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Georg Büchner Leonce und Lena - Kerber-Net

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<strong>Georg</strong> <strong>Büchner</strong><br />

<strong>Leonce</strong> <strong>und</strong> <strong>Lena</strong><br />

König Peter <strong>und</strong> sein Staat<br />

Didaktische Hinweise zur Szene I, 2<br />

Die Betrachtung König Peters als Herrscher, Mensch <strong>und</strong> Denker führt zu bizarren Ergebnissen.<br />

Der König des Kleinstaates Popo ist die Karikatur eines absoluten Herrschers, er ist<br />

durchdrungen von seinem Amt <strong>und</strong> hält sich für die Spitze, das Zentrum des Staates, ohne<br />

diesen Anspruch auch nur im geringsten einlösen zu können. Die von ihm gewollte Ordnung<br />

hat das Chaos im Gefolge. Der König erscheint als philosophierender Narr, der sein System<br />

in Wirklichkeit gar nicht beherrscht.<br />

Zwei konstitutive Elemente des Hoflebens werden in der zweiten Szene des ersten Akts<br />

anspielungsreich vorgeführt:<br />

1. Das Ankleiden König Peters <strong>und</strong><br />

2. eine Sitzung mit dem Staatsrat.<br />

<strong>Büchner</strong> parodiert das klassische `Lever' eines Fürsten, wie es am bekanntesten von Ludwig<br />

XIV. überliefert ist. Die zeremonielle Kleidung als Instrument der Machtrepräsentation<br />

soll den Herrscher vom gewöhnlichen Volk unterscheiden <strong>und</strong> bei diesem Eindruck machen.<br />

Der zunächst fast nackt im Zimmer umherlaufende König wird nach <strong>und</strong> nach mit den<br />

äußeren Kennzeichen seiner Macht bekleidet, wobei er philosophische Kommentare<br />

abgibt, so dass Handlung <strong>und</strong> Reflexion synchron laufen. 1 Die reflexiven Anmerkungen sind<br />

zwar einerseits unsinnig <strong>und</strong> lediglich philosophischer Jargon, andererseits kann man in<br />

ihnen eine vom König beabsichtigte Rechtfertigung <strong>und</strong> Statusbestimmung des absoluten<br />

Herrschers herauslesen.<br />

König Peter will für seine Untertanen denken, weil sie es selbst nicht tun. In<br />

philosophischen Kategorien ausgedrückt, ist er das Zentrum: „Die Substanz ist das `an<br />

sich', das bin ich" Man könnte diesen Satz als deutsch-philosophische Variante von der Ludwig<br />

XIV. zugeschriebenen Sentenz „L'état c'est moi" lesen.<br />

Erkennbar wird aber auch Satirisches über Joh. Gottlieb Fichte. Der hatte zunächst in Jena<br />

<strong>und</strong> ab 1810 in Berlin über das absolute Ich philosophiert, was auch den in Weimar in<br />

politische Geschäfte involvierten <strong>und</strong> für die Universität Jena zuständigen Geheimen Rat<br />

Goethe irritierte. 2<br />

Noch ist der König als „Substanz" „fast nackt", nun kommen seine Kleidungsstücke als<br />

„Attribute, Modifikationen, Affektionen <strong>und</strong> Akzidenzien" hinzu. Philosophische Überlegungen<br />

<strong>und</strong> Ankleidezeremoniell werden parallel geführt, indem die hinzukommenden Kleidungsstücke<br />

mit philosophischen Kategorien gleichgesetzt werden: der freie Wille mit dem offenen<br />

Hosenlatz, die Moral mit den Manschetten. Das Ganze endet in Konfusion <strong>und</strong> mit des<br />

Königs Feststellung: „Mein ganzes System ist ruiniert", die sich sowohl auf die Philosophie wie<br />

auf die Kleidung bezieht.<br />

Mit dieser Überblendungstechnik parodiert <strong>Büchner</strong> das steife Hofzeremoniell wie auch<br />

philosophische Zeitströmungen, die Kantische Philosophie des ‚An - sich' <strong>und</strong> Fichtes Ich -<br />

1 Der symbolische Vorgang des Ankleidens wird bei B. Brechts „Leben des Galilei“ in der Ankleideszene des<br />

Papstes insofern gesteigert, als der Papst zu Beginn sich „die Rechentafeln nicht zerstören“ lassen will, in<br />

vollem Ornat aber zustimmt, Galilei die Folter wenigstens zu zeigen.<br />

2 Nicht nur die renitenten Studenten in Jena, auch die Herren am Katheder werden von Goethes Leuten<br />

kontinuierlich überwacht, auch Schiller, vor allem aber Fichte.<br />

Der junge Gelehrte war beliebt unter den Studenten. Mit reichlich Verve <strong>und</strong> in einem bis zum letzten Platz<br />

gefüllten Hörsaal hat der Philosoph die Subjektivität zum Maßstab erhoben. Er hat für das<br />

Selbstbestimmungsrecht des Menschen plädiert, wie ein paar Jahre später die Französische Revolution:<br />

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. So bleibt es nicht aus, dass der Professor als gefährlicher Verführer des<br />

akademischen Nachwuchses angesehen wird. Als ihm Mitglieder einer studentischen Vereinigung - auch in<br />

Jena gibt es „Vaterländische" - 1795 die Fenster einwerfen, gibt's einen willkommenen Anlass zum Spott:<br />

An den Kollegen Voigt schreibt der Geheime Rat aus Weimar: Sie haben also das absolute Ich in großer<br />

Verlegenheit gesehen, <strong>und</strong> freilich ist es den Nicht - Ichs sehr unhöflich durch die Scheiben zu fliegen. Es<br />

geht ihm aber wie dem Schöpfer aller Dinge, der auch mit seinen Kreaturen nicht fertig werden kann.<br />

Professor Fichte als Zauberlehrling?


IAkt_2Szene_did.doc 2<br />

Philosophie. Wie dem Selbstverständnis des Herrschers keine Realität entspricht, so auch nicht<br />

der Absolutsetzung des Ich: Der König verfügt gar nicht über eine Identität, eher ist er die<br />

Verkörperung der Leere.<br />

Peter sagt: „Wenn ich so laut rede, so weiß ich nicht, wer es eigentlich ist, ich oder ein<br />

Anderer, das ängstigt mich." Damit stellt er seine Identität, sein Bewusstsein von sich selbst,<br />

in Frage. Das Ergebnis des dadurch ausgelösten Nachdenkens ist wiederum eine<br />

philosophische Formel, mit der die Philosophie Fichtes parodistisch zitiert wird: „Ich bin ich."<br />

Damit ist das Problem aber noch nicht vom Tisch. Der um Stellungnahme gebetene Präsident<br />

des Staatsrates löst die gewonnene Gewissheit wieder auf: „[...] vielleicht ist es so, vielleicht<br />

ist es aber auch nicht so".<br />

Die Interessen des Fürsten liegen in<br />

• der Beibehaltung des zeremoniellen Systems <strong>und</strong> dessen<br />

• Ausrichtung auf ihn als den Mittelpunkt.<br />

Alle müssen tun, was er vormacht. Das Mechanische, Automatenhafte ist bei ihm<br />

besonders stark ausgeprägt <strong>und</strong> überträgt sich auf Staat <strong>und</strong> Hof.<br />

„Kommen Sie meine Herrn! Gehn Sie symmetrisch. Ist es nicht sehr heiß? Nehmen<br />

Sie doch auch Ihre Schnupftücher <strong>und</strong> wischen Sie sich das Gesicht."<br />

Weitere Belege zu diesem Komplex finden sich auch in III, 2. Der König will sich anlässlich der<br />

Heirat seines Sohnes „volle zwölf St<strong>und</strong>en" freuen, <strong>und</strong> die Untertanen „werden aufgefordert,<br />

die Gefühle Ihrer Majestät zu teilen". Die Ausrichtung auf ihn zeigt sich auch sprachlich in dem,<br />

was Diener <strong>und</strong> Staatsrat sagen. Ihre Artikulation ist Echo auf oder Imitation des<br />

königlichen Sprechens.<br />

Das Volk spielt eine so geringe Rolle, dass der König sich einen Knoten ins Taschentuch<br />

machen muss, um sich gelegentlich an es zu erinnern. Viel wesentlicher ist dagegen die<br />

Herrschaftssicherung durch dynastisch abgestimmte Heirat des Erbprinzen. Die Sitzung des<br />

Staatsrates endet zwar in Konfusion, weil der König wieder philosophiert <strong>und</strong> sich dabei<br />

unpräzise ausdrückt <strong>und</strong> am Ende vergessen hat, was er sagen wollte. Immerhin versteht<br />

man, dass der Erbprinz <strong>Leonce</strong> heiraten soll.<br />

Von dieser Szene aus stellen sich sehr leicht Verbindungen zur damaligen politischen<br />

Wirklichkeit des Deutschen B<strong>und</strong>es her, denn sie ist sowohl Darstellung absolutistischen<br />

Anspruchs als auch dessen satirisch angelegte Kritik.<br />

IAkt_2Szene_did.doc

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