ging er gleich von der Wohnungstür<br />
aus ins Schlafzimmer, baute sich vor Lena auf<br />
und betrachtete sie im Halbdunkel, ohne das Licht einzuschalten.<br />
Er schien stockbetrunken und völlig von Sinnen.<br />
Die schwarzen Pupillen glänzten unnatürlich und<br />
warfen silbrige Reflexe auf seine Wangen. Das Gesicht,<br />
noch vor gar nicht allzu langer Zeit so sympathisch und<br />
anziehend, war jetzt von einer hässlichen Grimasse verzerrt,<br />
die Muskeln arbeiteten krampfhaft. Lena sagte<br />
nichts, zog nur die Bettdecke hoch bis zum Kinn. Das<br />
Zusammenleben mit einem Alkoholiker hatte sie gelehrt,<br />
308
dass in diesem Zustand jedes Wort zwecklos war, Mischa<br />
würde sowieso nichts hören. Sie musste einfach warten,<br />
bis er einschlief. Mehr konnte sie nicht tun.<br />
Doch Mischa kam ganz nahe an das Bett heran und<br />
sag te :<br />
»Schluss und aus … Du bist schuld daran … dass ich<br />
trinke … Ich bringe dich um.«<br />
Lena hörte in Mischas Stimme eine stille Entschlossenheit,<br />
die ihr jede Hoffnung nahm. Sie sprang auf und<br />
floh vor ihm durch das Zimmer. Mischa drängte sie<br />
auf den Balkon, jetzt hatte sie kaum noch eine Chance.<br />
Doch Betrunkene sind schwerfällig, Lena konnte ihm<br />
seitwärts entwischen, im Korridor griff sie nach dem<br />
erstbesten Kleidungsstück und lief los durch den Schnee,<br />
zu irgendjemandem in der Nähe – zu mir.<br />
Dann kam die Scheidung, und danach saßen Lena<br />
und Mischa, sonst alles andere als weinerlich, jeder für<br />
sich in meiner Küche und heulten sich aus, beichteten,<br />
wie sehr sie den anderen liebten, aber zusammenleben<br />
könnten sie nicht mehr.<br />
Eine Weile sahen Mischa und ich uns noch, obwohl<br />
die Begegnungen immer seltener wurden, doch manchmal<br />
kam er zu Besuch. Meist natürlich, um sich Geld<br />
zu borgen, weil er weiter trank und ständig blank war.<br />
Nach seiner Entlassung lebte er nur von Gelegenheitsübersetzungen,<br />
die er mitunter noch bekam.<br />
Erschien Mischa einmal nüchtern, erzählte er von seinen<br />
Versuchen, ein neues Leben anzufangen und das<br />
Trinken aufzugeben. Er sei gläubig geworden, läse reli-<br />
309
giöse Bücher, habe sich taufen lassen, einen verständnisvollen<br />
orthodoxen Priester gefunden, bei dem er beichten<br />
und zum Abendmahl gehen könne, das schenke ihm<br />
Ruhe, und überhaupt sei es ihm Ernst mit der Religion,<br />
sie könne ihn retten. Obwohl Mischa äußerlich nicht gerade<br />
aussah wie einer, der seiner Rettung entgegengeht :<br />
Er war abgerissen, das Haar fettig und wirr, die ganze<br />
Erscheinung mehr als ungepflegt, ein Typ, über den man<br />
in <strong>Russland</strong> sagt : »Der lebt ohne Frau.« Er lief in einem<br />
schwarzen, speckigen Mantel herum, der hinten und<br />
vorn nicht passte und offenbar von fremden Schultern<br />
stammte. Fragte man Mischa nach seiner Bleibe, ließ er<br />
krause Tiraden vom Stapel, ihn verstehe sowieso keiner,<br />
und wie solle er irgendwo eine Bleibe finden, wenn ihn<br />
niemand verstünde.<br />
Unter Jelzin stach einer wie Mischa nicht einmal besonders<br />
ins Auge, auf den Straßen gab es viele Bettler. Vormals<br />
ordentliche Bürger, intelligente Menschen, die ihre<br />
Arbeit verloren hatten und zu Trinkern geworden waren,<br />
in der neuen Realität keinen Platz für sich fanden. Diese<br />
zu Sowjetzeiten hoch geschätzten und hoch qualifizierten<br />
Kader verbreiteten tiefe Unzufriedenheit darüber, nicht<br />
mehr gebraucht zu werden, ja überflüssig zu sein, bildeten<br />
den Nährboden für den massenhaften Zulauf, den<br />
die russisch-orthodoxe Kirche erlebte. Jeder, den es aus<br />
der gewohnten Lebensbahn warf, der die Arbeit verlor,<br />
von Frau oder Mann verlassen wurde, nicht mehr auf<br />
sein Glück vertraute, jeder dieser Verlierer rannte in die<br />
310
Kirche, obwohl er bei weitem nicht immer gläubig war.<br />
<strong>In</strong> dieser Masse von Leidensgenossen fiel Mischa nicht<br />
weiter auf.<br />
Eines Tages kam er nüchtern und trotzdem gut gelaunt,<br />
erzählte, wir könnten ihm gratulieren : Am Tag<br />
zuvor sei er Vater eines Sohnes geworden. Wir freuten<br />
uns für ihn, schließlich hatte sich sein Traum endlich<br />
erfüllt. Doch irgendwie schien Mischa nicht gerade im<br />
siebten Himmel vor Glück, wie wir, die wir seine frühere<br />
fast närrische Kinderliebe kannten, es eigentlich<br />
erwartet hätten.<br />
Der Junge hieß Nikita. Schon damals, als Mischa noch<br />
mit Lena zusammen war, hatte er immer gesagt, sein<br />
Sohn müsse unbedingt Nikita heißen.<br />
»Und Nikitas Mutter ?«, fragte ich vorsichtig.<br />
»Ein junges Ding.«<br />
»Lebst du mit ihr zusammen ? Seid ihr verheiratet ?<br />
Oder wollt ihr erst ?«<br />
»Nein, ihre Eltern sind dagegen.«<br />
»Dann nehmt euch doch einfach eine Wohnung und<br />
lebt zusammen, mit eurem Sohn. Das ist so wichtig.«<br />
»Kein Geld.«<br />
»Dann geh arbeiten und verdiene was.«<br />
»Das will und kann ich nicht. Ich bringe sowieso<br />
nichts mehr zu Stande, der Zug ist abgefahren.«<br />
Damit blockte er jede weitere Nachfrage ab.<br />
Mehr als ein Jahr verging. Jelzin hatte die Macht abgegeben<br />
und Putin zu seinem Nachfolger ernannt, der<br />
zweite Tschetschenien-Krieg war bereits im Gange, jeden<br />
311
Tag bekam man im Fernsehen Putin vorgeführt : wie er<br />
ein Armeeflugzeug steuerte oder in Tschetschenien Anordnungen<br />
traf. Die Präsidentschaftswahlen standen kurz<br />
bevor. Da rief eines späten Abends Lena an.<br />
»Weißt du was«, sagte sie mit ganz fremder Stimme,<br />
die so heiser klang wie bei einer Sängerin nach dem Konzert,<br />
»ich habe gerade einen Anruf bekommen : Mischa<br />
hat eine Frau umgebracht, die, bei der er wohnt. Sie hat<br />
noch einen vierzehnjährigen Sohn aus erster Ehe, der<br />
gerade in der Wohnung war. Mischa hatte getrunken.<br />
Die Frau soll älter sein als er, hat Mischa bedauert und<br />
deshalb mit ihm getrunken, bloß damit er sich nicht<br />
so einsam und verloren fühlt. Gestern auch. Und dann<br />
nimmt er ein Messer und sagt ›Ich bringe dich um‹, dasselbe<br />
wie zu mir.«<br />
Lena begann zu weinen.<br />
»Das hätte ich sein können«, sagte sie. »Weißt du<br />
noch ? Und ihr habt alle gesagt, ich soll mich nicht scheiden<br />
lassen, er würde sich bessern, müsste nur behandelt<br />
werden … Der hätte mich einfach umgebracht.«<br />
Das Gericht war gnädig mit Mischa. Besonders, nachdem<br />
es seine Lebensgeschichte zur Kenntnis genommen<br />
hatte. Er erhielt viereinhalb Jahre, nicht viel für einen<br />
Mord, wenn der Täter psychisch normal und trotz seiner<br />
Alkoholprobleme zurechnungsfähig ist.<br />
Mischa kam in eine Arbeitskolonie in Mordwinien,<br />
wo es ringsum nichts gab als dichten, endlosen Wald.<br />
Ein halbes Jahr später tauchte bei Lena und ihrem<br />
Mann – sie hatte wieder geheiratet, einen Sohn bekom-<br />
312
men – der Leiter dieser Arbeitskolonie auf. Offenbar<br />
nicht gerade eine <strong>In</strong>telligenzbestie, aber gutherzig. Da<br />
er dienstlich in Moskau war, hielt er es für seine Pflicht,<br />
Lena aufzusuchen und davon in Kenntnis zu setzen,<br />
dass »ihr Michail« – Lenas Mann fiel bei diesen Worten<br />
beinahe in Ohnmacht – der <strong>In</strong>sasse seiner Kolonie<br />
sei. Der Direktor, offenbar nicht ohne pädagogisches<br />
Talent, hatte Mischa zum Verantwortlichen für die Lagerbibliothek<br />
ernannt, die dieser nicht nur vorbildlich<br />
in Ordnung brachte, sondern auch fleißig selbst nutzte.<br />
Mit den Häftlingen gehe er um wie ein studierter Psychologe,<br />
so der Vorsteher. Und dann habe Mischa auch<br />
noch im Lager eigenhändig eine Holzkapelle gebaut<br />
und wolle Mönch werden, weshalb er in Briefkontakt<br />
mit einem Kloster stünde und von dort Unterweisung<br />
erhalte. Und dann berichtete der Direktor noch, dass<br />
er als Leiter Mischas Wunsch Mönch zu werden unterstütze,<br />
weil er sich davon nur positive Einflüsse auf<br />
seine aus Mördern, Gewaltverbrechern und unverbesserlichen<br />
Rückfalltätern bestehende <strong>In</strong>sassenschaft verspreche.<br />
Aus diesem Grunde werde er auch Mischas<br />
Bitte erfüllen, im Devotionaliengeschäft der Moskauer<br />
Kirchenleitung bestimmte religiöse Gerätschaften kaufen<br />
und mit in die mordwinische Arbeitskolonie nehmen.<br />
Der Vorsteher beendete seine Lobesrede mit dem<br />
Versprechen, sich unbedingt dafür einsetzen zu wollen,<br />
dass Mischa wegen beispielhafter Führung vorzeitig aus<br />
der Haft entlassen werde.<br />
»Freuen Sie sich denn gar nicht, Lena ?«, fragte er, als<br />
313
er sah, dass die ehemalige Frau seines vorbildlichen Häftlings<br />
den Tränen nahe war.<br />
»Ich habe Angst«, entgegnete sie.<br />
»Das brauchen Sie nicht«, beruhigte sie der Direktor.<br />
»Er ist ein anderer geworden, viel ruhiger. Trinkt auch<br />
nicht mehr. Der bringt keinen mehr um, glaube ich.«<br />
Dann strich er sich über das Haar, nahm einen<br />
Schluck Tee, rieb energisch die Handflächen aneinander,<br />
so als gelte es, ein Feuer zu entfachen, und fuhr im<br />
Vollgefühl seiner Verantwortung für die Umerziehung<br />
der Gestrauchelten fort :<br />
»Wenn ich ehrlich bin, tut es mir ein bisschen leid,<br />
dass Mischa bald geht. Er ist der Beste … wirklich mein<br />
allerbester Häftling.«<br />
Von diesem Augenblick an waren wir darauf gefasst, dass<br />
Mischa jeden Tag wieder in Moskau auftauchen konnte.<br />
Doch er kam erst 2001, nachdem seine Reststrafe aufgehoben<br />
worden war. Einige Wochen lang trieb er sich<br />
in der Hauptstadt herum, ohne Bleibe, ohne eine Menschenseele,<br />
die sich um ihn kümmerte. Sein Deutsch<br />
hatte er vergessen, zu dem neuen Leben, das inzwischen<br />
herrschte, fand er nicht den geringsten Zugang.<br />
Ich wusste schon lange, dass Mischa wieder in Moskau<br />
war. Doch wir begegneten uns ganz zufällig, auf dem<br />
Twerskoi-Boulevard, er kam mir entgegen, und beinahe<br />
hätten wir einander nicht erkannt. Wir setzten uns auf<br />
eine Bank, redeten und redeten, drei Stunden lang. Ich<br />
fragte nach seinem Nikita, nach meinen Kindern fragte<br />
314
Mischa nicht. Eigentlich brauchte er nur einen Zuhörer,<br />
der ihm Aufmerksamkeit schenkte.<br />
Er sprach die ganze Zeit vom Mönchtum, vom rechten<br />
Weg ins Kloster – und ich betrachtete ihn. Von dem<br />
jungen Mischa war fast nichts mehr geblieben, der Mann<br />
vor mir sah grau, alt und aufgedunsen aus. Nicht der<br />
geringste Abglanz seines früheren Talents, der besonderen<br />
Begabung. Nur noch Verbitterung über das Leben.<br />
Und jede Menge Lagerjargon. Zudem schwafelte er noch<br />
irgendwelchen banalen Unsinn über den Sinn des Lebens,<br />
von der Art, wie man ihn in primitiven Groschenheften<br />
für halbe Analphabeten findet. Ich konnte mir vorstellen,<br />
wie die Häftlingsbibliothek in der mordwinischen<br />
Strafkolonie ausgesehen hatte.<br />
»Hast du dir Arbeit gesucht ?«<br />
»Wo denn ? Die zahlen doch überall wenig und verlangen<br />
viel.«<br />
»So geht es uns allen jetzt … Man muss sich bescheiden<br />
lernen …«, fing ich an. Doch Mischa schnitt mir<br />
das Wort ab :<br />
»Ich will aber nicht sein wie alle.«<br />
Wenn er etwas reichlich auf Lager hatte, dann dieses<br />
»nicht wie alle«.<br />
»Wie steht’s bei dir mit dem Kloster ?«<br />
»Ich hab’s noch nicht geschafft. Dort gibt es auch eine<br />
Warteschlange und Kungelei. Man braucht Beziehungen.<br />
Mir hängt an, dass ich gesessen habe.«<br />
»Das verstehst du doch sicher … Du bist ja wirklich<br />
gerade erst entlassen worden.«<br />
315
»Gar nichts verstehe ich.« Mischa wurde aggressiv.<br />
»Und was willst du jetzt machen ?«<br />
»Ich versuche es dort, in der kleinen Kirche«, Mischa<br />
wies mit der Hand hinter sich. Dort stand tatsächlich<br />
eines der ältesten Gotteshäuser Moskaus. »Ich verdinge<br />
mich als Wächter. Für das Kloster braucht man Profilerfahrungen.«<br />
Hier mussten wir beide lachen. Nur wer in der Sowjetunion<br />
geboren ist und dort zumindest einen Teil seines<br />
bewussten Lebens zugebracht hat, weiß, was diese<br />
»Profilerfahrungen« bedeuten : Wollte man eine gute Arbeitsstelle<br />
finden, in ein gutes <strong>In</strong>stitut hineinkommen<br />
und hatte keine Beziehungen, konnte man nur auf seine<br />
einschlägigen »Profilerfahrungen« bauen. Jetzt aber sprachen<br />
wir über Klöster, Religion, Glauben und Gebote,<br />
also etwas, was den Realien der sowjetischen Lebensart<br />
so diametral entgegengesetzt war wie sonst nichts. Wir<br />
lachten immer noch.<br />
»Das ist wirklich zum Lachen«, meinte Mischa. »<strong>In</strong><br />
unserem Heute haben sich orthodoxe Kirche und sowjetische<br />
Realität plötzlich vereint.«<br />
Unter den schweren, ungesund geröteten Lidern hervor,<br />
die entweder auf eine Nieren- oder auf eine Herzkrankheit<br />
schließen ließen, blickte mich für einen Augenblick<br />
der Mischa von früher an, fröhlich, immer für einen<br />
Spaß gut, schalkhaft, ein bisschen übermütig.<br />
»Das kann man wohl sagen. Du warst lange weg. Hast<br />
du keine Angst, die Kirche, in die es dich so sehr drängt,<br />
könnte dasselbe Kreiskomitee des Komsomol sein, vor<br />
316
dem du immer abgehauen bist ? Einfach nur aufgepeppt<br />
mit einem neuen Anstrich ? Dann sitzt du in deinem<br />
Kloster, wirst bitter enttäuscht sein und …«<br />
Ich stockte, suchte nach dem passenden Ausdruck,<br />
verstummte.<br />
»Du willst sagen, dass ich dann wieder jemanden umbringe,<br />
weil ich ihm die Schuld zuschiebe für meine<br />
Probleme ?«<br />
»Na ja, nicht so …«, stotterte ich, obwohl es gerade das<br />
gewesen war, was mir auf der Zunge lag. Mischa und ich<br />
hatten uns wieder einmal nur zu gut verstanden.<br />
»Doch, doch, genau so … Du brauchst gar nicht drum<br />
herum zu reden … Natürlich habe ich Angst. Aber was<br />
soll ich machen ? Bleibe ich hier draußen, lande ich früher<br />
oder später wieder dort. Im Gefängnis habe ich es<br />
besser – es ist ein geschlossener Raum. Und das Kloster<br />
ist wie ein Arbeitslager, nur dass die Wachen anders<br />
sind. Ich muss unter Bewachung leben. Ich komme mit<br />
mir selbst nicht klar, bei dem Leben, was ich ringsum<br />
sehe.«<br />
»Und was für ein Leben siehst du ?«<br />
»Ein zynisches. Und Zynismus kann ich nicht ertragen.<br />
Deshalb habe ich ja auch angefangen zu trinken.«<br />
»Und warum hast du diese Frau umgebracht ? War<br />
sie zynisch ?«<br />
»Nein, im Gegenteil, sie war ein guter Mensch. Ich<br />
weiß nicht mehr, wie ich sie umgebracht habe. Ich war<br />
betrunken.«<br />
»Also gehst du auf jeden Fall ins Kloster ?«<br />
317
»Auf jeden Fall. Hier draußen halte ich es nicht aus.«<br />
Danach habe ich Mischa nicht wieder gesehen, weiß<br />
aber, dass er es nicht geschafft hat, ins Kloster einzutreten.<br />
Die Aufnahmeprozedur zog sich endlos hin : Die<br />
Gottesdienerschaft der russischorthodoxen Kirche arbeitet<br />
nicht anders als unsere Staatsdiener, dieselbe Gleichgültigkeit<br />
gegenüber allem, was nicht unmittelbar die<br />
eigenen <strong>In</strong>teressen betrifft. Mischa wurde immer wieder<br />
bei der Verwaltung des Moskauer Patriarchen vorstellig,<br />
reichte Bescheinigungen ein, arbeitete als Kirchenwächter<br />
und hauste in einem Verschlag neben dem Gotteshaus.<br />
Allmählich begann er wieder zu trinken, tauchte<br />
mehrmals bei Lena auf, um sich Geld zu borgen. Das<br />
erste Mal gab sie ihm hundert Rubel, dann nichts mehr.<br />
Völlig richtig, sie und ihr Mann arbeiteten schließlich<br />
nicht dafür, dass Mischa nach Herzenslust saufen konnte.<br />
Natürlich, das versteht man.<br />
Mischa warf sich in der Metro vor einen Zug. Wir<br />
erfuhren davon erst viel später, rein zufällig. Was wir<br />
dann noch herausfinden konnten, war nicht viel : Mischa,<br />
einer der begabtesten Menschen, die ich je gekannt habe,<br />
wurde in einem anonymen Armengrab beigesetzt. Eine<br />
Adresse hatte er nicht, und Verwandte fragten ebenfalls<br />
nicht im Leichenschauhaus nach. Solche Toten, nach<br />
denen keiner sucht, werden bei uns verbrannt. Wo genau<br />
seine Asche beigesetzt ist, weiß keiner.<br />
318
RINAT<br />
Man kann direkt auf den Eingang zumarschieren oder<br />
außen herumgehen. Die Garnison des Spezialregiments<br />
für militärische Aufklärung des Verteidigungsministeriums<br />
– einer absoluten Eliteeinheit – ist immerhin kein<br />
Platz, an dem Zivilpersonen wie ich herumspazieren sollten.<br />
Aber manchmal lässt es sich eben nicht vermeiden.<br />
Rinat hat mich hergebracht. Er ist einer der Offiziere<br />
des Regiments, sein Dienstrang – Major. Wo er geboren<br />
wurde, weiß Rinat nicht, er kennt weder Vater noch<br />
Mutter, wuchs im Waisenhaus auf. Rinats Gesicht mit<br />
den schräg stehenden Augen sieht asiatisch aus, und er<br />
spricht auch mehrere seltene zentralasiatische Sprachen.<br />
Sein Spezialgebiet ist die militärische Aufklärung, er hat<br />
viele Orden und Medaillen dafür bekommen. Rinat war<br />
im Krieg in Afghanistan, hat sich dann in tadschikische<br />
Banden in den Bergen und an der afghanisch-tadschikischen<br />
Grenze einschleusen lassen, jahrelang ihren Drogenhandel<br />
ausgekundschaftet und viel dazu beigetragen,<br />
die Rauschgiftgangster dingfest zu machen. Danach verhalf<br />
er – wiederum in geheimer Mission im Auftrag der<br />
Regierung <strong>Russland</strong>s – mehreren heutigen Präsidenten<br />
ehemaliger Sowjetrepubliken zur Macht. Natürlich war<br />
er oft in Tschetschenien. Sowohl während des ersten als<br />
auch während des zweiten Tschetschenien-Kriegs.<br />
Wir suchen ein Schlupfloch im Zaun der »streng geheimen«<br />
Garnison. Rinat will mir zeigen, in was für einer<br />
Baracke er, ein hoch dekorierter Offizier, auf dem Mili-<br />
319
tärgelände haust, und im Kontrast dazu einen Neubau<br />
im Offiziersstädtchen, in den er so gern gezogen wäre,<br />
wenn …<br />
Rinats Spezialeinheit mag zwar berühmt, exzellent<br />
gedrillt und elitär sein, aber das Loch im Zaun, das wir<br />
entdecken, reicht nicht nur für uns beide, sondern für<br />
einen ganzen Panzer.<br />
Nach fünf Minuten sind wir bei den Wohnblocks. Es<br />
ist früh am Morgen. Ringsum wenig freundliche Gesichter<br />
von Offizieren, die heute dienstfrei haben. Auch das<br />
Wetter ist nicht gerade einladend, der Lehm unter unseren<br />
Füßen schmatzt, wir gehen nicht, sondern schlittern<br />
mehr, schauen vor unsere Füße, damit wir nicht<br />
ausrutschen.<br />
Ich hebe den Blick und sehe – o Wunder ! – vor mir<br />
ein neues, wunderschönes Hochhaus, das grüngrau zwischen<br />
den öden Fünfgeschossern emporragt.<br />
»Mit diesem Haus hat alles angefangen«, sagt Rinat.<br />
»Natürlich wollte ich auch hier wohnen. Ich kann doch<br />
nicht ewig herumzigeunern … Mein Sohn wird groß …<br />
und ich stecke bloß immerzu in Kriegen.«<br />
Major Rinat verstummt abrupt, zieht den Kopf ein,<br />
beugt den Oberkörper vor, als wären wir unter Beschuss<br />
geraten und müssten einen Schützengraben suchen zu<br />
unserer Rettung. Leise flüstert er mir zu, ich solle so<br />
tun, als würden wir uns nicht kennen, und besser auch<br />
nicht neugierig nach vorn schauen, mit den Armen fuchteln<br />
oder sonst irgendwie Aufmerksamkeit erregen. Eine<br />
Aufklärer-Marotte ?<br />
320
»Was ist denn passiert ?«, frage ich. »Wir sind doch<br />
nicht etwa in einen Hinterhalt geraten ?«<br />
Was natürlich völliger Unsinn ist, wie kann es in der<br />
streng bewachten Garnison einer Spezialeinheit einen<br />
Hinterhalt geben ?<br />
»Man darf ihn nicht reizen«, sagt Rinat leise und setzt<br />
sein Ablenkungsmanöver fort. Unauffällig wie die Kundschafter,<br />
zielstrebig und zügig, doch ohne verräterische<br />
Eile, schlagen wir einen anderen Kurs ein.<br />
»Wenn darf man nicht reizen ?«, will ich wissen, als<br />
Rinat den Kopf hebt und erleichtert aufatmet. Die Gefahr<br />
ist vorüber.<br />
»Petrow, unseren stellvertretenden Regimentskommandeur.«<br />
Wie sich herausstellt, war das ganze Manöver nur deshalb<br />
nötig, weil uns dieser Petrow gerade in seinem Auto<br />
entgegen kam. Er hielt vor dem schönen Haus, in dem<br />
er natürlich wohnte. Erst als Petrow im Treppenaufgang<br />
verschwunden war, beruhigte sich Rinat. Wir spazierten<br />
weiter über das Garnisonsgelände, kreuz und quer, hierhin<br />
und dorthin – und landeten doch immer wieder bei<br />
dem wunderschönen Hochhaus, das Rinat sehnsüchtig<br />
und mit unverhohlenem Neid betrachtete.<br />
Ich konnte mir, ehrlich gesagt, keinen richtigen Reim<br />
auf das Ganze machen. Schließlich kannte ich Rinats<br />
militärischen Werdegang ein wenig und wusste, wie<br />
furchtlos und verwegen er war. Und jetzt dieses Versteckspiel.<br />
Wovor hatte er, der erfahrene Kundschafter und<br />
Krieger, überhaupt noch Angst ? Vor dem Tod ?<br />
321
»Nein, dem habe ich schon zu oft ins Auge geblickt.<br />
Das ist keine Aufschneiderei.«<br />
»Vor der Gefangenschaft ?«<br />
»Ja, die fürchte ich natürlich, weil ich weiß, sie werden<br />
mich foltern. Das habe ich selbst gesehen bei den Banden.<br />
Aber auch davor habe ich nicht die größte Angst.«<br />
»Wovor dann ?«<br />
»Vor dem Frieden wahrscheinlich. Vor dem zivilen<br />
Leben. Damit kenne ich mich nicht aus. Bin darauf nicht<br />
vorbereitet.«<br />
Rinat ist siebenunddreißig Jahre alt. Er hat in seinem<br />
bewussten Leben nichts anderes getan, als sich in Kriegen<br />
herumzutreiben. Hat dabei eine Menge Verwundungen<br />
abgekriegt. Hat ein Magengeschwür, ein Geschwür am<br />
Zwölffingerdarm, ein zerrüttetes Nervensystem, schmerzende<br />
Gelenke und nach mehreren Kopfverletzungen oft<br />
Hirnspasmen.<br />
Vor kurzem beschloss er, dass es nun Zeit wäre für ein<br />
sesshafteres Leben, für die Rückkehr in unsere normale<br />
Welt. Doch er musste schnell feststellen, wie wenig er von<br />
dieser Welt verstand. Wer würde ihm beispielsweise eine<br />
Wohnung geben ? Stand die ihm nicht zu, nach allem,<br />
was er durchgemacht hatte im Dienste des Staates, bei<br />
der Verteidigung der nationalen <strong>In</strong>teressen ? Und wie<br />
sah es aus mit Geld ?<br />
Als er diese Fragen seinem stellvertretenden Regimentskommandeur<br />
Petrow stellte, klärte sich recht bald, dass<br />
ihm nicht das Geringste zustand. Woraus Rinat den<br />
Schluss zog : Solange er die Spezialaufträge seiner Regie-<br />
322
ung erfüllte, in den Bergen herumkroch, sich in Ländern,<br />
auf Kontinenten herumtrieb, brauchte ihn der Staat,<br />
behängte ihn dafür mit Orden und Medaillen. Jetzt aber,<br />
wo er seine Gesundheit geopfert hatte, wo er sesshaft<br />
werden wollte, war kein Platz für ihn da. Seine Vorgesetzten<br />
konnten ihn einfach auf die Straße setzen, sogar<br />
aus dem jämmerlichen Winkel in der Offizierskaserne<br />
verjagen, wo er jetzt hauste. Mit seinem Sohn.<br />
Rinats Sohn heißt Edik. Edik hat nur seinen Vater, die<br />
Mutter kam vor ein paar Jahren ums Leben, und lange<br />
Zeit lebte der Junge ganz allein in dem kleinen Kämmerchen<br />
in der Kaserne und wartete darauf, wann der<br />
Vater aus den vielen Kriegen und verantwortungsvollen<br />
Kampfeinsätzen zurückkommen würde.<br />
»Ich weiß, wie man einen Gegner so tötet, dass er<br />
keinen Mucks von sich gibt«, erklärt Rinat. »Ich kann<br />
lautlos und schnell einen Felsen ersteigen und diejenigen<br />
unschädlich machen, die oben sitzen. Ich bin ein<br />
hervorragender Alpinist. Die Berge sind wie ein offenes<br />
Buch für mich, ich erkenne an Zweigen und Ästen, wer<br />
sich dort versteckt hält. Ich kann die Berge fühlen, das<br />
ist eine besondere Gabe, heißt es. Aber eine Wohnung<br />
erkämpfen kann ich nicht. Ich kann überhaupt nichts<br />
erkämpfen im zivilen Leben.«<br />
Vor mir sitzt ein hilfloser professioneller Mörder, vom<br />
Staat dazu ausgebildet. Es gibt viele wie ihn. Dieser Staat<br />
schickt sie in den x-ten Krieg, jahrelang leben sie in<br />
einem Ausnahmezustand, kehren zurück und verstehen<br />
nicht mehr, wie die normale Welt funktioniert, welche<br />
323
Gesetze und Regeln hier gelten. Sie flüchten sich in den<br />
Alkohol oder driften ab in Banden, wo sie Berufskiller<br />
werden, und ihre neuen Bosse zahlen gut und erklären<br />
ihnen, diesen und jenen aus dem Weg zu räumen sei<br />
wiederum nötig im <strong>In</strong>teresse des Staates.<br />
Und der Staat ? Den scheren solche wie Rinat einen<br />
Dreck. Unter Putin hat der Staat aufgehört, sich um aus<br />
den Kriegen heimkehrende Offiziere zu kümmern. So<br />
als käme ihm gar nicht ungelegen, dass es viele hoch<br />
qualifizierte Killer in der Unterwelt gibt.<br />
»Rinat, denken Sie auch über diese Perspektive<br />
nach ?«<br />
»Nein, ich will das nicht. Aber wenn sie Edik und<br />
mich auf die Straße setzen, dann vielleicht … Ich kann<br />
nur, was ich kann.«<br />
Durch Schmutz und Schlamm watend, landen wir<br />
schließlich vor einem trostlosen, heruntergekommenen<br />
Gebäude, im Garnisonsjargon »Doppeldecker« genannt.<br />
Das ist die besagte Offiziersunterkunft. Wir steigen die<br />
Treppe zum zweiten Stock hinauf. Hinter einer ramponierten<br />
Tür – ein armseliges möbliertes Kasernenzimmer.<br />
Major Rinat hat nie im Leben ein eigenes Zuhause besessen.<br />
Erst das Kinderheim in Nishni Tagil, im Ural, dann<br />
die Kaserne der Offiziersschule, in die er gleich nach dem<br />
Kinderheim eintrat, danach die Zelte der Feldlager. Sechzehn<br />
Jahre ist Rinat jetzt bei der aktiven Truppe, immer<br />
unterwegs, getreu seinem Fahneneid. Ein wandernder<br />
Stein, der kein Moos ansetzt. Die letzten elf Jahre hat er<br />
nichts anderes getan als von einem Kampfeinsatz zum<br />
324
nächsten zu fahren. Wie soll da ein Hausstand zusammenkommen<br />
?<br />
»Ich war glücklich mit diesem Leben, wollte gar nicht<br />
fort aus dem Krieg … Ich dachte, das geht immer so<br />
weiter …«<br />
Alles, was Rinat besitzt, passt in eine Fallschirmspringertasche.<br />
Der Major öffnet die Tür des Schrankes, auf<br />
dessen abgenutztem Furnier an der Seite eine <strong>In</strong>ventarnummer<br />
prangt. Er zeigt mir die Tasche.<br />
»Die Tasche über die Schulter – und ab zum nächsten<br />
Einsatz«, erklärt er mir knapp seine Lebensphilosophie.<br />
Auf dem Sofa sitzt ein Junge und schaut irgendwie<br />
kummervoll zu uns herüber. Das muss Edik sein. Ich<br />
gebe dem Gespräch eine andere Wendung :<br />
»Aber Sie waren doch verheiratet ? Irgendwann hatten<br />
Sie also ein Zuhause ?«<br />
»Nein, nie. Die Zeit war zu kurz.«<br />
Während Rinat in geheimer militärischer Mission in<br />
Tadschikistan den heutigen Präsidenten Rachmonow bei<br />
der Machtergreifung unterstützte, wartete seine Frau<br />
in Kirgisien auf ihn. Er hatte sie bei seinem vorherigen<br />
Kampfeinsatz kennen gelernt, als es in der Stadt Osch,<br />
wo sie wohnte, zu blutigen ethnischen Auseinandersetzungen<br />
gekommen und Rinat dorthin abkommandiert<br />
worden war. Noch während der Unruhen heirateten die<br />
beiden. Es war eine stürmische, leidenschaftliche Liebe,<br />
aufgeflammt zwischen Blut und Leid. Rinat nahm die<br />
junge Frau mit zu seinem Kommandeur und erklärte<br />
geradeheraus : »So, wir sind jetzt verheiratet.« Der Kom-<br />
325
mandeur schlug entgeistert die Hände zusammen und<br />
bat Rinat nur, seine Frau in Osch zu lassen. Für einen<br />
Kundschafter ist die Nähe der Herzallerliebsten eine<br />
Achillesferse. Also ging Rinat allein zurück nach Tadschikistan.<br />
Später erfuhr Rinat von seinem Kommandeur, dass er<br />
Vater geworden war und dass sein Sohn Edik hieß. Im<br />
Juni 1995 dann wurde Rinats junge Frau umgebracht –<br />
von denjenigen, gegen die sich seine Aktivitäten in Tadschikistan<br />
richteten. Sie war erst einundzwanzig Jahre alt,<br />
studierte am Konservatorium von Osch. Am Tag ihrer<br />
Ermordung wollte sie gerade die Prüfungen für das 3.<br />
Studienjahr ablegen.<br />
Edik blieb zunächst bei der Großmutter in Kirgisien,<br />
der Junge war noch zu klein, um einem Leben in ständig<br />
wechselnden Unterkünften gewachsen zu sein. Außerdem<br />
hatte Rinat ohnehin kaum Gelegenheit, sich in den<br />
wenig einladenden, unsauberen Offizierswohnheimen<br />
aufzuhalten, er erfüllte seine militärischen Missionen,<br />
war in den Bergen im Einsatz, wurde zweimal schwer<br />
verwundet, lag lange im Lazarett.<br />
»Trotzdem wollte ich kein anderes Leben«, sagt Major<br />
Rinat. »Aber Edik war schon ein großer Junge.« Rinat<br />
beschloss, den Sohn zu sich zu nehmen, und seither fährt<br />
Edik nur noch zu seiner Großmutter, wenn Rinats Einsätze<br />
mehr als sechs Monate dauern. Für eine so lange<br />
Zeit will Rinat den Jungen nicht allein in der Obhut von<br />
Nachbarn zurücklassen.<br />
Wir sitzen in dem kalten, ungemütlichen Zimmer.<br />
326
Edik ist ein schweigsamer Junge mit klaren, alles verstehenden,<br />
sehr erwachsenen Augen. Er sagt nur etwas,<br />
wenn der Vater das Zimmer verlässt und man ihn direkt<br />
fragt. Der Sohn eines Kundschafters eben. Der Junge<br />
versteht, dass es sein Vater jetzt sehr schwer hat und er,<br />
Edik, deshalb im nächsten Schuljahr in ein Kadettenkorps<br />
soll, aber die Idee gefällt ihm nicht.<br />
»Ich will zu Hause bleiben«, sagt er ruhig, ganz Mann.<br />
Ohne Wehleidigkeit. Und doch wiederholt er die Worte<br />
mehrmals.<br />
»Zu Hause will ich bleiben. Zu Hause …«<br />
»Ist das dein Zuhause ? Fühlst du dich hier daheim ?«<br />
Edik ist ein ehrlicher Junge. Er weiß : Wenn man nicht<br />
die Wahrheit sagen kann, schweigt man lieber.<br />
<strong>In</strong> der Tat, wer würde diese Absteige für Truppenoffiziere,<br />
wo hinter der dünnen Wand betrunkene Zeitsoldaten<br />
lärmen und die Möbel <strong>In</strong>ventarnummern tragen,<br />
schon Zuhause nennen ? Doch Edik weiß, dass sein Vater<br />
vielleicht selbst diese armselige Bleibe verliert. Also soll<br />
sie wenigstens ihr Zuhause sein.<br />
Die Beziehungen zwischen Rinat und der Regimentsführung<br />
verschlechterten sich, als der Major eine Wohnung<br />
in dem schönen neuen Hochhaus beantragen<br />
wollte. <strong>In</strong> der Überzeugung, dies sei sein gutes Recht,<br />
stand er doch schon jahrelang auf der Warteliste.<br />
»Als ich dem stellvertretenden Regimentskommandeur<br />
Petrow meine Bitte vorgetragen habe, ist er in die<br />
Luft gegangen : ›Du hast nicht genug für das Regiment<br />
geleistet.‹ Stellen Sie sich vor, genau das waren seine<br />
327
Worte. Ich konnte es nicht fassen : ›Ich habe gekämpft.<br />
Die ganze Zeit. Habe Piloten von einem Berg geholt,<br />
von dem sie keiner herunter bekommen hätte. Der Staat<br />
braucht mich.‹«<br />
Diese Rettungsaktion hat es tatsächlich gegeben, und<br />
Rinat ist dafür zur Auszeichnung mit dem höchsten<br />
staatlichen Ehrentitel »Held <strong>Russland</strong>s« vorgeschlagen<br />
worden. Als im Juni 2001 in den tschetschenischen Bergen<br />
nahe der Siedlung Itum-Kale ein Jagdflugzeug der<br />
Armee abstürzte, konnte die Besatzung zunächst nicht<br />
geborgen werden, da es mehreren Rettungskommandos<br />
nicht gelang, sie ausfindig zu machen. Da erinnerte sich<br />
die Militärführung an Rinat, der nicht nur einzigartige<br />
Kampferfahrungen, sondern auch ein ganz besonderes<br />
Gespür für die Berge besaß, in ihnen lesen konnte wie<br />
in einem Buch, anhand von Zweigen, Ästen, Laub.<br />
Rinat fand die tote Besatzung innerhalb von vierundzwanzig<br />
Stunden. Einen Körper hatten die Rebellen<br />
bereits vermint, Rinat musste die Minen entschärfen. Die<br />
Gefallenen konnten von ihren Familien bestattet werden.<br />
Bei der kämpfenden Truppe heißt es : Offiziere, die<br />
im Gefecht und in den Bergen den Kopf verlieren, sind<br />
umso besser in der Etappe. Das sagte Rinat damals dem<br />
stellvertretenden Regimentskommandeur auch ins Gesicht<br />
: »Ich weiß schon, was du in Tschetschenien für<br />
ein Held warst, bloß in den Stäben herumgedrückt hast<br />
du dich.« Worauf dieser Petrow zurückschlug und Rinats<br />
wundeste Stelle traf : »So, jetzt habe ich dich, Major<br />
… Für deine lose Zunge mache ich dich zum Pen-<br />
328
ner … entlasse dich ohne Wohnung. Dann sitzt du mit<br />
deinem Kind auf der Straße.«<br />
Und er machte seine Drohungen wahr. Zuerst demütigte<br />
er Rinat, einen Offizier mit einmaliger Kampferfahrung,<br />
indem er ihn zum Platzwart des Exerziergeländes<br />
degradierte und ihm die Leitung des Garnisonsklubs<br />
übertrug. Dort organisierte Rinat Filmvorführungen für<br />
die Soldaten. Dann befahl ihm Petrow, Plakate zu malen.<br />
Nicht, dass Rinat dazu nicht im Stande gewesen wäre, er<br />
zeichnet sogar hervorragend, doch diese Aufgabe oblag<br />
eigentlich Petrows Frau, die nun überhaupt nicht mehr<br />
zum Dienst erschien. Alle Offiziere des Regiments wussten<br />
: Rinat arbeitete an Stelle von Petrows Gattin, die es<br />
sich derweil in dem schönen neuen Haus gut gehen ließ.<br />
Edik wurde krank, musste ins Krankenhaus eingeliefert<br />
werden, und die Ärzte rieten Rinat dringend, so oft<br />
wie möglich bei seinem Sohn zu sein. Rinat meldete sich<br />
jedes Mal bei Petrow ab, doch der trug ihn – trotz des<br />
offiziellen Krankenscheins – hinterher einfach als »unentschuldigt<br />
dem Dienst fern geblieben« in das Wachbuch<br />
ein. Danach trat auf Petrows Betreiben das Ehrengericht<br />
der Offiziere zusammen, strich Rinat auf der Grundlage<br />
eines gefälschten Protokolls von der Wohnungs-Warteliste<br />
und stellte den Antrag, ihn unehrenhaft aus der<br />
Armee zu entlassen. Schlimmer konnte es nicht kommen.<br />
»Weshalb ?« Der Major lässt den Kopf hängen. Er weiß,<br />
hier ist er nicht im Kampfeinsatz, hier behalten andere<br />
die Oberhand.<br />
Die Kriege, die unser Land führt, gehen überall dort<br />
329
weiter, wohin die Menschen, die diese Kriege ausgefochten<br />
haben, im Anschluss geraten ; vor allem in den Militäreinheiten,<br />
in die sie zurückkehren. Dort liefern die<br />
Stabsoffiziere denjenigen, die im Kampfeinsatz waren,<br />
erbitterte Gefechte. Jeder kleinste disziplinarische Verstoß<br />
eines »Kampfoffiziers« kann ihn – trotz seiner militärischen<br />
Verdienste – die Zugehörigkeit zu den Streitkräften<br />
kosten und ihm, als sei das nicht schon genug, obendrein<br />
noch Demütigungen und Beleidigungen eintragen. Major<br />
Rinat ist kein Einzelfall. Die Offiziere in der russischen<br />
Armee teilen sich jetzt in zwei ungleiche Lager. Die einen<br />
haben tatsächlich an militärischen Operationen teilgenommen,<br />
ihr Leben riskiert, Berge bezwungen, tagelang<br />
in Schneelöchern und Schützengräben ausgeharrt,<br />
mehr als eine Verwundung davongetragen. Sie können<br />
einem nur furchtbar leid tun. Diesen Offizieren fällt es<br />
schwer, sich zurechtzufinden in unserem normalen – für<br />
sie jedoch völlig unnormalen – Leben, wo man lavieren<br />
und taktieren muss, statt zum Maschinengewehr<br />
zu greifen. Sie finden keine gemeinsame Sprache mit<br />
den Stabsoffizieren, die häufig auch in Tschetschenien<br />
waren, allerdings dort nicht kämpften. Sie rebellieren,<br />
trinken, kommen nicht zur Ruhe. Und die Stabsoffiziere<br />
sitzen meist am längeren Hebel : Sie hängen den »Kämpfern«<br />
üble Geschichten an, denunzieren sie bei Vorgesetzten,<br />
bringen Gerüchte in Umlauf, spinnen <strong>In</strong>trigen.<br />
Und schon steht der widerspenstige Kampfoffizier vor<br />
der Entlassung. Und weshalb ? Weil er so ist, wie er ist.<br />
Weil die Kampfoffiziere allein durch ihre Anwesenheit<br />
330
in den Truppenteilen den Stabsoffizieren tagtäglich vor<br />
Augen führen, wer etwas taugt in der Militärwelt und<br />
wer nicht.<br />
Und die Stabsoffiziere ? Die steigen auf, von einem<br />
Dienstrang zum nächsten, mit kometenhafter Geschwindigkeit.<br />
Sie haben ihr Hinterland perfekt organisiert,<br />
erhalten Wohnungen, beziehen Datschas …<br />
Rinat hat am Ende aufgegeben. Er ist nicht mehr Angehöriger<br />
dieser Armee, die er so sehr liebte. Wohin es ihn<br />
und Edik verschlagen hat, weiß ich nicht. Ein unbehauster,<br />
bettelarmer Kampfoffizier. Ich habe Angst um ihn,<br />
weil ich ahne, wo er gelandet sein könnte. Aber nicht nur<br />
um ihn habe ich Angst, sondern um uns alle.
»NORD-OST« :<br />
DIE JÜNGSTE GESCHICHTE DER ZERSTÖRUNG<br />
Moskau, 8. Februar 2003. Erste-Dubrowskaja-Straße, aller<br />
Welt jetzt einfach als »Dubrowka« bekannt. <strong>In</strong> dem Gebäude,<br />
dessen Bild erst vor drei Monaten um den ganzen<br />
Erdball, durch alle Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehkanäle<br />
gegangen war, wird ein rauschendes Fest gefeiert.<br />
Fräcke, Abendkleider, die politische Prominenz ist vollständig<br />
versammelt – Regierungsmitglieder, Abgeordnete,<br />
Vorsitzende der parlamentarischen Fraktionen und Parteien,<br />
Küsse, Umarmungen, ein luxuriöses Büfett …<br />
Man feiert, zumindest in der Hauptstadt, den endgültigen<br />
Sieg über den »internationalen Terrorismus«. Die<br />
Pro-Putin-Politiker behaupten, dass die Wiederaufnahme<br />
des Musicals »Nord-Ost« auf den Ruinen des Terrorismus<br />
ein Beweis für diesen Sieg sei. Heute, am 8. Februar,<br />
findet die erste Aufführung seit dem 23. Oktober 2002<br />
statt, als einige Dutzend Terroristen aus Tschetschenien<br />
das unbewachte Theater während einer Abendvorstellung<br />
überfielen und die Schauspieler und Zuschauer 57 Stunden<br />
lang als Geiseln hielten. Die Geiselnehmer wollten<br />
Präsident Putin dazu zwingen, den zweiten Tschetschenien-Krieg<br />
zu beenden und die Armee aus ihrer Republik<br />
abzuziehen.<br />
Das ist ihnen nicht gelungen. Keiner hat die Armee<br />
333
zurückbeordert. Der Krieg geht weiter wie bisher, ohne<br />
irgendeine Pause, in der über die Richtigkeit der Methoden<br />
der Kriegsführung nachgedacht werden könnte.<br />
Geändert hat sich nur eins : Am frühen Morgen des 26.<br />
Oktober erfolgte gegen alle im Gebäude befindlichen<br />
Menschen, Terroristen wie Geiseln, insgesamt etwa 800<br />
Personen, eine Gasattacke. Das geheime militärische Gas<br />
wählte, wie wir jetzt genau wissen, der Präsident persönlich<br />
aus. Anschließend stürmten spezielle Antiterror-Einheiten<br />
das Theater, was zur Folge hatte, dass alle<br />
Geiselnehmer getötet wurden und fast 200 Geiseln ums<br />
Leben kamen. Viele von ihnen starben ohne medizinische<br />
Hilfe, die Zusammensetzung des Gases wurde sogar<br />
vor den Ärzten, die im Rettungseinsatz waren, streng geheim<br />
gehalten. Aber bereits am gleichen Abend erklärte<br />
Präsident Putin ohne mit der Wimper zu zucken, dass<br />
dies ein Sieg <strong>Russland</strong>s über die »Kräfte des internationalen<br />
Terrorismus« sei.<br />
Der zahlreichen Opfer dieser tödlichen Rettungsaktion<br />
wurde auf dem Fest am 8. Februar kaum gedacht. Es<br />
war nur eine der typischen modernen Moskauer Partys,<br />
auf der anscheinend viele bald vergessen hatten, worauf<br />
eigentlich angestoßen wurde. Sie sangen, tanzten, aßen,<br />
viele waren betrunken, viele redeten großen Unsinn, was<br />
umso zynischer war, weil sich das ganze Spektakel direkt<br />
am Schauplatz eines Massenmordes abspielte. Alle Angehörigen<br />
der Geiseln, die im Zuge der »Nord-Ost«-Tragödie<br />
gestorben waren, lehnten ihre Teilnahme an diesem<br />
Fest kategorisch ab, weil sie es für ein Sakrileg hielten.<br />
334
Auch der Präsident erschien nicht, weil er verhindert war,<br />
doch er schickte eine Grußadresse.<br />
Wozu hat er in seinem Schreiben gratuliert ? Dass<br />
uns keiner in die Knie zwingen kann. Seine Botschaft<br />
war in der typischen sowjetisch-stalinistischen Rhetorik<br />
abgefaßt : Um die Menschen, die gestorben sind, tut es<br />
uns natürlich leid, aber die <strong>In</strong>teressen der Gesellschaft<br />
sind höher zu veranschlagen … Die Produzenten dankten<br />
dem Präsidenten herzlich für sein Verständnis für<br />
ihre kommerziellen Probleme und versicherten, dass die<br />
Zuschauer, wenn sie wiederkämen, »nicht enttäuscht«<br />
sein würden, denn das Musical habe »einen neuen kreativen<br />
Impetus« erhalten.<br />
Aber nun zur Kehrseite der Medaille. Zu den Menschen,<br />
mit deren Leben der Präsident sich als Teil der<br />
internationalen Antiterror-Koalition präsentierte : Wir<br />
werden über jene sprechen, deren Leben keinen ›kreativen<br />
Impetus‹ durch die Ereignisse im »Nord-Ost«-Musicaltheater<br />
erfuhr, sondern deren Leben zerstört wurde,<br />
sowie über jene, deren Leben ein Ende gesetzt wurde –<br />
über die Opfer, die unsere heutige Staatsmaschinerie<br />
möglichst schnell zu vergessen versucht und auch uns<br />
mit allen nur erdenklichen Mitteln dazu bewegen will.<br />
Wir werden über die neue Staatsideologie sprechen, die<br />
eine Gefahr für Leib und Leben der Menschen darstellt.<br />
Und die Putin nicht nur einmal mit folgenden Worten<br />
untermauerte : »Koste es, was es wolle, wir geben nicht<br />
auf. Auch wenn der Preis hoch ist.«<br />
335
DIE ERSTE GESCHICHTE : DER FÜNFTE<br />
Der Moskauer Schüler Jaroslaw Fadejew ist die Nummer<br />
eins in der Liste der Todesopfer. Wie bekannt, lautet die<br />
offizielle Version der Ereignisse, dass die vier Geiseln, die<br />
ihren Schusswunden erlagen, auf jeden Fall durch die<br />
Hand der Terroristen starben. Denn die Spezialeinheit<br />
des FSB, <strong>Putins</strong> eigener, vertrauter Organisation, die das<br />
Theater stürmte, macht keine Fehler und kann folglich<br />
keine der Geiseln getötet haben.<br />
Aber den Fakten kann man nicht widersprechen. <strong>In</strong><br />
Jaroslaws Kopf steckt eine Kugel, allerdings steht sein<br />
Name nicht in der offiziellen Liste der vier von den Terroristen<br />
erschossenen Geiseln. Also ist Jaroslaw der Fünfte<br />
mit einer Kugel. Auf dem amtlichen Totenschein, den<br />
seine Mutter Irina Fadejewa für das Begräbnis bekommen<br />
hat, findet sich in der Spalte »Todesursache« nur<br />
ein Strich. Eine leere Stelle.<br />
Am 18. November 2002 wäre Jaroslaw, Schüler der<br />
zehnten Klasse einer Moskauer Schule, sechzehn Jahre alt<br />
geworden. Ein großes Fest und Geschenke waren geplant,<br />
wie es sich gehört. Stattdessen stand der Großvater, ein<br />
Moskauer Arzt, am Grab des nun für immer fünfzehnjährigen<br />
Jungen und sagte zum Abschied : »Ach, mein<br />
Junge, hast dich nicht einmal rasieren können.«<br />
Sie sind zu viert in die Vorstellung gegangen : Die<br />
Schwestern Irina Fadejewa und Viktorija Kruglikowa<br />
mit ihren Kindern Jaroslaw und Anastassija. Ira, die<br />
Mutter von Jaroslaw, Vika, die Mutter der neunzehn-<br />
336
jährigen Nastja. Ira, Nastja und Vika haben überlebt.<br />
Aber Jaroslaw kam ums Leben. Unter Umständen, die<br />
juristisch bislang nicht geklärt sind.<br />
Nach der Gasattacke und dem Sturm wurden Ira, Vika<br />
und Nastja in bewusstlosem Zustand ins Krankenhaus<br />
eingeliefert, von Jaroslaw fehlte jede Spur. Sein Name<br />
tauchte in keiner Liste auf. Überhaupt gab es keine verlässlichen<br />
offiziellen <strong>In</strong>formationen, unter der Nummer<br />
der Hotline, die von den Behörden in Fernsehen und<br />
Rundfunk durchgegeben wurde, war niemand zu erreichen,<br />
die Verwandten der Geiseln rannten in Moskau<br />
umher. Auch die Freunde unserer Familie waren darunter,<br />
sie durchkämmten die Hauptstadt, die Krankenhäuser<br />
und Leichenhallen.<br />
Schließlich fanden sie in einem »Kühlraum« in der<br />
Cholsunow-Gasse die Leiche Nr. 5714, die Jaroslaw sehr<br />
ähnlich sah. Aber sie fanden keinen Beweis für seine<br />
Identität. <strong>In</strong> der Tasche des Sakkos steckte zwar der Pass<br />
seiner Mutter, aber das Geburtsdatum auf der für Einträge<br />
zu Kindern vorgesehenen Seite stimmte nicht. Dort<br />
stand »Jaroslaw Fadejew, 18. 11. 1988«. Der echte Jaroslaw<br />
war aber Jahrgang 1986.<br />
»Als wir dort im Theater waren«, erzählt Irina Fadejewa<br />
später, »steckte ich meinem Sohn tatsächlich meinen<br />
Pass in die Hosentasche. Vorsichtshalber. Weil er keinen<br />
Ausweis mithatte. Ich hatte solche Angst, dass Jaroslaw,<br />
der sehr groß war und wie ein Achtzehnjähriger aussah,<br />
wegen seiner Größe nicht berücksichtigt werden würde,<br />
falls die Tschetschenen plötzlich anfingen, Kinder und<br />
337
Halbwüchsige freizulassen … Also habe ich mich vorsichtig<br />
unter dem Sessel versteckt und Jaroslaws Geburtsdatum<br />
korrigiert, ihn um zwei Jahre jünger gemacht.«<br />
Irinas Freund Sergej kam am 27. Oktober zu ihr ins<br />
Krankenhaus und erzählte von der Leiche Nr. 5714, vom<br />
Pass und der Ähnlichkeit mit Jaroslaw. Für Irina war<br />
sofort alles klar. Sie floh Hals über Kopf aus dem Krankenhaus,<br />
ohne Winterbekleidung, trotz der starken Kälte.<br />
Denn die Geiseln, die den Sturm auf das Musicaltheater<br />
überlebt hatten und in die Krankenhäuser eingeliefert<br />
worden waren, saßen auch dort fest. Auf Befehl<br />
der Sicherheitsdienste war es ihnen verboten worden,<br />
selbständig und auf eigenen Wunsch das Krankenhaus<br />
zu verlassen, sie durften weder telefonieren noch mit<br />
Familienangehörigen zusammenkommen. Sergej konnte<br />
nur ins Krankenhaus vordringen, weil er alle bestochen<br />
hatte, Krankenschwestern, Wachpersonal, Pfleger, Polizisten<br />
: Unsere totale Korruption öffnet jede noch so fest<br />
verschlossene Tür.<br />
Ira Fadejewa floh. Aus dem Krankenhaus und direkt<br />
zum Leichenschauhaus. Dort zeigte man ihr ein Computerfoto,<br />
sie erkannte Jaroslaw und bat darum, die Leiche<br />
zu bringen, tastete den Körper ihres Sohnes ab und<br />
entdeckte zwei Schusslöcher im Kopf. Ein Eintrittsloch<br />
und ein Austrittsloch. Beide Löcher waren mit Wachs<br />
zugestopft. Sergej, der Irina begleitete, wunderte sich<br />
sehr, weil sie äußerlich ganz ruhig blieb, nicht schluchzte,<br />
keinen hysterischen Anfall bekam, sondern vernünftig<br />
und ohne Emotionen redete.<br />
338
»Ich war tatsächlich sehr froh, dass ich ihn endlich gefunden<br />
hatte«, erzählt Irina Fadejewa. »Während ich im<br />
Krankenhaus lag, hatte ich über alles Mögliche nachgedacht,<br />
alle Varianten erwogen. Auch was ich tun würde,<br />
falls mein Sohn tot sein sollte. Als mir im Leichenschauhaus<br />
bewusst wurde, dass es sich wirklich um Jaroslaw<br />
handelte und damit mein Leben zu Ende war, tat ich nur<br />
das, was ich vorher beschlossen hatte. Ich bat alle ruhig,<br />
den Raum zu verlassen. Sagte, dass ich mit meinem<br />
Sohn allein bleiben wolle. Das hatte ich mir extra vorgenommen.<br />
Ich hatte ihm doch etwas versprochen. <strong>In</strong> der<br />
letzten Nacht, einige Stunden vor der Gasattacke, hatte<br />
er zu mir gesagt : ›Mama, ich schaffe es vielleicht nicht,<br />
ich habe keine Kraft mehr … Mama, wenn etwas passiert,<br />
was wird dann sein ?‹ Und ich hatte geantwortet :<br />
›Habe keine Angst. Wir waren hier immer zusammen,<br />
wir werden es auch dort sein.‹ Und er : ›Mama, und wie<br />
werde ich dich dort erkennen ?‹ Ich hatte erwidert : ›Ich<br />
halte dich doch die ganze Zeit an der Hand, wir werden<br />
auch dorthin zusammen gehen, weil wir uns an den<br />
Händen halten. Wir werden uns nicht verlieren. Lass nur<br />
nicht los, halte mich fest.‹ Und was ist geschehen ? Ich<br />
habe ihn betrogen ! Wir haben uns doch nie getrennt.<br />
Nie. Deswegen war ich so ruhig. Hier im Leben waren<br />
wir zusammen, und auch im Tod würden wir zusammen<br />
sein. Als ich dann mit ihm allein im Leichenschauhaus<br />
war, sagte ich zu ihm : ›Mach dir keine Sorgen, ich habe<br />
dich gefunden. Und werde gleich bei dir sein.‹ Es war<br />
noch nie vorgekommen, dass wir getrennt waren oder<br />
339
ich ihn angelogen hatte. Immer und überall zusammen.<br />
Deswegen war ich so ruhig damals … Ich ging durch<br />
einen Seiteneingang hinaus, um nicht auf die Freunde<br />
zu treffen, die auf mich warteten. Auf der Straße hielt<br />
ich ein Auto an, fuhr bis zur nächsten Moskwabrücke<br />
und sprang ins Wasser. Aber ich bin nicht ertrunken.<br />
Im Fluss waren Eisschollen, und ich geriet dazwischen.<br />
Ich kann nicht schwimmen, aber das Wasser hielt mich<br />
irgendwie. Dann waren plötzlich wie zum Trotz Menschen<br />
da und zogen mich heraus. Fragten : ›Wo kommst<br />
du denn her ? Wieso schwimmst du hier ?‹ Ich antwortete :<br />
›Ich komme aus dem Leichenschauhaus. Verratet mich<br />
nicht.‹ Ich gab ihnen die Telefonnummer, die sie anrufen<br />
sollten, und dann holte mich Sergej ab. Ich reiße mich<br />
natürlich mit aller Kraft zusammen, aber ich bin tot. Ich<br />
weiß nicht, wie es ihm dort ohne mich geht.«<br />
Als sie am 26. Oktober, nach der Erstürmung des<br />
»Nord-Ost«-Musicaltheaters, im Krankenhaus zu sich<br />
kam, entdeckte Irina Fadejewa, dass sie nackt unter der<br />
Decke lag. Die anderen weiblichen Geiseln trugen ihre<br />
Kleider, nur sie nicht, sie hielt nur eine kleine Ikone<br />
in der Hand. Als sie wieder sprechen konnte, bat sie<br />
die Krankenschwestern, ihr wenigstens irgendetwas von<br />
ihrer Bekleidung zu geben. Aber sie erklärten ihr, dass<br />
alles, was sie getragen hatte, als sie vom Musicaltheater<br />
hierher gebracht worden war, auf Befehl der Mitarbeiter<br />
der Sicherheitsdienste vernichtet worden war, weil ihre<br />
Kleidung mit Blut getränkt gewesen war.<br />
Aber warum ? Und wessen Blut war das ? Und woher<br />
340
kam das Blut, wenn dort offiziell nur Gas eingesetzt worden<br />
war ? Hatte sie das Bewusstsein verloren, als sie ihren<br />
Sohn fest umklammerte ? Das heißt also, dass er erschossen<br />
worden war. Das heißt, es war Jaroslaws Blut.<br />
»<strong>In</strong> der letzten Nacht war anfangs Unruhe im Raum«,<br />
erinnert sich Irina Fadejewa. »Die Terroristen waren nervös.<br />
Aber dann erklärte ihr Anführer Mowsar Barajew,<br />
den wir Mozart nannten, wir sollten uns bis elf Uhr vormittags<br />
entspannen, es gäbe einen Schimmer Hoffnung.<br />
Die Tschetschenen begannen, Getränke zu verteilen, die<br />
sie uns zuwarfen. Denn wir durften nicht aufstehen, und<br />
wenn man etwas brauchte, musste man die Hand heben.<br />
Als der Angriff begann und wir sahen, wie die Terroristen<br />
auf der Bühne herumrannten, sagte ich zu meiner<br />
Schwester : ›Decke Nastja mit der Jacke zu.‹ Ich umarmte<br />
Jaroslaw ganz fest. Im ersten Augenblick begriff ich nicht,<br />
dass es eine Gasattacke war, ich sah nur, dass die Terroristen<br />
nervös wurden. Da Jaroslaw größer war als ich,<br />
bedeckte er mich faktisch mit seinem Körper, als ich ihn<br />
umarmte. Dann verlor ich das Bewusstsein … Später, im<br />
Leichenschauhaus, sah ich das Eintrittsloch der Kugel. Ich<br />
musste mich also hinter ihm versteckt haben. Sein Kopf<br />
hat die Kugel abgefangen. Er hat mich gerettet … Obwohl<br />
ich es war, die die ganzen siebenundfünfzig Stunden in<br />
Geiselhaft davon geträumt hatte, ihn zu retten.«<br />
Aber wer hat den Schuss abgegeben ? Die Terroristen ?<br />
Oder die eigenen Leute ? Ist überhaupt eine ballistische<br />
Expertise durchgeführt worden ? Und mit welchen Ergebnissen<br />
? Und hat man eine biochemische Untersuchung<br />
341
des Bluts auf den Kleidern veranlasst, um festzustellen,<br />
von wem es stammt ?<br />
Keiner in der Familie weiß eine Antwort auf diese<br />
Fragen. Alle Unterlagen werden streng geheim gehalten,<br />
sogar vor der Mutter. Im Sterberegister des Leichenschauhauses<br />
stand zwar, dass die Todesursache eine Schusswunde<br />
war, aber der Eintrag war mit Bleistift geschrieben.<br />
Später wurde auch dieses Buch zur Verschlusssache<br />
erklärt, und man weiß nicht, ob in der Folge die Bleistiftnotiz<br />
ausradiert wurde oder nicht. Die Familie ist sich<br />
der Sache sicher : »Sie wurde natürlich entfernt.«<br />
»Zuerst dachte ich, es war eine von den Tschetscheninnen«,<br />
erzählt Irina Fadejewa. »Solange wir dort saßen,<br />
war sie immer in der Nähe, sah, dass ich, sobald<br />
es gefährlich wurde, bei Lärm, Geschrei, sofort meinen<br />
Sohn packte und ihn festhielt. Ich dachte, dass ich selbst<br />
schuld war, weil ich sie auf uns aufmerksam gemacht<br />
hatte. Mir schien, dass sie uns die ganze Zeit über beobachtete.<br />
Einmal stellte sie sich neben uns und sagte,<br />
während sie Jaroslaw anstarrte : ›Und meiner ist dort geblieben.‹<br />
<strong>In</strong> Tschetschenien, meinte sie. Danach ist uns<br />
zwar nichts passiert, aber ich glaube, sie beobachtete uns<br />
unentwegt. Hat sie vielleicht auf Jaroslaw geschossen ? Ich<br />
kann auch heute noch nicht schlafen. Immerzu sehe ich<br />
ihre Augen, den schmalen Streifen, der von ihrem Gesicht<br />
zu sehen war …«<br />
Später werden Iras Freunde ihr erklären, dass das<br />
Eintrittsloch nicht der Größe einer Pistolenkugel entspricht.<br />
Und die Tschetscheninnen waren nur mit Pis-<br />
342
tolen bewaffnet. Also bleibt die Frage : Von wem war die<br />
Kugel ? Wer hat geschossen ?<br />
»Unsere Leute müssen es gewesen sein«, sagt Ira. »Wir<br />
hatten nämlich sehr ungünstige Plätze. Vom Standpunkt<br />
der Geiseln aus betrachtet. Wir saßen außen, direkt<br />
neben den Türen. Und hatten Pech. Als die Terroristen<br />
in den Zuschauerraum stürmten, waren wir die Ersten,<br />
auf die ihr Blick fiel. Und auch als unsere Leute kamen,<br />
waren wir die Ersten auf ihrem Weg.«<br />
Irina Fadejewa kann sich den Kopf zerbrechen, solange<br />
sie will. Ihr Standpunkt und ihre Mutmaßungen sind<br />
den Behörden gleichgültig. Die offizielle Position lautet :<br />
Vier Tote durch Schusswaffen und nicht einer mehr. Jaroslaw<br />
wäre der fünfte Tote, doch der ist in der offiziellen<br />
Statistik nicht vorgesehen. Deswegen gähnt in Jaroslaws<br />
Totenschein an der Stelle, wo die Todesursache vermerkt<br />
sein sollte, eine feige Leere. Und deshalb wurde Jaroslaw<br />
im Strafverfahren Nr. 229133, dem so genannten »Nord-<br />
Ost-Strafverfahren«, das die Moskauer Staatsanwaltschaft<br />
eingeleitet hatte, offiziell nicht als Opfer anerkannt. Als<br />
wäre er nicht unter den Geiseln gewesen …<br />
»Mich bringt es um, dass Jaroslaw gelebt hat, aber<br />
die Behörden jetzt so tun, als hätte dieser Mensch nie<br />
existiert«, sagt Ira.<br />
Mehr noch. Als sich Irina Fadejewa mit ihrem Verdacht,<br />
ihren Zweifeln und offenen Fragen an einige Journalisten<br />
wandte, wurde sie sofort vor die Staatsanwaltschaft<br />
zitiert. Der Untersuchungsrichter fuhr sie erzürnt<br />
343
an : »Wollen Sie hier einen Skandal vom Zaun brechen ?<br />
Begreifen Sie nicht, es ist unmöglich, dass er erschossen<br />
wurde.« Und er jagte der armen Mutter, die sich ohnehin<br />
schon in einem entsetzlichen moralischen Zustand<br />
befand, noch ordentlich Angst ein : »Entweder Sie geben<br />
sofort eine schriftliche Erklärung ab, dass Sie nichts<br />
dergleichen zu Journalisten gesagt und diese alles selbst<br />
erfunden haben, in diesem Fall werden wir die Journalisten<br />
wegen Verleumdung der Sicherheitsdienste verklagen,<br />
oder wir exhumieren ohne Ihre Erlaubnis die Leiche<br />
Ihres Sohnes !«<br />
Ira ging auf diese gemeine Erpressung nicht ein und<br />
dementierte nichts.<br />
Irina Fadejewas Leben hat sich völlig verändert. Sie geht<br />
nicht mehr zur Arbeit und hat selbst gekündigt, weil sie<br />
nicht mehr wie zu Jaroslaws Lebzeiten tagtäglich dorthin<br />
gehen kann, denn auch an ihrer Arbeitsstelle erinnert<br />
sie alles an ihren Sohn. Die Kollegen hatten ein sehr<br />
gutes Verhältnis zueinander, wussten viel voneinander,<br />
feierten zum Beispiel mit Ira jede Prüfung, die Jaroslaw<br />
bestanden hatte.<br />
»Alle wussten, dass Jaroslaw mein Lebensinhalt war.<br />
Mein Dasein war so von ihm ausgefüllt, dass meine<br />
Kollegen mich nur im Zusammenhang mit ihm wahrgenommen<br />
haben.« Ira weint. »Und auch ich habe mich<br />
so gesehen. Nur in Bezug auf ihn.«<br />
Derzeit kann sie auch nicht durch Moskau spazieren,<br />
weil sie alles an ihn erinnert.<br />
344
»Als ich über den Arbat fuhr, wäre ich am liebsten im<br />
Erdboden versunken. An dieser Ecke standen Jaroslaw<br />
und ich einmal zusammen, in diesem Kino waren wir,<br />
in dem Kaffeehaus … Ich habe jetzt Angst, das Haus zu<br />
verlassen. Habe Angst, an einen Ort zu kommen, an dem<br />
wir zusammen waren. Aber wir waren überall in Moskau.<br />
Oft sind wir einfach so herumgefahren. Ich holte<br />
ihn nach der Arbeit mit dem Auto ab, wir schalteten das<br />
Radio ein und fuhren durch die Stadt. Oft gingen wir in<br />
ein kleines Geschäft, um etwas Leckeres zu kaufen. Hier<br />
habe ich Fahrkarten. Für den Zug nach Sankt Petersburg.<br />
Denn in der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober,<br />
der Nacht, in der er starb, hatten wir eigentlich nach<br />
Sankt Petersburg zu einem Tennisturnier fahren wollen.<br />
Zu zweit. Lange schon wollte ich eine Zugreise mit ihm<br />
machen, weil ich immer das Gefühl hatte, dass wir zu<br />
wenig miteinander redeten. Und unterwegs, allein im<br />
Abteil, hätten wir uns ausführlich unterhalten können …<br />
Aber daraus wurde nichts.«<br />
Auf die Frage, warum sie den Eindruck hatte, dass<br />
sie und ihr Sohn zu wenig miteinander redeten, antwortet<br />
sie :<br />
»Ich weiß es nicht. So ein komisches Gefühl. Obwohl<br />
wir viel miteinander sprachen, kam es mir immer so vor.<br />
Ich wollte ohne Unterlass mit ihm reden. <strong>In</strong> den Ferien<br />
sind wir immer zusammen verreist. <strong>In</strong> letzter Zeit dachte<br />
ich manchmal, dass ihm meine Liebe lästig wurde. Mir<br />
hat er das natürlich nicht gesagt, aber meiner Mutter<br />
gegenüber eine Andeutung gemacht. Meine Liebe wurde<br />
345
ihm langsam zu viel. Ich versuche mich jetzt am Riemen<br />
zu reißen, weil ich noch meine Eltern habe. Auch für sie<br />
ist es ein Schock, sie haben Jaroslaw doch großgezogen.<br />
Ich gebe mir wirklich Mühe zu leben, aber trotzdem<br />
fühle ich mich wie tot.«<br />
Die vor dem Terroranschlag entstandenen Fotos zeigen<br />
uns eine schöne, selbstbewusste, glückliche, etwas mollige,<br />
sehr junge Frau. Jetzt ist sie eine abgemagerte,<br />
schmale, verunsicherte, nicht mehr junge Person, mit<br />
Verzweiflung im erloschenen Blick. Trägt immer einen<br />
schwarzen Mantel, eine schwarze Baskenmütze, schwarze<br />
Schuhe und schwarze Strümpfe, friert ständig und legt<br />
ihren Mantel auch im Zimmer nicht ab.<br />
»Jaroslaw und ich waren oft im Theater. An diesem<br />
Abend hatten wir Karten für eine andere Vorstellung in<br />
einem anderen Theater«, fährt Irina Fadejewa fort. »Wir<br />
waren bereits angezogen, Vika und Nastja kamen uns<br />
abholen, aber als wir im Korridor standen, bemerkten<br />
wir, dass die Karten für die Vorstellung vom Vortag<br />
waren. Jaroslaw freute sich, er wollte zu Hause bleiben,<br />
aber ich insistierte : ›Gehen wir doch zu »Nord-Ost«, das<br />
ist ganz in der Nähe !‹ Wir wohnen nicht weit von der<br />
Dubrowka entfernt. So war es, ich habe ihn mit ins Theater<br />
geschleppt, und dann habe ich ihn noch nicht einmal<br />
mit meinem Körper gedeckt. Er hat mich geschützt,<br />
ich aber habe ihn im entscheidenden Augenblick nicht<br />
gerettet. Es ist schrecklich, wenn man für den eigenen<br />
Sohn das Wichtigste nicht tun kann. Denn dort war mir<br />
346
eines klar : Selbst wenn ich aufstehe und sage : ›Tötet mich<br />
an seiner Stelle !‹, und sie bringen mich um, heißt das<br />
noch lange nicht, dass sie ihn am Leben lassen. Verstehen<br />
Sie, wie grauenvoll das ist ? Das Letzte, was er zu mir<br />
sagte, war : ›Mama, ich möchte dich so gern ganz klar im<br />
Gedächtnis behalten, wenn etwas passiert.‹ Und sah mich<br />
dabei ganz aufmerksam an, das war der Abschied.«<br />
»Solange ich Jaroslaw hatte, erwachte ich morgens als<br />
die glücklichste Frau auf der ganzen Welt. Mit demselben<br />
Gefühl schlief ich auch ein. Ich glaubte, dass mich alle<br />
Menschen um meinen wunderbaren Sohn beneiden. Alle<br />
Leute haben viele Probleme in ihrem Leben, die habe ich<br />
natürlich auch. Aber durch ihn rückten meine Probleme<br />
in den Hintergrund. Ich glaube jetzt, dass man nicht so<br />
glücklich sein darf. Die ganzen fünfzehn Jahre seines<br />
Lebens über war ich die glücklichste Frau der Welt. Ich<br />
kam von der Arbeit nach Hause und dachte, ich müsste<br />
einfach vor Glück platzen, nur weil es ihn gibt. Wenn wir<br />
über die Straße liefen, fasste ich immer nach seiner Hand.<br />
Als er älter wurde, sagte er : ›Mama, du übertreibst.‹ Er<br />
fing an, sich für mich zu schämen. Das ist verständlich<br />
in diesem Alter, aber er hat mir nie wehgetan. Natürlich,<br />
jede Mutter spricht so über ihren Sohn, aber meiner ist<br />
nicht mehr da. Und ich weiß, es gibt nichts Schlimmeres.<br />
Ich erinnere mich noch, wie ich früher geredet habe : ›Was<br />
für ein Glückspilz bin ich, weil er geboren wurde.‹ Und<br />
jetzt ist er tot, und ich bin allein. Ich kann noch nicht<br />
leben ohne ihn. Ich bin mit ihm so glücklich gewesen<br />
und habe ihm ein so schreckliches Ende bereitet.«<br />
347
Sie schluchzt.<br />
»Dieser Krieg ist schuld. Der Krieg geht weiter«, sagt<br />
Irina Fadejewa immer wieder. »Jetzt hat er auch uns<br />
erwischt.«<br />
Sie bringt es auf den Punkt. Die Schicksale der einzelnen<br />
Menschen hängen von der gesellschaftlichen Situation<br />
im Land ab. So sind die Umstände in <strong>Russland</strong> : Der<br />
Präsident bleibt hart, er führt den Krieg weiter.<br />
DIE ZWEITE GESCHICHTE : NUMMER 2551 – DER UNBEKANNTE<br />
Die Gerichte waren bei uns nie wirklich unabhängig, obwohl<br />
unsere Verfassung das eigentlich vorschreibt. Doch<br />
unter Putin steuert die russische Gerichtsbarkeit auf eine<br />
absolute Abhängigkeit von der Exekutive zu. Meistens<br />
fällt ein Richter das Urteil, das ihm irgendein Vertreter<br />
der Exekutive zuvor am Telefon diktiert hat. Dies ist<br />
ein ganz alltägliches Phänomen in <strong>Russland</strong>. Falls ein<br />
Richter jedoch einmal ein unabhängiges Urteil spricht,<br />
empfinden die Leute das als Heldentat.<br />
Die Opfer von »Nord-Ost«, wie man sie in <strong>Russland</strong><br />
jetzt nennt, also die Familien, die ihre Angehörigen bei<br />
der Tragödie verloren, sowie die Geiseln, die den Gaseinsatz<br />
vom 26. Oktober nur als <strong>In</strong>validen überlebten, gingen<br />
vor Gericht. Um den Staat, das heißt die Moskauer<br />
Stadtregierung, als Verantwortliche auf Schadenersatz<br />
zu verklagen. Die Opfer sind der Auffassung, dass die<br />
Beamten der Moskauer Regierung es unterlassen haben,<br />
348
eine schnelle und adäquate Hilfe für die Betroffenen<br />
zu organisieren, um einen Konflikt mit Putin und dem<br />
FSB zu vermeiden. Was die direkte Verantwortung der<br />
Stadtregierung für das Geschehene noch unterstreicht, ist<br />
die Tatsache, dass Juri Luschkow, der Moskauer Bürgermeister<br />
und Chef der städtischen Exekutivgewalt, eine<br />
der wenigen Personen ist, die Präsident Putin zu der<br />
Entscheidung gedrängt haben, beim Sturmangriff chemische<br />
Waffen gegen die Menschen einzusetzen.<br />
Im November 2002 wurden im Twersker Stadtbezirksgericht<br />
in Moskau die ersten Klagen eingereicht. Zu Beginn<br />
des ersten Verfahrens, das die Richterin Marina<br />
Gorbatschowa am 17. Januar 2003 eröffnete, lagen insgesamt<br />
einundsechzig Klagen vor. Die Summe des geforderten<br />
Schadenersatzes betrug 60 Millionen Dollar.<br />
Die Kläger erklärten, dies wäre der Preis für »die Lügen<br />
des Staates«, denn sie wollten in erster Linie »die Wahrheit<br />
darüber erfahren, warum ihre Angehörigen sterben<br />
mussten«. Eine Wahrheit, die ihnen nirgends gesagt<br />
wurde, weil der FSB alles streng geheim hält, was mit<br />
dem Terrorattentat im Oktober zu tun hat. Da Putin als<br />
ehemaliger Geheimdienstler aber seine schützende Hand<br />
über den FSB hält, kam es im Vorfeld der Verhandlungen<br />
in den staatlichen Medien zu einer hemmungslosen<br />
Propaganda gegen die Kläger. Ihnen wurde unterstellt,<br />
auf unverschämte Weise den Staatshaushalt plündern, für<br />
Rentner und Waisenkinder vorgesehene Mittel kassieren<br />
und sich am Tod ihrer Familienangehörigen bereichern<br />
zu wollen. Der Rechtsanwalt Igor Trunow, der sich dazu<br />
349
ereit erklärt hatte, die Opfer von »Nord-Ost« zu verteidigen<br />
(alle berühmten Moskauer Anwälte hatten dies<br />
nämlich aus Angst vor dem Zorn des Kreml abgelehnt),<br />
wurde sämtlicher Todsünden beschuldigt, und in den<br />
Medien wurde kübelweise Dreck über ihn ausgeschüttet.<br />
Kurz gesagt, die Behörden verteidigten sich frech und<br />
aggressiv und entfachten eine gewaltige PR-Kampagne<br />
gegen die »Nord-Ost«-Kläger.<br />
Als wären sie selbst die Opfer.<br />
Am 23. Januar wies Marina Gorbatschowa, wie es sich<br />
für unsere hörigen Richter gehört, die drei ersten Klagen<br />
ab, unter Berufung auf irgendeinen formalen Punkt in<br />
unserem Gesetzbuch. Angeblich wiesen die Abschnitte<br />
im Paragrafen über »den Kampf gegen den Terrorismus«<br />
Widersprüche auf und ließen unterschiedliche Lesarten<br />
zu. Eine Formulierung könne man so interpretieren, dass<br />
der Staat nicht dazu verpflichtet sei, Opfern von Anschlägen<br />
Schadenersatz zu zahlen. Und sie wies die Klagen<br />
nicht nur einfach ab, sondern tat dies genauso frech,<br />
unverschämt und aggressiv wie die Behörden, in deren<br />
Auftrag sie handelte. Die Gerichtsverhandlungen dienten<br />
dazu, die »Nord-Ost«-Kläger auf unzulässige Weise zu<br />
beleidigen und zu erniedrigen.<br />
Einige kurze Aufzeichnungen aus der Verhandlung vom<br />
23. Januar können dem Leser einen Eindruck vermitteln,<br />
was sich im Gerichtssaal abspielte :<br />
»Karpow, nehmen Sie Platz ! Ich sagte, setzen Sie sich !«<br />
»Ich möchte auch etwas sa…«<br />
350
Die Richterin Gorbatschowa unterbrach mit einem<br />
Schrei den Kläger Sergej Karpow, Vater von Alexander<br />
Karpow, einem bekannten Moskauer Sänger, Dichter und<br />
Übersetzer, der durch das Gas erstickt war.<br />
»Setzen Sie sich, Karpow ! Sonst lasse ich Sie aus dem<br />
Saal entfernen ! Sie haben das Studium der Unterlagen<br />
geschwänzt.«<br />
»Habe ich nicht ! Man hat mir einfach keine Vorladung<br />
geschickt !«<br />
»Und ich sage, Sie haben geschwänzt ! Setzen Sie sich !<br />
Oder ich lasse Sie entfernen !«<br />
»Ich möchte etwas einreichen …«<br />
»Ich werde von Ihnen nichts annehmen !«<br />
Die Richterin verzog hysterisch das Gesicht, ihre Augen<br />
waren leer, ihre schrille Stimme überschlug sich wie<br />
die einer Marktfrau. Gleichzeitig säuberte sie ihre Fingernägel.<br />
Ein unglaublicher Anblick. Die Maßregelung<br />
von Sergej Karpow ging weiter :<br />
»Karpow, Sie brauchen gar nicht mehr die Hand zu<br />
heben !«<br />
»Ich bitte darum, mir endlich meine Rechte zu erklären<br />
!«<br />
»Keiner hier wird Ihnen etwas erklären !«<br />
Der seit langem nicht mehr geputzte Gerichtssaal war<br />
voll. Journalisten, denen man verboten hatte, die Aufnahmegeräte<br />
einzuschalten. (Warum eigentlich ? Um welche<br />
Staatsgeheimnisse handelte es sich denn hier ?) Die Opfer<br />
mit ihren zermarterten Seelen – man wagte nicht einmal,<br />
351
sie anzusprechen, weil sie sofort in Tränen ausbrachen ;<br />
ihre Verwandten und Freunde, die gekommen waren,<br />
um Beistand zu leisten, falls jemand bewusstlos werden<br />
oder einen Herzanfall bekommen sollte. Aber die Dame<br />
in der schwarzen Robe steigerte ihre Grobheit noch.<br />
»Chramzowa W. I., Chramzowa I. F., Chramzow ! Haben<br />
Sie etwas zu sagen ? Nein ?«<br />
Die Richterin nannte nur die <strong>In</strong>itialen der Kläger, rief<br />
sie nicht mit Vor- oder Vatersnamen auf.<br />
»Ich habe etwas zu sagen«, antwortete ein großer,<br />
schlanker, junger Mann.<br />
»Chramzow ! Sprechen Sie !«<br />
Die Richterin artikulierte dieses »Sprechen Sie !« in<br />
einem Ton, als würde sie einem Bettler unwirsch ein<br />
Almosen geben.<br />
Alexander Chramzow, der seinen Vater, Trompeter im<br />
Musicalorchester, verloren hatte, begann mit tränenerstickter<br />
Stimme zu sprechen :<br />
»Mein Vater hat mit verschiedenen Orchestern die<br />
ganze Welt bereist. Hat unser Land und unsere Stadt<br />
überall vertreten. Sein Tod ist ein schrecklicher Verlust.<br />
Spüren Sie das nicht ? Die Moskauer Behörden haben<br />
keinerlei Schutzmaßnahmen gegen Terroristen getroffen.<br />
Die konnten hier unbehelligt umher spazieren. Ja,<br />
für den Sturmangriff trägt die Stadt keine Verantwortung.<br />
Aber warum wurden vierhundert Menschen ins<br />
Krankenhaus Nr. 13 eingeliefert, obwohl es dort zu wenig<br />
Personal gab, nur fünfzig Leute, die komplett über-<br />
352
fordert waren ? Die Menschen starben, noch ehe sie Hilfe<br />
erhalten hatten … Auch mein Vater …«<br />
Die Richterin, die auf ihrem Stuhl thronte, wirkte<br />
völlig abwesend. Kein Hinweis darauf, dass sie zuhörte.<br />
Auch die Worte darüber, wie der Musiker Fjodor Chramzow<br />
gestorben war, berührten sie nicht. Um irgendwie<br />
die Zeit totzuschlagen, schob sie gelangweilt Papiere hin<br />
und her, sah ab und zu zum Fenster, korrigierte den<br />
Sitz ihres Kragens, schielte wieder auf das dunkle Fenster,<br />
kratzte sich am Ohr, das sie wahrscheinlich wegen<br />
des Ringes darin juckte. Und der Sohn redete weiter.<br />
Sprach zu den drei Beklagten an einem Seitentisch, den<br />
»Repräsentanten der Stadt Moskau«, Angestellten der<br />
Justizverwaltung der Stadtregierung. An wen sollte sich<br />
Alexander Chramzow sonst wenden ? Etwa an die Richterin,<br />
die ihre gepflegten Fingernägel betrachtete ?<br />
»Warum hat man nicht wenigstens Medizinstudenten<br />
in die Krankenhäuser beordert, wenn es einen solchen<br />
Mangel an Ärzten gab ? Oder zumindest in die Busse, mit<br />
denen die Geiseln in die Hospitäler gebracht wurden ?<br />
Sie hätten sich unterwegs um sie kümmern können. Sie<br />
starben doch, weil sie auf dem Rücken lagen !«<br />
»Chramzow !«, unterbrach ihn die Richterin nervös.<br />
»Wo schauen Sie hin ? Sie müssen mich ansehen !«<br />
»Schon gut«, Alexander Chramzow wendete den Kopf in<br />
Richtung des Richterstuhls. »Sie erstickten auf dem Weg<br />
ins Krankenhaus, sie erstickten während der Fahrt …«<br />
Alexander Chramzow weinte. Wie sollte man auch so<br />
etwas aushalten ?<br />
353
Hinter ihm weinte seine Mutter, Valentina Chramzowa,<br />
die Ehefrau des Trompeters. Schwarz gekleidet<br />
saß sie in der ersten Reihe, knapp hinter dem kleinen<br />
Podest für die Vorgeladenen, auf dem Alexander Chramzow<br />
stand. Ausgeschlossen, dass die Richterin sie nicht<br />
sah. Neben Valentina Chramzow saß Olga Milowidowa,<br />
das Gesicht in einem Tuch verborgen, ihre Schultern<br />
zuckten, aber sie unterdrückte das Weinen, damit ihr<br />
kein Laut entkam. Die Kläger wussten, dass man die<br />
Richterin nicht ärgern durfte, sie könnte überhaupt alle<br />
hinausjagen. Dann musste man mehrere Stunden vor<br />
geschlossenen Türen stehen, was sehr anstrengend war.<br />
Olga war im siebenten Monat schwanger, ihre älteste<br />
Tochter Nina war im Zuschauerraum des Musicaltheaters<br />
gestorben. Olga Milowidowa hatte ihr die Karte gekauft,<br />
und das Mädchen war am 23. Oktober zu dieser<br />
»verdammten Aufführung« gegangen, wie Olga Milowidowa<br />
heute sagt.<br />
»Warum erniedrigen Sie uns ?«, rief Tatjana Karpowa,<br />
die Mutter des verstorbenen Alexander und Frau von<br />
Sergej. »Warum ?« Soja Tschernezowa, die Mutter des<br />
einundzwanzigjährigen Danila, eines Studenten, der im<br />
Theater als Platzanweiser gearbeitet hatte und infolge des<br />
Gases erstickt war, stand auf und verließ den Saal. Jenseits<br />
der Eingangstür hörte man ihr lautes, verzweifeltes<br />
Weinen : »Ich sollte Großmutter werden …« Ihre schwangere<br />
Schwiegertochter hatte am neunten Tag nach Danilas<br />
Begräbnis eine Fehlgeburt erlitten. »Und bekommen<br />
habe ich einen Prozess, in dem ich schikaniert werde.«<br />
354
Wie dem nackten König das Kleid, fehlt uns so etwas wie<br />
eine Gerichtskultur. Und ein unabhängiges Rechtswesen.<br />
Wie wir am Beispiel der Richterin Gorbatschowa sehen.<br />
Gut, sie arbeitet für den Staat, hat Angst, ihre beruflichen<br />
Begünstigungen zu verlieren. Deswegen kann sie<br />
sich auch nicht für die Opfer des Anschlags einsetzen,<br />
muss ihre Forderungen zur Gänze zurückweisen. Schon<br />
möglich …<br />
Aber wozu die Grobheit ? Die Schikanen ? Die Erniedrigungen<br />
? Warum beleidigt sie die ohnehin schon Geschädigten<br />
? Wer ist denn eigentlich die Richterin Gorbatschowa,<br />
die mit solchem Einsatz die öffentlichen Gelder<br />
verteidigt ? Auf den ersten Blick ist die Antwort ganz<br />
einfach. Sie ist die Vertreterin eines Machtbereichs, den<br />
wir Bürger mit unseren Steuern finanzieren. Die Richterin<br />
lebt also ausschließlich von unserem Geld, wir bezahlen<br />
sie, und nicht etwa sie uns. Warum hat sie dann<br />
keinen Respekt vor dem Steuerzahler ? Wir finanzieren<br />
die Richterin Gorbatschowa doch nicht, damit sie uns<br />
beleidigt, statt uns mit Dankbarkeit und Achtung zu<br />
begegnen.<br />
Sie denken, dass die staatlichen Medien darüber berichtet<br />
haben ? Selbstverständlich nicht. Tag für Tag<br />
wurde die Öffentlichkeit darüber informiert, dass die<br />
Richterin Gorbatschowa die volle Unterstützung der Obrigkeit<br />
genießt, Recht hat und die <strong>In</strong>teressen des Staates<br />
schützt, die höher zu veranschlagen sind als die privaten.<br />
Dies ist die neue Ideologie unseres Landes. Die Putin’sche<br />
Ideologie. Zuerst wurde sie in Tschetschenien<br />
355
erprobt. Damals, als Putin mit den dröhnenden Geschossen<br />
des zweiten Tschetschenien-Krieges als Begleitmusik<br />
den Thron im Kreml bestieg, beging unsere Gesellschaft,<br />
in ihrem traditionellen Unwillen zur Reflexion,<br />
einen tragischen und absolut unmoralischen Fehler : Sie<br />
ignorierte die reale Situation in Tschetschenien, die Tatsache,<br />
dass nicht Terroristenlager bombardiert wurden,<br />
sondern Städte und Dörfer, dass Hunderte unschuldiger<br />
Menschen starben. Damals wurde sich die Mehrheit der<br />
in Tschetschenien lebenden Menschen ihrer hoffnungslosen<br />
und ausweglosen Lage bewusst. Ohne Angabe von<br />
Gründen verschleppte man ihre Kinder, Väter, Brüder –<br />
keiner weiß, wohin. Und die militärischen und zivilen<br />
Machthaber sagten (und sagen auch jetzt) den Familien :<br />
»Vergesst es. Schluss. Ihr braucht nicht zu suchen. Die<br />
höheren <strong>In</strong>teressen des Krieges gegen den Terrorismus<br />
verlangen das so.«<br />
Die Gesellschaft hat drei Jahre geschwiegen – oder<br />
so gut wie geschwiegen. Die überwiegende Mehrheit<br />
verfolgte die Ereignisse in Tschetschenien herablassend.<br />
Zynisch ignorierte man die Meinung von Leuten, die<br />
einen Bumerangeffekt prophezeiten und sagten, dass<br />
sich die Staatsmacht bald auch in anderen Regionen des<br />
Landes ganz wie in Tschetschenien aufführen werde.<br />
Wir haben es mit dem alten Muster zu tun. Die Opfer<br />
des Terroranschlags und die Angehörigen der Toten<br />
bekommen den bekannten Satz zu hören : »Vergesst es.<br />
Die <strong>In</strong>teressen des Staates sind höher zu bewerten als<br />
eure privaten.« Das heißt, der Staat verhält sich gegenü-<br />
356
er den Opfern von »Nord-Ost« genau so, wie er es im<br />
Verlauf von mehr als drei Jahren der zivilen Bevölkerung<br />
in Tschetschenien gegenüber getan hat. Vielleicht um<br />
eine Spur besser. Wenigstens spendierte er fünfzig- oder<br />
hunderttausend Rubel fürs Begräbnis. <strong>In</strong> Tschetschenien<br />
gibt es nicht einmal das.<br />
Und die Gesellschaft ? Unser Volk ? Im Großen und<br />
Ganzen zeigt es kein Mitleid, Mitleid in Form einer<br />
öffentlichen Bewegung, eines sichtbaren Protests, den<br />
die Machthaber nicht ignorieren könnten. Im Gegenteil.<br />
Die demoralisierte Gesellschaft wünscht sich Komfort<br />
und Ruhe auf Kosten des Lebens anderer Menschen.<br />
Deshalb läuft sie vor der »Nord-Ost«-Tragödie davon<br />
und vertraut eher der Gehirnwäsche des Staates (das ist<br />
einfacher) als der Wahrheit oder einem Nachbarn, der<br />
in so eine entsetzliche Situation geraten ist.<br />
Eine Stunde nachdem Alexander Chramzow sich zu<br />
Wort gemeldet hatte, leierte die Richterin Gorbatschowa<br />
die Entscheidung des Gerichts – zu Gunsten der Moskauer<br />
Stadtregierung – herunter. Alle verließen den Saal,<br />
drinnen blieben nur »die Sieger« : Juri Bulgakow, Jurist<br />
in der Finanzverwaltung der Stadt Moskau, Andrej Rastorgujew<br />
und Marat Gafurow, Berater der Moskauer Justizverwaltung.<br />
»Und, feiern Sie jetzt ?«, rutschte es mir heraus.<br />
»Nein.« Die drei sprachen plötzlich in einem traurigen<br />
Ton. »Wir sind doch Menschen. Wir verstehen alles. Es<br />
ist eine Schande, dass unser Staat sie so behandelt.«<br />
357
»Und warum kündigen Sie dann nicht ? Warum<br />
schmeißen Sie Ihre peinliche Arbeit nicht hin ?«<br />
Sie schwiegen. Der Moskauer Abend umfing uns mit<br />
seinen dunklen Armen. Die einen begleitete er in ihre<br />
warmen Häuser, erfüllt vom Lachen und der Liebe der<br />
Familie. Die anderen führte er in ihre hallenden Wohnungen,<br />
die seit dem 23. Oktober für immer leer blieben.<br />
Als Letzter ging ein gebückter, älterer, grauhaariger<br />
Mann mit ausdrucksvollen Augen. Während der ganzen<br />
Verhandlung hatte er ruhig, beherrscht und unbeteiligt<br />
in einer Ecke gesessen.<br />
»Wie heißen Sie ?« Ich holte ihn ein.<br />
»Tukai Walijewitsch Hasijew.«<br />
»Waren Sie unter den Geiseln ?«<br />
»Nein. Mein Sohn ist gestorben.«<br />
»Können wir uns treffen ?«<br />
Tukai Walijewitsch gab mir nur ungern seine Telefonnummer.<br />
»Ich weiß nicht, meine Frau … Es fällt ihr so schwer,<br />
über das Thema zu reden. Na gut, rufen Sie in einer<br />
Woche an, ich bereite sie vor.«<br />
Die Familie Hasijew aus Moskau ist wirklich durch die<br />
Hölle des eigenen Landes gegangen. Sie hat nicht nur den<br />
siebenundzwanzigjährigen Timur und damit Sohn, Enkel,<br />
Vater, Ehemann und Bruder verloren, der Orchestermusiker<br />
im »Nord-Ost«-Ensemble gewesen ist. Sie hat auch<br />
auf grauenvolle Weise die herrschende staatliche Ideologie<br />
zu spüren bekommen, die im Endeffekt Timur den<br />
358
eigentlichen Todesstoß gegeben hat. Denken Sie nicht,<br />
dass ich da in irgendeiner Form übertreibe.<br />
»Konnte Putin wirklich keinen Kompromiss mit den<br />
Tschetschenen eingehen ? Mit diesen Terroristen ?«, fragt<br />
Tukai Walijewitsch immer wieder. »Wem hat seine Unbeugsamkeit<br />
denn genützt ? Wir zum Beispiel brauchen<br />
sie nicht. Und wir sind auch Staatsbürger.«<br />
<strong>In</strong> diesem Haus am Wolgograder Prospekt ist Tukai<br />
Walijewitsch der Einzige, der nicht weint, wenn er<br />
spricht. Rosa Abdulowna, seine Frau, Tanja, Timurs junge<br />
Witwe, und die siebenundachtzigjährige Großmutter<br />
können sich nicht beherrschen. Um die Erwachsenen herum<br />
kreist wie eine kleine Rakete Sonja, Timurs blonde,<br />
dreijährige Tochter, deren dritten Geburtstag Timur<br />
nicht mehr mitfeiern konnte.<br />
Der Tisch wird gedeckt, Sonja klettert auf den Stuhl –<br />
sonst ist sie zu klein – und nimmt die größte Tasse an<br />
sich : »Die gehört Papa. Das ist Papas Tasse ! Finger weg !«<br />
Ihre Worte sind fest und kompromisslos. Großmutter<br />
Rosa hat ihr erklärt, dass der Papa jetzt im Himmel ist,<br />
wie Großmutters Papa auch, und dass er nicht mehr<br />
kommen wird. Aber das Kind ist zu klein, um zu begreifen,<br />
warum er nicht kommen kann, wenn sie, sein Liebling,<br />
so sehr auf ihn wartet.<br />
»Ich habe daran geglaubt, dass der Staat etwas unternehmen<br />
wird«, sagt Tukai Walijewitsch. »Die ganzen<br />
drei Tage, fast bis zum Ende des Geiseldramas. Ich habe<br />
gedacht, die Sicherheitsdienste werden sich etwas einfallen<br />
lassen, mit denen verhandeln, irgendetwas verspre-<br />
359
chen, sie einfach täuschen – und alles wird sich auflösen.<br />
Ehrlich gesagt habe ich nicht erwartet, dass sie das tun<br />
würden, was Shirinowski einen Tag vor dem Sturmangriff<br />
empfohlen hat. Ich erinnere mich, er hat gesagt,<br />
man solle einfach alle mit Gas betäuben, sie würden<br />
ein paar Stunden schlafen, dann aufstehen und weglaufen.<br />
Aber sie sind nicht aufgewacht. Und auch nicht<br />
weggelaufen.«<br />
Das ganze Leben Timur Hasijews drehte sich um die<br />
Musik und war mit dem Kulturhaus der Kugellagerfabrik<br />
in der Ersten-Dubrowskaja-Straße verbunden. Schon als<br />
Kind besuchte er hier die Musikschule, und hier fand<br />
er auch seinen Tod. Das Kulturhaus war für das Musical<br />
»Nord-Ost« gemietet worden, und Timur spielte im<br />
Orchester.<br />
Die Eltern, Tukai und Rosa, hatten früher in einer<br />
Gemeinschaftswohnung ganz in der Nähe gewohnt. Ihre<br />
zwei Söhne Eldar und Timur nahmen im Kulturhaus<br />
Akkordeonstunden. Die Lehrer rieten dem jüngeren<br />
Timur, den Musikunterricht fortzusetzen. Er war ein<br />
begabter Junge, und nach der zehnten Schulklasse, als<br />
die Zeit für die Berufswahl gekommen war, besuchte er<br />
einen Kurs an der Musikschule für Schlaginstrumente.<br />
Anschließend studierte er an der Musiklehranstalt für<br />
Blasinstrumente und bestand die Aufnahmeprüfung an<br />
der berühmten Gnessin-Musikakademie, von der er so<br />
lange geträumt hatte.<br />
Parallel zum Studium an der Gnessin-Musikakademie<br />
spielte Timur im Blasorchester und im Sinfonieorchester<br />
360
des Verteidigungsministeriums. Mit diesen gastierte er in<br />
Norwegen, sollte auch nach Spanien fahren, aber diese<br />
Reise war für die Zeit nach dem 23. Oktober geplant<br />
gewesen.<br />
»Das hier sind seine Uniform und sein Frack«, sagt<br />
Rosa Abdulowna, während sie den Kleiderschrank öffnet.<br />
Sie versucht, sich zu beherrschen. »Die vom Verteidigungsministerium<br />
wollten die Sachen abholen … Aber<br />
sie haben keine Zeit.«<br />
Sonja schnappt sich die Uniformmütze mit der glänzenden<br />
Kokarde, setzt sie auf und hüpft durch das Zimmer<br />
: »Papas Mütze ! Papas Mütze !« Tanja kann ihre Tränen<br />
nicht zurückhalten und geht weg.<br />
Nach Abschluss der Musikakademie erhielt Timur das<br />
Angebot, auch im Orchester von »Nord-Ost« mitzuspielen.<br />
Das war bereits seine dritte Arbeitsstelle, aber er<br />
sagte zu. Weil er verheiratet war und ein kleines Kind<br />
hatte. Auch Tanja musste wegen Sonja als Kindergärtnerin<br />
arbeiten, für einen entsprechend niedrigen Lohn,<br />
obwohl sie ausgebildete Schauspielerin und Regisseurin<br />
ist.<br />
Es ist altmodisch, an Mystik oder Vorahnungen zu<br />
glauben.<br />
»Aber einen Monat vor dem Anschlag konnte Timur<br />
nicht mehr schlafen«, erzählt Tanja. »Ich wachte mitten<br />
in der Nacht auf, und er saß da. Ich sagte zu ihm :<br />
›Leg dich hin, was ist los ?‹ Und er : ›Ich bin irgendwie<br />
unruhig.‹«<br />
Die Familie dachte, Timur sei einfach überarbeitet.<br />
361
Sein Tag begann sehr früh. Zuerst brachte er Sonja und<br />
Tanja mit dem Auto zum Kindergarten, dann fuhr er zu<br />
seinen Eltern, bei denen seine <strong>In</strong>strumente standen, um<br />
ein wenig zu üben. <strong>In</strong> letzter Zeit trainierte er seine linke<br />
Hand und freute sich über seine Fortschritte. Noch ein<br />
paar Jahre, dann werde er ein hervorragender Schlagzeuger<br />
sein, sagte er zu Tanja. Nachdem er geübt hatte,<br />
sprang er ins Auto und fuhr zur Probe des Militärorchesters,<br />
in der Pause brachte er Tochter und Frau vom<br />
Kindergarten nach Hause, und anschließend machte er<br />
sich auf den Weg zur Abendvorstellung des Musicals<br />
»Nord-Ost«. Nach Hause kam er kurz vor Mitternacht,<br />
und in der Früh ging alles wieder von vorne los. Alle<br />
sagten, er mache den Eindruck eines Menschen, der es<br />
sehr eilig mit dem Leben hat. Warum ? Er war doch<br />
erst siebenundzwanzig Jahre alt. Diese Frage kann jetzt<br />
keiner mehr beantworten. Auch die andere Frage nicht,<br />
nämlich warum Timur ausgerechnet am 23. Oktober im<br />
»Nord-Ost« war.<br />
»Es war ein Mittwoch«, erzählt Tanja. »Der Mittwoch<br />
war bei uns der Familientag, an dem Timur abends zu<br />
Hause war und ein anderer Schlagzeuger die Abendvorstellung<br />
von ›Nord-Ost‹ bestritt, aber ausgerechnet<br />
an diesem Tag hatte der Kollege Timur plötzlich dazu<br />
überredet, für ihn einzuspringen, weil sein Mädchen diesen<br />
Abend unbedingt mit ihm verbringen wollte. Sie hat<br />
ihren Freund gerettet. Und mein Mann ist eingesprungen,<br />
er war hilfsbereit und ist gestorben.«<br />
»Keiner will doch, dass die Sachen von einem Men-<br />
362
schen, der einem nahe steht, einfach irgendwo herumliegen.<br />
Nicht wahr ?«, fragt Rosa Abdulowna. »Also sind<br />
wir hingefahren, zum Musicaltheater. Selbstverständlich<br />
haben wir weder sein Handy, das er sich erst vor kurzem<br />
leisten konnte, noch seine anderen neuen Sachen<br />
gefunden. Das Einzige, was wir zurückbekommen haben,<br />
waren seine alte Jacke, auf deren Rücken jetzt der<br />
Abdruck eines Armeestiefels prangte, und ein T-Shirt.<br />
Sonst nichts.«<br />
Wir sind in den letzten Jahren ganz schön verroht und<br />
verkommener geworden. Das fällt immer mehr auf. Und<br />
je länger der Krieg im Kaukasus dauert, desto mehr werden<br />
viele Tabus zu gewöhnlichen, alltäglichen Dingen.<br />
Mord ? Kein Problem. Raub ? Na und. Beute ? Ein Gesetz.<br />
Die Verbrechen werden nicht nur im Gericht nicht geahndet,<br />
sondern auch die Gesellschaft ist gleichgültig geworden.<br />
Alles, was früher verboten war, ist erlaubt. Und doch<br />
schien es, dass das ganze Land in den schrecklichen Oktobertagen<br />
der Geiselnahme geeint war, die Leute überlegten,<br />
wie sie helfen könnten, beteten, hofften, warteten.<br />
Aber keiner konnte etwas tun. Die Sicherheitsdienste ließen<br />
niemanden durch, versicherten, dass sie alles unter<br />
Kontrolle hätten. Doch wie sich jetzt herausstellt, hat ein<br />
Teil ihrer Männer inzwischen einfach nach »Trophäen« gesucht,<br />
nach Wertgegenständen, neuer oder passender Kleidung.<br />
Und die Menschen werden das nie vergessen, auch<br />
wenn sie eine Million Dollar als Schadenersatz erhielten.<br />
Sie werden diese Plünderungen im Gedächtnis behalten.<br />
Als Timur das letzte Mal zur Arbeit ging, hatte er<br />
363
mehrere Ausweise mit Fotos bei sich. Den Mitgliedsausweis<br />
des Orchesters von »Nord-Ost«, des Orchesters vom<br />
Verteidigungsministerium, seinen Pass, seinen Führerschein.<br />
Außerdem ein Notizbuch mit den Telefonnummern<br />
von allen Freunden und Verwandten.<br />
Aber als Timurs Leiche am 28. Oktober seiner Familie<br />
übergeben wurde, stand auf dem Plastikschild an seiner<br />
Hand : »Nr. 2551, Hamijew, Unbekannter.«<br />
»Wie konnte das passieren ?«, fragt Rosa Abdulowna.<br />
»Wieso ›Hamijew‹ ? Und wenn schon ›Hamijew‹, warum<br />
dann ›Unbekannter‹ ? Hat man ihn überhaupt gesucht ?<br />
Man braucht doch nur sein Adressbuch aufzuschlagen,<br />
irgendeine Nummer zu wählen und zu fragen : ›Wer ist<br />
Timur Hasijew ? Kennen Sie ihn ?‹ Und die Leute würden<br />
sofort unsere Telefonnummer nennen.«<br />
Den langen Tag des 26. Oktober, den Tag nach dem<br />
Sturm, wird die Familie Hasijew nie vergessen.<br />
»Vom frühen Morgen bis um vier Uhr nachmittags<br />
stand sein Name in keiner der Listen, die von den<br />
Behörden ausgegeben wurden«, sagt Tukai Walijewitsch.<br />
»Nachdem wir alle Hospitäler und Leichenhäuser durchkämmt<br />
hatten, tauchte plötzlich eine kleine Liste mit<br />
etwa zwanzig Personen auf, darunter war Timurs Name.<br />
Es hieß, er lebt, liegt im Krankenhaus Nr. 7. Ich habe<br />
meine Frau angerufen und gesagt, dass alles in Ordnung<br />
ist. Wir haben vor Freude geweint, unsere Freunde haben<br />
uns gratuliert.« Tanja und ich fuhren kurz darauf zu<br />
diesem Krankenhaus.<br />
Aber vor dem Eingang stand ein Wachtposten und ließ<br />
364
keinen durch, er sagte, auf Anweisung der Staatsanwaltschaft.<br />
Tanja weinte. Sie tat dem Wachtposten leid, und<br />
er flüsterte Tukai Walijewitsch ins Ohr, es sei schlecht,<br />
wenn ›ihrer‹ da drin sei – dann sei er ein hoffnungsloser<br />
Fall. Tanja hörte das und bat ihn, das Tor zu öffnen. Der<br />
Wachtposten hatte Mitleid und ließ sie herein.<br />
Der Flur des Krankenhauses war leer, dann kam ihnen<br />
ein Milizionär mit einer Maschinenpistole über dem<br />
Bauch entgegen.<br />
»Dieser Mensch war absolut herzlos«, erzählt Tanja.<br />
»Er hätte etwas Beruhigendes sagen können oder sein<br />
Beileid aussprechen, aber nein, er sagte mir direkt ins<br />
Gesicht : ›Er ist tot. Gehen Sie weg von hier.‹ Ich fing<br />
natürlich an zu weinen und heulte etwa zwanzig Minuten<br />
lang. Dann kamen Ärzte angelaufen : ›Wer hat Sie<br />
hier hereingelassen ?‹«<br />
Als Tanja sich beruhigt hatte, bat sie um die Erlaubnis,<br />
sich von Timur zu verabschieden. Noch vor der Obduktion.<br />
Man erlaubte es ihr nicht. Obwohl sie darum bettelte.<br />
Der Milizionär sagte : »Bitten Sie Putin um Erlaubnis.«<br />
Später tauchten Leute von der Staatsanwaltschaft<br />
auf : »Warum haben Sie es so eilig ? Sie werden noch<br />
genug Zeit haben, den Sarg zu schließen ! Wie ist der<br />
Familienname ? Hasijew ? Ist er Tschetschene ?«<br />
Sein Name wurde Timur Hasijew zum Verhängnis.<br />
Man hielt seinen tatarischen Familiennamen für einen<br />
tschetschenischen – und alles Weitere lief dann schon<br />
automatisch, entsprechend der herrschenden Staatsideologie.<br />
365
Die Familie ist jetzt überzeugt : Timur ist gestorben,<br />
weil man ihn für einen Tschetschenen hielt und ihm<br />
deswegen absichtlich keine Hilfe angedeihen ließ. Als die<br />
Hasijews Timurs Körper aus der Leichenhalle abholten,<br />
stand groß geschrieben auf seiner Brust : Gestorben um<br />
9.30 Uhr, im Krankenhaus Nr. 7. Sonst war an dem Körper<br />
nichts zu sehen – keine Spur von einer Tropfflasche,<br />
einer Spritze oder einer Lungenventilation. Der Befehl<br />
»von oben« lautete, die Tschetschenen zu vernichten, und<br />
als einem angeblichen Tschetschenen stand Timur keine<br />
Behandlung zu. Nach dem Sturmangriff lag er viereinhalb<br />
Stunden sterbend da, es kam keine Anweisung, ihn<br />
zu retten. Die Staatsideologie hat Timur getötet.<br />
Tanjas letzte Worte lauteten : »Wir sind nichts wert in<br />
unserem Land. Wir sind menschlicher Abfall. Das ist der<br />
Kern der Geschichte von meinem Timur.«<br />
Während Tanja und Tukai Walijewitsch am 26. Oktober<br />
vor dem Tor des Krankenhauses standen und warteten,<br />
versuchte eine Gruppe von etwa zwanzig Personen<br />
– in Uniform und in Zivil – die Wohnung der jungen<br />
Hasijews zu stürmen. Die Nachbarin kam heraus<br />
und konnte es gerade noch verhindern. Die Leute sagten<br />
ihr, sie hätten aus dem Krankenhaus einen Fingerzeig<br />
bekommen, dass hier ein Tschetschene wohne.<br />
Was soll die Familie Hasijew jetzt tun ? Alles hinunterschlucken<br />
und schweigen ?<br />
»Als wir, die Kläger, im Twersker Stadtbezirksgericht<br />
davon berichteten, tat die Richterin Gorbatschowa so,<br />
als verstünde sie nicht, was wir meinten«, erinnert sich<br />
366
Tukai Walijewitsch. »Sie versicherte, dass alle ohne Ausnahme<br />
medizinisch versorgt worden seien.«<br />
Selbstverständlich hat man den Hasijews einen Totenschein<br />
in die Hand gedrückt, auf dem die Todesursache<br />
nicht eingetragen ist. Da findet sich nur ein Strich,<br />
kein Hinweis auf einen Terroranschlag. Das heißt, gegen<br />
Timur und seine Familie ist nicht nur die tödliche Staatsideologie<br />
am Werke, sondern auch die staatliche Justiz,<br />
die das ganze Beweismaterial verschwinden lässt.<br />
»Aber Sie haben sicher die Vertreter der Staatsanwaltschaft<br />
gefragt, warum in der Spalte ›Todesursache‹ nur<br />
ein Strich ist ?«<br />
»Natürlich, gleich am 28. Oktober. Und sie erklärten<br />
uns, das wäre eine Formalität, damit wir das Begräbnis<br />
schneller vorbereiten könnten. Und sobald die Ergebnisse<br />
der Obduktion bekannt wären, würde die Todesursache<br />
›auf jeden Fall‹ eingetragen werden.«<br />
»Und haben sie es gemacht ?«<br />
»Selbstverständlich nicht.«<br />
Das ist typisch. Bei uns erwartet man von den Machthabern<br />
sowieso nicht die Wahrheit, man sieht in ihnen<br />
nur eine unerschöpfliche Quelle von Unannehmlichkeiten<br />
– trotz ihres guten Abschneidens bei allen offiziellen<br />
Meinungsumfragen. Kürzlich wurde in der Administration<br />
des Präsidenten eine spezielle Abteilung eingerichtet,<br />
die für das »richtige Image« unseres Landes<br />
und des Präsidenten in der ganzen Welt zu sorgen hat.<br />
Das Konzept sieht eine Imageverbesserung vor und soll<br />
367
verhindern, dass negative <strong>In</strong>formationen über das Land<br />
und Putin nach außen durchsickern. <strong>Russland</strong> soll in<br />
den Augen der Welt gut dastehen. Besser wäre, wenn<br />
es in dieser Administration endlich eine Abteilung gäbe,<br />
die für die konsequente Imageverbesserung des Staates<br />
und des Präsidenten in den Augen der eigenen Bürger<br />
verantwortlich wäre.<br />
»Konnte Putin tatsächlich nicht nachgeben ? Etwa sagen<br />
: ›Ich beende den Krieg‹ ? Dann wären unsere Angehörigen<br />
noch am Leben«, wiederholt Tukai Walijewitsch<br />
immer wieder. »Ich will nur wissen, wer an dieser Tragödie<br />
schuld ist. Mehr nicht.«<br />
Vor kurzem hat sich Tanja Kirjuscha und Frossja zugelegt,<br />
eine Schildkröte und einen Kater. Damit jemand<br />
da ist, wenn sie nach Hause kommt. Sonja ist zwar zu<br />
klein, um zu begreifen, was mit ihrem Papa geschehen<br />
ist, doch sie möchte nach dem Kindergarten nicht nach<br />
Hause, weil der Papa nicht mehr da ist. Und neulich<br />
erhielt Tanja einen Anruf aus dem »Nord-Ost«. Man bot<br />
ihr Karten für das Musical an, das seit dem 8. Februar<br />
wieder läuft. Man singt und tanzt. Tanja hat natürlich<br />
abgelehnt, aber die Leute vom Theater sagten, sie könnte<br />
jederzeit kommen. Eine verrückte Idee : Lebensfreude<br />
vorspielen am Ort eines Massenmordes. Wie sind wir<br />
verroht. So verroht, dass einem schlecht wird.<br />
368
DIE DRITTE GESCHICHTE :<br />
SIRASHDI, JACHA UND IHRE FREUNDE<br />
Die Tschetschenen, die in unserem Land leben, sind<br />
wahrlich nicht zu beneiden. Früher war es auch nicht<br />
besonders angenehm, doch seit dem Terroranschlag läuft<br />
die Maschinerie der Staatsrache auf Hochtouren. Pogrome<br />
und ethnische Säuberungen finden tagtäglich unter<br />
der Ägide der Miliz statt. Im Handumdrehen werden<br />
Leben zerstört, die Menschen verlieren ihr Zuhause,<br />
ihre Arbeit, jeden Halt : nur weil sie Tschetschenen sind.<br />
Das Leben in Moskau und in vielen anderen russischen<br />
Städten ist für sie nicht nur unerträglich geworden, mit<br />
untergeschobenen Drogen in den Taschen, untergeschobener<br />
Munition in der Hand und infolgedessen Gefängnishaft<br />
für mehrere Jahre sind sie zu Outcasts geworden,<br />
ihr Leben hat sich in einen wahren Alptraum verwandelt.<br />
Sie befinden sich in einer ausweglosen Sackgasse, in der<br />
man endlos herumtaumeln kann, weil man sowieso nirgends<br />
ankommt. Und es betrifft alle – vom siebenjährigen<br />
Jungen bis zum achtzigjährigen Greis.<br />
»Als die Terroristen mitten im zweiten Akt auf die<br />
Bühne stürmten und auf Tschetschenisch redeten, begriff<br />
ich, dass die Lage äußerst ernst war. Und dass es sehr<br />
schlimm werden würde. Mir war sofort alles klar.« Jacha<br />
Nesserchajewa, die dreiundvierzigjährige Moskauer Ökonomin,<br />
eine in Grosny geborene Tschetschenin, die vor<br />
vielen Jahren in die Hauptstadt übergesiedelt war, sah<br />
sich am 23. Oktober das Musical »Nord-Ost« an. Ihre<br />
369
alte Freundin Galja aus der nordrussischen Stadt Uchta<br />
hatte Karten für die dreizehnte Reihe Parkett gekauft<br />
und Jacha dazu überredet, mit ins Theater zu kommen.<br />
Jacha mag Musicals nicht besonders, aber Galja hatte sie<br />
inständig gebeten, ihr Gesellschaft zu leisten.<br />
»Haben Sie den Terroristen gesagt, dass Sie Tschetschenin<br />
sind ?«<br />
»Nein. Ich hatte Angst. Ich wusste nicht, was besser ist.<br />
Sie hätten mich erschießen können, weil ich als tschetschenische<br />
Frau ein Musical besuche.«<br />
Jacha Nesserchajewa bemerkte das Gas nicht, obwohl<br />
viele Geiseln weiße Rauchschwaden sahen. Sie hörte nur<br />
von ihrem Platz aus, wie andere Menschen : »Gas ! Gas !«<br />
schrien. Einige Sekunden später war sie bewusstlos.<br />
Erst im Krankenhaus kam sie wieder zu sich. Im<br />
Krankenhaus Nr. 13, in das viele eingeliefert wurden,<br />
auch Irina Fadejewa, von der in der ersten Geschichte<br />
die Rede war. Jacha Nesserchajewa musste heftig erbrechen,<br />
verstand noch kaum etwas, als schon ein Untersuchungsführer<br />
vor ihr stand.<br />
»Er fragte mich nach meinem Vornamen, Nachnamen,<br />
nach Geburtsort, Adresse und danach, wie ich ins Musical<br />
›Nord-Ost‹ gelangt bin. Dann kamen zwei Frauen,<br />
nahmen für eine Expertise meine Kleidung an sich und<br />
nahmen meine Fingerabdrücke ab. Der Untersuchungsführer<br />
tauchte gegen Abend wieder auf und erklärte :<br />
›Ich habe schlechte Nachrichten.‹ Ich dachte zuerst, dass<br />
meine Freundin, mit der ich im Musical gewesen war,<br />
gestorben ist. Aber er sagte : ›Sie werden wegen Zusam-<br />
370
menarbeit mit den Terroristen festgenommen.‹ Das war<br />
ein Schock. Aber ich stand auf und folgte dem Untersuchungsführer,<br />
nur in Schlappen und Schlafrock, die ich<br />
im Krankenhaus erhalten habe. Zuerst wurde ich für<br />
zwei Tage ins Krankenhaus Nr. 20 eingeliefert, eine geschlossene<br />
Klinik, die wie ein Gefängnis ist. Es gab weder<br />
ein Verhör noch eine medizinische Behandlung, eigentlich<br />
erhielt ich überhaupt keine ärztliche Hilfe. Am<br />
Abend des zweiten Tages im Krankenhaus Nr. 20 kam<br />
wieder ein Untersuchungsführer. Ich wurde fotografiert,<br />
meine Stimme wurde auf Band aufgenommen. Einige<br />
Minuten nach diesem Besuch brachten sie mir einen<br />
Mantel und Herrenschuhe, legten mir Handschellen an<br />
und teilten mit : ›Sie müssen in einem anderen Krankenhaus<br />
behandelt werden.‹ Dann wurde ich in ein Milizauto<br />
gesetzt, für zehn Minuten zur Staatsanwaltschaft und<br />
anschließend ins Untersuchungsgefängnis ›Marjino‹ gebracht.<br />
Mit bloßen Füßen in den viel zu großen Schuhen,<br />
in einem schmutzigen Herrenmantel, mit ungekämmten,<br />
seit einer Woche nicht gewaschenen Haaren wurde<br />
ich in eine Zelle gesteckt. Die Aufseherin sah mich<br />
an und sagte nur : ›Na, du bist ganz schön hässlich.‹«<br />
»Wurden Sie im Untersuchungsgefängnis oft verhört ?«<br />
»Überhaupt nicht. Ich saß nur da und bat die Aufseherin<br />
um einen Termin beim Untersuchungsrichter.«<br />
Jacha Nesserchajewa spricht langsam, leise, ohne Emotionen.<br />
Sie wirkt geistesabwesend, sieht aus wie eine Leiche.<br />
Die Augen sind weit geöffnet und auf einen Punkt<br />
im Raum gerichtet. Das Gesicht ist unbewegt. Sie hatte<br />
371
im Gefängnis jede Hoffnung aufgegeben, gedacht, dass<br />
sie nichts mehr retten kann. Außerdem hatten die Milizionäre,<br />
die sie vom Krankenhaus zum Untersuchungsgefängnis<br />
brachten – die Einzigen übrigens, die ein Wort<br />
darüber verloren, was ihr bevorstand –, ihr gesagt, dass<br />
sie für alles geradestehen müsse, weil die Terroristen tot<br />
seien und nur sie übrig geblieben sei.<br />
Aber die Geschichte hat doch ein Happy End. Wie es<br />
sich für ein Musical gehört.<br />
Die Freunde von Jacha Nesserchajewa schlugen Alarm,<br />
fanden blitzschnell einen Anwalt, dem es wie durch ein<br />
Wunder gelang, eine Mauer zu durchbrechen, die absolut<br />
unüberwindbar schien. Nach zehn Tagen wurde sie<br />
aus dem Gefängnis entlassen. Die Untersuchungsführer<br />
der Staatsanwaltschaft, die im Fall Nr. 229133 (Terroranschlag<br />
auf »Nord-Ost«) ermittelten, erwiesen sich<br />
als normale Menschen ohne rassistische Vorurteile. Es<br />
gab nichts, was sie Jacha Nesserchajewa zur Last legen<br />
konnten, und sie erfanden auch nichts, wie es viele ihrer<br />
Kollegen heutzutage tun, wenn ihnen Tschetschenen<br />
in die Hände fallen. Keine Schikanen, kein gefälschtes<br />
Beweismaterial, keine falsche Anschuldigung. Mit anderen<br />
Worten, sie wollten nicht an einer Frau Rache üben,<br />
nur weil sie Tschetschenin ist. Und das ist heutzutage<br />
bei uns eine Seltenheit.<br />
Aelita Schidajewa ist einunddreißig Jahre alt. Auch sie ist<br />
Tschetschenin und wohnt seit dem Beginn des zweiten<br />
Tschetschenien-Kriegs mit ihren Eltern und ihrer Tochter<br />
372
Chadishat in Moskau. Aelita wurde direkt am Arbeitsplatz,<br />
im Café neben dem U-Bahnhof »Marjino«, verhaftet.<br />
Sie erzählt ihre Geschichte ruhig, beherrscht, ohne<br />
Tränen und hysterische Anfälle, lächelt freundlich. Man<br />
könnte sogar meinen, sie hätte nichts Schlimmes erlebt.<br />
Allerdings nur, wenn man nicht weiß, dass sie unmittelbar<br />
nach dem siebenstündigen unausgesetzten Verhör<br />
auf dem Milizrevier »Marjinskij Park« einen Zusammenbruch<br />
erlitten hat.<br />
»Es war irgendwie merkwürdig. Zuerst aß ein Milizionär<br />
wie immer bei uns zu Mittag. Sie speisen alle bei<br />
uns, das Milizrevier befindet sich in nur hundert Meter<br />
Entfernung. Ich habe ihnen nie verheimlicht, dass ich<br />
Tschetschenin und wegen des Kriegs aus Grosny geflohen<br />
bin. Der Milizionär aß in Ruhe zu Mittag und ging.<br />
Plötzlich stürzten etwa fünfzehn seiner Kollegen mit<br />
dem Revierinspektor Wassiljew an der Spitze ins Café.<br />
Wassiljew kennt mich sehr gut. Alle mussten sich an<br />
die Wand stellen, wurden durchsucht, und ich wurde<br />
festgenommen.«<br />
»Was haben sie Sie gefragt ?«<br />
»Ob ich Kontakt zu den Terroristen habe. Ich sagte :<br />
›Ich bin doch immer hier ! 12 Stunden, von elf bis elf, Sie<br />
sehen mich doch jeden Tag hier mit eigenen Augen !‹«<br />
»Und was haben sie darauf geantwortet ?« »Mit welchem<br />
Terroristen bist du essen gegangen ?« »Ich war in<br />
Moskau kein einziges Mal in einem Restaurant, das mag<br />
ich nicht. Sie sagten, wenn ich meine Verbindung zu den<br />
Terroristen nicht gestehe, würden sie mir Drogen oder<br />
373
Waffen unterschieben. Sie duzten mich und verhörten<br />
mich abwechselnd. Irgendwelche Uniformierte gingen im<br />
Zimmer auf und ab und beobachteten alles. Der Untersuchungsführer<br />
sagte, wenn ich meine Kontakte zu den<br />
Terroristen nicht zugäbe, würde er mich diesen Kerlen<br />
›zum Fraß vorwerfen‹. Die würden nur darauf warten,<br />
denn bei ihnen ›singen alle‹.«<br />
Noch auf der Wache wurde Aelita Schidajewa mitgeteilt,<br />
dass ihr gekündigt worden war. Der Untersuchungsführer<br />
sagte, dass sie die Kündigung vom Kaffeehausbesitzer<br />
verlangt hatten, andernfalls würden sie ihm das<br />
Lokal schließen. Freigelassen wurde Aelita Schidajewa<br />
nur deswegen, weil ihre Mutter, die Russischlehrerin und<br />
eine eingefleischte Menschenrechtlerin ist, »ganz Moskau<br />
auf den Kopf gestellt hatte«, wie sich ein Milizionär des<br />
Reviers ausdrückte. Sie hatte den Radiosender »Moskauer<br />
Echo« und den berühmten Anwalt Abdula Chamsajew<br />
angerufen und viele andere Leute eingeschaltet. Und<br />
obwohl die Miliz immer wieder behauptete, Aelita Schidajewa<br />
wäre nicht bei ihnen, mussten sie letzten Endes<br />
dem Druck nachgeben und sie auf freien Fuß setzen.<br />
Aelita Schidajewa hat ihren Schock jetzt überwunden.<br />
Sie begreift alles, sagt aber, dass sie aus Moskau fort<br />
muss.<br />
»Zurück nach Tschetschenien ?«<br />
»Nein. <strong>In</strong>s Ausland.«<br />
Ihre Mutter Makka ist dagegen. Es geht nicht darum,<br />
dass die Tochter ihr Kind ins Ausland bringen möchte.<br />
Chadishat, die Enkelin, muss etwas lernen. Aber Makka<br />
374
Schidajewa kann sich nicht vorstellen, außerhalb von<br />
<strong>Russland</strong> zu leben. Und zugleich kann sie nicht begreifen,<br />
was dieses <strong>Russland</strong> eigentlich von ihr, Aelita und Chadishat,<br />
von drei Generationen tschetschenischer Frauen will.<br />
Sie, die älteste, verbrachte den größten Teil ihres Lebens<br />
in der UdSSR. Die mittlere kennt kein normales Leben<br />
mehr, rennt nur von einem Ort zum anderen, von einem<br />
Krieg zum nächsten. Und die jüngste beobachtet vorläufig<br />
nur das, was um sie herum geschieht, lauscht aufmerksam,<br />
horcht und schweigt. Vorläufig schweigt sie noch.<br />
Vor kurzem rief Chadishats Klassenlehrerin Aelita Schidajewa<br />
an und verlangte von ihr nervös eine Bescheinigung<br />
darüber, dass sie alleinerziehende Mutter ist. Wenn<br />
sie diese nicht bekäme (die restlichen Dokumente seien<br />
vollkommen in Ordnung), dann wisse die Klassenlehrerin<br />
nicht mehr, was sie noch tun solle. Chadishat wird also aus<br />
der Schule ausgeschlossen. Seit dem 26. Oktober 2002 gibt<br />
es in der fünften Klasse der Schule Nr. 931 keinen Platz<br />
mehr für ein tschetschenisches Mädchen, das die Familie<br />
extra nach Moskau gebracht hat, damit es lernen kann,<br />
weil es in Tschetschenien nicht genügend Schulen gibt.<br />
Abubakar Bakrijew bekleidete mehrere Jahre lang einen<br />
bescheidenen Posten als Techniker in einem Unternehmen,<br />
das sich »Erste Republikanische Bank« nennt. Jetzt<br />
ist er arbeitslos und aller Verpflichtungen enthoben. Und<br />
das geschah sehr einfach und unauffällig, der Sicherheitsbeauftragte<br />
der Bank rief ihn zu sich und sagte :<br />
»Verstehen Sie mich richtig, aber wegen euch Tschet-<br />
375
schenen bekommen wir hier Probleme. Reichen Sie Ihre<br />
Kündigung ein.«<br />
Im ersten Augenblick wollte Abubakar Bakrijew es<br />
nicht glauben. Aber der Vorgesetzte fügte hinzu, dass<br />
man ihn außerdem darum bitte, die Kündigung rückzudatieren,<br />
auf den 16. Oktober zum Beispiel, damit alles<br />
manierlich aussehe und keiner ihnen vorwerfen könne,<br />
man habe ihn aus ethnischen Gründen, aus »Post-Nord-<br />
Ost-Gründen« entlassen, weil er Tschetschene sei.<br />
Am selben Tag wie Abubakar Bakrijew wurde auch<br />
ein Dagestaner entlassen – auf genau die gleiche Art<br />
und Weise zum Gehen gezwungen. Und auch er mit<br />
einem rückdatierten Schreiben. Er hatte eine unwichtige<br />
Funktion inne, aber vorsichtshalber wollte man auch<br />
ihn aus dem Unternehmen entfernen, damit der Bank<br />
keine unnötigen Fragen mehr über beschäftigte Kaukasier<br />
gestellt werden konnten.<br />
»Die Erste Republikanische Bank ist nun gesäubert«,<br />
sagt Abubakar Bakrijew. »Die Hüter des Rechts können<br />
ruhig schlafen. Ich bin vierundfünfzig Jahre alt, keine<br />
Ahnung, wohin ich jetzt soll. Die Miliz war bereits dreimal<br />
bei mir, um sich anzusehen, wie ich mit meinen<br />
drei Kindern lebe. Ihr macht uns zu Feinden. Ihr müsst<br />
begreifen, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, als<br />
die Unabhängigkeit der Republik zu fordern. Es muss<br />
doch irgendwo auf der Welt einen Ort geben, an dem<br />
wir in Ruhe leben können. Gebt uns bitte diesen Platz.<br />
Egal wo. Und wir werden dort leben.«<br />
376
Issita Tschirgisowa und Natascha Umatgarijewa sind zwei<br />
Tschetscheninnen, die in einem provisorischen Flüchtlingslager<br />
im Dorf Serebrjaniki im Gebiet von Twer wohnen.<br />
Wir haben uns auf dem Milizrevier Nr. 14 in Moskau<br />
kennen gelernt. Issita Tschirgisowa versuchte, sich<br />
die Tinte abzuwischen, nachdem ihr die Fingerabdrücke<br />
abgenommen worden waren. Natascha Umatgarijewa<br />
weinte ohne Unterbrechung. Sie waren gerade freigelassen<br />
worden, ein Wunder in heutigen Zeiten, weil sie den<br />
Milizionären leid taten.<br />
Am Morgen des 13. November erlebten die beiden<br />
Frauen eine Geschichte, wie sie heutzutage typisch ist.<br />
Sie kamen mit dem Frühzug nach Moskau, weil sie zu<br />
einer Hilfsorganisation wollten. Ein paar Schritte davon<br />
entfernt wurden sie festgenommen, weil Natascha Umatgarijewa<br />
ein offenes Geschwür am Fuß hat und hinkte,<br />
was den Verdacht nahe legte, dass sie Mitglied in einer<br />
terroristischen Einheit und als solches verwundet worden<br />
war. Und Issita Tschirgisowa war im siebten Monat<br />
schwanger, das heißt, ihr Bauch wölbte sich gerade dort,<br />
wo – genau ! – die Selbstmordattentäter innen ihre Gürtel<br />
mit dem Sprengstoff tragen.<br />
Die Geschichte ging gut aus. Die Milizionäre begnügten<br />
sich damit, den beiden Frauen eine Reihe von Widerlichkeiten<br />
ins Gesicht zu sagen wie : »Ihr tötet uns, und wir<br />
werden euch töten.« Aber erstens konnte verhindert werden,<br />
dass die Frauen in Untersuchungshaft kommen, und zweitens<br />
konnte der Leiter des Milizreviers Nr. 14 davon überzeugt<br />
werden (und er wollte überzeugt werden), dass die<br />
377
Leute manchmal Hilfsorganisationen aufsuchen müssen,<br />
weil sie arm sind, keine Arbeit und kein Zuhause haben.<br />
Aslan Kurbanow lebte den ganzen Krieg über in einem<br />
Zeltlager in <strong>In</strong>guschetien. Im Sommer fuhr er nach Saratow,<br />
um sich an der dortigen Universität zu immatrikulieren,<br />
später siedelte er nach Moskau über. Er wohnte<br />
bei seiner Tante Sura Mowsarowa, die an der Moskauer<br />
Hochschule für Flugzeugindustrie Doktorandin war, fing<br />
an zu arbeiten und erhielt die offizielle Aufenthaltsgenehmigung<br />
für Moskau.<br />
Am 28. Oktober bekamen sie Besuch von Mitarbeitern<br />
des Milizreviers Nr. 172 aus dem Bezirk Bratejewo.<br />
Am Tag zuvor waren Sura auf Vorladung des Revierinspektors<br />
Fingerabdrücke abgenommen worden. Daher<br />
war keiner beunruhigt, als die Milizionäre sagten, Aslan<br />
müsse nur wegen der Fingerabdrücke mitkommen. Aslan<br />
zog sich an und stieg ins Milizauto.<br />
Nach drei Stunden wurde Sura nervös. Ihr Neffe war<br />
immer noch nicht zurück, und so ging sie auf die Wache.<br />
Dort erklärte man ihr, Aslan sei wegen Drogenbesitzes<br />
festgenommen worden. Wie das ? Der Junge steht auf,<br />
zieht sich an, steckt Drogen in die Hosentasche und<br />
fährt zur Miliz, um sich zu stellen ? Aslan konnte Sura<br />
noch aus dem Arrestkäfig zurufen, dass die Milizionäre,<br />
nachdem sie ihn in die Wachstube gebracht hatten, aus<br />
der Tischlade ein Stück Marihuana gezogen und gesagt<br />
hatten : »Das gehört dir. Wir werden den Tschetschenen<br />
die Hölle heiß machen. Wir lochen euch alle ein.«<br />
378
Aber Aslan raucht nicht einmal Zigaretten. Am 30. Oktober<br />
feierte er im Gefängnis »Matrosskaja Tischina« seinen<br />
zweiundzwanzigsten Geburtstag.<br />
Am Morgen des 25. Oktober stürmten Milizionäre<br />
die Wohnung von Alichan und Marem Gelagojew und<br />
führten Alichan Gelagojew in Handschellen ab. Marem,<br />
seine Frau, lief zum Milizrevier Rostokino. Dort teilte<br />
man ihr mit : »Unsere Leute haben nichts damit zu tun.«<br />
Also rief sie »Radio Free Europe/Radio Liberty« an. Die<br />
Entführung von Alichan Gelagojew wurde bekannt gegeben,<br />
gegen Abend war er wieder auf freiem Fuß.<br />
Wie Alichan Gelagojew berichtete, war ihm im Auto<br />
ein Sack über den Kopf gestülpt worden, und während<br />
der Fahrt zur Milizdirektion der Stadt hatten seine Bewacher<br />
auf ihn eingeschlagen und gebrüllt : »Ihr hasst uns,<br />
und wir hassen euch ! Ihr bringt uns um ! Und wir bringen<br />
euch um !«<br />
Auf der Milizdirektion war Alichan Gelagojew nicht<br />
mehr verprügelt worden, sie hatten ihn dazu überreden<br />
wollen, ein Geständnis zu unterschreiben. Dass er der<br />
ideologische Kopf des Terroranschlags auf das Musicaltheater<br />
»Nord-Ost« sei. Wie in Stalin-Zeiten üblich, war<br />
das Geständnis bereits vorbereitet, er hatte es nur noch<br />
unterschreiben sollen.<br />
Alichan Gelagojew hatte sich geweigert. Aber er war<br />
gezwungen worden, eine Erklärung zu unterzeichnen,<br />
dass er »freiwillig« die Milizdirektion aufgesucht habe<br />
und »keine Beschwerden gegenüber Mitarbeitern« vorzubringen<br />
habe. Dann hatten sie ihn freigelassen.<br />
379
Kann man das als Rassismus bezeichnen ? Ja. Als eine<br />
Hölle ? Natürlich. Obendrein handelt es sich um die zynische<br />
Imitation eines Kampfes gegen den Terrorismus.<br />
Daher glaube ich keine einzige Zahl, die heutzutage von<br />
der Miliz genannt wird, wenn es darum geht, über die<br />
Fortschritte der »Anti-Terror-Operation« und die Verhaftung<br />
von »Mittätern der Terroristen« zu berichten.<br />
Diese Zahlen sind gefälscht. Pseudo-Milizionäre schreiben<br />
Pseudo-Vermerke auf der Basis von Pseudo-Arbeit.<br />
Aber wo sind die echten Terroristen ? Was machen sie ?<br />
Keiner weiß es. Für sie hat unsere Miliz keine Zeit. Putin<br />
ist schuld daran, dass wie zu Sowjetzeiten Schönfärberei<br />
an die Stelle richtiger Arbeit getreten ist.<br />
»Die Milizionäre wollten mir Folgendes einreden : ›Unterschreibe<br />
das Papier, du kriegst drei, vier Jahre, wirst<br />
vielleicht sogar eher auf Bewährung entlassen, das ist<br />
alles. Unterschreibe, das ist viel einfache‹«, erzählt der<br />
sechsunddreißigjährige Selimchan Nassajew.<br />
Selimchan Nassajew wohnt seit einigen Jahren in Moskau.<br />
Er ist mit seiner Familie vor dem zweiten Tschetschenien-Krieg<br />
geflüchtet und bei <strong>In</strong>na, seiner älteren<br />
Schwester, die schon vor langer Zeit in die Hauptstadt<br />
übergesiedelt war, untergeschlüpft.<br />
»Hat man Sie auf dem Revier geschlagen ?«<br />
»Natürlich. Sie weckten mich um drei Uhr morgens<br />
und sagten : ›Nehmt ihn ordentlich in die Zange.‹ Sie<br />
traktierten mich mit Schlägen auf die Nieren und die<br />
Leber und verlangten von mir, dass ich ein Geständnis<br />
unterschreibe. Ich weigerte mich und sagte : ›Machen Sie<br />
380
nur weiter, erschießen Sie mich, ich nehme nichts auf<br />
mich.‹ Und sie fragten immer wieder : ›Warum bist du<br />
hergekommen, Tschetschene ? Deine Heimat ist Tschetschenien.<br />
Bleib dort, kümmere dich um deinen Krieg.‹<br />
Und ich : ›Meine Heimat ist <strong>Russland</strong>, ich bin in meiner<br />
Hauptstadt.‹ Das hat sie wütend gemacht. Ein Milizionär<br />
wollte mich provozieren und sagte : ›Deine Mutter ist eine<br />
dreckige Schlampe.‹«<br />
Wenn dieser Milizionär aus dem Nishegorodskaja-<br />
Revier gewusst hätte, wessen Mutter er eine »dreckige<br />
Schlampe« schimpfte, wen er erpresste, folterte und zu<br />
einem Geständnis zwingen wollte, damit seine Statistik<br />
über den »Kampf gegen die tschetschenische Kriminalität<br />
in der Hauptstadt« schöner aussieht. Aber vielleicht ist<br />
es auch besser, dass er es nicht wusste.<br />
Selimchan Nassajew ist nämlich der Urenkel und seine<br />
Mutter Rosa Nassajew die Enkelin der legendären Maria-Marjam,<br />
einer russischen Schönheit aus der Familie<br />
der Romanows, einer Verwandten des Zaren Nikolaus<br />
II. Diese Frau verliebte sich unsterblich in den Tschetschenen<br />
Wacha, einen Offizier der zaristischen Armee,<br />
flüchtete mit ihm gegen den Willen ihrer Familie in den<br />
Kaukasus, konvertierte zum Islam, nahm den Namen<br />
Marjam an und gebar fünf Kinder. Gemeinsam mit ihrem<br />
Mann wurde sie nach Kasachstan deportiert, wo sie<br />
ihn auch begrub. Später kehrte sie nach Tschetschenien<br />
zurück, wo sie in den sechziger Jahren, fast wie eine<br />
tschetschenische Heilige verehrt, starb. Kurz gesagt, ist<br />
das eine schöne und im Kaukasus verbreitete Geschichte<br />
381
über eine russisch-tschetschenische Liebe und Freundschaft,<br />
aber darum geht es im Augenblick nicht. Denn<br />
Selimchan Nassajew hilft diese Geschichte nicht, auch<br />
wenn das Blut von zehn Königshäusern in seinen Adern<br />
fließen würde. Man geht mit ihm genauso um wie mit<br />
allen anderen Tschetschenen, obwohl er ein Abkömmling<br />
der Romanows ist.<br />
Es gibt Plätze in Moskau, die man nicht gern aufsucht.<br />
Elendsquartiere in Hinterhöfen von Fabriken, in <strong>In</strong>dustriezonen,<br />
unter Hochspannungsanlagen. Dort kann man<br />
die Tschetschenen finden, die in der Hauptstadt zu überleben<br />
versuchen. Die Freser-Chaussee ist so ein Ort. Ein<br />
Asphaltstreifen, der vom Rjasanski-Prospekt abgeht und<br />
an alten vierstöckigen Ziegelbauten vorbeiführt, die man<br />
nur mit Mühe als Unterkünfte bezeichnen kann.<br />
Und eigentlich sind sie das auch nicht, denn hier befinden<br />
sich die Werkhallen der Freser-Fabrik, die es allerdings<br />
schon seit längerer Zeit nicht mehr gibt. Mit der<br />
Fabrik ging es seit Beginn der Perestroika-Zeit zu Ende,<br />
die Arbeiter versuchten woanders unterzukommen, aber<br />
die Chefs der ehemaligen Fabrik leben davon, dass sie<br />
die Werkhallen und andere Gebäude als Wohnraum<br />
vermieten. Eine von diesen schmutzigen, geplünderten<br />
Werkhallen bezogen im Jahr 1997 die ersten tschetschenischen<br />
Flüchtlinge : Menschen, die vor den Banditen geflohen<br />
waren, die in der Zwischenkriegszeit in Tschetschenien<br />
ihr Unwesen trieben, hauptsächlich Mitglieder von<br />
Familien, die in Opposition zu Bassajew und Maschadow<br />
382
standen. Die Werkleitung der Freser-Fabrik hatte ihnen<br />
erlaubt, die Räume eigenhändig zu renovieren und sie<br />
als Wohnungen zu nutzen. Die Miete bezahlen sie direkt<br />
an die Verwaltung. Bis heute wohnen Tschetschenen<br />
dort, darunter die Nassajews. Eine von sechsundzwanzig<br />
Familien. Die Miliz der Gegend kennt sie alle, keiner<br />
versteckt sich hier oder verheimlicht etwas. Wozu auch.<br />
Nach dem Terroranschlag auf »Nord-Ost« kamen die<br />
Milizionäre vom Nishegorodskaja-Revier zuerst hierher<br />
und erklärten den Leuten, dass sie »von oben« den Befehl<br />
erhalten hätten, auf jedem Gelände fünfzehn Tschetschenen<br />
zu verhaften. Die männlichen Familienmitglieder<br />
wurden in Bussen auf die Wache gebracht, zur Abnahme<br />
der Fingerabdrücke.<br />
Selimchan Nassajew-Romanow hatte Pech : Er war zu<br />
diesem Zeitpunkt nicht zu Hause, weil er gerade eine<br />
Partie Kugelschreiber, die die Familie in Heimarbeit<br />
zusammensetzt, ablieferte und die Einzelteile für die<br />
nächste Fuhre holte.<br />
Kurz darauf wurde dem Nachfolger der Zarenfamilie<br />
in der ehemaligen Fabrikhalle ein persönlicher Besuch<br />
abgestattet. Es hieß : »Zur Abnahme der Fingerabdrücke.«<br />
Rosa Nassajewa lief ? ihn ruhig gehen. Nervös wurde<br />
die Familie erst einige Stunden später, als der Sohn<br />
immer noch nicht zurück war, und schließlich gingen<br />
die besorgten Eltern zum Milizrevier, wo sie die typische<br />
Antwort erhielten : »<strong>In</strong> der Tasche Ihres Sohnes war eine<br />
Handgranate. Wir haben ihn festgenommen.«<br />
»Ich habe geschrien : ›Sie haben kein Recht dazu ! Sie<br />
383
haben ihn doch selbst abgeholt ! Er ist mit Ihnen aus<br />
dem Haus gegangen ! Und er hatte nichts in der Tasche !<br />
Ringsum waren Zeugen !‹«, erzählt Rosa Nassajewa. »Aber<br />
die Milizionäre sagten : ›Tschetschenen sind für uns keine<br />
Zeugen.‹ Das hat mir so wehgetan. Was sind wir denn ?<br />
Keine Staatsbürger ?«<br />
An diesem Abend musste sie unverrichteter Dinge<br />
wieder nach Hause gehen. Und am nächsten Tag wurde<br />
ihr eröffnet : »Außerdem dealt Ihr Sohn mit Marihuana.<br />
Ihm ist nicht mehr zu helfen.«<br />
»Ich wurde zum Verhör gebracht«, erzählt Selimchan<br />
Nassajew. »Einer von den Milizionären, der Ranghöchste,<br />
hielt ein Päckchen in der Hand und sagte : ›Du dealst mit<br />
Heroin.‹ Meine Hände steckten in Handschellen, sie schoben<br />
mir das Päckchen in die Hosentasche, ich regte mich<br />
auf. Darauf sagten sie : ›Na gut, dann bekommst du noch<br />
die Handgranate dazu.‹ Ihr Chef wischte den Zünder<br />
ab, damit es keine ›fremden‹ Fingerabdrücke darauf gab,<br />
schob ihn mir in die Hände und nahm das Protokoll auf.<br />
Ich fing wieder an zu schreien, dass sie das nicht tun dürften.<br />
Und sie sagten : ›Doch, wir dürfen, wir haben unsere<br />
Vorschriften. Und wenn du dich nicht kooperativ zeigst<br />
und gestehst, werden wir deine Verwandten mit hineinziehen.<br />
Wir fahren jetzt sofort mit einem Durchsuchungsbefehl<br />
zu dir nach Hause und finden dort den anderen<br />
Teil dieser Granate. Also, unterschreibe das Geständnis.‹«<br />
Selimchan Nassajew blieb hart, er unterschrieb nichts.<br />
Sie schlugen ihn, sagten, sie würden ihn so zurichten,<br />
dass kein Anwalt ihn mehr anschauen wollte. Am Ende<br />
384
ließen sie Selimchan Nassajew frei, weil sich Journalisten<br />
und Aslambek Aslachanow, Abgeordneter der Duma, in<br />
die Sache einmischten. Selimchan Nassajew hockt jetzt<br />
zu Hause, in seinem Elendsquartier, in tiefster Depression,<br />
und fürchtet sich vor jedem Klopfen an der Tür.<br />
Depressionen haben eigentlich alle Tschetschenen. Sie<br />
werden keinen einzigen Optimisten finden, weder unter<br />
den Jungen noch unter den Alten. Ich habe jedenfalls<br />
noch keinen einzigen getroffen. Sie sind apathisch und<br />
erwarten vom Leben nur das Schlimmste. Vom Ausland<br />
träumen sie aus dem einen Grund, weil sie dort vielleicht<br />
die Chance haben, sich in der kosmopolitischen Menge<br />
zu verlieren und ihr wichtigstes Geheimnis zu verbergen<br />
– ihre Nationalität. So tief zu verbergen, dass keiner<br />
daran rühren kann.<br />
»<strong>In</strong> unserem Land ist wieder einmal eine Welle antitschetschenischer<br />
Übergriffe seitens der Miliz zu beobachten.«<br />
Das ist die Meinung von Swetlana Gannuschkina,<br />
Leiterin des Hilfskomitees für Flüchtlinge und Zwangsübersiedler.<br />
Bei diesem Komitee suchen sie jetzt Hilfe, die<br />
Tschetschenen, Familienangehörigen von Verschleppten,<br />
von Leuten, denen Drogen oder Munition untergeschoben<br />
worden sind, die ihre Arbeit verloren haben oder denen<br />
man mit der Deportation aus der russischen Hauptstadt<br />
gedroht hat, Menschen, die russische Staatsbürger<br />
sind. Sie alle kommen zu Swetlana Gannuschkina, weil<br />
sie sonst nirgends hingehen können. »Der Startschuss für<br />
die neue Welle des hemmungslosen staatlichen Rassis-<br />
385
mus, der offiziell als ›Anti-Terror-Operation‹ bezeichnet<br />
wird«, fährt Swetlana Gannuschkina fort, »wurde sofort<br />
nach dem Sturm auf das Gebäude in der Dubrowka gegeben.<br />
Die Tschetschenen werden jetzt überall hinausgeworfen,<br />
in erster Linie verlieren sie ihre Arbeitsstellen<br />
und ihre Wohnungen. Ein ganzes Volk wird für die<br />
Handlungen von ganz konkreten Personen verantwortlich<br />
gemacht. Die verbreitetste Methode dieser ethnischen<br />
Diskreditierung ist die Konstruktion von Straftatbeständen,<br />
indem man den Betroffenen Drogen oder Munition<br />
unterschiebt. Die Milizionäre verhalten sich dabei<br />
ganz ›galant‹, denn sie bieten den Opfern an : ›Na, was<br />
willst du ? Drogen ? Oder Munition ?‹ Retten können sich<br />
nur Menschen, die solche Mütter haben wie Makka Schidajewa.<br />
Aber was machen die anderen ?«<br />
Ein tschetschenisches Paar hat drei Töchter. Ein Mädchen<br />
bestand die Aufnahmeprüfung für die Musikschule,<br />
die beiden anderen nicht. Die Eltern baten eine Lehrerin,<br />
diesen beiden private Klavierstunden zu geben. Letzte<br />
Woche brach die Lehrerin den Unterricht ab, die Direktorin<br />
der Musikschule hatte es ihr, unter Berufung auf<br />
eine Anweisung des Kulturamts, verboten. Falls sie den<br />
Privatunterricht bei den Tschetschenen fortsetzte, würden<br />
die Sicherheitsdienste sie unter die Lupe nehmen.<br />
<strong>In</strong> all diese Dinge sind wir, das Volk, involviert. Die<br />
überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung ist<br />
mit der staatlichen Xenophobie einverstanden und sieht<br />
386
keinen Grund für Proteste. Warum ? Die offizielle Propaganda<br />
ist sehr effizient, und die Mehrheit des Volkes<br />
teilt <strong>Putins</strong> Ansichten über die kollektive Verantwortung<br />
des tschetschenischen Volkes für die Verbrechen, die von<br />
einzelnen seiner Vertreter begangen worden sind.<br />
Trotz des bereits mehrere Jahre andauernden Kriegs,<br />
der Terroranschläge, der Flüchtlingsströme, ist in <strong>Russland</strong><br />
völlig unklar, was die Machthaber nun eigentlich<br />
von den Tschetschenen wollen. Möchten sie, dass die<br />
Tschetschenen in <strong>Russland</strong> leben, also zum gemeinsamen<br />
Ganzen gehören ? Oder nicht ?<br />
Zum Schluss eine ganz einfache Geschichte über normale<br />
Leute, die der staatlichen Hysterie ausgesetzt sind.<br />
»Bekommst du in der Schule oft Verweise ?«<br />
»Ja«, seufzt Sirashdi.<br />
»Und hast du sie verdient ?«<br />
»Ja«, er seufzt wieder.<br />
»Wofür, zum Beispiel ?«<br />
»Ich laufe über den Gang, einer schlägt mich, und ich<br />
haue sofort zurück, damit sie mich nicht fertigmachen<br />
können. Dann werde ich gefragt : ›Hast du ihn geschlagen<br />
?‹ Und ich sage immer ehrlich : ›Ja.‹ Die anderen sagen<br />
nie die Wahrheit, und ich bekomme die Verweise.«<br />
»Vielleicht solltest du es auch nicht zugeben ? Wäre<br />
das nicht einfacher ?«<br />
»Nein.« Diesmal seufzt er ganz tief. »Ich bin doch<br />
kein Mädchen. Wenn ich was getan habe, dann gebe<br />
ich es auch zu.«<br />
387
»Wissen Sie, er wollte einem von unseren Kindern ein<br />
Bein stellen, damit das Kind stürzt, sich an der Schläfe<br />
verletzt und stirbt.«<br />
So reden die Erwachsenen über ihn, den siebenjährigen<br />
tschetschenischen Jungen Sirashdi Digajew. Genauer<br />
gesagt, äußert diese Beobachtungen eine Frau, Mitglied<br />
des Elternkomitees der Klasse 2 b in der Moskauer<br />
Schule Nr. 155, in die der Junge geht.<br />
»Mein Kind beschwert sich, dass Sirashdi nie etwas<br />
mithat und es immer mit ihm teilen muss«, sagt eine<br />
weitere Mutter, ebenfalls Mitglied des Komitees.<br />
Das Kind beschwert sich ? Aber warum ? Es muss doch<br />
teilen, wenn ein anderes neben ihm nichts hat.<br />
»Er stört alle. Begreifen Sie doch ! Mein Sohn hat mir<br />
erklärt, warum er die Hausaufgaben nicht mitschreiben<br />
konnte. Weil Sirashdi solchen Krach machte, dass er nichts<br />
hören konnte. Sirashdi ist nicht lenkbar. Wie alle Tschetschenen.<br />
Begreifen Sie das !« Sagt die nächste Mutter.<br />
Wir sitzen in einem leeren Klassenzimmer und<br />
vertiefen uns in das Thema. Die Schüler der zweiten<br />
Klasse sind nach Hause gegangen und das Elternkomitee<br />
bespricht, wie man den kleinen Tschetschenen aus<br />
der Schule werfen kann, »damit unsere Kinder nichts<br />
Schlechtes von einem Mitschüler lernen, der möglicherweise<br />
ein zukünftiger Terrorist ist.«<br />
Glauben Sie, das ist ein Scherz ? Nein, ein Zitat.<br />
»Verstehen Sie uns richtig ! Er ist zwar Tschetschene,<br />
aber wir teilen die Kinder nicht nach ihrer Nationalität<br />
ein. Nein ! Wir wollen unsere Kinder nur schützen.«<br />
388
Aber wovor ? Eines Tages im November berief das<br />
Elternkomitee eine Versammlung ein. Man wies Sirashdis<br />
Eltern darauf hin, dass das Komitee vom Direktor<br />
verlangen würde, den Jungen aus der Schule auszuschließen,<br />
falls sich bis zum Jahreswechsel sein Benehmen<br />
nicht entsprechend den Vorstellungen der Elternschaft<br />
verbessert hätte.<br />
»Können Sie mir bitte sagen, warum sie alle ausgerechnet<br />
nach Moskau drängen ?« Endlich kommt das<br />
Gespräch auf den wunden Punkt. Eine Frau vom Komitee<br />
versucht mir eine Woche später die Entscheidung der<br />
Elternvertreter zu erklären.<br />
Aber warum sollten sie nicht nach Moskau kommen ?<br />
Wer hat gesagt, dass diese Stadt etwas Besonderes ist ?<br />
Dass hier so außergewöhnliche Menschen leben, die sich<br />
durch die bloße Annäherung anderer russischer Staatsbürger<br />
in ihrem Selbstgefühl gestört fühlen ?<br />
»Warum sagen Sie, dass die es schwer haben !«, schreit<br />
eine Mutter fast heraus. »Fragt jemand danach, ob wir<br />
es schwer haben ? Und woher wollen Sie wissen, dass<br />
unsere Kinder es leichter haben als er ?«<br />
Warum ? Sirashdi ist ein Junge, der 1995 in Tschetschenien<br />
geboren wurde. Seine Mutter Sulai musste als<br />
Schwangere zwischen Bombardements und Schusswechseln<br />
herumlaufen. 1996 siedelten sie nach Moskau über,<br />
der Sohn wuchs in der Hauptstadt auf. Aber bei Gewittern<br />
und Salutschüssen fürchtet er sich, weint und verkriecht<br />
sich und kann nicht erklären, warum.<br />
»Was, Sie fühlen sich hier nicht wie zu Hause ?«, ertönt<br />
389
eine weitere enervierte Stimme. »Wollen Sie uns etwa<br />
Ihre Regeln vorschreiben ? Das geht nicht !«<br />
Alwi Digajew, Sirashdis Vater, der ebenfalls auf der<br />
Versammlung war und sich alles angehört hatte, hatte<br />
sich zu Wort gemeldet und versucht, von seinen Problemen<br />
und seinem Leid zu erzählen. Dass ihr Leben in<br />
Moskau nicht so einfach sei, dass ein Milizionär seine<br />
Wohnung betrete, ohne die Stiefel auszuziehen, und ihn<br />
in Anwesenheit seiner Kinder unflätig beschimpfe. Er als<br />
Vater könne nichts dagegen tun, und die Kinder würden<br />
das alles beobachten.<br />
Alwi Digajew sagte damals noch, der Hauptgrund dafür,<br />
dass seine Familie nicht in Tschetschenien lebe, sondern<br />
in Moskau, wo sie sich nicht wohl fühlten, sei, dass<br />
seine Kinder die Möglichkeit haben sollten, nicht im<br />
Krieg zur Schule zu gehen. Seine Frau Sulai sei der Ausbildung<br />
nach Lehrerin für Mathematik, aber sie handele<br />
mit selbst zubereiteten Hühnerrouladen auf dem Markt,<br />
obwohl sie das eigentlich nicht könne. Ihr ganzer Lebensinhalt<br />
seien die Kinder, und ihnen wollten sie eine gute<br />
Ausbildung in der Hauptstadt ermöglichen.<br />
»Nein, sieh einer an ! Sie drängeln sich ins Stadtzentrum<br />
! Und wollen gleich noch die besten Wohnungen auf<br />
dem Tablett serviert bekommen !« So kommentierte das<br />
Elternkomitee den seelischen Aufschrei des Vaters.<br />
»Wir wollen nicht, dass unsere Kinder mit so einem<br />
in eine Klasse gehen.« Dieses Urteil mussten sich Sirashdis<br />
Eltern nach der Versammlung anhören. Und waren<br />
natürlich beleidigt. Wären Sie das nicht ?<br />
390
Man sollte sich an eine Geschichte aus dem vergangenen<br />
Jahrhundert erinnern. Sie begann auf ähnliche<br />
Weise, nur hatte sie ein anderes Ende. Als die Nazis<br />
nach Dänemark kamen, befahlen sie allen Juden, gelbe<br />
Sterne zu tragen, damit man sie leichter identifizieren<br />
könne. Und alle Dänen nähten sich gelbe Sterne an, um<br />
die Juden zu retten und um sich selbst zu retten. Damit<br />
sie sich nicht in Nazis verwandelten. Und ihr König tat<br />
das Gleiche.<br />
Bei uns in Moskau ist alles umgekehrt. Als die Machthaber<br />
auf die Tschetschenen, unsere Mitbürger, einzuschlagen<br />
begannen, nähten wir uns nicht aus Solidarität<br />
gelbe Sterne an. Wir taten das Gegenteil und tun<br />
es bis heute, wir spielen »die Nation der Sieger«, wir<br />
brennen ein Erkennungszeichen auf ihre Rücken. Wir<br />
tun alles, damit Sirashdi nie das Gefühl loslässt, ein<br />
Paria zu sein.<br />
Ich bitte Sirashdi, mir sein Russischheft zu zeigen. Die<br />
Noten sind »ausreichend« oder »befriedigend«. Er macht<br />
nicht nur viele Fehler, er schreibt auch schlampig, woran<br />
ihn Jelena Dmitrijewna, seine Lehrerin, fast auf jeder<br />
Seite des Heftes in Schönschrift erinnert.<br />
Jelena Dmitrijewna hat das Bestreben des Elternkomitees,<br />
den tschetschenischen Jungen loszuwerden, nicht<br />
unterstützt. Aber sie hat es auch nicht kategorisch unterbunden.<br />
Sie hätte der Jagd auf die Familie Digajew ein<br />
Ende bereiten können, sie hätte nur unsere berühmtberüchtigte<br />
»Öffentlichkeit« einschalten müssen.<br />
Sirashdi versucht sich wie ein Aal herauszuwinden,<br />
391
eigentlich will er mir sein Russischheft nicht zeigen,<br />
würde es gern auf schlaue Art und Weise gegen sein<br />
Mathematikheft austauschen, weil es dort wesentlich<br />
besser aussieht. Sirashdi ist ein normales Kind, er ist lebhaft,<br />
geschickt und möchte unbedingt in den Augen der<br />
anderen als der Beste dastehen. Warum auch nicht ?<br />
Aber auch des Mathematikhefts wird er rasch überdrüssig.<br />
Er verspricht, einen Mann mit Schwert zu zeichnen,<br />
verschwindet flink wie ein Wiesel – er macht alles<br />
blitzschnell – und kommt nach ein paar Minuten mit<br />
einem Zeichenblock zurück. Darauf die Konturen eines<br />
Muskelprotzes aus »Herr der Ringe«. Und das leuchtende<br />
Schwert, mit einem gelben Stift gezeichnet.<br />
»Wir haben es nur gut mit ihm gemeint«, erklärten<br />
die Eltern der Schüler aus der Klasse 2 b, als sie begriffen,<br />
dass sich die Presse für die Geschichte mit dem kleinen<br />
tschetschenischen Jungen interessierte.<br />
Aber glaubt Sirashdi daran, dass man es gut mit ihm<br />
meint ? Er prügelt sich tatsächlich in den Pausen, wirft<br />
im Zeichenunterricht Farben gegen die Wand, stellt seinen<br />
Mitschülern ein Bein. Und je öfter er das tut, desto<br />
mehr wird ihm unter die Nase gerieben, dass er in der<br />
2 b ein Fremder ist.<br />
So sieht unser Alltag nach den Ereignissen im Musicaltheater<br />
»Nord-Ost« aus. Monate sind vergangen, und das<br />
Ausmaß der Tragödie kommt allmählich ans Tageslicht.<br />
Viele haben versucht, Kapital daraus zu schlagen. Sehr<br />
viele profitieren davon, aus allen möglichen Gründen.<br />
Zunächst einmal unser Präsident mit seinem ange-<br />
392
orenen Zynismus. Er streicht auf dem internationalen<br />
Parkett die Dividenden für diesen Horror mit tödlichem<br />
Ausgang ein, und auch im eigenen Land macht<br />
er mit fremdem Blut Werbung für sich. Und dann die<br />
so genannten normalen Leute, die Milizionäre, die Mitglieder<br />
der Elternkomitees usw. Der hemmungslose antitschetschenische<br />
Chauvinismus und die Übergriffe in<br />
den ersten Tagen nach »Nord-Ost« sind miteinander<br />
verschmolzen und zu einem konstanten, pragmatischen<br />
Rassismus geworden.<br />
»Sollen wir zu den Waffen greifen ?« fragen manche<br />
Tschetschenen und knirschen hilflos mit den Zähnen.<br />
»Nein, ich kann nicht mehr !«, stöhnen die anderen und<br />
lassen den Kopf sinken. Das ist eine natürliche Schwäche.<br />
Eine Schwäche, die sie sich nicht erlauben dürfen, weil<br />
ihre Kinder sie beobachten. Aber was sollen sie tun ?
AKAKI AKAKIJEWITSCH PUTIN-2<br />
Ich habe viel darüber nachgedacht, warum ich so wütend<br />
auf Putin bin. Warum ich ihn so ablehne, dass ich<br />
sogar ein Buch über ihn geschrieben habe. Obwohl ich<br />
keine Opponentin bin, keine politische Konkurrentin,<br />
nur eine russische Staatsbürgerin. Eine fünfundvierzigjährige<br />
Moskauerin, die erlebt hat, wie das sowjetischkommunistische<br />
System in den siebziger und achtziger<br />
Jahren des vorigen Jahrhunderts immer mehr zu bröckeln<br />
und von innen heraus zu verwesen begann. Diese<br />
Zeit wünsche ich mir wahrlich nicht zurück.<br />
Ich beende die Arbeit an diesem Buch am 6. Mai 2004,<br />
und das mit Absicht. Morgen wird es so weit sein. Kein<br />
Wunder ist geschehen, die Opposition hat die Ergebnisse<br />
der Präsidentschaftswahl vom 14. März nicht angefochten,<br />
sie hat den Kopf eingezogen. Daher findet morgen<br />
die Amtseinsetzung von Putin-2 statt, der mit einem<br />
unglaublichen Anteil von mehr als siebzig Prozent der<br />
Wählerstimmen in seinem Amt bestätigt wurde. Sogar<br />
wenn wir annehmen, dass etwa zwanzig Prozent der<br />
Stimmen gefälscht sind, wäre das Ergebnis völlig ausreichend<br />
für die Wahl zum Präsidenten.<br />
Es bleiben nur wenige Stunden, dann kommt der 7.<br />
Mai 2004. Und Putin, ein typischer Oberstleutnant des<br />
395
sowjetischen KGB mit der beschränkten, provinziellen<br />
Weltanschauung eines Oberstleutnants und dem unansehnlichen<br />
Aussehen eines Oberstleutnants, der es nicht<br />
einmal zum Oberst geschafft hat, mit den Manieren<br />
eines Offiziers der sowjetischen Geheimpolizei, der es<br />
gewöhnt ist, seinen Mitmenschen nachzuspionieren, mit<br />
seiner Rachsucht (zur feierlichen Amtseinsetzung wurde<br />
kein einziger Politiker der Opposition und keine einzige<br />
Partei, die nicht mit Putin im Gleichschritt marschiert,<br />
eingeladen), ein kleiner Beamter wie Gogols Akaki Akakijewitsch<br />
aus der Novelle »Der Mantel«, dieser Mensch<br />
also wird wieder den Thron besteigen. Den großen russischen<br />
Thron.<br />
Breshnew konnten wir nicht leiden. Andropow war<br />
blutrünstig, allerdings leicht demokratisch angehaucht.<br />
Tschernenko war dumm. Gorbatschow hat uns nicht<br />
gefallen. Unter Jelzin mussten wir uns aus Angst vor den<br />
Folgen seiner Handlungen ab und zu bekreuzigen.<br />
Und hier haben wir das Resultat. Morgen, am 7. Mai,<br />
wird dieser Akaki Akakijewitsch Putin, Leibwächter seiner<br />
Vorgänger aus der 25. Abteilung, der eigentlich in<br />
der Postenkette stehen müsste, wenn eine VIP-Kolonne<br />
vorbeifährt, über die roten Teppiche zum Thronsaal des<br />
Kremls schreiten. Als wäre er tatsächlich der Herr hier.<br />
Ringsum wird das blank polierte Zarengold funkeln, das<br />
Gesinde wird unterwürfig lächeln, die Mitstreiter, lauter<br />
ehemalige Geheimdienstler aus den unteren Rängen des<br />
KGB, denen erst Putin wichtige Posten zuschanzte, werden<br />
eine würdevolle Haltung annehmen.<br />
396
Wahrscheinlich streckte Lenin seine Brust genauso<br />
heraus, als er im Jahre 1918 nach der Revolution im<br />
eroberten Kreml eintraf. Die offizielle kommunistische<br />
Geschichte – und eine andere haben wir nicht – behauptet,<br />
dass Lenins Auftritt bescheiden war. Aber ich glaube,<br />
dass er frech einherstolzierte, als wollte er sagen : Da<br />
bin ich, ihr habt gedacht, ich wäre niemand, aber ich<br />
habe mein Ziel erreicht, ich habe <strong>Russland</strong> in die Knie<br />
gezwungen und es dazu gebracht, mir Treue zu schwören.<br />
Und unser heutiger Späher vom KGB, der nicht einmal<br />
dort etwas Überragendes leistete, stolziert genauso durch<br />
den Kreml. Stolziert und rächt sich.<br />
Aber wir wollen den Film ein wenig zurückspulen.<br />
Am 14. März 2004 wurde Putin zum zweiten Mal russischer<br />
Präsident. Die Ergebnisse der anderen Kandidaten<br />
waren deprimierend. Sowohl in unserem Land als<br />
auch im Ausland wurde seine Wiederwahl natürlich vorhergesagt,<br />
besonders nach den Parlamentswahlen vom<br />
7. Dezember 2003, als die demokratische und liberale<br />
Opposition in <strong>Russland</strong> eine vernichtende Niederlage<br />
einstecken musste. Deswegen erstaunte der Wahlausgang<br />
vom 14. März auch kaum jemanden. Wir hatten internationale<br />
Beobachter, aber alles lief irgendwie träge ab.<br />
Der Wahltag wirkte wie ein Remake der alten sowjetischen,<br />
autoritär-bürokratischen Zeit, als das »Volk« zur<br />
»Willensbekundung« schritt, eine Zeit, an die sich viele<br />
von uns noch gut erinnern. Auch ich. Früher hat man<br />
nämlich den Wahlzettel mit irgendeinem Namen in die<br />
397
Urne geworfen, es war völlig egal, denn das Ergebnis<br />
stand sowieso von vornherein fest.<br />
Na und ? Hat uns die Tatsache, dass wir uns noch gut<br />
daran erinnern, wie die Wahlen zu Sowjetzeiten aussahen,<br />
am 14. März vor <strong>In</strong>dolenz gerettet ? Nein. Wir<br />
gingen brav zu den Urnen, warfen gleichgültig unsere<br />
Wahlzettel ein. Wir waren überzeugt, dass wir die Sowjetunion<br />
wiederhatten und »von uns sowieso nichts<br />
abhängt«.<br />
Am 14. März verbrachte ich viel Zeit in einem Wahllokal<br />
in der Dolgoruki-Straße in Moskau, in der ich<br />
wohne. Unter Jelzin war diese Straße umbenannt worden.<br />
Aus der Kaljajew-Straße (Kaljajew war ein Terrorist<br />
des 19. Jahrhunderts, der als Revolutionär galt) war die<br />
Dolgoruki-Straße geworden (Dolgoruki war ein Fürst,<br />
dessen Anwesen sich hier vor der Bolschewikenzeit befunden<br />
hatte).<br />
Ich unterhielt mich mit den Leuten, die zur Wahl<br />
kamen und anschließend schnell weggingen. Sie waren<br />
gleichgültig, absolut gleichgültig im Blick auf die Wiederwahl<br />
<strong>Putins</strong> für eine zweite Amtsperiode. »Sie« wollen<br />
es so ? Na gut. So hat es die Mehrheit kommentiert. Die<br />
Minderheit machte sich lustig : »Wahrscheinlich wird<br />
die Dolgoruki-Straße wieder in Kaljajew-Straße umbenannt.«<br />
Sie redeten so, weil es mit <strong>Putins</strong> Erscheinen und der<br />
Stärkung seiner Macht offensichtlich geworden ist, dass<br />
die Sowjetzeiten wieder einziehen und Revanche genommen<br />
wird.<br />
398
Man muss sagen, daran sind nicht nur unsere Schlamperei,<br />
Apathie und Erschöpfung nach den endlosen Revolutionen<br />
schuld. Auch der Westen hat das Ganze mit<br />
Jubelgeschrei begrüßt, allen voran Berlusconi, <strong>Putins</strong><br />
Fan und sein wichtigster europäischer Anwalt. Aber auch<br />
Blair, Schröder, Chirac und Bush Junior waren mit von<br />
der Partie.<br />
Keiner stellte sich unserem KGBler in den Weg und<br />
verhinderte seinen Einzug in den Kreml, der Westen<br />
nicht, und auch in unserem Land gab es keine ernsthafte<br />
Opposition. <strong>In</strong> der ganzen Zeit des so genannten<br />
Wahlkampfs, vom 7. Dezember 2003 bis zum 14. März<br />
2004, machte Putin sich in aller Öffentlichkeit über die<br />
Allgemeinheit lustig.<br />
Die größte Verspottung bestand darin, dass er jede<br />
Diskussion ablehnte. Er wollte über keinen einzigen<br />
Punkt seiner Politik der letzten vier Jahre Rechenschaft<br />
ablegen. Er verhöhnte nicht nur die Vertreter der Opposition,<br />
sondern auch den Begriff der Opposition selbst.<br />
Er stellte weder ein Programm vor noch führte er einen<br />
Wahlkampf. Stattdessen zeigte ihn das Fernsehen wie in<br />
Sowjetzeiten einfach täglich bei der Lösung aller möglichen<br />
politischen Aufgaben. Zum Beispiel, wie er hohe<br />
Regierungsbeamte in seinem Arbeitszimmer im Kreml<br />
empfängt und ihnen qualifizierte Ratschläge erteilt, wie<br />
man dieses oder jenes Ministerium zu leiten hat.<br />
Natürlich wurde in der Öffentlichkeit ein wenig gelacht<br />
: Der führt sich ja auf wie Stalin. Auch Stalin war<br />
der »Freund aller Kinder«, der »oberste Schweinezüch-<br />
399
ter«, der »beste Bergarbeiter«, der »Kumpel aller Sportler«<br />
und der »tollste Filmregisseur«.<br />
Aber diese Lacher blieben nur Lacher, die Emotionen<br />
verliefen sich im Sand. Es gab keine ernsthaften Proteste<br />
wegen der fehlenden Diskussionen.<br />
Und weil es nicht den leisesten Hauch von Widerstand<br />
gab, wurde Putin immer unverschämter. Er behauptete,<br />
es sei nicht wahr, dass er rücksichtslos sei, auf nichts<br />
reagiere und nur seine Linie durchdrücke, damit er um<br />
jeden Preis an der Macht bleibe. Im Gegenteil.<br />
Diese Strategien sind bekannt, er hat sie in seinem<br />
früheren Beruf bei den Tschekisten erlernt : das typische<br />
Verhalten eines KGB-Mitarbeiters. Zuerst werden mit<br />
Hilfe eines engen Personenkreises gewisse <strong>In</strong>formationen<br />
in der Öffentlichkeit gestreut. <strong>In</strong> unserem Fall erfüllt<br />
diese Funktion die politische Elite der Hauptstadt.<br />
Zweck der Sache ist, mögliche Reaktionen zu testen. Gibt<br />
es keine Reaktionen, oder nur lustlose, dann kann man<br />
seinen Kurs ruhig fortsetzen und handeln, wie man es<br />
für richtig hält, ohne Rücksicht auf die anderen.<br />
Ich erlaube mir eine kurze Abweichung vom Thema. Sie<br />
betrifft nicht Putin, sondern uns, die russische Öffentlichkeit.<br />
Die Anhänger <strong>Putins</strong>, Menschen, die ihn unterstützen,<br />
die ein <strong>In</strong>teresse daran haben, dass er im Amt<br />
bleibt, und die alle in der Administration des Präsidenten<br />
versammelt sind, die in Wirklichkeit unser Land regiert –<br />
nicht die Regierung (die erfüllt nur den Willen des Präsidenten)<br />
oder das Parlament (das segnet nur die Geset-<br />
400
zesvorlagen des Präsidenten ab) –, diese Menschen also<br />
beobachten sehr aufmerksam jede Reaktion der Öffentlichkeit.<br />
Es ist nicht wahr, dass sie darauf pfeifen. Und<br />
das bedeutet einiges : dass wir für alles, was geschieht,<br />
selbst verantwortlich sind. Wir – und nicht Putin. Unsere<br />
»Küchengespräche« über den Präsidenten und seine zynische<br />
Verspottung <strong>Russland</strong>s sind der Beweis dafür, wie<br />
effizient <strong>Putins</strong> Politik in den letzten vier Jahren war. Die<br />
soziale Apathie, die unsere Gesellschaft an den Tag legt,<br />
ist grenzenlos und garantiert, dass das Volk Putin auch<br />
in den nächsten vier Jahren alles straflos durchgehen<br />
lässt. Wir reagierten auf seine Reden und Handlungen<br />
nicht nur mit Trägheit, sondern mit Angst. Und wir zeigten<br />
diese Angst den Tschekisten, die in der Zwischenzeit<br />
ihre Macht noch untermauerten. Damit verstärkten wir<br />
ihr Bedürfnis, uns wie Arbeitsvieh zu behandeln. Der<br />
KGB achtet nur die Starken, die Schwachen frisst er auf.<br />
Das sollten wir eigentlich wissen.<br />
Kehren wir zum Februar 2004 zurück, in die Zeit vor<br />
den Wahlen, einige Wochen vor dem 14. März. Irgendwann<br />
spürte der Kreml plötzlich, dass der Bevölkerung<br />
<strong>Putins</strong> Unverschämtheit allmählich auf die Nerven ging.<br />
Putin wollte nicht diskutieren, er wollte auch keine Überzeugungsarbeit<br />
leisten. Der »Wahlkampf« war schrecklich<br />
langweilig.<br />
Drei Wochen vor dem 14. März erklärte der Kreml,<br />
um die Bevölkerung, deren Stimmung bereits im Keller<br />
war, etwas aufzumuntern, dass Putin im Begriff war,<br />
401
einen »bedeutsamen Schritt« zu unternehmen. Die Entlassung<br />
des Ministerkabinetts drei Wochen vor der Wahl<br />
sollte als solcher betrachtet werden.<br />
Im ersten Augenblick waren alle verblüfft. Das war<br />
doch irgendwie dumm, ergab überhaupt keine Logik.<br />
Denn nach den Wahlen musste gemäß der Verfassung<br />
sowieso das gesamte Kabinett zurücktreten, der neu<br />
gewählte Präsident hatte den neuen Premierminister zu<br />
ernennen, und der schlug dann die Minister vor. Und<br />
vernünftig betrachtet, wozu brauchten wir jetzt ein neues<br />
Kabinett, wenn nach dem Amtsantritt ohnehin andere<br />
Minister ernannt werden würden ? Wozu das ganze Tohuwabohu,<br />
das die Arbeit der Regierung endgültig lähmte,<br />
die ohnehin den größten Teil ihrer Arbeitszeit mit der<br />
Lösung eigener kommerzieller Probleme beschäftigt war<br />
und tief im Sumpf der Korruption steckte ?<br />
Aber obwohl die Kabinettsumbildung einen Monat vor<br />
dem ohnehin dafür vorgesehenen Zeitpunkt eine dumme<br />
Aktion war, kam tatsächlich eine gewisse Bewegung ins<br />
Spiel. Die politische Elite wurde wach, auf allen Fernsehkanälen<br />
wurde darüber gerätselt, wen Putin wohl<br />
ernennen würde, die Politologen hatten Futter für ihre<br />
Diskussionen, die Presse endlich einen Stoff, um über<br />
den »Wahlkampf« zu schreiben.<br />
Allerdings dauerte dieser politische Wachzustand leider<br />
nicht länger als eine Woche. <strong>In</strong> dieser Zeit versuchten<br />
<strong>Putins</strong> Politechnokraten täglich die Bevölkerung per<br />
Fernsehen davon zu überzeugen, dass der Präsident sich<br />
nur zu diesem Schritt entschlossen habe, weil er »absolut<br />
402
ehrlich zur Bevölkerung sein«, nicht »mit der Katze im<br />
Sack« (gemeint war das von der Verfassung vorgeschriebene<br />
Procedere, dass nach dem Urnengang ein neues<br />
Kabinett zu ernennen ist) zur Wahl gehen und daher<br />
bereits vor dem 14. März den von ihm vorgesehenen<br />
Kurs offen legen wolle.<br />
Ich muss zugeben, die Hälfte der Bevölkerung glaubte<br />
ihm. Jene fünfzig Prozent unserer Bevölkerung, die dieser<br />
verlogenen, dummen Argumentation vertrauten und<br />
sie sogar begrüßten, zeichnen folgende Kriterien aus : Sie<br />
lieben Putin und glauben ihm vorbehaltlos, irrational,<br />
leidenschaftlich und ohne nachzudenken – sie sind einfach<br />
blind in ihrem Glauben. Das ist alles.<br />
Und tatsächlich, nur wenn man blind vertraut und<br />
hingebungsvoll liebt, übersieht man eine elementare<br />
Frage : Was hinderte Putin, seinen politischen Kurs zu<br />
demonstrieren, ohne eigens dafür das Kabinett zu entlassen<br />
? Wer hatte denn mehr Möglichkeiten als er ? Zum<br />
Beispiel hätte er an einer öffentlichen Diskussion teilnehmen<br />
und im Dialog, Auge in Auge mit einem Kontrahenten,<br />
seinen Standpunkt vertreten können. Warum<br />
muss man gleich die Regierung austauschen, wenn man<br />
seinen politischen Kurs vorführen möchte ?<br />
Die Woche nach der Verkündung der Kabinettsauflösung<br />
übertraf in ihrem Zynismus alles zuvor Geschehene.<br />
Im Fernsehen wurde der Bevölkerung einfach mitgeteilt,<br />
dass vom 14. März rein gar nichts abhänge, dass alles<br />
schon entschieden sei und Putin der neue Zar sein werde.<br />
Putin werde gewinnen, es gebe keine andere Möglichkeit.<br />
403
Zuerst lautete die Argumentation : »Putin will seinen<br />
politischen Kurs im Vorfeld offen legen, damit die Bevölkerung<br />
bei der Wahl nicht das Gefühl hat, ›die Katze<br />
im Sack zu kaufen‹.« Aber innerhalb nur einer Woche<br />
machten <strong>Putins</strong> Presseleute daraus : »Er will seinen politischen<br />
Kurs im Vorfeld offen legen, weil sowieso nur er<br />
die Wahl gewinnen kann.« Wenn aber nur er die Wahl<br />
gewinnen kann, welchen Unterschied macht es dann,<br />
ob man vor dem 14. März das Kabinett umbildet oder<br />
danach ?<br />
Dann kam der Tag, an dem der Name des neuen Premierministers<br />
bekannt gegeben wurde. <strong>In</strong>szeniert wurde<br />
das Ganze wie der Auftritt eines berühmten Opernsängers,<br />
außerdem versicherte uns das Fernsehen, dass<br />
der Ernannte eventuell im Jahr 2008 <strong>Putins</strong> Nachfolger<br />
sein würde.<br />
<strong>In</strong> <strong>Russland</strong> darf sich ein Politiker nicht lächerlich machen,<br />
das nimmt immer ein schlimmes Ende. Er wird<br />
zum Protagonisten zahlreicher Witze und Anekdoten, so<br />
wie es Leonid Breshnew erging. Als Putin den Namen<br />
seines neuen Premierministers bekannt gab, lachten sogar<br />
seine überzeugten Anhänger. Allen war sofort klar,<br />
dass der Kreml eine ganz schlechte Komödie gespielt<br />
hatte. Wie sich herausstellte, hatte Putin bei seiner Kabinettsumbildung<br />
allein Premierminister Michail Kasjanow<br />
entlassen, der »bedeutsame Schritt« entpuppte sich<br />
als kleinliche, persönliche Abrechnung. Mehr war es<br />
nicht. Natürlich tarnte man diese Abrechnung mit Pres-<br />
404
seerklärungen, mit irgendeinem rhetorischen Quatsch,<br />
stellte sie als eine wichtige Entscheidung im <strong>In</strong>teresse<br />
des großen <strong>Russland</strong> hin.<br />
Der Berg kreißte und gebar eine Maus. Alle Minister<br />
blieben auf ihren Posten, nur Kasjanow musste gehen.<br />
Putin war auf Kasjanow schlecht zu sprechen, weil er ein<br />
Abkömmling der Jelzin-Ära war, den nicht anzutasten<br />
der erste russische Präsident Putin gebeten hatte, als er<br />
ihm zum Thron verhalf.<br />
Dieser Premierminister Kasjanow sprach sich als einziger<br />
Vertreter der heutigen russischen politischen Elite<br />
kategorisch gegen die Verhaftung des liberalen Oligarchen<br />
Michail Chodorkowski und gegen die allmähliche<br />
Zerschlagung des Ölkonzerns JUKOS aus. JUKOS ist<br />
das transparenteste Unternehmen in unserem korrupten<br />
Land, es hat als Erstes das internationale System der<br />
Wirtschaftsprüfung anerkannt, was, wie man bei uns<br />
sagt, ein Spiel »mit offenen Karten« bedeutet. Außerdem<br />
bestreitet JUKOS mehr als fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts,<br />
unterstützt eine große Universität,<br />
finanziert Kinderheime und stiftet viel Geld für wohltätige<br />
Zwecke.<br />
Aber Kasjanow wagte es, einen Menschen in Schutz zu<br />
nehmen, den Putin seit geraumer Zeit zu seinen persönlichen<br />
Feinden zählt. Chodorkowski unterstützte nämlich<br />
finanziell die demokratische Opposition, vor allem die<br />
»Jabloko-Partei« und die »Union der rechten Kräfte«.<br />
Für Putin, bei seinem Verständnis von Politik, war das<br />
eine schreckliche persönliche Beleidigung. Putin hatte<br />
405
ereits mehrmals öffentlich gezeigt, dass er grundsätzlich<br />
nicht begreift, was eine Diskussion ist, schon gar nicht,<br />
wenn ein Rangniederer mit einem Ranghöheren über<br />
Politik zu debattieren versucht. So etwas, meint Putin,<br />
darf es nicht geben. Und falls ein Rangniederer sich<br />
das mit ihm als Staatsoberhaupt erlaubt, dann ist er ein<br />
Feind. Putin verhält sich so, nicht weil er von Geburt<br />
an ein Tyrann und Despot wäre, sondern weil er dazu<br />
erzogen wurde. Dieses Verhalten hat man ihm beim<br />
KGB eingetrichtert, dessen Drillsystem er für ideal hält,<br />
was er schon mehrmals öffentlich bekundet hat. Wenn<br />
daher jemand nicht mit ihm einer Meinung ist, verlangt<br />
Putin kategorisch, mit »dieser Hysterie« aufzuhören. Das<br />
erklärt auch, warum er sich im Wahlkampf nicht der<br />
Diskussion stellte. Da ist er überhaupt nicht in seinem<br />
Element, er ist nicht fähig zu debattieren, er kann keinen<br />
Dialog führen. Seine Sache ist der Monolog, und zwar<br />
nach militärischem Muster : Solange du ein Untergebener<br />
bist, halt den Mund. Wirst du zum Vorgesetzten, bist<br />
du derjenige, der Monologe hält, und alle Untergebenen<br />
müssen so tun, als wären sie mit allem einverstanden.<br />
Dieses streng hierarchische Denken führt mitunter zu<br />
Amtsenthebung und physischer Vernichtung. Und es<br />
steht hinter dem, was Chodorkowski widerfahren ist.<br />
Aber kehren wir zur Kabinettsumbildung zurück. Kasjanow<br />
war weg, die anderen Minister waren geblieben und<br />
hatten fast alle ihr altes Ressort behalten. Putin präsentierte<br />
dem Land feierlich Michail Jefimowitsch Fradkow<br />
406
als neuen Premierminister. Der hatte zuletzt als Vertreter<br />
der Russischen Föderation bei der Europäischen Union in<br />
Brüssel eine ruhige Kugel geschoben. Ein unansehnlicher,<br />
harmloser, unauffälliger Herr mit schmalen Schultern<br />
und breitem Becken. Von seiner Funktion in Brüssel erfuhr<br />
die Bevölkerung allerdings erst am Tag seiner Ernennung<br />
zum Premierminister. Was gemäß unserer Tradition<br />
heißt, dass Fradkow ein stiller Vertreter derselben Organisation<br />
ist, der Putin den Großteil seines Lebens angehörte.<br />
Das ganze Land lachte, als es von Fradkow hörte.<br />
Aber Putin blieb hartnäckig und erklärte sogar, warum<br />
er diese »prinzipielle« Entscheidung getroffen hatte : Er<br />
habe ehrlich zur Bevölkerung sein wollen, damit alle<br />
von vornherein wüssten, mit wem er in die Wahlen gehe,<br />
mit wem er arbeiten und unsere schlimmsten Übel – die<br />
Armut und die Korruption – bekämpfen werde.<br />
Die Bevölkerung – sowohl die Putin-Befürworter als<br />
auch seine Gegner – lachte noch mehr, die schlechte<br />
Komödie wurde vor aller Augen weitergespielt. Zwar<br />
kannte das Volk Fradkow nicht, aber die Geschäftsleute<br />
konnten sich hervorragend an ihn erinnern, an die Zeit,<br />
als Fradkow Direktor der russischen Steuerpolizei gewesen<br />
war. (Fradkow ist ein typischer Vertreter der sowjetischen<br />
Nomenklatura, der sein Leben lang von einem<br />
Amt zum anderen geschoben wurde, unabhängig<br />
von seiner Ausbildung und seinem Können. Er ist der<br />
typische leitende Funktionär, dem egal ist, was er leitet,<br />
Hauptsache, er leitet.) Damals war die Steuerpolizei die<br />
korrupteste Behörde des ganzen Landes gewesen. Ihre<br />
407
Mitarbeiter hatten buchstäblich für alles Schmiergeld<br />
verlangt, für jede kleine Bescheinigung oder Auskunft.<br />
Daher war diese Behörde letzten Endes aufgelöst worden,<br />
und Fradkow hatte man, entsprechend der alten sowjetischen<br />
Nomenklatura-Tradition, nach Brüssel geschickt.<br />
Was nicht gerade eine Strafe war.<br />
Fradkow, von Putin zum Premierminister ernannt,<br />
flog gleich am nächsten Morgen von Brüssel nach Moskau,<br />
und die Bevölkerung bekam den nächsten Anlass<br />
zum Lachen. Auf dem Flughafen eingetroffen, erklärte<br />
Fradkow in seinem ersten <strong>In</strong>terview, er habe keine Ahnung,<br />
worin seine Arbeit bestehe, er habe auch kein Programm,<br />
überhaupt habe ihn das Ganze wie ein Blitz aus<br />
heiterem Himmel getroffen und er warte jetzt auf Anweisungen<br />
und <strong>In</strong>struktionen.<br />
<strong>In</strong> <strong>Russland</strong> spielt sich eine Menge hinter den Kulissen<br />
ab, viele Leute haben ein schlechtes Gedächtnis. Darum<br />
bestätigte die Duma, auch wenn sie gar keine Anweisungen<br />
und <strong>In</strong>struktionen von Putin erhalten hatte, mit<br />
überwiegender Mehrheit die Ernennung von Fradkow,<br />
indem sie sich »auf den Willen der Wähler, die Präsident<br />
Putin in allem vertrauen« berief. Denn seit den Parlamentswahlen<br />
vom 7. Dezember 2003 wird die Duma vom<br />
Kreml kontrolliert, es sind in ihr praktisch keine Fraktionen<br />
mehr vertreten, die in Opposition zu Putin stehen.<br />
Und auch die Wähler schluckten die Tatsache, dass ihr<br />
neuer Premierminister kein Programm hatte und nicht<br />
einmal wusste, was er am nächsten Tag tun würde.<br />
Der 14. März war da. Alles lief ab wie vom Kreml<br />
408
geplant, unverändert ging das Leben weiter. Die Beamten<br />
nahmen ihr hemmungsloses Stehlen wieder auf. Das<br />
Morden in Tschetschenien wurde fortgesetzt. Für kurze<br />
Zeit, für die Dauer des Wahlkampfs, hatte es ein wenig<br />
nachgelassen, was die Hoffnung auf ein Ende des<br />
Kriegs geweckt hatte. (Im März 2004 war es fünf Jahre<br />
her, dass der Zweite Tschetschenien-Krieg im Zuge von<br />
<strong>Putins</strong> erster Wahl zum Präsidenten begonnen hatte.)<br />
Zwei tschetschenische Feldkommandeure legten, in kaukasischer<br />
Tradition, anlässlich der Wahl ihre Waffen zu<br />
Füßen des Staatsoberhaupts nieder. Ihre Verwandten waren<br />
entführt und so lange festgehalten worden, bis die<br />
Feldkommandeure erklärten, dass sie für Putin seien und<br />
nicht mehr von der Unabhängigkeit träumten. Der inhaftierte<br />
Oligarch Chodorkowski schrieb reuevolle Briefe<br />
aus dem Gefängnis an Putin, JUKOS steuerte mit blitzartiger<br />
Geschwindigkeit auf den Konkurs zu. Berlusconi<br />
kam auf Besuch und bat seinen Freund Wladimir um<br />
Rat, fragte ihn, wie er selbst bei der Wahl einen Stimmanteil<br />
von siebzig Prozent bekommen könne. Putin<br />
sagte ihm nichts Konkretes, welchen Tipp sollte er seinem<br />
Freund Silvio auch geben, er würde es sowieso nicht<br />
begreifen, ist er doch trotz allem aus Europa. Gemeinsam<br />
fuhren sie in die Provinzstadt Lipezk, eröffneten<br />
eine Waschmaschinenfabrik, besuchten eine Flugschau<br />
der Armee. Putin fuhr damit fort, hochrangigen Beamten<br />
im Fernsehen Verweise zu erteilen. Wir sehen ihn<br />
ausschließlich in dieser Rolle : Entweder empfängt er in<br />
seinem Arbeitszimmer im Kreml Beamte und hört sich<br />
409
ihre Rechenschaftsberichte an, oder er gibt in einem<br />
Monolog irgendeinen Rüffel von sich. Diese Aufnahmen<br />
sind normalerweise von <strong>Putins</strong> PR-Leuten hervorragend<br />
durchdacht, es gibt keine Improvisationen, keine<br />
Zufälle, alles ist präzise kalkuliert. Zum Beispiel <strong>Putins</strong><br />
Auftritt zu Ostern vor seinem Volk, etwa einen Monat<br />
nach seiner Wiederwahl : Zu Beginn der Osternacht in<br />
der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau, die aus Beton<br />
an der Stelle errichtet worden war, an der sich früher<br />
ein Schwimmbad befunden hatte, standen Schulter<br />
an Schulter mit ihm, wie bei einer Militärparade, Premierminister<br />
Fradkow und Dmitri Medwedjew, die neue<br />
graue Eminenz im Kreml, Chef der neuen Administration<br />
des Präsidenten, und bekreuzigten sich ungeschickt.<br />
Medwedjew, ein winziger Mann mit einem riesigen Kopf,<br />
schlug das Kreuz, indem er mit seiner Hand zunächst<br />
die Stirn und dann die Genitalien berührte. Sehr komisch<br />
war das. Außerdem drückte Medwedjew, dem<br />
Beispiel <strong>Putins</strong> folgend, dem Moskauer Patriarchen ganz<br />
kameradschaftlich die Hand, ohne sie zu küssen, wie es<br />
sich eigentlich gehören würde. Der Patriarch sah darüber<br />
hinweg. Tja, die PR-Leute im Kreml sind ungebildete<br />
Menschen und kennen sich mit dem Zeremoniell nicht<br />
aus, obwohl sie sonst sehr effektiv arbeiten. Neben Putin<br />
stand auch der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow,<br />
der die Kathedrale hatte erbauen lassen. Luschkow war<br />
der Einzige, der sich richtig bekreuzigen konnte. Der<br />
Patriarch nannte Putin »Eure Exzellenz«. Ja, Ostern ist<br />
jetzt – und das bei so vielen ehemaligen KGBlern an der<br />
410
Spitze des Staates – ein ganz wichtiger Feiertag und eine<br />
Pflicht. <strong>In</strong> der Art der früheren Erste-Mai-Parade.<br />
Der Anfang der Osternacht war noch komischer gewesen<br />
als der Händedruck mit dem Patriarchen. Beide<br />
staatlichen Fernsehkanäle übertrugen live die Prozession<br />
um die Christus-Erlöser-Kathedrale, die vor dem<br />
Gottesdienst stattfindet und an der auch der Patriarch<br />
teilnahm, obwohl er nicht gesund war. Der Fernsehmoderator,<br />
ein gläubiger und theologisch gebildeter Mensch,<br />
erzählte den Zuschauern, dass nach orthodoxer Tradition<br />
bis Mitternacht die Türen der Kathedrale geschlossen<br />
bleiben. Sie symbolisieren die Pforte der Höhle, in der<br />
sich der Leib Christi befunden hat. Nach Mitternacht<br />
warten die Gläubigen, die an der Prozession teilgenommen<br />
haben, darauf, dass sich die Türen der Kathedrale<br />
öffnen. An ihrer Spitze steht der Patriarch und betritt als<br />
Erster die leere Kathedrale, wo die Auferstehung Christi<br />
bereits stattgefunden hat.<br />
Als aber der Patriarch vor dem Eingang der Kathedrale<br />
das erste Gebet nach Mitternacht beendet hatte und<br />
sich die Tür öffnete, stand dort Putin. Unser bescheidener<br />
Putin. Schulter an Schulter mit Fradkow, Medwedjew<br />
und Luschkow.<br />
Zum Lachen und zum Heulen. Ein humoristischer<br />
Abend in der heiligen Osternacht. Warum sollte man<br />
unseren Präsidenten mögen ? Weil er alles banal macht,<br />
was er berührt ?<br />
Etwa zur gleichen Zeit, am 8. April, wurden zum ersten<br />
Mal seit Beginn der beiden Tschetschenien-Kriege<br />
411
zwei neun Monate alte Mädchen zu Schachidinnen<br />
(Märtyrerinnen) erklärt. Die Zwillinge aus dem winzigen<br />
tschetschenischen Dorf Rigach waren gestorben,<br />
noch bevor sie Laufen gelernt hatten. Es war wie immer.<br />
Nach dem 14. März hatten in Tschetschenien die<br />
Kampfhandlungen wieder begonnen. Der regionale Kommandostab<br />
zur Durchführung der »Anti-Terror-Operation«<br />
verkündete, dass Bassajew gejagt würde und eine<br />
groß angelegte Offensive der Armee im Gange sei, deren<br />
Ziel die Vernichtung illegaler Bandenmitglieder sei.<br />
Bassajew konnte man nicht erwischen, aber gegen zwei<br />
Uhr nachmittags wurde im Rahmen der militärischen<br />
Operation das kleine Dorf Rigach bombardiert und mit<br />
Raketen beschossen. Alle, die zu dem Zeitpunkt im Dorf<br />
waren, starben – eine Mutter mit fünf Kindern. Das Bild,<br />
das sich dem Vater der Familie, Imar-Ali Damajew, bot,<br />
würde selbst einen Menschen mit starken Nerven entweder<br />
zu einem ewigen Pazifisten machen oder in einen<br />
Selbstmordattentäter verwandeln. Maidat, Imar-Alis<br />
neunundzwanzigjährige Frau, war bereits tot und hielt<br />
die vierjährige Dshanati, die dreijährige Sharadat, den<br />
zweijährigen Umar-Hashi und die neun Monate alte Sara<br />
in ihren Armen. Die Umarmung der Mutter hatte die<br />
Kinder nicht retten können, alle waren durch Splitter getötet<br />
worden. Etwas abseits lag der winzige Körper von<br />
Sura, Saras Zwillingsschwester. Maidat hatte das fünfte<br />
Kind nicht mehr mit ihrem Körper schützen können.<br />
Imar-Ali sammelte die Splitter ein, man konnte die Nummer<br />
der tödlichen Rakete feststellen – 350 F 5-90. Der<br />
412
Ulem, der moslemische Gelehrte aus dem Nachbardorf,<br />
erklärte alle Toten zu Schachiden, das heißt zu Gotteskriegern<br />
und Märtyrern für ihren Glauben. Sie wurden<br />
gegen Abend desselben Tages begraben. Ohne dass man<br />
ihre Leichen gewaschen hatte, ohne Leichenhemden, in<br />
den Kleidern, in denen sie gestorben waren.<br />
Warum ich Putin nicht mag ? Weil im Sommer 2004<br />
fünf Jahre seit dem Beginn des zweiten Tschetschenien-<br />
Kriegs vergangen sind, der nur deswegen begonnen<br />
wurde, damit Putin Präsident wird. Und dieser Krieg<br />
nimmt kein Ende. Seit 1999 gab es keine einzige Ermittlung<br />
im Zusammenhang mit den Morden, die an Kindern<br />
während der Beschießungen und Säuberungen verübt<br />
wurden. Kein einziger Kindermörder musste seinen<br />
wohl verdienten Platz auf der Anklagebank einnehmen.<br />
Putin verlangte das auch nie, obwohl er als großer Kinderfreund<br />
gilt. Die Armee agiert in Tschetschenien nach<br />
wie vor so, als befände sie sich auf einem Truppenübungsplatz<br />
ohne Menschen.<br />
Die Massenmorde an Kindern wühlten das Land<br />
nicht auf, kein Fernsehkanal zeigte die Aufnahmen von<br />
den ermordeten tschetschenischen Kindern. Der Verteidigungsminister<br />
trat nicht zurück. Er ist ein guter<br />
Freund von Putin, und es wird darüber spekuliert, dass<br />
er <strong>Putins</strong> Nachfolger im Jahr 2008 werden wird. Auch<br />
der Oberkommandant der Luftwaffe wurde nicht mit<br />
Schimpf und Schande entlassen. Alles blieb beim Alten.<br />
Der Oberste Befehlshaber sprach dem Vater, der mit<br />
einem Schlag seine ganze Familie verloren hatte, kein<br />
413
Beileid aus. <strong>In</strong> der Welt um uns herum brodelte es vor<br />
Protesten. Im Irak wurden Geiseln ermordet, Länder<br />
und Völker verlangten von ihren Regierungen und den<br />
internationalen Organisationen, dass sie die Truppen zurückziehen<br />
und das Leben von Menschen retten sollten,<br />
die ihre Pflicht erfüllten. Bei uns blieb alles ruhig.<br />
Warum ich Putin nicht mag ? Wegen seines Zynismus.<br />
Wegen seines Rassismus. Wegen des endlosen Krieges.<br />
Wegen seiner Lügen. Wegen der Gasattacke im Musicaltheater<br />
»Nord-Ost«. Wegen der unschuldigen Menschen,<br />
die während seiner Amtszeit umgebracht wurden. Ein<br />
Sterben, das man hätte vermeiden können.<br />
Putin, der zufällig eine enorme Macht in die Hände<br />
bekam, gebraucht diese Macht mit für <strong>Russland</strong> katastrophalen<br />
Folgen. Ich mag ihn nicht, weil er die Menschen<br />
nicht mag. Er erträgt uns nicht. Er verachtet uns.<br />
Er denkt, wir sind nur ein Mittel zum Zweck für ihn,<br />
ein Mittel zur Erfüllung seiner Machtambitionen. Und<br />
deswegen darf er alles, kann mit uns spielen, wie es<br />
ihm passt. Und kann uns vernichten, wie es ihm passt.<br />
Er glaubt, dass wir nichtswürdig sind, er glaubt, dass er<br />
Zar und Gott zugleich ist, vor dem wir uns verneigen<br />
und fürchten müssen.<br />
<strong>In</strong> <strong>Russland</strong> hat es schon Führer mit ähnlicher Weltanschauung<br />
gegeben. Dies hat zu Tragödien geführt. Zu<br />
großem Blutvergießen. Zu Bürgerkriegen. Und das will<br />
ich nicht. Deswegen mag ich diesen typisch sowjetischen<br />
Tschekisten nicht, der über die roten Teppiche des Kreml<br />
zum russischen Thron schreitet.
NACH BESLAN – ANSTELLE EINES NACHWORTS<br />
Am 1. September 2004 fand ein beispielloser Terroranschlag<br />
statt, die Tragödie von Beslan. Das Wort Beslan<br />
wird für uns auf ewig ein Symbol des Horrors bleiben.<br />
Eines Horrors, den sich kein Hollywoodregisseur je hätte<br />
ausdenken können.<br />
Am frühen Morgen des 1. September überfiel eine internationale<br />
Bande die Schule Nr. 1 in der kleinen nordossetischen<br />
Stadt Beslan und nahm alle darin befindlichen<br />
Menschen als Geiseln. Die Terroristen forderten<br />
die umgehende Beendigung des zweiten Tschetschenien-<br />
Krieges. Sie überfielen die Schule während der feierlichen<br />
Veranstaltung, die überall in <strong>Russland</strong> zu Schulbeginn<br />
abgehalten wird. Normalerweise kommt zu dieser Feier<br />
die ganze Familie mit Großvater, Großmutter, Onkeln<br />
und Tanten, vor allem, wenn die Kinder an diesem Tag<br />
eingeschult werden.<br />
So war es auch diesmal. Daher gerieten fast 1500 Menschen<br />
in die Hände der Geiselnehmer : Schüler, Eltern,<br />
Geschwister, Lehrer, Kinder von Lehrern.<br />
Alles, was in <strong>Russland</strong> zwischen dem 1. und 3. September<br />
geschah und bis heute geschieht, ereignete sich<br />
nicht zufällig, sondern war die logische Konsequenz aus<br />
<strong>Putins</strong> Politik, seine eigene Position wider jede Vernunft<br />
415
und qua Unterdrückung jeglicher Eigeninitiative anderer<br />
durchzusetzen.<br />
1. September. Laut dem Bericht der Sicherheitsdienste<br />
und der Behörden befanden sich in der Schule »nicht<br />
allzu viele Menschen« – 354 Personen. Die Terroristen<br />
teilten den Geiseln mit : »Wir werden dafür sorgen, dass<br />
tatsächlich von euch am Ende nur 354 übrig sind.« Die<br />
herbeigelaufenen Verwandten, die sich vor der Schule<br />
versammelt hatten, wiesen immer wieder darauf hin,<br />
dass die Behörden logen und mehr als 1000 Personen<br />
in der Hand der Terroristen waren.<br />
Doch keiner hörte auf die Angehörigen. Diese versuchten<br />
über die Journalisten, die nach Beslan gekommen<br />
waren, mit den Behörden in Kontakt zu treten und ihnen<br />
ihr Wissen mitzuteilen, aber die Journalisten gaben weiterhin<br />
die offiziellen <strong>In</strong>formationen bekannt. Da fingen<br />
die Verwandten an, einige der Berichterstatter zu verprügeln.<br />
Wie dem auch sei, die Behörden verharrten den ganzen<br />
1. September und den Vormittag des 2. September in<br />
einem sträflichen Zustand des Schocks und der Unentschlossenheit.<br />
Weil der Kreml Verhandlungen mit den<br />
Terroristen nicht zugestimmt hatte, führte man überhaupt<br />
keine. Jeder, der etwas in Richtung Verhandlungen<br />
unternahm, wurde eingeschüchtert, während diejenigen,<br />
die von den Banditen als Verhandlungspartner<br />
gewünscht waren, irgendwo still in einer Ecke saßen<br />
oder aus dem Land flüchteten. Die Präsidenten von <strong>In</strong>guschetien<br />
und Nordossetien, Sjasikow und Dsassochow,<br />
416
<strong>Putins</strong> Tschetschenien-Berater Aslachanow und Doktor<br />
Roschal, der in ähnlichen Fällen schon vermittelnd tätig<br />
gewesen war, erwiesen sich in einem Moment als Feiglinge,<br />
in dem man nicht feige sein durfte. Jeder von ihnen<br />
hatte im Nachhinein eine Ausrede parat, aber Tatsache<br />
ist : Keiner ging ins Schulgebäude hinein.<br />
<strong>In</strong> Anbetracht dieses feigen Verhaltens befürchteten<br />
die Angehörigen, dass sich alles genau wie bei der Beendigung<br />
des Geiseldramas im »Nord-Ost«-Musicaltheater<br />
im Oktober 2002 in Moskau abspielen würde. Die Sicherheitsdienste<br />
würden das Gebäude stürmen, unzählige<br />
Opfer wären nicht zu vermeiden.<br />
Am 2. September betrat der ehemalige Präsident von<br />
<strong>In</strong>guschetien, Ruslan Auschew, die besetzte Schule. Ein<br />
Mann, der vom Kreml in den Schmutz gezogen worden<br />
war, weil er stets für eine politische Lösung der Tschetschenien-Krise<br />
und für Friedensverhandlungen plädiert<br />
hatte, und den man daher gezwungen hatte, den Präsidentenposten<br />
»freiwillig« für Murat Sjasikow, den Kreml-<br />
Günstling und FSB-General, zu räumen.<br />
Auschew erzählte später, dass er bei seinem Eintreffen<br />
in Beslan mit einem schrecklichen Bild konfrontiert war.<br />
Eineinhalb Tage, nachdem die Terroristen die Schule<br />
in ihre Gewalt gebracht hatten, war man sich im »Stab<br />
für die Befreiung der Geiseln« noch nicht einig, wer<br />
eigentlich die Verhandlungen führen sollte, weil man<br />
auf Anweisungen aus dem Kreml wartete und Angst vor<br />
<strong>Putins</strong> Zorn hatte, der das Ende der eigenen politischen<br />
Karriere bedeuten würde – und das Ende der eigenen<br />
417
politischen Karriere ist wesentlich schlimmer als das<br />
Leiden von Hunderten Geiseln. Besser man verliert die<br />
Geiseln, diese Verluste kann man den Terroristen in die<br />
Schuhe schieben. Aber <strong>Putins</strong> Gunst zu verlieren heißt<br />
in Vergessenheit zu geraten, bedeutet Selbstmord.<br />
Festzuhalten ist, dass jeder Repräsentant der russischen<br />
Staatsmacht in diesen Tagen in Beslan sich in erster<br />
Linie darum bemühte, <strong>Putins</strong> Willen zu erraten, anstatt<br />
angemessen auf die Vorgänge in der Schule zu reagieren<br />
und einen Plan zur Rettung der Geiseln zu erarbeiten.<br />
Und wenn Putin etwas sagte, wagte keiner, nicht<br />
zu gehorchen. Alexander Dsassochow, der nordossetische<br />
Präsident, erzählte Ruslan Auschew zum Beispiel, dass<br />
Putin ihn persönlich angerufen und ihm verboten hatte,<br />
die Schule zu betreten, andernfalls würde er Dsassochow<br />
unverzüglich ein Gerichtsverfahren anhängen.<br />
Dsassochow betrat die Schule nicht, auch Doktor<br />
Roschal nicht. Obwohl er Kinderarzt ist, zog er es vor,<br />
niemanden zu retten, außer sich selbst. Angeblich habe<br />
ein anonymer Mensch aus dem Sicherheitsdienst Doktor<br />
Roschal beteuert, dass die Terroristen ihn nur als Verhandlungsperson<br />
wünschten, um ihn zu töten.<br />
Und Doktor Roschal ging nicht hinein.<br />
Jeder im Stab für die Befreiung der Geiseln kümmerte<br />
sich um seine Karriere und nicht um die Rettung der<br />
Kinder. Bereits vor dem 3. September, dem Tag der Entscheidung,<br />
war offensichtlich : Die »Vertikale der Macht«,<br />
die Putin auf panischer Angst und totaler Abhängigkeit<br />
von einer Person (nämlich seiner) aufgebaut hatte, ist<br />
418
völlig untauglich. Mit dieser »Vertikale« war es unmöglich,<br />
jemanden zu retten.<br />
<strong>In</strong> dieser Situation bediente sich Ruslan Auschew einer<br />
im <strong>In</strong>ternet veröffentlichten Erklärung von Aslan Maschadow,<br />
dass er, Maschadow, der Anführer des tschetschenischen<br />
Widerstands und eigentlicher gewählter Präsident<br />
Tschetscheniens, auf den sich auch die Terroristen beriefen,<br />
kategorisch gegen die Geiselnahme von Kindern ist.<br />
Mit dieser Erklärung in Händen ging Auschew zu den<br />
Terroristen. Er war der Einzige, der während der Tragödie<br />
von Beslan überhaupt Verhandlungen führte.<br />
Dafür wurde er in der Folge vom Kreml beschimpft,<br />
aller Todsünden bezichtigt, vor allem der Zusammenarbeit<br />
mit den Terroristen.<br />
Später erzählte Ruslan Auschew : »Sie weigerten sich,<br />
mit mir Wainachisch zu sprechen, obwohl Tschetschenen<br />
und <strong>In</strong>guschen dabei waren. Sie wollten nur Russisch<br />
sprechen. Sie verlangten als Verhandlungspartner<br />
zumindest einen Minister, zum Beispiel Bildungsminister<br />
Fursenko. Aber keiner wollte hineingehen, weil es keine<br />
Genehmigung vom Kreml gab.«<br />
Auschew verbrachte etwa eine Stunde in der Schule.<br />
Dann trug er drei Säuglinge auf seinen Armen heraus,<br />
außerdem wurden sechsundzwanzig kleine Kinder freigelassen.<br />
Am 3. September, am helllichten Tag, wurde<br />
das Gebäude gestürmt. Die Kämpfe in der Kleinstadt<br />
dauerten bis in die späte Nacht. Etliche Terroristen wurden<br />
getötet, aber viele konnten trotz der Umzingelung<br />
entkommen. Man fing an, die toten Geiseln zu zählen,<br />
419
und man zählt sie bis heute. Am Stadtrand von Beslan<br />
wurde ein Feld umgepflügt, nun ein riesiger Friedhof mit<br />
Hunderten frischer Gräber. Zum Zeitpunkt, da ich dies<br />
schreibe, konnten mehr als hundert Geiseln nicht gefunden<br />
werden, sie gelten als vermisst. Die einen denken,<br />
sie seien vom Rest der Bande entführt worden. Andere<br />
meinen, sie seien durch die Flammenwerfer, mit denen<br />
die Spezialeinheiten unter anderem bewaffnet waren,<br />
umgekommen und restlos verbrannt.<br />
Sofort nach den Geschehnissen in Beslan wurden in<br />
<strong>Russland</strong> die Schrauben weiter angezogen. Putin bezeichnete<br />
die Tragödie als Akt des internationalen Terrorismus,<br />
bestritt, dass es eine eindeutige tschetschenische<br />
Spur gab, und brachte alles in Verbindung mit El Kaida.<br />
Auschews Heldentat wurde in den Medien auf Befehl des<br />
Kreml verunglimpft, man stellte ihn nicht als Retter und<br />
einzigen Helden unter den Feiglingen dar, sondern als<br />
wichtigsten Helfershelfer der Terroristen.<br />
Die Tragödie von Beslan konnte den Kreml nicht dazu<br />
bewegen, wenigstens mit kleinen Korrekturen bei den<br />
eigenen Fehlern zu beginnen. Im Gegenteil, ein politisches<br />
Brandschatzen war die Folge.<br />
<strong>Putins</strong> wichtigste Losung nach Beslan war : Da wir<br />
uns im Krieg befinden, müssen wir die Machtvertikale<br />
stärken. Und da nur einer (nämlich Putin) weiß, wer<br />
wer ist, werden wir uns am besten vor Terroranschlägen<br />
schützen, wenn er allein die Zügel in der Hand hält. Also<br />
wurde der Duma ein Gesetzentwurf des Kreml vorgelegt,<br />
der die Abschaffung der Direktwahl der russischen<br />
420
Gouverneure vorsah, da diese <strong>Putins</strong> Meinung nach nur<br />
zu verantwortungslosem Handeln unter den Regierungschefs<br />
der einzelnen Regionen führe.<br />
Kein Wort darüber, dass sich während der Geiselnahme<br />
in Beslan ausgerechnet <strong>Putins</strong> Günstlinge, die<br />
von ihm ernannten Präsidenten Sjasikow und Dsassochow,<br />
als Lügner und Feiglinge entlarvt und als total<br />
nutzlos erwiesen hatten.<br />
Parallel dazu lief eine gewaltige ideologische Gehirnwäsche.<br />
Es wurde versucht zu beweisen, dass sich die<br />
obersten Behörden während der Tragödie von Beslan<br />
ideal verhalten hätten und gar nicht effizienter hätten<br />
vorgehen können. Zur Ablenkung wurde eine Untersuchungskommission<br />
des Föderationsrates (des Oberhauses<br />
des russischen Parlaments) ins Leben gerufen, die<br />
die Durchführung der Ermittlungen überwachen sollte.<br />
Putin empfing im Kreml Alexander Torschin, den Vorsitzenden<br />
der Kommission, und gab ihm seine Empfehlungen<br />
als Präsident mit auf den Weg. Die Kommission<br />
trat nicht aus dem Rahmen des Erlaubten.<br />
Die Einwohner von Beslan bekamen deutlich zu spüren,<br />
dass man sie vergessen hatte. Das Fernsehen konzentrierte<br />
sich auf das Positive. Wie sehr den Geiseln<br />
geholfen wurde, wie viel Konfekt und Spielzeug man<br />
ihnen schenkte – nicht eine Bemerkung zu der Frage<br />
nach den Vermissten.<br />
Vierzig Tage waren nunmehr vergangen. Die offiziellen<br />
Gedenkfeiern liefen in gesetztem Rahmen ab, keine<br />
verzweifelten, hysterischen Verwandten im Fernsehen.<br />
421
Dann kam der 26. Oktober 2004. Vor zwei Jahren, am<br />
23. Oktober 2002, hatte eine Bande von Terroristen das<br />
»Nord-Ost« Musicaltheater in der Ersten-Dubrowskaja-<br />
Straße in Moskau während der Vorstellung überfallen<br />
und Zuschauer und Künstler als Geiseln genommen.<br />
Am 26. Oktober, siebenundfünfzig Stunden nach dem<br />
Anschlag, hatten die Sicherheitsdienste das Gebäude<br />
gestürmt und eine unbekannte, gasartige, chemische<br />
Substanz eingesetzt. Einhundertdreißig Geiseln waren<br />
gestorben.<br />
Nach »Nord-Ost« waren die Machthaber nur damit<br />
beschäftigt, sich von jeder Schuld reinzuwaschen und<br />
sich mit Auszeichnungen zu überschütten. Der zweite<br />
Tschetschenien-Krieg wurde nicht nur nicht beendet, sondern<br />
die Schlinge wurde noch fester zugezogen. Alle, die<br />
den Frieden ermöglichen, die verhindern könnten, dass<br />
ein nordkaukasischer Terrorismus als logische Antwort<br />
auf den im Zuge der »Anti-Terror-Operation« ausgeübten<br />
staatlichen Terror gegen die tschetschenische und<br />
inguschetische Bevölkerung entsteht, wurden entweder<br />
vernichtet oder vom Spielfeld beseitigt.<br />
Der »antiterroristische Terror« ist zu einem wesentlichen<br />
Teil unseres Lebens in <strong>Russland</strong> zwischen »Nord-<br />
Ost« und Beslan geworden. Der Terror und der Antiterror.<br />
Zwei Mühlsteine, und dazwischen wir. Die Zahl der<br />
Terroranschläge ist sprunghaft angestiegen, der direkte<br />
Weg von »Nord-Ost« nach Beslan ist offensichtlich.<br />
Am 26. Oktober um elf Uhr vormittags versammelten<br />
sich alle vom damaligen Attentat Betroffenen vor dem<br />
422
Theatergebäude in der Dubrowka. Ehemalige Geiseln,<br />
Verwandte und Freunde von Verstorbenen. Am Morgen<br />
hatten sie auf dem Friedhof ihrer Angehörigen gedacht,<br />
wie es bei uns der Brauch ist. Die öffentliche Trauerfeier<br />
in der Dubrowka war für elf Uhr geplant. Die von den<br />
Betroffenen des Anschlags auf »Nord-Ost« gegründete<br />
Organisation hatte die entsprechenden <strong>In</strong>formationen<br />
bereits vor längerer Zeit an die Medien weitergegeben.<br />
Auch im Rundfunk hatte man Hinweise auf diese Trauerfeier<br />
hören können, Einladungen waren an die Verwaltung<br />
des Moskauer Bürgermeisters und die Administration<br />
des Präsidenten geschickt worden. Man hatte ihnen<br />
versichert : »Wir kommen.«<br />
Nach fünfzig Minuten, der Priester war schon da,<br />
beschloss man, endlich zu beginnen. Die Leute flüsterten<br />
: »Unmöglich, dass keiner kommt.« Die Rede war von<br />
den Vertretern der Macht.<br />
Zwölf Uhr. Die Menge wurde nervös, viele waren mit<br />
Kindern hier, die ihre Eltern beim Anschlag verloren<br />
hatten. »Wir wollten mit ihnen reden«, sagte einer. »Wir<br />
wollten sie direkt fragen.« Schließlich verzweifelte Rufe :<br />
»Wir brauchen dringend Hilfe ! Man sieht über uns hinweg<br />
! Die Kinder werden in den Krankenhäusern nicht<br />
mehr kostenlos behandelt !«<br />
Kein offizieller Vertreter war erschienen, weiteres Warten<br />
schien sinnlos. Hatten sie Angst, den Opfern direkt<br />
in die Augen zu sehen ? Aus den Ermittlungen im Fall<br />
»Nord-Ost« ist nichts geworden. Die Wahrheit über das<br />
Desaster bei der Befreiung und das eingesetzte Gas ist<br />
423
nach wie vor ein großes Staatsgeheimnis. Oder gab es<br />
einen anderen Grund für diese Missachtung ?<br />
Der Platz neben dem Theatergebäude war von Milizionären<br />
umstellt. Man hatte die jungen Kerle hierher getrieben,<br />
damit sie eventuelle leidenschaftliche Ausbrüche<br />
zähmten. Sie fühlten sich unwohl, sie hörten doch, was<br />
die Leute sagten, ihre Unsicherheit war zu spüren. Diese<br />
Milizionäre teilten dann den Menschen mit : »Sie waren<br />
schon hier.« Das heißt, die Machthaber hatten eine alternative,<br />
intime Gedenkfeier für sich organisiert, absichtlich<br />
früher, während die Betroffenen noch auf dem<br />
Friedhof waren. Um ihnen nicht zu begegnen, kamen<br />
die Vertreter aus dem Stab des Moskauer Bürgermeisters<br />
und der Administration des Präsidenten um zehn<br />
Uhr in die Dubrowka – zu ihrer eigenen Gedenkveranstaltung.<br />
Ohne Bevölkerung – damit sie die nicht trafen,<br />
die sie zu Opfern gemacht hatten. Was da um zehn Uhr<br />
stattfand, die offizielle Kranzniederlegung, die gedrillte<br />
Ehrenwache, von Vorgesetzten abgesegnete Reden, wurde<br />
von Kameras aller wichtigen Fernsehsender des Landes<br />
aufgenommen. Alles lief in ordentlichem Rahmen ab,<br />
keine Tränen, keine Gefühlsausbrüche. Diese inszenierte<br />
Gedenkfeier wurde am Abend des 26. Oktober mehrmals<br />
auf allen Fernsehkanälen gezeigt. Damit das Land<br />
wusste, dass die Machthaber diese tragische Geschichte<br />
sehr ernst nahmen und es keinen gab, der mit dem, was<br />
sie taten, nicht einverstanden war.<br />
Natürlich konnte nichts die Menschen – Freunde und<br />
Verwandten der Opfer, ehemalige Geiseln, unzählige<br />
424
ausländische Journalisten – daran hindern, zu Tausenden<br />
der Toten zu gedenken. Auf den Stufen zum Theatergebäude<br />
standen 130 Fotos. Kerzen wurden angezündet.<br />
Dorthin hatte man damals die halb toten Menschen<br />
geschleppt, die eine Dosis von dem giftigen Gas abbekommen<br />
hatten. Viele waren dort ohne ärztliche Hilfe<br />
gestorben. Es regnete, wie vor zwei Jahren.<br />
Und was erwartet die Opfer von Beslan ? Die offizielle<br />
Version der Tragödie wird anders sein als die inoffizielle.<br />
Die Wahrheit über den Terroranschlag werden<br />
wir nie erfahren. Keiner wird die Betroffenen anhören<br />
wollen. Alles muss im Rahmen des Erlaubten bleiben,<br />
keine spontanen Gefühlsausbrüche. Wie zur Sowjetzeit.<br />
Die Ideologie, die der Bevölkerung seit der Tragödie von<br />
Beslan eingetrichtert wird, lautet : Nichts darf zeigen, dass<br />
die Machthaber etwas nicht im Griff haben. Wir haben<br />
Putin, der an uns denkt und besser weiß als wir, was zu<br />
tun ist. Es gibt immer ein Licht am Ende des Tunnels,<br />
wir bekämpfen alle den »internationalen Terrorismus«<br />
und »sind vereint, wie nie zuvor.«<br />
Am 29. Oktober stimmte die Duma mit überwältigender<br />
Mehrheit dem Gesetz zu, das Putin erlaubt, künftig<br />
die Kandidaten für das Amt des Gouverneurs zu ernennen.<br />
Die regionalen Parlamente brauchen dann nur noch<br />
den entsprechenden Kandidaten zu bestätigen. Keiner<br />
widersprach. Die Opposition murrte nur leise. Putin<br />
hatte seinen Willen durchgesetzt.<br />
Was ist bei uns nach Beslan passiert ? Im realen Leben<br />
entfernen sich Bevölkerung und Partei immer mehr von-<br />
425
einander, während sie gleichzeitig auf dem Bildschirm<br />
immer näher aneinander rücken. Eine politische Eiszeit<br />
bricht an. Keine Anzeichen von Tauwetter. Das Land<br />
hatte bereits die offiziellen Lügen über »Nord-Ost« geschluckt<br />
und forderte nun auch keine gerechten Ermittlungen<br />
und Verfahren zur Tragödie von Beslan. <strong>In</strong>sofern<br />
ließen wir zu, dass in Beslan passierte, was passiert ist.<br />
<strong>In</strong> den zwei Jahren zwischen dem Geiseldrama im »Nord-<br />
Ost«-Musicaltheater und dem in Beslan schlief die Mehrheit<br />
der Bevölkerung friedlich zu Hause in ihrem Bett<br />
oder tanzte in Diskotheken, manchmal fand sie auch Zeit,<br />
für Putin zu stimmen. Die Wahrheit über »Nord-Ost«<br />
und das Leid der Opfer war der Bevölkerung egal. Und<br />
die Machthaber begriffen – das war ein entscheidender<br />
Moment –, dass sie uns wieder unter der Fuchtel hatten.<br />
Und schon kam die Tragödie von Beslan.<br />
Man will nicht glauben, dass der politische Winter<br />
wieder für Jahrzehnte in <strong>Russland</strong> Einzug hält. Man<br />
möchte so gern leben. Man möchte, dass die Kinder<br />
in Ruhe aufwachsen, dass die Enkelkinder in Freiheit<br />
geboren werden. Daher die Sehnsucht nach einem baldigen<br />
Tauwetter. Aber nur wir selbst können das politische<br />
Klima in <strong>Russland</strong> ändern – sonst keiner. Auf ein<br />
Tauwetter zu warten, das wie unter Gorbatschow vom<br />
Kreml ausgeht, wäre dumm und unrealistisch. Und auch<br />
der Westen wird uns nicht helfen, er reagiert schlapp<br />
auf <strong>Putins</strong> »Anti-Terror«-Politik. Dem Westen kommt<br />
vieles zupass : Wodka, Kaviar, Gas, Öl, Bären, eigentümliche<br />
Menschen. Der exotische russische Markt spielt die<br />
426
vorgesehene Rolle. Mehr benötigen Europa und der Rest<br />
der Welt nicht von unserem Land, das ein Siebentel der<br />
Erdoberfläche bedeckt.<br />
Ihr sagt immer nur »El Kaida«, »El Kaida«. Ein verdammter<br />
Slogan. Es ist das Einfachste, die Verantwortung<br />
für jede neue blutige Tragödie wegzuschieben. Es<br />
ist das Primitivste, womit man das Bewusstsein einer<br />
Gesellschaft einlullen kann, die davon träumt, eingelullt<br />
zu werden.<br />
✴
ANNA POLITKOVSKAJA wurde 1958 geboren. Sie erhielt 2001<br />
den Preis der russischen Journalistenunion, 2002 den Courage<br />
in Journalism Award in den USA, 2003 den Preis für Journalismus<br />
und Demokratie der Organisation für Sicherheit und<br />
Zusammenarbeit in Europa, die Hermann-Kesten-Medaille des<br />
P.E.N.-Zentrums Deutschland, den Lettre Ulysses Award für<br />
die beste europäische Reportage sowie den Olof-Palme-Preis<br />
2004 und den Leipziger Preis für die Freiheit und Zukunft<br />
der Medien (2005). Im DuMont Literatur und Kunst Verlag<br />
erschien 2003 ihre Dokumentation TSCHETSCHENIEN. DIE<br />
WAHRHEIT ÜBER DEN KRIEG.<br />
Anna Politkovskaja ist die bekannteste russische Journalistin,<br />
die mit ihren Berichten und Reportagen über Tschetschenien<br />
Berühmtheit erlangt hat. Sie arbeitet für die Moskauer Zeitung<br />
Novaja Gazeta und hat als Korrespondentin seit dem Anfang<br />
des zweiten Tschetschenien-Krieges im September 1999 viele<br />
Monate in der Kaukasus-Republik verbracht. <strong>In</strong> <strong>Putins</strong> <strong>Russland</strong><br />
wird ihre Berichterstattung mit Argwohn betrachtet, von<br />
der Armee wurde sie inhaftiert, und wegen Morddrohungen<br />
musste sie sich eine Zeit lang in den USA aufhalten.<br />
»Gegen mich sind etliche Strafverfahren angestrengt worden,<br />
Morddrohungen sind an der Tagesordnung. Aber ich scheue<br />
das Risiko nicht, das gehört zum Beruf.«<br />
ANNA POLITKOVSKAJA