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NOIR 23 - Jugendpresse BW

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Glaube<br />

Fluch oder Segen?<br />

Querbeet<br />

Aberglaube<br />

hinter der<br />

Theaterbühne<br />

thema<br />

Glaubensansichten:<br />

Sieben<br />

Geschichten<br />

Ausgabe <strong>23</strong> (November 2011)<br />

www.noirmag.de<br />

Kolumne<br />

Freitags auf der<br />

Speisekarte:<br />

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Man kann viel glauben. An Gott und die Welt. Ich persönlich glaube, mich tritt ein<br />

Pferd. Diese <strong>NOIR</strong> ist noch spiritueller: Sie wird von vielen Pferden getreten. Pferden in<br />

Form von Artikeln, die mit ihren Hufen euren Horizont anstupsen. Und wo wir schon<br />

im Tierreich sind, Elefanten dürfen auch nicht fehlen. Von denen waren zwei auf der<br />

Arche Noah. Ein weiterer Elefant kommt in einer buddhistischen Legende vor, in der<br />

er blinden Männern vorgeführt wird. Der Legende zufolge tastete ein Blinder nach<br />

dem Elefantenfuß. Er dachte, der Fuß sei ein Baumstamm. Ein anderer tastete nach<br />

dem Rüssel und dachte, es sei eine Schlange. Wo bleibt die Quintessenz? Wenn wir in<br />

einer Reihe stehen, in der gleichen Uniform, der gleichen Pose, mit den haargleichen<br />

Frisuren, so sind die Bilder in unseren Köpfen doch Welten auseinander. Wir pinseln<br />

unsere Welt in den Farben unseres Glaubens an. Rotgrünblau in allen Mischprodukten.<br />

Überall schimmert Glauben durch, er muss ja nicht immer himmlisch sein: in der<br />

Glückssträhne, im Orakel von Delphi, in Verschwörungstheorien, in der großen Liebe.<br />

Er steckt auch in der Wimper, die an unserer Wange klebt. <strong>NOIR</strong> pustet diese weg und<br />

wünscht euch was: viel Spaß beim Lesen! Anika Pfisterer, Chefredakteurin<br />

aUS dEm rEdaKtioNSlEBEN ...<br />

Wenn Andreas nicht für <strong>NOIR</strong> arbeitet,<br />

sieht er sich die Welt an. Als<br />

Praktikant war er bei der Süddeutschen<br />

Zeitung. Einmal suchte er verzweifelt<br />

eine Pressekonferenz. »Da<br />

sind Sie hier völlig falsch«, sagte ihm<br />

eine rüstige Großmutter. »Steigen<br />

Sie ein, ich fahr Sie hin.« Sein Fazit:<br />

München ist eben eine andere Welt.<br />

HEiligEr BimBam!<br />

Als Atheistin amüsierte sich Leonie<br />

über einen »Gott-lieben«-Flyer der<br />

»Christen ohne Organisation«. »Die<br />

sind perfekt für die <strong>NOIR</strong>-Ausgabe«,<br />

dachte sie sich. Make-Up aufgefrischt<br />

und ab gings zum Interview.<br />

Doch dort hörte sie, dass Gott uns<br />

wertvoll findet, wie er uns erschaffen<br />

hat. Also auch ohne Make-Up.<br />

Anika amüsiert sich köstlich über<br />

Wort-Kreationen wie die »Denkerstirn«<br />

aus dem Porträt über Deppendorf.<br />

Jetzt hat sie mit ihren Kollegen<br />

einen Slogan für die <strong>NOIR</strong><br />

gesponnen: »Aus Liebe zum Journalismus.«<br />

Ihr amüsiert euch, findet<br />

es gelungen oder doof? Schreibt ihr:<br />

anika.pfisterer@noirmag.de<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

Editorial<br />

1


iNHalt<br />

2<br />

01 Editorial.<br />

aUS dEr rEdaKtioN<br />

03 Porträt.<br />

UlricH dEPPENdorf<br />

04 titEl.<br />

aNSicHtEN dES glaUBENS<br />

08 rEPortagE.<br />

HirtE im KNaSt<br />

10 WiSSEN.<br />

JUNgfraUENgEBUrt UNd co.<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

24 QUErBEEt<br />

iNHaltSüBErSicHt<br />

12 Porträt.<br />

PoP-art iN dEr KircHE<br />

14 iNtErviEW.<br />

WiSSENScHaft vS. glaUBEN<br />

16 WiSSEN.<br />

faNKUlt UNd SataNiSmUS<br />

17 lifEStylE.<br />

KircHE im WEB<br />

18<br />

04 titEl<br />

19 Pro-coNtra<br />

KolUmNE. Pizza Statt fiScH<br />

imPrESSUm<br />

19 Pro-coNtra.<br />

glaUBEN oHNE KircHE?<br />

20 iNtErviEW.<br />

aUSgEStiEgEN ...<br />

<strong>23</strong> KommENtar.<br />

dEr tErroriSt iN UNS<br />

24 QUErBEEt.<br />

flEiScHvErzicHt?<br />

24 QUErBEEt.<br />

aBErglaUBE<br />

<strong>23</strong> KommENtar


dEr NEUgiErigE mit dEr dENKErStirN<br />

Ulrich Deppendorf arbeitet am Puls der Politik: Seit vier Jahren leitet er<br />

das ARD-Hauptstadtstudio. Neugierde ist sein Antrieb.<br />

text: lisa Kreuzmann | foto: fabian vögtle | layout: Sebastian Nikoloff<br />

Vertraut man auf die Richtigkeit<br />

von Tierkreiszeichen,<br />

könnte der Wassermann<br />

folgendermaßen beschrieben werden:<br />

»die Nase klein, ein wenig rund,<br />

die Stirn eine hohe Denkerstirn.«<br />

Ulrich Deppendorf ist Wassermann.<br />

Er wurde am 27. Januar 1950 in Essen<br />

geboren. Und tatsächlich, bei genauem<br />

Hinsehen trifft es zu: Die hohe<br />

Stirn wird durch das lichte Haar<br />

noch betont. Sieht man Deppendorf<br />

zum ersten Mal nicht in der üblichen<br />

Sitzhaltung vor blauem Hintergrund,<br />

dann fällt eines zuerst auf: Der TV-<br />

Journalist ist nicht nur beruflich,<br />

sondern auch körperlich in die Höhe<br />

geschossen. Seine Körpergröße von<br />

1,93 Meter scheint den Eindruck zu<br />

begünstigen, den Durch- und Überblick<br />

zu haben. »Engelsgleich« beschreibt<br />

die Sternzeichen-Expertin<br />

den Wassermann. Ob überirdisch<br />

oder nicht, fest steht: Ulrich Deppendorf<br />

hat journalistisch Karriere<br />

gemacht.<br />

Seit 1976 arbeitet er beim Fernsehen.<br />

Als Volontär begann er beim<br />

Westdeutschen Rundfunk, Anfang<br />

der 1990er Jahre wechselte er zur<br />

ARD nach Hamburg. Schließlich<br />

zog es ihn nach Berlin. Dort wurde<br />

er zum ersten Mal Chef des ARD-<br />

Hauptstadtstudios. Nach einem Intermezzo<br />

in seiner rheinländischen<br />

Heimat als Programmdirektor beim<br />

WDR in Köln lockte ihn die Hauptstadt<br />

im Frühjahr 2007 erneut. Deppendorf<br />

erhielt seine alte Position als<br />

Studiochef zurück und blieb dort bis<br />

heute. Warum er Journalist geworden<br />

ist? Weil er so neugierig sei, antwortet<br />

der 61-Jährige. Neugier, Umtriebigkeit<br />

und Voraussicht. Stets auf<br />

der Lauer, was der Morgen bringen<br />

wird und der Tag bereit hält. Sind<br />

das die Geheimnisse eines so erfolgreichen<br />

Journalisten?<br />

Aktuell sieht Deppendorf die He<br />

rausforderung der ARD darin, gezielt<br />

junges Publikum anzusprechen.<br />

Die Konkurrenz ist bekanntlich hellwach.<br />

Jetzt fragt er sich, ob die Tagesschau<br />

künftig in einem weniger<br />

konservativen Licht erscheinen soll.<br />

Eine Begrüßung nach dem Motto<br />

»Hallo, Hallöchen und hier die Tagesschau«<br />

möchte er dennoch ausschließen,<br />

sagt er und lacht.<br />

Deppendorf wirkt entspannt, aber<br />

nicht abgeklärt. Selbstsicher, aber<br />

nicht arrogant. Ganz der Wassermann,<br />

charakterisiert durch seinen<br />

»wachen, neugierigen Geist« und<br />

seinen »Hunger nach neuen Erfahrungen«.<br />

Ist es dieser Hunger, der<br />

ihn antreibt? Bis hin zur Perfektion,<br />

bis an die Spitze. So sagt man<br />

es ihm nach. Wenn die Konkurrenz<br />

besser ist, heißt es in einem Artikel<br />

der ZEIT, ärgere er sich. Was seine<br />

Person angeht, bleibt er dennoch bescheiden.<br />

Auf die Frage, wie er denn<br />

geworden sei, was er heute ist, winkt<br />

er lächelnd ab, beginnt die Antwort<br />

mit einem »Joa, also«.<br />

Dem Eindruck, dass sein Erfolg<br />

mehr als eine glückliche Zusammenreihung<br />

von Zufällen ist, entkommt<br />

man nicht. Das Brillieren scheint<br />

ihm Spaß zu machen, dabei bescheiden<br />

und geradlinig zu bleiben ebenfalls.<br />

Ein Journalist der nüchternen<br />

Nachricht. Und er sei gerne Journalist,<br />

betont er. Richtig abschalten<br />

könne er als Hauptstadtstudio-Chef<br />

allerdings nur schwer; Urlaub mache<br />

er deshalb gerne weit weg. Am liebsten<br />

in den USA. Ein Tag ohne Nachrichten?<br />

Käme für ihn aber trotzdem<br />

nicht in Frage.<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

Porträt<br />

3


titEltHEma<br />

4<br />

daNiEl iSt EiN »cHriSt oHNE orgaNiSatioN«<br />

JUditH fEiErt WEiHNacHtEN oHNE gott<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

raffaElS vatEr iSt PfarrEr<br />

JoNaS glaUBt NicHt mEHr aN gott


Gemeinde statt Volkskirche<br />

Sie sind ein Beispiel dafür, wie Glaube heute<br />

oft gelebt wird: die »Christen ohne Organisation«.<br />

Jeden Abend nach der Arbeit treffen<br />

sie sich bei einem Mitglied im Wohnzimmer,<br />

um über Gott und die Bibel zu diskutieren. Ihr<br />

Wunsch: »das Leben mit Gott ernst nehmen.« Dieses<br />

Leben beinhalte mehr als den sonntäglichen<br />

Gang zur Kirche und die Predigt eines Pfarrers.<br />

»Bei uns stehen Gott und die Gemeinde an erster<br />

Stelle«, sagt Daniel*, 35 Jahre alt. Seit zwölf Jahren<br />

trifft sich die Gruppe täglich, redet im kleinen<br />

Kreis über ihre Erlebnisse, ihre Gedanken und ihr<br />

Leben mit der Bibel. Es gibt kein festes Programm<br />

und keinen Leiter. Zurück zum Ursprung, das ist<br />

ihr Ziel. Die »Christen ohne Organisation« zeugen<br />

von einer Entwicklung in der Gesellschaft:<br />

die Auflösung kirchlicher Strukturen. Ihnen gehe<br />

es nicht um evangelisch oder katholisch, nicht<br />

um den sonntäglichen Gottesdienst in der Kirche.<br />

Aber sie wollen den Glauben umsetzen, wie<br />

sie glauben, dass Jesus ihn vorgelebt hat. Obwohl<br />

viele Menschen immer mehr den Glauben an ihre<br />

Bedürfnisse anpassen, wollen die Christen ohne<br />

Organisation gerade mit ihrem Leben ein Zeichen<br />

setzen, indem sie ihr Leben auf Grundlage der Bibel<br />

führen. »Sie dient uns als Ratgeber und Leitfaden<br />

in allen Lebenslagen«, sagt Anja*, 41 Jahre,<br />

und holt eine kleine Bibel im Taschenbuchformat<br />

aus ihrer Tasche. Text: Leonie Müller<br />

* Namen von der redaktion geändert<br />

aNSicHtEN dES glaUBENS<br />

Sieben Geschichten von Menschen und ihrem Glauben,<br />

ihren Religionen und ihren übersinnlichen Erfahrungen.<br />

layout: tobias fischer<br />

Gott mit käferVorliebe?<br />

Als Kind ging Jonas Pfeiffer* jeden Sonntag<br />

in die Kirche. Aufgewachsen im<br />

Pfarrhaus der kleinen Gemeinde, kannte<br />

er es nicht anders. Jonas’ Eltern sind beide Theologen.<br />

Als bei Jonas die Konfirmation anstand, beschäftigte<br />

er sich zum ersten Mal intensiv mit dem<br />

Glauben. Vieles machte ihn stutzig: Als überzeugter<br />

Naturwissenschaftler fand er kein rationales<br />

Argument für Gott. »Warum sollte ich mich dafür<br />

rechtfertigen?«, fragte er sich. Eigentlich müsse<br />

das in unserer von Logik geprägten Gesellschaft<br />

doch das Normale sein. Jonas erzählt, wie er bekannte<br />

Bücher zum Thema Atheismus gelesen<br />

hat und sie ihn stärker fesselten, als die Bibel es<br />

jemals geschafft hatte. Über Glauben zu streiten,<br />

findet Jonas zwecklos. Diskussionen müssen offen<br />

geführt werden und das sei mit überzeugten Kirchengängern<br />

unmöglich, meint er. Deswegen werden<br />

Gespräche zu diesem Thema am Esstisch der<br />

Familie Pfeiffer tunlichst vermieden. Schlimm<br />

findet Jonas das nicht, denn Glauben ist für ihn<br />

nichts anderes, als eine »minderwertige Form von<br />

Wissen« und somit schlicht unwichtig. Und falls es<br />

Gott doch gibt? »Dann hat er jedenfalls eine übertriebene<br />

Vorliebe für Käfer«, zitiert Jonas mit einem<br />

Augenzwinkern den Evolutionsbiologen J.B.S.<br />

Haldane. Im Gegensatz zu der Spezies Mensch gibt<br />

es hiervon immerhin über 500 000 Arten.<br />

Text: Maria Graef<br />

▶<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

titEltHEma<br />

5


titEltHEma<br />

6<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

Weihnachten ohne Gott<br />

Ich gehe nicht einmal an Ostern in die Kirche.<br />

Aber an Weihnachten, das muss schon<br />

sein. Warum eigentlich? Ich habe Religion<br />

abgewählt; gehe in den Ethikunterricht. Beten<br />

ist mir fremd, und auch meine Eltern leben ihren<br />

Glauben nicht im Alltag. Aber Weihnachten ist<br />

ein zentrales Fest unserer Familie. Ich freue mich<br />

jedes Jahr darauf, baue die selbstgetonte Krippe<br />

auf, schmücke den Baum und backe Plätzchen. An<br />

Heilig abend kommt meine ganze Familie zu Besuch,<br />

dann sitzen wir im Wohnzimmer und singen<br />

Weihnachtslieder: »Es ist ein Ros’ entsprungen«,<br />

»Kommet ihr Hirten« und »Vom Himmel hoch«.<br />

An Weihnachten ist in den Kirchen eine besondere<br />

Stimmung. Es ist das Fest der Liebe. Jeder ist<br />

willkommen und man einigt sich auf ein Gefühl:<br />

Egal, was wir sonst für Sorgen haben, hier in dieser<br />

Stimmung sind wir gut aufgehoben. Ob das<br />

Leuchten in allen Augen nun göttlich ist oder von<br />

Glühwein und Kerzen herrührt, ist auch egal.<br />

Weihnachten ist wie eine Umarmung. Es gibt<br />

Wärme und Sicherheit. Und der Gedanke, dass<br />

vor langer Zeit jemand geboren wurde, der dieses<br />

Weihnachtsgefühl sein Leben lang verbreitete, ist<br />

doch schön. Über seinen Titel »Sohn Gottes« darf<br />

man sich dann im neuen Jahr wieder streiten.<br />

Text: Judith Daniel<br />

die kraft der meditation<br />

Alles, was ich weiß, habe ich von meiner<br />

Mama«, sagt Liv. Sie habe ihr früh beigebracht,<br />

die großen Religionen kritisch<br />

zu hinterfragen. Stattdessen zeigte ihre Mutter ihr<br />

eine andere Form von Religion: Meditationsübungen<br />

und spirituelle Riten. Heute hat Liv ihren eigenen<br />

Glauben, ihr eigenes Bild von der Welt. Sie suche<br />

den Halt, der zu ihr passt. Am Tag ihrer ersten<br />

Periode hielt ihre Mutter einen Ritus ab, der den<br />

ganzen Tag andauerte: Mit der Verbrennung eines<br />

heiligen Tabaks wurde sie in die Gemeinschaft der<br />

Frauen aufgenommen. Die Überzeugung bleibt,<br />

dass es Lebewesen und Energien gebe, die »wir als<br />

normale Menschen« nicht wahrnehmen können.<br />

Liv hat in dieser Welt aus Meditationen und indischen<br />

Riten einen Platz gefunden, an dem sie sich<br />

der Pfarrerssohn<br />

Raffael, diesen Namen gaben ihm seine<br />

Eltern vor 19 Jahren. Übersetzt bedeutet<br />

er »Gott heilt«. Ein christlicher Name,<br />

denn Raffaels Vater ist Pfarrer in einer Kirche in<br />

Leinfelden-Echterdingen. »Als Kind hatte ich kein<br />

Pro blem damit, ein Pfarrerssohn zu sein – jeder<br />

kannte dich und jeder mochte dich«, erzählt er.<br />

Christliche Werte bedeuten ihm viel, weil diese<br />

»wichtig sind für die Entwicklung eines gesellschaftstauglichen<br />

Wesens«. Doch in der Pubertät<br />

wollte Raffael sich von seinen gläubigen Eltern<br />

abgrenzen. Obwohl er von Kinderkirche bis Jungschar<br />

alles erfahren hatte, begann für ihn eine gottlose<br />

Zeit. »In der Pubertät ist das Leben als Sohn<br />

eines Pfarrers nicht einfach«, sagt er und erinnert<br />

sich an sein erstes Bier auf einem Straßenfest. Die<br />

Leute redeten über den Pfarrerssohn, »wenn ich<br />

die ein oder andere Sache in der Pubertät ausprobiert<br />

habe«. Nicht nur gegen seine Eltern, sondern<br />

auch gegen das Bild des typischen Pfarrerssohns<br />

hat er rebelliert. Doch der Glaube hat ihn auf seinem<br />

Weg wieder eingeholt: Irgendwann kam in<br />

seinem Leben der Punkt, an dem er über die Existenz<br />

eines Gottes nachdenken musste. »Wie im<br />

Leben eines jeden Menschen«, sagt er und grinst.<br />

»Ich wäre auch ohne meine Eltern Christ geworden.<br />

Aber ich musste einfach meinen eigenen Weg<br />

finden.« Text: Melanie Michalski<br />

aufgehoben fühlt.<br />

Sie will noch viel<br />

ausprobieren, Neues<br />

erfahren und damit<br />

umgehen lernen. Sie<br />

sei immer wieder<br />

selbst überrascht,<br />

welche Kräfte in ihr<br />

und ihrer Umwelt<br />

stecken, erzählt sie.<br />

Jeder Mensch könne<br />

das nutzen. »Man muss es nur an sich heranlassen.«<br />

Wenn es ihr schlecht geht, stellt ihre Mutter<br />

ihr Aufgaben, die ihr helfen. »Ich musste meine<br />

böse Energie benennen und zähmen lernen. Ich<br />

soll sie zu meinem Freund machen, damit ich ihre<br />

Kraft positiv nutzen kann.«<br />

Text: Judith Daniel


»<br />

Glaube mit humor<br />

Wir haben zwei Heimaten«, sagt Angie,<br />

57 Jahre alt. »Drei bis vier Monate im<br />

Jahr sind wir in Indien, den Rest des<br />

Jahres verbringen wir in Deutschland.« Seit 34<br />

Jahren sind sie und Sriram, 60, ein Paar. Kennengelernt<br />

haben sie sich in Indien. Die indische Kultur<br />

hatte es Angie schon lange angetan, ebenso der<br />

Hinduismus. »Ich fühle mich mit dem Hinduismus<br />

verbunden, weil er im Gegensatz zu anderen Religionen<br />

keine ›Sekte‹ ist, bei der man durch Taufe<br />

eintritt. Die Geschichten des Hinduismus sind<br />

außerdem voller Humor und Doppeldeutigkeiten<br />

und finden sich somit im täglichen Leben wieder.<br />

Das Pendeln zwischen der westlichen und der asiatischen<br />

Welt stellt für das deutsch-indische Ehepaar<br />

kein Problem dar: Überall können sie ihren<br />

Glauben leben. Dazu gehört zum Beispiel das Aufstellen<br />

von Blumen vor Figuren, Bildern und Symbolen<br />

des Hinduismus und das Opfern von Essen.<br />

Das sei wichtig, um sich bewusst zu werden, dass<br />

das Essen nicht mein Eigentum, sondern nur ein<br />

studieren mit Gott<br />

Theologie? Ägyptologie?<br />

Oder vielleicht<br />

doch vor dem<br />

Studium ein FSJ in Israel?<br />

Tashina, 21 Jahre, hatte sich<br />

viele Gedanken gemacht<br />

für die Zeit nach dem Abitur.<br />

»Aber ich hatte nie das Gefühl ›Ja, das ist es!‹«,<br />

erzählt sie. Bis die Zusage vom »Europäischen<br />

Theologischen Seminar« kam. Das ist eine Ausbildungsstätte<br />

der »Gemeinde Gottes«, einer evangelisch-freikirchlichen<br />

Pfingstgemeinde, die in den<br />

meisten Ländern Europas und anderen Teilen der<br />

Welt vertreten ist.<br />

Seit letztem Jahr studiert Tashina hier Theologie<br />

mit pastoralem und musikalischem Schwerpunkt.<br />

»Meine Mutter war anfangs etwas kritisch.<br />

Schließlich kann ich mit einem solchen Studium<br />

nicht unbedingt viel Geld verdienen«, erzählt<br />

Geschenk ist. Angie und Sriram zeigen, wie sich<br />

auch der Glaube mit der Globalisierung verändert<br />

hat. Die Religionen werden dezentraler, sind nicht<br />

mehr gebunden an Orte und Gegebenheiten. Sie<br />

werden globaler, flexibler und damit auch persönlicher.<br />

Der Glaube begleitet die Menschen überall<br />

hin – und verbindet sie über den ganzen Globus.<br />

Text: Leonie Müller<br />

Tashina. »Aber sie war trotzdem happy; schließlich<br />

ist sie selbst sehr christlich.« Das besondere<br />

am ETS ist, dass viele Schüler auch in der Schule<br />

wohnen. Die Schüler kommen von überall her:<br />

USA, Indonesien, Rumänien. Man verbringt viel<br />

Zeit miteinander und wird geformt durch all die<br />

Konflikte und schönen Erlebnisse, die man zusammen<br />

hat. Tashinas Tag an der Schule beginnt um<br />

kurz vor Acht, da springt sie aus dem Bett und eilt<br />

nach unten zum Unterricht. Viel Freizeit bleibt der<br />

jungen Theologiestudentin aber nicht: Mindestens<br />

eine Stunde am Tag muss sie Klavier üben, eine<br />

weitere Altgriechisch lernen, damit sie später die<br />

Urschriften der Bibel lesen kann. Trotzdem würde<br />

sie das Leben, das sie hier hat, gegen kein anderes<br />

eintauschen wollen. Sie genießt die Zeit in Gemeinschaft,<br />

sagt Tashina. »Und meine Beziehung<br />

zu Gott ist viel intensiver geworden!«<br />

Text: Bettina Schneider<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

titEltHEma<br />

7


EPortagE<br />

8<br />

EiN HirtE zWiScHEN KNaStmaUErN<br />

Der katholische Gefängnisseelsorger Peter Knauf kümmert sich auch um muslimische<br />

Gefangene. Weil viele Moslems seinen Gottesdienst besuchen, liest er an Heiligabend<br />

auch aus dem Koran. <strong>NOIR</strong>-Autor Martin Zimmermann hat den religiösen Arbeitskreis<br />

im Gefängnis besucht.<br />

text: martin zimmermann | layout: tobias fischer<br />

Der Petrusfigur im Dom genügt ein einziger<br />

Schlüssel, um die Himmelstür aufzuschließen.<br />

Gefängnisseelsorger Peter<br />

Knauf aber braucht einen schweren Schlüsselbund,<br />

um in seine Kirche zu gelangen. Wenn er<br />

morgens mit seinem Auto durch die Gefängnisschleuse<br />

fährt, muss er zwischen den beiden Toren,<br />

die sich nicht gleichzeitig öffnen lassen, Ausweis<br />

und Handy abgeben.<br />

Lastwagen, die ihm aus dem Gefängnis entgegen<br />

kommen, werden in der Schleuse an einen<br />

Herzfrequenzmesser angeschlossen. Hätte sich<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

ein Häftling im Lkw versteckt, würde das Gerät<br />

seinen Herzschlag anzeigen.<br />

Die Kirche liegt im obersten Stock von Haus<br />

eins, einem Gebäude aus der Kaiserzeit. Die Zellen<br />

sind hier als Einzelzellen gebaut, trotzdem meist<br />

doppelt belegt, die Toiletten sind nicht abgetrennt.<br />

Weil diese Überbelegung eigentlich gegen die<br />

Menschenwürde verstößt, muss jeder Gefangene<br />

vorher eine schriftliche Einverständniserklärung<br />

unterzeichnen. Vorbei an den schweren, mit einem<br />

kleinen Guckloch versehenen Eisentüren der<br />

Zellen gelangt man über das Treppenhaus in die


Gefängniskirche. Die Kirche ist ein Ort, der schon<br />

architektonisch Gemeinschaft stiftet – im Kontrast<br />

zu den Gefängnismauern. Die Kirchenbänke<br />

sind nicht im rechten Winkel, sondern parallel<br />

zum Gang rechts und links angeordnet. Die Gottesdienstbesucher<br />

sitzen sich gegenüber. Die Deckenlampen<br />

sind in einem Leuchtkreis angeordnet,<br />

der Zusammengehörigkeit symbolisiert; einer<br />

Zusammengehörigkeit, die vor Religionsgrenzen<br />

nicht Halt macht.<br />

Im Heiligabendgottesdienst liest Peter Knauf die<br />

Sure Maryam aus dem Koran vor. In dieser 19. Sure<br />

ist von der jungfräulichen Geburt Jesu die Rede.<br />

Rund ein Drittel seiner Gottesdienstbesucher sind<br />

Moslems. »Dazu kommen einige Russisch-Orthodoxe<br />

und einige, die nicht genau wissen, was sie<br />

sind«, sagt Knauf.<br />

Jeden Montag kommen die Gefangenen zu Peter<br />

Knauf in den Nebenraum der Kirche. Er liest mit<br />

ihnen in der Bibel und dem Koran und diskutiert<br />

Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Religionen.<br />

»Die Häftlinge kommen freiwillig. Das ist mir<br />

wichtig«, sagt Peter Knauf. »In anderen Freizeitgruppen<br />

werden die Gefangenen ausgeschlossen,<br />

wenn sie unentschuldigt fehlen. Das ist hier<br />

bewusst nicht so.« Der Arbeitskreis »Bibel und<br />

Koran« gilt als religiöse Veranstaltung, von der<br />

Gefangene nicht aus disziplinarischen Gründen<br />

ausgeschlossen werden können. Früher leitete<br />

Knauf die Gruppe gemeinsam mit dem afghanischen<br />

Religionsgelehrten Hossein Fatimi aus<br />

Pforzheim, doch der hörte vor zehn Jahren aus Al-<br />

Sechs Häftlinge sitzen mit Peter Knauf an<br />

einem Tisch. Es gibt Kaffee und Kekse.<br />

tersgründen auf. Seither ist Knauf auf der Suche<br />

nach einem islamischen Pendant.<br />

Einer der Gefangenen, Yussuf (Namen geändert),<br />

rollt vor Beginn der Veranstaltung den Gebetsteppich<br />

aus und neigt sich gen Mekka. Der<br />

junge Algerier hat noch neun Monate wegen Körperverletzung<br />

abzusitzen. »Ich habe gegen ein Gebot<br />

Gottes verstoßen und Alkohol getrunken. Im<br />

Rausch bin ich gewalttätig.« Er glaubt, die Strafe<br />

wegen der Sünde gegen Gott und das Opfer »zweifach<br />

verdient« zu haben.<br />

Dieses Mal sind sechs Häftlinge gekommen: ein<br />

Deutscher, ein Bosnier, ein Algerier, ein Türke, ein<br />

Marokkaner und ein Tunesier. Man sitzt an einem<br />

großen Tisch. Es gibt Kaffee und Kekse, die Knaufs<br />

Ehefrau gebacken hat. Der Vater von drei Söhnen<br />

hat sich einst gegen die Priesterweihe und für die<br />

Gründung einer Familie entschieden. Der Theologe<br />

liest Stellen aus der Bibel und vergleichbare<br />

Koransuren in deutscher Übersetzung vor. Er legt<br />

Wert darauf, nicht missionieren zu wollen. Auch<br />

geht es nicht um Unterricht, sondern um einen<br />

Dialog, bei dem sich jeder einbringen kann. Zum<br />

Anfang des Jahres fängt er mit der Schöpfungsgeschichte<br />

wieder von vorne an. Sehr weit kommt<br />

In der Arbeitsgruppe geht es nicht nur um<br />

religiöse Diskussionen. Die Gefangenen er-<br />

zählen Peter Knauf auch ihre Sorgen und Nöte.<br />

er nicht, denn die Gefangenen sind aufgefordert<br />

nachzufragen und zu diskutieren. Davon machen<br />

sie regen Gebrauch.<br />

Yussuf will wissen, ob die Christen wirklich<br />

glauben, dass der Mensch vom Affen abstammt.<br />

Schließlich sei Charles Darwin doch ein Christ<br />

gewesen. Er könne dies nicht glauben, schließlich<br />

stünde im Koran, dass Affen keine Seele haben.<br />

Schnell findet er im Koran eine entsprechende<br />

Sure, um dies zu belegen. In der Sure al-Baqara,<br />

liest Yussuf vor, sagt Allah zu denen, die den Sabbat<br />

nicht befolgen: »Werdet verstoßene Affen«. Es<br />

entspinnt sich eine Diskussion über die Begriffe<br />

Seele und Geist und darüber, was Tiere von Menschen<br />

unterscheidet.<br />

Bei Wolfgang hat die Gruppe das Interesse an<br />

islamischer Kultur geweckt. Er hat sogar angefangen,<br />

Arabisch zu lernen. Yussuf und Ali dagegen<br />

nutzen die Gruppe, um besser Deutsch zu lernen.<br />

»Ob da die neun Monate, die ihr noch abzusitzen<br />

habt, ausreichen«, frotzelt Deniz. Er sitzt eine<br />

langjährige Strafe ab.<br />

Religiöse Diskussionen sind aber nicht der<br />

einzige Aspekt der Arbeitsgruppe. Peter Knauf<br />

ist auch ein Ansprechpartner für die Sorgen und<br />

Nöte der Gefangenen. Ali, ein Tunesier, wird gefragt,<br />

wie er die Lage in seiner Heimat sieht. »Gut<br />

und nicht gut«, meint Ali. »Gut, dass der Diktator<br />

Ben Ali weg ist. Nicht gut, dass man nicht weiß,<br />

was nachkommt.«<br />

Hassan und Deniz beschweren sich, dass sie<br />

beim Freitagsgebet erst spät in den Gebetsraum<br />

gelassen wurden. Peter Knauf empfiehlt ihnen,<br />

den Gefängnisdirektor zum nächsten Freitagsgebet<br />

einzuladen und ihm im Gespräch zu erklären,<br />

wie wichtig ihnen der Ablauf dieses Gebets sei.<br />

Als das Treffen zu Ende ist, wartet bereits ein<br />

Vollzugsbeamter vor der Kirche, um die Häftlinge<br />

wieder in ihre Zellen einzuschließen.<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

rEPortagE<br />

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WiSSEN<br />

10<br />

UNStErBlicH?<br />

Himmel, Hölle, Wiedergeburt? Warum lässt Gott Böses geschehen? Und kann<br />

es sein, dass die Jungfrauengeburt ein Übersetzungsfehler war. Diese drei<br />

großen Glaubensfragen nehmen wir genauer unter die Lupe.<br />

texte: leonie müller | foto: Harriet Hanekamp | layout: tobias fischer<br />

Gibt es ein Leben nach dem Tod? Diese<br />

Frage beschäftigt Menschen aller Kulturen<br />

seit Jahrtausenden. Die Auferstehung<br />

Jesu Christi wurde bei uns zum gesetzlichen Feiertag.<br />

Kinder lieben die Gruselgeschichten von<br />

Geistern, die um Mitternacht auf dem Friedhof<br />

rumspuken. Aber was steckt dahinter?<br />

Die großen Weltreligionen haben sehr eigene<br />

Ansichten: Der Hinduismus glaubt an die Wiedergeburt<br />

in verschiedenen Körpern, im Buddhismus<br />

kann man aus dieser Wiedergeburts-Kette ausbrechen<br />

und das Nirwana, die vollendete Seelenruhe,<br />

erreichen. In Christentum, Judentum und Islam<br />

gibt es das Paradies und die Hölle, wenn auch in<br />

sehr unterschiedlichen Formen. Aus der christlichen<br />

Hölle gibt es kein Entkommen, während im<br />

Islam Allah die Dauer des Aufenthaltes bestimmt.<br />

Für Forscher ist dieses Thema ebenfalls ein<br />

spannendes Feld. Wissenschaftlich lassen sich<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

viele Vorgänge nicht erklären − zum Beispiel die<br />

Nahtoderfahrungen, die Menschen überall auf der<br />

Welt machen und die oft sehr ähnlich ablaufen. Die<br />

Seele des Sterbenden scheint den Körper zu verlassen<br />

und von oben auf ihn und den ganzen Raum<br />

blicken zu können. So konnten klinisch Tote, die<br />

wiederbelebt wurden, im Nachhinein genau beschreiben,<br />

wie der Raum oder der Ort ausgesehen<br />

hat. Sie wussten sogar, wo der Krankenwagen geparkt<br />

hatte, während sie klinisch tot waren. Ebenfalls<br />

unerklärlich bleiben Tonbandaufnahmen und<br />

Fotos, auf denen Personen erscheinen, die bei der<br />

Aufnahme nicht anwesend waren. Auch gibt es<br />

Menschen, die unter Hypnose in ein vermeintlich<br />

früheres Leben zurückversetzt wurden und von<br />

dieser Zeit erzählen konnten. Das Leben nach dem<br />

Tod bleibt mysteriös – und wohl eine persönliche<br />

Glaubensangelegenheit.


Die Bibel – ein altes und besonderes<br />

Schriftstück, das<br />

für viele Menschen die<br />

Grundlage ihres Glaubens darstellt.<br />

Doch unter welchen Bedingungen<br />

ist sie entstanden? Ist sie wörtlich<br />

zu verstehen oder symbolisch? Die<br />

Bibel ist in einem fast unüberschaubar<br />

langen Zeitraum entstanden,<br />

2 000 Jahre haben Spuren hinterlassen.<br />

Immer wieder wurden Form<br />

und Inhalt verändert, Texte ausgeschmückt,<br />

weggelassen – und übersetzt.<br />

Was das für die Bibel in ihrer<br />

heutigen Form bedeutet, versuchen<br />

Forscher seit langem herauszufinden.<br />

Das wohl prägnanteste Beispiel<br />

für diese Forschung und ihre Folgen<br />

ist die Jungfrauengeburt. Dass Maria<br />

bei der Geburt Jesu noch Jungfrau<br />

war, ist besonders in der katholischen<br />

Kirche zentraler Bestandteil<br />

diE tHEodizEE-fragE.<br />

gott UNd daS üBEl<br />

iN dEr WElt<br />

des christlichen<br />

Glaubens. Vom<br />

wissenschaftlichen<br />

Aspekt her ist jedoch<br />

von einem<br />

Übersetzungsfehler auszugehen: Im<br />

hebräischen Bibeltext ist die Rede<br />

von »alma«, einer jungen Frau im<br />

heiratsfähigen Alter. In der Übersetzung<br />

ins Altgriechische wurde daraus<br />

»parthenos«, was sowohl junge<br />

Frau, als auch Jungfrau bedeuten<br />

kann. Bei weiteren Übersetzungen<br />

wurde daraus Jungfrau. Ein gewaltiger<br />

Unterschied – erregt diese biologisch<br />

fragwürdige Geschichte doch<br />

überall auf der Welt die Gemüter und<br />

distanziert den modernen Menschen<br />

wohl eher von der Kirche, als sie<br />

mit ihm zu verbinden. Während die<br />

evangelische Kirche diese Lehre als<br />

irrelevant für den christlichen Glauben<br />

bezeichnet, tut sich die katholi-<br />

Wo war Gott, als es mir schlecht ging?<br />

Wie kann Gott das Böse zulassen? Die<br />

Theodizee-Frage (griechisch »theós«<br />

(Gott) und »diké« (Gerechtigkeit)) behandelt die<br />

Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts<br />

des Bösen in der Welt. Seit der Antike wird diese<br />

Frage diskutiert. Schon vor 2 300 Jahren formulierte<br />

der griechische Philosoph Epikur die Problemstruktur<br />

dieses Themas: »Entweder will Gott die<br />

Übel beseitigen und kann es nicht: Dann ist Gott<br />

schwach, was auf ihn nicht zutrifft. Oder er kann<br />

es und will es nicht: Dann ist Gott missgünstig,<br />

was ihm fremd ist. Oder er will es nicht und kann<br />

es nicht: Dann ist er schwach und missgünstig zu-<br />

diE JUNgfraUENgEBUrt –<br />

EiN üBErSEtzUNgSfEHlEr?<br />

sche mit diesem Sachverhalt deutlich<br />

schwerer. Der heutige Papst Joseph<br />

Ratzinger schrieb bereits 1967 in seinem<br />

Buch »Einführung in das Christentum«,<br />

die Lehre vom Gottsein<br />

Jesu würde nicht angetastet, wenn<br />

Jesus aus einer normalen menschlichen<br />

Ehe hervorgegangen wäre. Diese<br />

theologische Aussage verdeutlicht<br />

bis heute, dass die Kirchen mit der<br />

Bibelforschung so manches Problem<br />

haben und versuchen, unangenehme<br />

Ergebnisse irgendwie zu umgehen.<br />

Dauerhaft werden Kirche und Wissenschaft<br />

einen Weg finden müssen,<br />

miteinander umzugehen.<br />

gleich, also nicht Gott. Oder er will es und kann<br />

es, was sich allein für Gott ziemt.«<br />

Die Religionen antworten alle sehr unterschiedlich<br />

auf dieses Problem. Die Bibel widmet<br />

der Sache ein ganzes Buch (die Hiob-Geschichte).<br />

Dort verspricht Jesus letztendlich Gerechtigkeit<br />

im Paradies. Das Judentum sieht Leid als strafende<br />

Konsequenz der Sünde an. Der Islam lehrt den<br />

Glauben an das Jenseits; damit ist das Leben eine<br />

Prüfung, in der vom Menschen auch falsche Entscheidungen<br />

getroffen werden. Eine umfassende<br />

Erklärung aber liefert keine Religion. Im Laufe der<br />

Jahrhunderte haben sich ebenfalls verschiedene<br />

Meinungen herausgebildet: Manche sagen, Gott<br />

habe sich von den Menschen zurückgezogen, weil<br />

sie ihn ablehnen. Andere sehen in der fast unbegrenzten<br />

Freiheit des menschlichen Willens die<br />

Ursache allen Übels. Für den deutschen Philosophen<br />

Gottfried Leibniz, der im 18. Jahrhundert den<br />

Begriff »Theodizee« prägte, bedeutete das Böse die<br />

Chance zur eigenen Vervollkommnung und Verbesserung<br />

der Welt. Wieder andere meinen einfach:<br />

Gottes Wege sind eben unergründlich.<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

WiSSEN<br />

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EPortagE<br />

12<br />

maria aUS dEr SPraydoSE<br />

Zwei Künstler, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: STEFAN STRUMBEL ist derzeit<br />

der bekannteste Pop-Art Künstler Deutschlands. Wie Leonardo da Vinci im 14. Jahrhundert<br />

verändert er heute den Kirchenstil: Er sprayt schrille Graffiti in Kirchen.<br />

text: laura Wolfert | layout: Borris golinski<br />

Leonardo da Vinci rebellierte<br />

im 14. und 15. Jahrhundert<br />

mit seiner Kunst gegen<br />

die traditionelle Art der Kirche. Er<br />

malte das Gemälde »Die Madonna<br />

in der Felsengrotte«, das eine Auftragsarbeit<br />

der »Bruderschaft der<br />

Unbefleckten Empfängnis« für die<br />

Kirche San Francesco in Mailand<br />

war. Da Vinci zeichnete Jesus ohne<br />

Gold und Heiligenschein. Das Bild<br />

entsprach nicht mehr dem kirchlichen<br />

Dogma und wurde deshalb<br />

nie der Kirche übergeben. Was hätte<br />

aber die Kirche damals wohl gesagt,<br />

wenn ein ehemaliger Graffiti-Künstler<br />

die heilige Maria in bayerischer<br />

Tracht darstellen und eine Kirche<br />

mit bunten Farben ausmalen würde?<br />

Der moderne da Vinci heißt Stefan<br />

Strumbel. Mit zwölf Jahren begann<br />

er, Graffiti auf Wände und Züge zu<br />

sprayen. »Der U-Bahn-Raum ist eine<br />

offene Kunstszene. Dort kommen<br />

selbst Leute mit Kunst in Berührung,<br />

die nie in eine Gallerie gehen würden.<br />

Züge und ICE-Züge machen dich und deine<br />

Werke dort bekannt, wo sonst Keiner seine Kunst<br />

zeigt«, sagt Strumbel. Heute sprayt er aber nicht<br />

mehr an Züge oder Wände. Seit 2001 ist Strumbel<br />

ein freischaffender Künstler und befasst sich mit<br />

dem, was jeden betrifft: »Heimat. Das hat für jeden<br />

eine andere Bedeutung. Das ist auch gut so, denn<br />

jeder sieht in meinen Arbeiten etwas anderes.«<br />

Der Schwarzwald inspiriert ihn. Strumbel malt<br />

Bommelhutmädchen mit Gewehren und fiesen<br />

Sprüchen, erschafft pinkfarbene Kuckucksuhren<br />

mit Handgranaten. Darüber sprayt er Sprüche, die<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

schocken. »Heimatdroge« oder »Who killed Bambie?«<br />

sollen ausdrücken, dass einen die Heimat ein<br />

Leben lang beschäftigt. Er kombiniert seine Ideen<br />

auch mit Religiösem. Eine Provokation? Für Stefan<br />

Strumbel nicht. »Ich habe noch viele weitere Ideen,<br />

die ich umsetzen werde und die vielleicht noch<br />

mehr schocken werden.« Doch wie kam Strumbels<br />

Kunst in eine Kirche? Es war eine normale Kirche<br />

in Goldscheuer bei Kehl, die verändert werden sollte.<br />

Das Gotteshaus stand kurz vor der Schließung.<br />

»Es kamen zu wenig Besucher. Die Kirche füllte<br />

sich nur zu zwei bis drei Prozent. Da hat man sich


schon überlegt, wofür man die Kirche gebrauchen<br />

könnte, aber die Gemeinde wollte sie behalten<br />

und spendete«, erzählt Thomas Braunstein, Pfarrer<br />

von Goldscheuer. Auch im Pfarrgemeinderat<br />

überlegte man, wie man mehr Besucher anlocken<br />

könnte. Man kam auf Herrn Strumbel, der durch<br />

einen Mann berühmt wurde: Karl Lagerfeld.<br />

Der war begeistert, als er Strumbels Uhr geschenkt<br />

bekam. Als im Stern zu Lagerfelds 75-jährigem<br />

Geburtstag ein Bild davon veröffentlicht wurde,<br />

schlug Strumbels Sternstunde. Er gewann 2007 das<br />

erste Graffiti-Stipendium der Welt und arbeitete<br />

immer häufiger im Ausland. Der<br />

ehemalige Graffiti-Sprayer hatte<br />

Einzelausstellungen in der »One<br />

Man Show«, Galerie Springmann<br />

in Freiburg und auch Ausstellungen<br />

in New York, Basel und Polen.<br />

Die New York Times ernannte ihn<br />

zum zurzeit besten Pop-Art-Künstlers. Die Kirche<br />

engagierte ihn als ihre letzte Rettung. Sie überließ<br />

ihm die komplette Innenraumgestaltung der<br />

Kirche.<br />

Mit seinem Hauptthema verbunden, will er<br />

nicht nur die Kirche retten. Er will einen Ort<br />

schaffen, wo Menschen ein Stück Heimat finden:<br />

Heimatgefühle in das Gotteshaus bringen. Strumbel<br />

kleidet seine heilige Maria kurzerhand in eine<br />

Tracht. Die Gemeinde ist empört: »Ein Teil wollte<br />

ihr Geld zurück«, erinnert sich Renate Hauer aus<br />

dem Pfarrgemeinderat. Strumbels Kunst wurde<br />

als Gottesverspottung deklariert. Doch Pfarrer<br />

Thomas Braunstein verstand, was der Künstler<br />

aussagen wollte und half, seine Absicht mit Artikeln<br />

im Amtsblatt zu vermitteln. »Ich habe mit dem<br />

Lied ›Maria ist im Volke‹ gezeigt, dass Strumbels<br />

Maria in Tracht durchaus berechtigt ist. Er hat sie<br />

mit einem Zeichen unseres Volkes verbunden. Das<br />

haben sie verstanden. Die Gemeinde steht mittlerweile<br />

voll hinter ihm«, sagt Pfarrer Braunstein.<br />

So konnte Strumbel der Kirche einen neuen<br />

Anstrich verleihen.<br />

Wo früher Empörung<br />

aufkam, wegen eines<br />

Bildes, das dem Dogma<br />

nicht entsprach,<br />

kommen heute Leute<br />

jedes Alters in die Kirche.<br />

Sie finden sich in der modernen Gestaltung<br />

wieder – mehr als je zuvor. Das Haus Gottes. Die<br />

Heimat Gottes. Von einem zweiten da Vinci revolutioniert.<br />

»Es war ein tolles Gefühl, mit der<br />

Spraydose in der Kirche zu stehen.<br />

Ihre Macht fasziniert mich!«<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

rEPortagE<br />

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iNtErviEW<br />

14<br />

diE SiNNE täUScHEN NicHt<br />

Wo endet die Wissenschaft, wo beginnt der Glaube? Es ist eine Debatte,<br />

die so alt ist wie die Menschheit. <strong>NOIR</strong> lud den Theologen Albert Biesinger<br />

und den Neurobiologen Boris Kotchoubey zum Streitgespräch.<br />

text & fotos: Sanja döttling | layout: tobias fischer<br />

Warum glauben Menschen?<br />

Biesinger: Zum einen<br />

haben sie die Kompetenz, über das<br />

hinauszufragen, was empirisch verstanden<br />

werden kann. Sie treffen<br />

die Option: »Es muss mehr als alles<br />

geben.« Der zweite Grund ist, dass<br />

Menschen sich sagen: »Ich kann mich<br />

zwar darauf einlassen, dass mit dem<br />

Tod alles aus ist – das ist mir aber zu<br />

kurzschlüssig. Ich frage noch weiter,<br />

über den Tod hinaus.« Ein anderes<br />

Beispiel ist die Entstehung des Universums.<br />

Ich gehe selbstverständlich<br />

vom Grundmodell Evolution aus,<br />

frage aber als Theologe noch weiter.<br />

Nach der Bedingung der Möglichkeit,<br />

dass etwas ist. Die religiöse Frage<br />

ist deshalb immer die Frage nach<br />

der Bedingung der Möglichkeit der<br />

Wirklichkeit und der Existenz des<br />

Menschen.<br />

Kotchoubey: Ich frage mich eher,<br />

warum manche Menschen nicht<br />

glauben. Und zwar deshalb, weil ich<br />

mir den Glauben etwas breiter vorstelle:<br />

über den religiösen Rahmen<br />

hinaus. Menschen glauben, weil sie<br />

prinzipiell nicht alles wissen können.<br />

Sie brauchen eine Basis, die sie<br />

nicht genau prüfen können.<br />

Was gehört für Sie zur breiteren Definition<br />

von Glauben?<br />

Kotchoubey: Der Glaube zum Bei-<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

spiel, dass mich meine Sinne normalerweise<br />

nicht täuschen. Wenn ich<br />

Sie jetzt sehe, dann existieren Sie<br />

tatsächlich. Und daran glaube ich.<br />

Wenn man tiefer geht, dann kommt<br />

man zu dem Punkt, dass man das<br />

nicht beweisen kann, dass sie vor<br />

mir sitzen. Ich muss also bestimmte<br />

Glaubensinhalte haben.<br />

Biesinger: »Was glaubt, wer nicht<br />

an Gott glaubt?« – So haben es Kardinal<br />

Carlo Martini und Umberto<br />

Eco im Dialog thematisiert. Wenn<br />

ein Mensch sagt, es gibt keinen Gott,<br />

dann glaubt er eben, dass Gott nicht<br />

ist. Man kann weder beweisen, dass<br />

Gott existiert, noch dass er nicht<br />

existiert. Gott ist weiter und komplexer<br />

als unsere menschlichen Gehirnstrukturen.<br />

Kotchoubey: Die Ursache des Glaubens<br />

ist die unendliche Komplexität<br />

der Welt. Wir tendieren dazu, die<br />

Komplexität zu unterschätzen, um<br />

Vorhersagen zu treffen. Dazu vereinfachen<br />

wir Prozesse der Welt, die<br />

eigentlich viel komplexer sind. Die<br />

Begründer unserer modernen Wissenschaft,<br />

wie Galileo, haben einen<br />

Weg der Vereinfachung gefunden.<br />

Darin liegt ihre Genialität. Jeder<br />

kann sehen, dass ein Stein schneller<br />

fällt als eine Feder. Man muss<br />

aber, um wissenschaftliches Wissen<br />

aufzubauen, gewisse Aspekte vernachlässigen,<br />

wie den Luftwider-<br />

stand – dann fallen Feder und Stein<br />

gleich schnell. Aber wenn wir mit<br />

dem Fallschirm springen, können<br />

wir vom Luftwiderstand nicht absehen,<br />

denn er entscheidet über Leben<br />

und Tod. Man darf diese Vereinfachung<br />

nur bis zu einem gewissen<br />

Punkt betreiben. Es gibt zum Beispiel<br />

chemische Systeme, bei denen<br />

man keinen Schritt auslassen kann.<br />

Die Systeme kann man im Nachhinein<br />

zwar erklären, mit dem Ursache-Wirkung-Prinzip.<br />

Aber in die<br />

Zukunft kann man sie nicht vorhersehen.<br />

War die Entstehung des Glaubens<br />

eine Form, die Wirklichkeit zu vereinfachen?<br />

Kotchoubey: Gott ist für mich ein<br />

Begriff, der auf der gleichen Stufe<br />

steht wie die Welt als Ganzes. Wenn<br />

es Gott gibt, dann ist er nach Definition<br />

also unendlich komplex. Das<br />

heißt, wir können ihn nicht verstehen<br />

und damit auch nicht wissen.<br />

Biesinger: Ich sehe das so: Alles,<br />

was Naturwissenschaften entdecken,<br />

hilft mir als Theologe, den Schöpfer<br />

der Welt, also Gott, besser zu verstehen.<br />

Gerade weil ich davon ausgehe,<br />

dass Gott die Welt in Prozessen der<br />

Evolution erschaffen hat. Der Gegensatz<br />

zwischen Naturwissenschaft und<br />

Glaube muss aufgebrochen werden, sie<br />

schließen sich nicht aus.


Herr Kotchoubey, sind Sie gläubig?<br />

Wie vereinen Sie das mit Ihrem Beruf?<br />

Kotchoubey: Ich sehe darin keinen<br />

Widerspruch, solange man Gott<br />

nicht auf bestimmte Bilder reduziert.<br />

Es gibt einen Punkt, an dem ich an<br />

die Grenzen der Unvereinbarkeit<br />

komme.<br />

Glauben immer weniger Jugendliche<br />

an Gott?<br />

Biesinger: Der Religionsmonitor<br />

des Bertelsmann-Verlages zeigt: Die<br />

Hälfte der deutschen Jugendlichen<br />

ist in verschiedener Ausprägung religiös.<br />

Das andere größere Segment<br />

ist nicht atheistisch sondern agnostisch.<br />

Sie wissen nicht, ob es Gott<br />

gibt oder nicht. Die Statistik verändert<br />

sich durch die hohe Anzahl an<br />

Migranten, die tendenziell religiöser<br />

sind als die Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft.<br />

Kotchoubey: Die Zunahme des<br />

Atheismus ist ein kulturspezifisches<br />

Phänomen, das nur in ganz<br />

bestimmten Gesellschaften existiert.<br />

In Westeuropa sehen wir, je stärker<br />

entwickelt die Wissenschaften sind,<br />

desto weniger herrscht der Glaube<br />

vor. In Amerika, Afrika, Osteuropa<br />

Albert Biesinger wurde 1948 in Tübingen<br />

geboren, studierte katholische<br />

Theologie und Pädagogik. Seit 1991 ist<br />

Biesinger Professor für Religionspädagogik<br />

an der Universität Tübingen und<br />

seit 2001 Leiter des Instituts für berufsorientierte<br />

Religionspädagogik.<br />

oder in asiatischen Ländern sehen<br />

wir diesen Zusammenhang nicht.<br />

Biesinger: Vielleicht hängt das<br />

auch mit der Erfahrung zusammen,<br />

dass in den reicheren Ländern die<br />

Leute ihr Leben auch ohne Gott gestalten<br />

können. Man sagt: »Not lehrt<br />

beten.«<br />

Meine Theorie, warum Jugendliche<br />

zu Atheisten werden: Sie wollen<br />

mehr Selbstbestimmung und niemand<br />

anderen über sich stellen.<br />

Kotchoubey: Teilweise stimme ich<br />

zu. Es gibt in jedem das Bedürfnis,<br />

selbstbestimmt zu leben. Aber auch<br />

das Bedürfnis nach einer bestimmten<br />

Regelmäßigkeit. Viele Bücher<br />

in der Erziehungswissenschaft sagen<br />

aber, dass wir Jugendliche mit<br />

Selbstbestimmung überfordern. Sie<br />

fühlen sich in einer Welt ohne Regeln<br />

verloren. Welche Rolle kann<br />

hier eine Religion spielen? Wenn wir<br />

die russisch-orthodoxe Kirche mit<br />

der lutherisch-evangelischen Kirche<br />

vergleichen, schreibt die eine viel<br />

und die andere fast gar nichts vor.<br />

Das ändert nichts daran, dass die<br />

Jugendlichen auch aus der evangelischen<br />

Kirche aussteigen. Wenn Ihre<br />

Theorie stimmen würde, würden sie<br />

der evangelischen Kirche zulaufen.<br />

Und wenn Jugendliche in der Kirche<br />

nach Regeln suchen?<br />

Biesinger: Es gibt zwar Zulauf zu<br />

den Freikirchen, die große Gottesdienste<br />

feiern und klarere Orientierung<br />

in einer komplexen Welt<br />

bieten. Aber auch in den beiden großen<br />

Kirchen gibt es große religiöse<br />

Jugendtreffen. Ich glaube nicht, dass<br />

die Jugendlichen sich allgemein vom<br />

Glauben zurückziehen. Es gibt einen<br />

gewissen Rückzug von den Kirchen,<br />

aber auch von den Parteien. Also allgemein<br />

einen Rückzug aus der Verbindlichkeit.<br />

Vielen Dank für das Gespräch.<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

iNtErviEW<br />

Boris Kotchoubey wurde 1952 in<br />

Russland geboren. 1992 kam er nach<br />

Deutschland und ist heute Professor<br />

am Institut für medizinische Psychologie<br />

und Verhaltensneurobiologie an der<br />

Universität Tübingen.<br />

15


EPortagE<br />

16<br />

SüSS, SExy, SyNtHESizE<br />

text: Judith daniel | layout: Sebastian Nikoloff<br />

tEUfElSzEUg<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

Die Luft vibriert, es ist unglaublich laut,<br />

dabei hat das Konzert noch nicht begonnen.<br />

Tausende von kleinen Leuchtstäben<br />

bringen eine unwirkliche Atmosphäre in die<br />

dunkle Arena. »Hatsune! Hatsune!« brüllt das Publikum,<br />

bis sich der Rhythmus ändert und »Miku!<br />

Miku! Miku!« aus den Reihen tönt. Kurz wird<br />

es ganz still, dann antwortet eine glockenhelle<br />

Stimme über die Lautsprecher. Alles Weitere geht<br />

im Grölen unter. Hatsune Miku wächst aus dem<br />

Bühnenboden wie eine türkis leuchtende Blume.<br />

text: Henrike W. ledig | layout: Sebastian Nikoloff<br />

Auch der Teufel hat Anhänger: Satanisten.<br />

Im Zentrum deren »Religion« steht natürlich<br />

er selbst. Verehrt wird der Teufel<br />

entweder alleinstehend oder als »höllische Dreifaltigkeit«,<br />

bestehend aus Satan, Luzifer und Beelzebub.<br />

Aber nur für einen Bruchteil der bekennenden<br />

Satanisten gehört die Teufelsanbetung zum<br />

Glaubensprogramm. Vielmehr wird sich auf die<br />

eigentliche Absicht des Teufels zurückbesonnen:<br />

die Menschen vom Glauben an eine überirdische<br />

Sie sieht zart und zerbrechlich aus mit ihren großen<br />

Augen. Zur Schuluniform trägt sie Zöpfe, die<br />

fast bis zum Boden fließen, Strapse und Plateauschuhe.<br />

Kindchenschema und Sexappeal bis zur<br />

Gänze ausgereizt. Ein perfektes 16-jähriges Mädchen.<br />

Ein Hologramm.<br />

Doch was macht Hatsune Miku, eine Synthesizer-Illusion,<br />

so erfolgreich, dass sie durch die Welt<br />

tourt? Sie ist vollständig erdacht und programmiert:<br />

ihr Körper, ihre Bewegungen und auch ihre<br />

Stimme. Miku wiegt 42 Kilogramm bei einer Körpergröße<br />

von 1,58 Metern. Ihre Macher feiern jedes<br />

Jahr am 31. August ihren 16. Geburtstag – und<br />

über eine Viertelmillion Facebook-Nutzer feiern mit.<br />

Es werden Kuchen gebacken, Liebesgeständnisse<br />

gemacht und Ständchen gesungen.<br />

Was bringt uns Menschen dazu, das Privatleben<br />

einer fremden Person dermaßen zu verfolgen und<br />

ihr gegenüber von Zuneigung oder gar Liebe zu<br />

sprechen? So absurd der Kult um Hatsune Miku<br />

ist: Sie unterscheidet sich kaum von anderen Idolen.<br />

Auch deren Image kann völlig frei erfunden<br />

sein. Wir sind auf der Suche nach jemandem, an<br />

den wir glauben können. Wir haben die Eltern als<br />

Vorbilder verloren und suchen auf den Bühnen der<br />

Welt nach Idolen.<br />

Macht zu befreien. Die Aufmerksamkeit wird auf<br />

das Individuum gelenkt, der Teufel rät zu einem<br />

gesunden Egoismus.<br />

Da wäre allerdings ein simples Problem: Es<br />

gibt kein Buch wie die Bibel oder den Koran. Der<br />

Teufel ist entgegen der geläufigen Annahme kein<br />

sehr gesprächiger Geselle. Sämtliche Werke sind<br />

ausnahmslos von Menschen verfasst. Dazu gehört<br />

auch »Die schwarze Bibel«, die die Zehn Gebote<br />

des Satanismus beinhaltet. Somit existiert nur<br />

eine Orientierungshilfe auf der Suche nach einer<br />

Religion, der man oft mit Vorurteilen begegnet.


KircHE 2.0<br />

Wie cool wäre es, nicht mehr in die kalte Kirche gehen zu müssen, sondern von zu Hause aus zu<br />

beten. <strong>NOIR</strong>-Autorin Silke Brüggemann präsentiert: Die Kirche im Internet.<br />

text: Silke Brüggemann | layout: Sebastian Nikoloff<br />

Gottesdienst am Sonntagmorgen,<br />

Weihrauch und<br />

Orgelmusik: Religion leben<br />

geht heute auch anders. Dank Handy-Applikationen<br />

und Internet können<br />

Christen sich heute online austoben.<br />

Silke Brüggemann hat getestet,<br />

wie man im Web 2.0 beichtet und ob<br />

ein Handy-Tagebuch einen besseren<br />

Menschen aus einem macht.<br />

»Im Namen des Vaters, des Sohnes<br />

und des Heiligen Geistes«, tönt<br />

es aus den Lautsprechern meines<br />

Laptops. Eine Homepage, gestaltet<br />

in schwarz und lila, lädt mich ein,<br />

»online mit Jesus« zu gehen. So soll<br />

aus mir ein besserer Mensch werden<br />

– per Online-Beichte. Durch<br />

Klicks auf zwei Kästchen bestätige<br />

ich, dass ich etwas bereue und gelobe<br />

mich zu bessern. In anderen Online-<br />

Beichtstühlen kann ich meine Sünden<br />

als Foreneinträge direkt veröffentlichen.<br />

Andere Benutzer können<br />

die Beichten nicht nur lesen, sondern<br />

auch bewerten und ihren Senf dazu<br />

geben. Die Beichten reichen von Lügen<br />

über Betrug bis zu Tierquälerei.<br />

Online beichten ist nichts für<br />

mich, merke ich. Und suche weiter:<br />

nach einem religiösen Angebot, das<br />

zu mir passt. Ich google »pray« und<br />

lande auf einer Seite, die mich zum<br />

Online-Beten einlädt. Eine Oase der<br />

Ruhe im grauen Büroalltag; so soll<br />

die Seite wirken. Doch die Homepage<br />

ist ebenfalls grau. Dazwischen<br />

eine ockerfarbene Wiese mit einem<br />

blätterlosen Baum<br />

und einem Hauch<br />

von Kirchenmusik.<br />

Das soll wohl beruhigend<br />

wirken, auf<br />

mich wirkt es farblos.<br />

Per Mausklick<br />

startet eine Stoppuhr,<br />

die genau eine<br />

Minute abzählt, in<br />

der ich die Augen<br />

schließen und beten<br />

kann. Ich spule meine<br />

Sorgen und Hoffnungen<br />

gedanklich<br />

runter und bin nach<br />

zehn Sekunden fertig.<br />

Beichten und beten<br />

online ist noch lange nicht alles:<br />

Kirchengemeinden laden ihre Veranstaltungen<br />

auf Videoplattformen<br />

hoch, Gläubige bloggen über ihre<br />

Lieblingsbibelstelle und Geschäftsleute<br />

wollen ihre Jesus-Produkte<br />

loswerden, zum Beispiel christliche<br />

Handy-Applikationen. Orgelmusik<br />

und ein Wasserfall aus Bibelzitaten<br />

reißen mich aus dem Schlaf, als ich<br />

einen christlichen Wecker teste. Leider<br />

bin ich so müde, dass ich dem<br />

Sprecher mit der monotonen Stimme<br />

nicht folgen kann. Kein Zitat bleibt<br />

mir im Kopf und die Orgelmusik<br />

erinnert mich an den Soundtrack<br />

eines schlechten Vampir-Films. Ein<br />

Tagebuch als Handy-App soll aus<br />

mir einen besseren Christen ma-<br />

online-absolution von »gesegneter iP«<br />

chen. Auf einer Seite soll man fünf<br />

christliche Ziele eingeben. Ich gebe<br />

»mehr Nächstenliebe« und »mehr<br />

beten« ein. Die »Bibelstellen zur Inspiration«<br />

sind sehr ermutigend,<br />

aber helfen mir nicht, meine anderen<br />

drei Ziele zu finden. Zwei Ziele reichen<br />

für den Anfang, beschließe ich.<br />

Immer wenn ich es schaffe, eines der<br />

Ziele einzuhalten, darf ich mir einen<br />

Stern schenken. Sich ständig beobachten<br />

zu müssen, ist lästig und der<br />

Stern lässt sich nur schwierig eingeben.<br />

Ich gebe auf – und erwische<br />

mich dabei, wie ich bei einer langen<br />

Autofahrt anbiete, auf meine Beinfreiheit<br />

auf dem hinteren Mittelsitz<br />

zu verzichten. Vielleicht funktioniert<br />

das Tagebuch ja doch.<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

rEPortagE<br />

17


KolUmNE<br />

18<br />

Pizza Statt fiScH<br />

Jeden Freitag pulen Bettina Schneiders Mitschüler in der Kantine Gräten aus<br />

Backfischen. Ob sie dabei an Karfreitag denken und bewusst Verzicht üben?<br />

text: Bettina Schneider | layout & illustration: tobias fischer<br />

» Oh nein, heute ist Freitag. Ich riech‘s!«,<br />

plärrt meine Freundin Jasi, als wir die<br />

Schulkantine betreten. Eine Duftwolke<br />

von frischem Backfisch weht uns in die Nase. Wem<br />

es schmeckt, der pult Gräten aus seinem Tierchen.<br />

Immer wieder freitags – und keiner weiß wieso.<br />

»Kein Fleisch zu essen, soll eine Einschränkung<br />

sein, weil der Freitag an den Karfreitag erinnert,<br />

an dem Jesus umgebracht wurde«, lese ich online<br />

im »Typisch katholischen<br />

Lexikon«.<br />

Ahja. Was hat<br />

imPrESSUm<br />

Noir ist das junge magazin<br />

der <strong>Jugendpresse</strong> Baden-<br />

Württemberg e.v.<br />

ausgabe <strong>23</strong> – November 2011<br />

Herausgeber<br />

<strong>Jugendpresse</strong> Baden-Württemberg e.v.<br />

fuchseckstraße 7<br />

70188 Stuttgart<br />

tel.: 0711 912570-50 www.jpbw.de<br />

fax: 0711 912570-51 buero@jpbw.de<br />

Chefredaktion<br />

andreas Spengler andreas.spengler@noirmag.de<br />

(v.i.S.d.P., anschrift wie Herausgeber)<br />

anika Pfisterer anika.pfisterer@noirmag.de<br />

Susan djahangard susan.djahangard@noirmag.de<br />

miriam Kumpf miriam.kumpf@noirmag.de<br />

Chef vom Dienst<br />

alexander Schmitz alexander.schmitz@noirmag.de<br />

Lektorat<br />

dominik Einsele dominik.einsele@noirmag.de<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

Redaktion<br />

Silke Brüggemann (sbr), Judith daniel (jd), Sanja<br />

döttling (sdl), marie graef (mg), friederike Hawighorst<br />

(fh), lisa Kreuzmann (lkr), Henrike ledig<br />

(hl), melanie michalski (mm), leonie müller (lm),<br />

Elisabeth omonga (eo), anika Pfisterer (apf), Bettina<br />

Schneider (bs), lena Schubert (lsb), Nanda da Silva<br />

(nds), andreas Spengler (as), Kevin Weber (kwe),<br />

laura Wolfert (lw), martin zimmermann (mz)<br />

redaktion@noirmag.de<br />

Layout & Art Director<br />

tobias fischer tobias.fischer@noirmag.de<br />

Layout-Team<br />

tobias fischer, Borris golinski, Sebastian Nikoloff<br />

layout@noirmag.de<br />

Anzeigen, Finanzen, Koordination<br />

Sebastian Nikoloff sebastian.nikoloff@noirmag.de<br />

Druck<br />

Horn druck & verlag gmbH & co. Kg, Bruchsal<br />

www.horn-druck.de<br />

Jesus davon, wenn wir auf Schnitzel, Burger und<br />

Co. verzichten? Das Internet sagt: »Das ungute<br />

Gefühl, das jeder ungerecht Verurteilte in uns<br />

anklingen lässt, verbindet sich mit der Einschränkung,<br />

die an jedem Freitag daran erinnert, dass jeder<br />

eine Mitschuld an dem Tod hat.« Ich sehe mich<br />

an jenem Freitag in der Kantine um. Dort entdecke<br />

ich vieles – nur keine schuldbewussten Gesichter.<br />

Mit Appetit werden Pommes und Backfisch verdrückt.<br />

Nur Jasi und mich macht das nicht an. Wir<br />

gehen guten Gewissens in die nächste Pizzeria.<br />

Wie jeden Freitag. Danke, Jesus!<br />

Titelbilder<br />

titel: yariK / photocase.com; teaser-fotos, v.l.n.r:<br />

»Nico Piechulek«, »franziska Sucker«, »Hannah Netzer«<br />

/ jeweils www.jugendfotos.de [cc-lizenz (by-nd)]<br />

Bildnachweise<br />

S. 1 (oben): spacejunkie / photocase.com; S. 1<br />

(unten, v.l.n.r.): Privat, alexander Schmitz, Privat;<br />

S. 2 »zunge«: benicce / photocase.com; S. 2 »Buch«<br />

& »Kerzen«: Harriet Hanekamp; S. 2 »räuber«:<br />

froodmat / photocase.com; S. 3: fabian vögtle; S. 4<br />

(im Uhrzeigersinn): abcdz200 / sxc.hu, Privat (3x);<br />

S. 6-7: Privat (3x); S. 8: aleksandr zykov / fli ckr.com<br />

(cc-lizenz); S. 10: Harriet Hanekamp; S. 12-13: Stefan<br />

Strumbel / commons.wikimedia.org, cc-lizenz (bysa);<br />

S. 15: Sanja döttling; S. 16: youtube-Screenshot;<br />

S. 17: Website-Screenshot; S. 19: Privat (2x); S. 20: Eva<br />

Katrin Hermann; S. <strong>23</strong>: Privat<br />

Noir kostet als Einzelheft 2,00 Euro, im abonnement<br />

1,70 Euro pro ausgabe (8,50 Euro im Jahr, vorauszahlung,<br />

abo jederzeit kündbar).<br />

Bestellung unter der telefonnummer 0711 912570-50<br />

oder per mail an abo@noirmag.de.<br />

für mitglieder der <strong>Jugendpresse</strong> <strong>BW</strong> ist das abonnement<br />

im mitgliedsbeitrag enthalten.


BraUcHEN Wir diE KircHE?<br />

Kann man Glaube ohne Kirche und Kirche ohne Glauben leben? Zwei <strong>NOIR</strong>-Autorinnen,<br />

zwei Meinungen: Die Kirche schränkt uns in unserem Glauben ein,<br />

sagt Nanda da Silva. Glauben muss man gemeinsam leben, hält Friederike<br />

Hawighorst dagegen und fordert auf, die Kirche selbst positiv zu prägen.<br />

Pro: icH glaUBE,<br />

WiE icH Will.<br />

layout: Sebastian Nikoloff<br />

contra: glaUBEN<br />

BraUcHt KEiNE KircHE!<br />

text: friederike Hawighorst text: Nanda da Silva<br />

Es gibt viele Gründe,<br />

der katholi-<br />

Ist nur der gläubig,<br />

der sonntags in den<br />

schen Kirche den Rü-<br />

Gottesdienst geht und<br />

cken zu kehren. Ihre<br />

die Kirchenfeiertage<br />

von Grausamkeiten<br />

im Schlaf aufsagen<br />

gepflasterte Geschich-<br />

kann?<br />

te zum Beispiel, von<br />

Der Glaube jedes<br />

Kreuzzügen über den<br />

Menschen sollte indi-<br />

Ablasshandel bis hin<br />

viduell auf seinen eige-<br />

zu Skandalen um pänen<br />

Vorstellungen und<br />

dophile Prügelpriester<br />

Bedürfnissen beruhen<br />

in jüngster Vergangen-<br />

und das ausfüllen, was<br />

heit. Der reaktionäre Papst an der<br />

er für sich und für sein<br />

Spitze eines Apparates männlicher<br />

Leben als Stärkung empfindet. Die<br />

Dominanz, die Kirchensteuer und,<br />

Kirche hält sich an Regeln und Tradi-<br />

nicht zu vergessen, die unchristlitionen,<br />

die den Menschen in seinem<br />

chen Gottesdienstzeiten.<br />

Glauben mehr einschränken als ihn<br />

Warum ich nicht ausgetreten bin?<br />

darin zu unterstützen. Kein Wunder,<br />

Weil ich glaube, dass die Kirche zu<br />

denn wie kann man 2 000 Jahre alte<br />

einem Zweck geschaffen wurde: den<br />

Regeln in einer Zeit anwenden, die<br />

Geist Jesu zu verwirklichen, ihm als<br />

sich so komplett verändert hat – Mo-<br />

Gemeinschaft nachzufolgen und auf<br />

ral und Werte mit eingeschlossen.<br />

diese Weise Nächstenliebe zu leben.<br />

Wieso sollte Gott mit den Men-<br />

Das geht gemeinsam einfach besser<br />

schen nur über die Kirche in Kontakt<br />

als alleine. Übersteigerter Individu-<br />

treten. Laut dem christlichen Glaualismus<br />

ist im christlichen Glauben<br />

ben ist er doch allgegenwärtig.<br />

fehl am Platz.<br />

Die Freiheit jedes Einzelnen steht<br />

Natürlich ist fast jeder einmal von<br />

im Vordergrund. Wer die Regeln und<br />

der Kirche enttäuscht. Es wäre ver-<br />

die Kirche braucht, um seine Idee<br />

messen, zu glauben, die Geschichte<br />

von Glauben ausleben zu können,<br />

der Kirche wäre nicht auch durch<br />

dem stehe das frei. Auf der anderen<br />

fehlbare Menschen geschrieben. Und<br />

Seite sollte Glaube nicht von der Kir-<br />

fehlbar sind wir ausnahmslos alle.<br />

che abhängig sein. Jeder persönliche<br />

Eine Gemeinschaft ist nur so gut wie<br />

Glaube sollte respektiert werden.<br />

die Menschen, die sie gestalten. An-<br />

Das sollten auch die vielen Glaustatt<br />

zu nörgeln, sollten wir besser<br />

bensrichtungen einsehen. Gläubig<br />

selbst anpacken, um die Missstände<br />

ist, wer glaubt. Egal ob mit oder ohne<br />

zu beheben.<br />

Kirche.<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

titEltHEma<br />

19


EPortagE<br />

20 <strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

» ES vErfolgt micH tag<br />

Barbara Kohouts Leben war bestimmt vom Glauben. Sie fand Erfüllung bei den<br />

Zeugen Jehovas. Doch als sie deren perfide Methoden durchschaute, stieg sie<br />

aus. Heute spricht sie von Pest und Cholera und menschlichem Abfall.<br />

interview: lena Schubert | foto: Eva Katrin Hermann | layout & illustration: Sebastian Nikoloff<br />

Von klein auf waren Sie bei den<br />

Zeugen Jehovas. Nun sind Sie<br />

scharfe Kritikerin der Organisation.<br />

Wie kamen Sie zu den Zeugen<br />

Jehovas?<br />

Frau Kohout: Ich war seit meinem<br />

zehnten Lebensjahr mit den Zeugen Jehovas<br />

verbunden. Ich war evangelisch,<br />

blass und klapperdürr, weil ich mit<br />

knapper Not dem Hungertod entronnen<br />

war. Bitterarmen Flüchtlingen –<br />

und Heiden – wie uns begegnete man<br />

oft unfreundlich im katholischen Oberbayern.<br />

Wann fand der erste Kontakt statt?<br />

Es kam ein freundlicher Herr an<br />

unsere Türe. Er erzählte uns von einer<br />

wunderbaren Zukunft: Gott würde<br />

bald alle Ungerechtigkeit von der Erde<br />

beseitigen. Er lud uns zu einem Treffen<br />

ein. Auch dort waren die Leute freundlich<br />

zu uns. Wir kannten so eine Herzlichkeit<br />

nicht.<br />

Und was waren deren erste Aussagen<br />

über ihren Glauben?<br />

Sie glaubten<br />

alle, dass sie »in<br />

der Wahrheit«<br />

sind. Denn sie wären<br />

die Einzigen,<br />

die die Bibel rich-<br />

tig auslegen könnten. Sie wussten<br />

ganz sicher, dass bald Harmagedon<br />

kommt und alles Böse von der Erde<br />

schafft. Wer sich für die Wahrheit<br />

der Zeugen Jehovas entscheidet,<br />

würde gerettet werden. So begann<br />

mein Lebensweg innerhalb einer<br />

Gemeinschaft mit extremen Ordensregeln.<br />

Erst nach Jahrzehnten gelang<br />

es mir, die Ungereimtheiten zu<br />

durchschauen.<br />

Warum ist es gerade für Neu-Einsteiger<br />

so schwer, wieder Abstand<br />

zu finden?<br />

Menschen in Ausnahmesituationen<br />

stehen in der Gefahr, arglos in<br />

die Umgarnung extremer Gruppen<br />

zu geraten. Es sind Situationen, in<br />

denen man nach Trost, Halt oder<br />

nach Antworten auf die Frage nach<br />

dem »Warum« sucht.<br />

Wird so etwas erwähnt, wenn über<br />

die Anfänge anderer Mitglieder gesprochen<br />

wird?<br />

Die Veröffentlichungen der<br />

»Wachtturm-Gesellschaft« (Anm.<br />

der Red.: Herausgeber der Zeitschrift


UNd NacHt «<br />

»Wachtturm«) sind gespickt mit sogenannten<br />

Erfahrungen. Sie geben<br />

euphorische Berichte ab, wie man<br />

durch die Güte Jehovas zur Erkenntnis<br />

der Wahrheit gelangen könne.<br />

Diese Erfahrungen erzeugen das<br />

starke Gefühl, zu einer ganz besonderen,<br />

auserwählten Gruppe zu<br />

gehören. Man fühlt sich dankbar<br />

und verpflichtet, diese Dankbarkeit<br />

durch besondere Taten unter Beweis<br />

zu stellen.<br />

Von welchen Taten ist die Rede?<br />

Beispielsweise das Bibelstudium<br />

oder auch das Werben um Neumitglieder.<br />

Es wird von den Zeugen<br />

Jehovas Predigtdienst genannt. Jeder<br />

Zeuge ist zu diesem Dienst verpflichtet<br />

und wird aufgefordert, über<br />

den Zeiteinsatz und die verbreiteten<br />

Wachtturm-Schriften genauen Bericht<br />

zu erstatten. Die Wachtturm<br />

-Organisation stellt es so dar: Alles,<br />

was man in ihrem Auftrag tut, geschieht<br />

zur Förderung der Interessen<br />

des Königreiches Gottes. Ich habe<br />

es als Gnade und Vorrecht gesehen,<br />

freiwillig alles zu tun, um die Inte-<br />

ressen des Königreiches zu unterstützen.<br />

Wie weit sind Sie gegangen und<br />

wie viel Anstrengung haben Sie<br />

schlussendlich für die Zeugen Jehovas<br />

aufgewendet?<br />

Als Schülerin habe ich monatlich<br />

mindestens 60 Stunden eingesetzt.<br />

Als Sonderpionier wurden es neben<br />

dem regulären Predigtdienst von 150<br />

Stunden noch mindestens 50 Stunden<br />

mehr für die Versammlungsaktivitäten.<br />

In der Zeit verzichtete ich<br />

auf eine Berufstätigkeit und begnügte<br />

mich mit einem Taschengeld von<br />

150 Mark monatlich.<br />

Nach der Geburt meiner Tochter<br />

reduzierte ich den Stundeneinsatz<br />

zwar, war aber trotzdem weiter bis<br />

zur Erschöpfung tätig, sogar mit<br />

meinem Baby im Dienst von Haus zu<br />

Haus.<br />

Sie erwähnen einen Aufstieg. Gibt<br />

es eine klar sichtbare Hierarchie?<br />

Es gibt eine eindeutige Hierarchie.<br />

Die ist für gläubige Zeugen Jehovas<br />

aber nicht wahrnehmbar, weil<br />

sie nicht daran zweifeln, dass nur<br />

Christus der Führer und das Haupt<br />

der Versammlung sei.<br />

Welche Rechte ergeben sich aus einem<br />

Aufstieg?<br />

Die Ernennung ist ab einem bestimmten<br />

Status mit Vollmachten<br />

verbunden. So können die Ältesten<br />

innerhalb der Versammlungen über<br />

Verfehlungen der Zeugen Jehovas<br />

urteilen. Sie sind dabei Ankläger und<br />

Richter in einem und verhandeln<br />

nicht öffentlich.<br />

Wie haben Sie es geschafft, von den<br />

Zeugen loszukommen?<br />

Nachdem unsere Kinder die<br />

Wachtturm-Organisation verlassen<br />

hatten, interessierte ich mich für die<br />

Gründe. Mein Sohn zeigte mir anhand<br />

der Wachtturm-Schriften, wie<br />

wir gezielt manipuliert wurden und<br />

mit welchen Unwahrheiten die Zeugen<br />

Jehovas operierten. Die Erkenntnis,<br />

dass wir von Menschen benutzt<br />

und betrogen wurden, veranlasste<br />

mich, die Organisation zu verlassen.<br />

▶<br />

rEPortagE<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011) 21


EPortagE<br />

Wann war das?<br />

Im August 2008 beschloss ich zusammen<br />

mit meinem Mann den Ausstieg.<br />

Wir gingen nicht mehr zu den<br />

Zusammenkünften und gaben auch<br />

keinen Bericht mehr über unsere Tätigkeit<br />

für die Wachtturm-Organisation<br />

ab. Leider haben die Ältesten<br />

diese Entscheidung nicht akzeptiert.<br />

Sie bestanden darauf, uns die Gemeinschaft<br />

zu entziehen, mit der Begründung<br />

dass wir Abtrünnige seien<br />

und man somit keinen Kontakt mehr<br />

mit uns haben dürfte.<br />

Wie waren die Reaktionen?<br />

Ein Jahr später wurde uns die Gemeinschaft<br />

entzogen. Von diesem<br />

Zeitpunkt an konnten wir keinen<br />

Kontakt mehr mit unseren Freunden<br />

und Verwandten pflegen, die<br />

noch Zeugen Jehovas sind – auch<br />

nicht mit meiner Mutter, den Geschwistern<br />

und Verwandten. Es ist<br />

ein Trauma, von einem Tag auf den<br />

anderen alle sozialen Bindungen zu<br />

verlieren. Häufig folgen langwierige<br />

psychotherapeutische Behandlungen<br />

und leider nicht selten Suizid.<br />

22 <strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

Wären Sie auch von sich selbst aus<br />

ausgestiegen?<br />

Für mich war das niemals denkbar.<br />

Ich wäre nie bereit gewesen, Schriften<br />

von Ex-Zeugen zu lesen. Da ich<br />

mich außerstande fühlte, »dem vom<br />

Geist geleiteten treuen und verständigen<br />

Sklaven« ungehorsam zu sein.<br />

Wie empfanden Sie das Leben mit<br />

den Zeugen Jehovas im Nachhinein?<br />

Weil ich bereits als Kind gefischt<br />

wurde, gab es für mich keinen Alltag<br />

vor oder außerhalb der Sekte. Ich<br />

lebte in einem Kokon, abgeschirmt<br />

wie mit unsichtbaren Mauern.<br />

Wie schwierig war es, vollständig<br />

mit dem Thema abzuschließen?<br />

Für mich ist es bislang unmöglich.<br />

Es verfolgt mich Tag und Nacht. Ich<br />

fühle mich verpflichtet, meine Erfahrungen,<br />

mein Wissen und meine<br />

Erkenntnisse an andere<br />

weiterzugeben. Ich muss auf<br />

totalitäre Strukturen und Regeln<br />

eines Systems aufmerksam<br />

machen, das gegen unsere<br />

Verfassung verstößt, weil<br />

es keine wirkliche Gewissens-,<br />

Glaubens- und Meinungsfreiheit<br />

gewährt. Ich setze mich<br />

auch dafür ein, ehemalige Mitglieder<br />

nicht zu diskriminieren.<br />

Die Methode der Zeugen<br />

Jehovas, missliebige Mitglieder<br />

mit der Bestrafung durch<br />

sozialen Tod zu bedrohen und<br />

damit unter Druck zu setzen,<br />

ist menschenunwürdig. Es ist<br />

mittelalterlich. Das von einer<br />

Körperschaft des öffentlichen<br />

Rechtes ist öffentliches Unrecht.<br />

Vielen Dank für das Interview!


dEr tErroriSt iN UNS<br />

Islamismus, der Medienbegriff, wenn es um Terrorismus, Gewalt und Frauenunterdrückung<br />

geht. Doch nur wenige unterscheiden noch zwischen Religion<br />

und Fanatismus findet Elisabeth Omonga. Ein Kommentar.<br />

text: Elisabeth omonga | layout: tobias fischer<br />

Die Lehre des Islams: Kopftuchbedeckung<br />

à la Burka, muslimische Männer als Tyrannen<br />

und die Schweinefleischphobie.<br />

Und natürlich Töchter, die zur Heirat gezwungen<br />

werden oder im Namen der Ehre sterben müssen.<br />

Soweit die Klischees. Mit weltweit über 1,3 Milliarden<br />

Anhängern ist der Islam die zweitgrößte<br />

Religionsgemeinschaft der Welt. Dahinter stehen<br />

eine Vielzahl unterschiedlicher Lebenseinstellungen.<br />

Dennoch werden Muslime zunehmend als<br />

eine homogene Masse wahrgenommen: bedrohlich<br />

und meist rückständig. Der Ruf des Islams ist<br />

schlechter denn je. Wie kommt es, dass nicht die<br />

Vielfalt sondern die Einfalt Einzug in unsere Vorstellungen<br />

gehalten hat?<br />

»Was lehrt die Bibel über die Hölle?« Die Antwort<br />

auf diese Frage würde wohl lauten: »Frag<br />

doch einen Pastor!« Anders bei der Frage: »Was<br />

lehrt der Koran über den Jihad?« Hier denken sich<br />

viele Menschen: »Der Dönerverkäufer wird es bestimmt<br />

wissen.«<br />

Ein Schwamm saugt alles auf, er weiß nicht was<br />

und warum, aber er tut es. Und wir Menschen?<br />

Wir saugen alles auf, was wir im Radio hören, in<br />

der Zeitung lesen oder im Fernsehen sehen, ohne<br />

zu reflektieren, gehen wir unserer wachsenden<br />

Sensationslust nach. Die Medien leisten Vorarbeit<br />

und wir sind ihre Sklaven; ein primitiver Gedanke,<br />

um sich von seiner eigenen Verantwortung<br />

der Selbstreflexion zu entziehen. Doch drehen wir<br />

den Spieß mal um: Angenommen, nicht Muslime<br />

hätten am 11. September 2001 das World-Trade-<br />

Center bombardiert, sondern Christen. Schon die<br />

Vorstellung scheint zu irritieren? Christentumismus<br />

als neuer Medienbegriff? Eine Bedrohung<br />

für die ganze Menschheit – eine Religion, die die<br />

Instrumentalisierung als Mittel nutzt, einen sogenannten<br />

»Heiligen Krieg« gegen alle Nichtchristen<br />

durchzuführen. Nein, da hört sich Islamismus<br />

doch viel besser an. Islamisten passt doch. Kein<br />

Wunder, dass sogenannte Islamophobe uns mit ihrer<br />

Sicherheitspolitik Angst vor vollbärtigen Männern<br />

machen wollen.<br />

Es sind nicht nur die überspitzten Medien, es ist<br />

nicht nur die Ungewissheit. Es ist der Terrorist in<br />

uns, der uns dazu verleitet, eine Religion, Gruppen<br />

und dementsprechend Menschen zu beurteilen,<br />

noch bevor es die Sachkenntnis erlaubt. Was lehrt<br />

der Islam? Was bedeutet es, ein Muslim zu sein?<br />

Wer war Muhammad? Diese Religion, die heute<br />

als Quelle vieler Gewalt genannt wird, legt Wert<br />

auf die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens,<br />

auf Frieden und auf die Hingabe an Gott. Ohne unser<br />

Schubladendenken wäre das Zusammenleben<br />

einfacher, friedlicher und harmonischer.<br />

Elisabeth Omonga (19)<br />

studiert Regionalstudien<br />

Asien/Afrika und<br />

Portugiesisch an der<br />

Humboldt-Universität<br />

zu Berlin. Die gebürtige<br />

Aachenerin interessiert<br />

sich für kulturelle<br />

Themen und politische<br />

Konflikte, vor allem im arabischen Raum. Sie bekennt<br />

sich keiner Religion an, setzt sich aber für Vielfalt und<br />

Toleranz gegen Diskriminierung und Vorurteile ein.<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

KommENtar<br />

<strong>23</strong>


QUErBEEt<br />

24<br />

PEcHmariE<br />

Kein Menschenschlag ist abergläubiger als Schauspieler: Aus fremden Stücken zitieren ist<br />

verboten und wehe, man vergisst das rituelle Über-die-Schulter-Spucken vor der Aufführung.<br />

Henrike W. Ledig hat damit so ihre Erfahrungen gemacht.<br />

text: Henrike W. ledig | layout: tobias fischer<br />

» Wenn man an Dinge<br />

glaubt, die man nicht<br />

versteht, dann leidet<br />

man«, hat Stevie Wonder vor fast 40<br />

Jahren in seinem Lied »Superstition«<br />

(Aberglaube) gesungen. Das kann ich<br />

mit gutem Gewissen unterschreiben,<br />

denn ich laufe fröhlich unter<br />

Leitern durch, mache mir keinen<br />

Kopf um zerbrochene Spiegel und<br />

streichele schwarze Katzen, wenn<br />

sie meinen Weg kreuzen. Außerdem<br />

bin ich an einem Freitag dem 13. geboren<br />

und habe mich ganz gut entwickelt<br />

– obwohl ich dem Astro-TV<br />

nach die geborene Pechmarie bin.<br />

Was kann man sich über abergläubige<br />

Menschen nur amüsieren! Kein<br />

Menschenschlag allerdings ist aber-<br />

flEiScHloS<br />

text: Kevin Weber<br />

<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />

gläubischer als Schauspieler: Da darf<br />

hinter der Bühne nicht gepfiffen,<br />

aus fremden Stücken nicht zitiert<br />

und nach der Generalprobe nicht<br />

geklatscht werden. Zudem folgt vor<br />

jeder Aufführung eine Art rituelles<br />

gegenseitiges Über-die-Schulter-Spucken<br />

aller Schauspieler. Bäh! Spucke<br />

auf dem Boden gegen Vergesslichkeit.<br />

Auf diesen Zug könnten die<br />

Pharmariesen aufspringen, das Zeug<br />

in Flaschen ziehen und teuer als<br />

Wundermittel gegen Demenz verschachern!<br />

Ich spiele selbst seit drei Jahren<br />

Theater und habe mich an die<br />

merkwürdigen Rituale vor jeder<br />

Aufführung gewöhnt. Sie sind mir<br />

sogar richtig ans Herz gewachsen:<br />

Mit der Erfahrung, einem toten Tier den<br />

Weg durch menschliche Innereien erspart<br />

zu haben, kann man sich mit<br />

olympischen Göttern messen. So meine Vorstellung.<br />

Wer Gutes tut, dem wird schließlich Gutes<br />

widerfahren. Deswegen wagte ich einen ungeheuren<br />

Versuch: zwei Monate ausnahmslos vegetarische<br />

Kost!<br />

Bei stechender Hitze am See geht es los. Und<br />

die Sonne ist nicht mein einziger Peiniger: Ein<br />

Nichts hilft so sehr gegen mörderisches<br />

Lampenfieber wie das Überdie-Schulter-Spucken,<br />

bevor man auf<br />

die Bühne geht. Ob ich an die glückbringende<br />

Wirkung glaube, kann<br />

ich nicht sagen. Ich weiß nur zwei<br />

Dinge: Erstens ist bisher jede unserer<br />

Aufführungen ein voller Erfolg<br />

gewesen und keiner hat davor aus<br />

einem fremden Stück zitiert. Im Gegenzug<br />

haben wir einmal ein Toi-Toi-<br />

Toi vergessen und prompt im ersten<br />

Akt von Dürrenmatts »Die Physiker«<br />

Einstein nicht auf die Bühne gelassen,<br />

da wir ihr Stichwort vermasselt<br />

haben. Das muss reichen als Beweis!<br />

Gelitten habe ich unter diesem Aberglauben<br />

meines Wissens nicht. Zeit<br />

für ein neues Lied, Stevie!<br />

Tropfen Fett verdampft mit einem von mir innig<br />

geliebten Zischen an der Grillkohle. Der himmlische<br />

Duft von bissfesten Steaks eingelegt in süßer<br />

Paprikasauce tanzt in meiner Nase Jive. Und ich<br />

greife zu. Nehme mir den daneben deponierten<br />

kaugummiartigen Grillkäse, der so schmeckt, wie<br />

er aussieht.<br />

Doch wo bleibt die gesteigerte Lebensqualität?<br />

Was ist mit dem erwarteten guten Gefühl, etwas<br />

Sinnvolles getan zu haben? Nicht da. Dafür geht<br />

nach über acht Wochen mein alltäglicher Traum<br />

vom Fleischverzehr endlich in Erfüllung und ich<br />

esse den Vegetariern nicht mehr ihr Gemüse weg.<br />

Nur als Fleischfresser bin ich unabhängig und<br />

glücklich. Und nun zwei Monate im Rückstand.


INTERNATIONALES<br />

JUGENDWERK DER AWO WÜRTTEMBERG • OLGASTRASSE 71 • 70182 STUTTGART • TEL. 07 11 / 52 28 41<br />

Die Welt in deinen Händen<br />

• Europäischer Freiwilligendienst<br />

• Jugendbegegnungen in Deutschland, Italien & Schweden<br />

Mit jungen Menschen aus anderen Kulturen zusammen Spass haben!<br />

weitere infos und anmeldung unter<br />

www.jugendwerk24.de

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