Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Glaube<br />
Fluch oder Segen?<br />
Querbeet<br />
Aberglaube<br />
hinter der<br />
Theaterbühne<br />
thema<br />
Glaubensansichten:<br />
Sieben<br />
Geschichten<br />
Ausgabe <strong>23</strong> (November 2011)<br />
www.noirmag.de<br />
Kolumne<br />
Freitags auf der<br />
Speisekarte:<br />
Backfisch & Co.
anzeige<br />
Horn-Druck<br />
Erstklassiger Kundenservice<br />
Ihre Fragen werden kompetent beantwortet,<br />
Ihre Wünsche spornen uns an, Sie zufrieden<br />
zu stellen.<br />
Günstige Preise<br />
Unser Preis-Leistungsverhältinis ist sehr gut.<br />
Wir bieten Ihnen attraktive Zahlungskonditionen<br />
Kostenlose Datenprüfung<br />
Bevor wir drucken, prüfen wir Ihre Daten sorgfältig<br />
auf Fehler. So kann nichts schief gehen.<br />
Beste Qualität<br />
Ob im Offset- oder Digitaldruck – wir holen<br />
immer das Beste aus Ihren Daten heraus und<br />
unsere Druckqualität ist hervorragend.<br />
Absolute Termintreue<br />
Wir setzen alles daran, Ihren Wunschtermin<br />
einzuhalten. Sie können sich darauf verlassen,<br />
dass Ihre Zeitung pünktlich eintrifft.<br />
Seit über 25 Jahren drucken<br />
wir Schülerzeitungen. Über<br />
1.000 Redaktionen haben<br />
sich schon für uns entschieden.<br />
Überzeugen auch Sie<br />
sich davon, dass wir gut und<br />
günstig sind.<br />
• TOP-Qualität<br />
• TOP-Service<br />
• TOP-Timing<br />
Ihr Kundenberater:<br />
Dominik Blümle<br />
Tel. 07251 / 97 85 31<br />
Top Qualität · Top Service · Top-Timing · Jetzt Anfrage starten!<br />
Stegwiesenstraße 6-10 · 76646 Bruchsal · Tel. 07251 / 97 85-31<br />
www.horn-druck.de<br />
Druck & Verlag
Man kann viel glauben. An Gott und die Welt. Ich persönlich glaube, mich tritt ein<br />
Pferd. Diese <strong>NOIR</strong> ist noch spiritueller: Sie wird von vielen Pferden getreten. Pferden in<br />
Form von Artikeln, die mit ihren Hufen euren Horizont anstupsen. Und wo wir schon<br />
im Tierreich sind, Elefanten dürfen auch nicht fehlen. Von denen waren zwei auf der<br />
Arche Noah. Ein weiterer Elefant kommt in einer buddhistischen Legende vor, in der<br />
er blinden Männern vorgeführt wird. Der Legende zufolge tastete ein Blinder nach<br />
dem Elefantenfuß. Er dachte, der Fuß sei ein Baumstamm. Ein anderer tastete nach<br />
dem Rüssel und dachte, es sei eine Schlange. Wo bleibt die Quintessenz? Wenn wir in<br />
einer Reihe stehen, in der gleichen Uniform, der gleichen Pose, mit den haargleichen<br />
Frisuren, so sind die Bilder in unseren Köpfen doch Welten auseinander. Wir pinseln<br />
unsere Welt in den Farben unseres Glaubens an. Rotgrünblau in allen Mischprodukten.<br />
Überall schimmert Glauben durch, er muss ja nicht immer himmlisch sein: in der<br />
Glückssträhne, im Orakel von Delphi, in Verschwörungstheorien, in der großen Liebe.<br />
Er steckt auch in der Wimper, die an unserer Wange klebt. <strong>NOIR</strong> pustet diese weg und<br />
wünscht euch was: viel Spaß beim Lesen! Anika Pfisterer, Chefredakteurin<br />
aUS dEm rEdaKtioNSlEBEN ...<br />
Wenn Andreas nicht für <strong>NOIR</strong> arbeitet,<br />
sieht er sich die Welt an. Als<br />
Praktikant war er bei der Süddeutschen<br />
Zeitung. Einmal suchte er verzweifelt<br />
eine Pressekonferenz. »Da<br />
sind Sie hier völlig falsch«, sagte ihm<br />
eine rüstige Großmutter. »Steigen<br />
Sie ein, ich fahr Sie hin.« Sein Fazit:<br />
München ist eben eine andere Welt.<br />
HEiligEr BimBam!<br />
Als Atheistin amüsierte sich Leonie<br />
über einen »Gott-lieben«-Flyer der<br />
»Christen ohne Organisation«. »Die<br />
sind perfekt für die <strong>NOIR</strong>-Ausgabe«,<br />
dachte sie sich. Make-Up aufgefrischt<br />
und ab gings zum Interview.<br />
Doch dort hörte sie, dass Gott uns<br />
wertvoll findet, wie er uns erschaffen<br />
hat. Also auch ohne Make-Up.<br />
Anika amüsiert sich köstlich über<br />
Wort-Kreationen wie die »Denkerstirn«<br />
aus dem Porträt über Deppendorf.<br />
Jetzt hat sie mit ihren Kollegen<br />
einen Slogan für die <strong>NOIR</strong><br />
gesponnen: »Aus Liebe zum Journalismus.«<br />
Ihr amüsiert euch, findet<br />
es gelungen oder doof? Schreibt ihr:<br />
anika.pfisterer@noirmag.de<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
Editorial<br />
1
iNHalt<br />
2<br />
01 Editorial.<br />
aUS dEr rEdaKtioN<br />
03 Porträt.<br />
UlricH dEPPENdorf<br />
04 titEl.<br />
aNSicHtEN dES glaUBENS<br />
08 rEPortagE.<br />
HirtE im KNaSt<br />
10 WiSSEN.<br />
JUNgfraUENgEBUrt UNd co.<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
24 QUErBEEt<br />
iNHaltSüBErSicHt<br />
12 Porträt.<br />
PoP-art iN dEr KircHE<br />
14 iNtErviEW.<br />
WiSSENScHaft vS. glaUBEN<br />
16 WiSSEN.<br />
faNKUlt UNd SataNiSmUS<br />
17 lifEStylE.<br />
KircHE im WEB<br />
18<br />
04 titEl<br />
19 Pro-coNtra<br />
KolUmNE. Pizza Statt fiScH<br />
imPrESSUm<br />
19 Pro-coNtra.<br />
glaUBEN oHNE KircHE?<br />
20 iNtErviEW.<br />
aUSgEStiEgEN ...<br />
<strong>23</strong> KommENtar.<br />
dEr tErroriSt iN UNS<br />
24 QUErBEEt.<br />
flEiScHvErzicHt?<br />
24 QUErBEEt.<br />
aBErglaUBE<br />
<strong>23</strong> KommENtar
dEr NEUgiErigE mit dEr dENKErStirN<br />
Ulrich Deppendorf arbeitet am Puls der Politik: Seit vier Jahren leitet er<br />
das ARD-Hauptstadtstudio. Neugierde ist sein Antrieb.<br />
text: lisa Kreuzmann | foto: fabian vögtle | layout: Sebastian Nikoloff<br />
Vertraut man auf die Richtigkeit<br />
von Tierkreiszeichen,<br />
könnte der Wassermann<br />
folgendermaßen beschrieben werden:<br />
»die Nase klein, ein wenig rund,<br />
die Stirn eine hohe Denkerstirn.«<br />
Ulrich Deppendorf ist Wassermann.<br />
Er wurde am 27. Januar 1950 in Essen<br />
geboren. Und tatsächlich, bei genauem<br />
Hinsehen trifft es zu: Die hohe<br />
Stirn wird durch das lichte Haar<br />
noch betont. Sieht man Deppendorf<br />
zum ersten Mal nicht in der üblichen<br />
Sitzhaltung vor blauem Hintergrund,<br />
dann fällt eines zuerst auf: Der TV-<br />
Journalist ist nicht nur beruflich,<br />
sondern auch körperlich in die Höhe<br />
geschossen. Seine Körpergröße von<br />
1,93 Meter scheint den Eindruck zu<br />
begünstigen, den Durch- und Überblick<br />
zu haben. »Engelsgleich« beschreibt<br />
die Sternzeichen-Expertin<br />
den Wassermann. Ob überirdisch<br />
oder nicht, fest steht: Ulrich Deppendorf<br />
hat journalistisch Karriere<br />
gemacht.<br />
Seit 1976 arbeitet er beim Fernsehen.<br />
Als Volontär begann er beim<br />
Westdeutschen Rundfunk, Anfang<br />
der 1990er Jahre wechselte er zur<br />
ARD nach Hamburg. Schließlich<br />
zog es ihn nach Berlin. Dort wurde<br />
er zum ersten Mal Chef des ARD-<br />
Hauptstadtstudios. Nach einem Intermezzo<br />
in seiner rheinländischen<br />
Heimat als Programmdirektor beim<br />
WDR in Köln lockte ihn die Hauptstadt<br />
im Frühjahr 2007 erneut. Deppendorf<br />
erhielt seine alte Position als<br />
Studiochef zurück und blieb dort bis<br />
heute. Warum er Journalist geworden<br />
ist? Weil er so neugierig sei, antwortet<br />
der 61-Jährige. Neugier, Umtriebigkeit<br />
und Voraussicht. Stets auf<br />
der Lauer, was der Morgen bringen<br />
wird und der Tag bereit hält. Sind<br />
das die Geheimnisse eines so erfolgreichen<br />
Journalisten?<br />
Aktuell sieht Deppendorf die He<br />
rausforderung der ARD darin, gezielt<br />
junges Publikum anzusprechen.<br />
Die Konkurrenz ist bekanntlich hellwach.<br />
Jetzt fragt er sich, ob die Tagesschau<br />
künftig in einem weniger<br />
konservativen Licht erscheinen soll.<br />
Eine Begrüßung nach dem Motto<br />
»Hallo, Hallöchen und hier die Tagesschau«<br />
möchte er dennoch ausschließen,<br />
sagt er und lacht.<br />
Deppendorf wirkt entspannt, aber<br />
nicht abgeklärt. Selbstsicher, aber<br />
nicht arrogant. Ganz der Wassermann,<br />
charakterisiert durch seinen<br />
»wachen, neugierigen Geist« und<br />
seinen »Hunger nach neuen Erfahrungen«.<br />
Ist es dieser Hunger, der<br />
ihn antreibt? Bis hin zur Perfektion,<br />
bis an die Spitze. So sagt man<br />
es ihm nach. Wenn die Konkurrenz<br />
besser ist, heißt es in einem Artikel<br />
der ZEIT, ärgere er sich. Was seine<br />
Person angeht, bleibt er dennoch bescheiden.<br />
Auf die Frage, wie er denn<br />
geworden sei, was er heute ist, winkt<br />
er lächelnd ab, beginnt die Antwort<br />
mit einem »Joa, also«.<br />
Dem Eindruck, dass sein Erfolg<br />
mehr als eine glückliche Zusammenreihung<br />
von Zufällen ist, entkommt<br />
man nicht. Das Brillieren scheint<br />
ihm Spaß zu machen, dabei bescheiden<br />
und geradlinig zu bleiben ebenfalls.<br />
Ein Journalist der nüchternen<br />
Nachricht. Und er sei gerne Journalist,<br />
betont er. Richtig abschalten<br />
könne er als Hauptstadtstudio-Chef<br />
allerdings nur schwer; Urlaub mache<br />
er deshalb gerne weit weg. Am liebsten<br />
in den USA. Ein Tag ohne Nachrichten?<br />
Käme für ihn aber trotzdem<br />
nicht in Frage.<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
Porträt<br />
3
titEltHEma<br />
4<br />
daNiEl iSt EiN »cHriSt oHNE orgaNiSatioN«<br />
JUditH fEiErt WEiHNacHtEN oHNE gott<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
raffaElS vatEr iSt PfarrEr<br />
JoNaS glaUBt NicHt mEHr aN gott
Gemeinde statt Volkskirche<br />
Sie sind ein Beispiel dafür, wie Glaube heute<br />
oft gelebt wird: die »Christen ohne Organisation«.<br />
Jeden Abend nach der Arbeit treffen<br />
sie sich bei einem Mitglied im Wohnzimmer,<br />
um über Gott und die Bibel zu diskutieren. Ihr<br />
Wunsch: »das Leben mit Gott ernst nehmen.« Dieses<br />
Leben beinhalte mehr als den sonntäglichen<br />
Gang zur Kirche und die Predigt eines Pfarrers.<br />
»Bei uns stehen Gott und die Gemeinde an erster<br />
Stelle«, sagt Daniel*, 35 Jahre alt. Seit zwölf Jahren<br />
trifft sich die Gruppe täglich, redet im kleinen<br />
Kreis über ihre Erlebnisse, ihre Gedanken und ihr<br />
Leben mit der Bibel. Es gibt kein festes Programm<br />
und keinen Leiter. Zurück zum Ursprung, das ist<br />
ihr Ziel. Die »Christen ohne Organisation« zeugen<br />
von einer Entwicklung in der Gesellschaft:<br />
die Auflösung kirchlicher Strukturen. Ihnen gehe<br />
es nicht um evangelisch oder katholisch, nicht<br />
um den sonntäglichen Gottesdienst in der Kirche.<br />
Aber sie wollen den Glauben umsetzen, wie<br />
sie glauben, dass Jesus ihn vorgelebt hat. Obwohl<br />
viele Menschen immer mehr den Glauben an ihre<br />
Bedürfnisse anpassen, wollen die Christen ohne<br />
Organisation gerade mit ihrem Leben ein Zeichen<br />
setzen, indem sie ihr Leben auf Grundlage der Bibel<br />
führen. »Sie dient uns als Ratgeber und Leitfaden<br />
in allen Lebenslagen«, sagt Anja*, 41 Jahre,<br />
und holt eine kleine Bibel im Taschenbuchformat<br />
aus ihrer Tasche. Text: Leonie Müller<br />
* Namen von der redaktion geändert<br />
aNSicHtEN dES glaUBENS<br />
Sieben Geschichten von Menschen und ihrem Glauben,<br />
ihren Religionen und ihren übersinnlichen Erfahrungen.<br />
layout: tobias fischer<br />
Gott mit käferVorliebe?<br />
Als Kind ging Jonas Pfeiffer* jeden Sonntag<br />
in die Kirche. Aufgewachsen im<br />
Pfarrhaus der kleinen Gemeinde, kannte<br />
er es nicht anders. Jonas’ Eltern sind beide Theologen.<br />
Als bei Jonas die Konfirmation anstand, beschäftigte<br />
er sich zum ersten Mal intensiv mit dem<br />
Glauben. Vieles machte ihn stutzig: Als überzeugter<br />
Naturwissenschaftler fand er kein rationales<br />
Argument für Gott. »Warum sollte ich mich dafür<br />
rechtfertigen?«, fragte er sich. Eigentlich müsse<br />
das in unserer von Logik geprägten Gesellschaft<br />
doch das Normale sein. Jonas erzählt, wie er bekannte<br />
Bücher zum Thema Atheismus gelesen<br />
hat und sie ihn stärker fesselten, als die Bibel es<br />
jemals geschafft hatte. Über Glauben zu streiten,<br />
findet Jonas zwecklos. Diskussionen müssen offen<br />
geführt werden und das sei mit überzeugten Kirchengängern<br />
unmöglich, meint er. Deswegen werden<br />
Gespräche zu diesem Thema am Esstisch der<br />
Familie Pfeiffer tunlichst vermieden. Schlimm<br />
findet Jonas das nicht, denn Glauben ist für ihn<br />
nichts anderes, als eine »minderwertige Form von<br />
Wissen« und somit schlicht unwichtig. Und falls es<br />
Gott doch gibt? »Dann hat er jedenfalls eine übertriebene<br />
Vorliebe für Käfer«, zitiert Jonas mit einem<br />
Augenzwinkern den Evolutionsbiologen J.B.S.<br />
Haldane. Im Gegensatz zu der Spezies Mensch gibt<br />
es hiervon immerhin über 500 000 Arten.<br />
Text: Maria Graef<br />
▶<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
titEltHEma<br />
5
titEltHEma<br />
6<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
Weihnachten ohne Gott<br />
Ich gehe nicht einmal an Ostern in die Kirche.<br />
Aber an Weihnachten, das muss schon<br />
sein. Warum eigentlich? Ich habe Religion<br />
abgewählt; gehe in den Ethikunterricht. Beten<br />
ist mir fremd, und auch meine Eltern leben ihren<br />
Glauben nicht im Alltag. Aber Weihnachten ist<br />
ein zentrales Fest unserer Familie. Ich freue mich<br />
jedes Jahr darauf, baue die selbstgetonte Krippe<br />
auf, schmücke den Baum und backe Plätzchen. An<br />
Heilig abend kommt meine ganze Familie zu Besuch,<br />
dann sitzen wir im Wohnzimmer und singen<br />
Weihnachtslieder: »Es ist ein Ros’ entsprungen«,<br />
»Kommet ihr Hirten« und »Vom Himmel hoch«.<br />
An Weihnachten ist in den Kirchen eine besondere<br />
Stimmung. Es ist das Fest der Liebe. Jeder ist<br />
willkommen und man einigt sich auf ein Gefühl:<br />
Egal, was wir sonst für Sorgen haben, hier in dieser<br />
Stimmung sind wir gut aufgehoben. Ob das<br />
Leuchten in allen Augen nun göttlich ist oder von<br />
Glühwein und Kerzen herrührt, ist auch egal.<br />
Weihnachten ist wie eine Umarmung. Es gibt<br />
Wärme und Sicherheit. Und der Gedanke, dass<br />
vor langer Zeit jemand geboren wurde, der dieses<br />
Weihnachtsgefühl sein Leben lang verbreitete, ist<br />
doch schön. Über seinen Titel »Sohn Gottes« darf<br />
man sich dann im neuen Jahr wieder streiten.<br />
Text: Judith Daniel<br />
die kraft der meditation<br />
Alles, was ich weiß, habe ich von meiner<br />
Mama«, sagt Liv. Sie habe ihr früh beigebracht,<br />
die großen Religionen kritisch<br />
zu hinterfragen. Stattdessen zeigte ihre Mutter ihr<br />
eine andere Form von Religion: Meditationsübungen<br />
und spirituelle Riten. Heute hat Liv ihren eigenen<br />
Glauben, ihr eigenes Bild von der Welt. Sie suche<br />
den Halt, der zu ihr passt. Am Tag ihrer ersten<br />
Periode hielt ihre Mutter einen Ritus ab, der den<br />
ganzen Tag andauerte: Mit der Verbrennung eines<br />
heiligen Tabaks wurde sie in die Gemeinschaft der<br />
Frauen aufgenommen. Die Überzeugung bleibt,<br />
dass es Lebewesen und Energien gebe, die »wir als<br />
normale Menschen« nicht wahrnehmen können.<br />
Liv hat in dieser Welt aus Meditationen und indischen<br />
Riten einen Platz gefunden, an dem sie sich<br />
der Pfarrerssohn<br />
Raffael, diesen Namen gaben ihm seine<br />
Eltern vor 19 Jahren. Übersetzt bedeutet<br />
er »Gott heilt«. Ein christlicher Name,<br />
denn Raffaels Vater ist Pfarrer in einer Kirche in<br />
Leinfelden-Echterdingen. »Als Kind hatte ich kein<br />
Pro blem damit, ein Pfarrerssohn zu sein – jeder<br />
kannte dich und jeder mochte dich«, erzählt er.<br />
Christliche Werte bedeuten ihm viel, weil diese<br />
»wichtig sind für die Entwicklung eines gesellschaftstauglichen<br />
Wesens«. Doch in der Pubertät<br />
wollte Raffael sich von seinen gläubigen Eltern<br />
abgrenzen. Obwohl er von Kinderkirche bis Jungschar<br />
alles erfahren hatte, begann für ihn eine gottlose<br />
Zeit. »In der Pubertät ist das Leben als Sohn<br />
eines Pfarrers nicht einfach«, sagt er und erinnert<br />
sich an sein erstes Bier auf einem Straßenfest. Die<br />
Leute redeten über den Pfarrerssohn, »wenn ich<br />
die ein oder andere Sache in der Pubertät ausprobiert<br />
habe«. Nicht nur gegen seine Eltern, sondern<br />
auch gegen das Bild des typischen Pfarrerssohns<br />
hat er rebelliert. Doch der Glaube hat ihn auf seinem<br />
Weg wieder eingeholt: Irgendwann kam in<br />
seinem Leben der Punkt, an dem er über die Existenz<br />
eines Gottes nachdenken musste. »Wie im<br />
Leben eines jeden Menschen«, sagt er und grinst.<br />
»Ich wäre auch ohne meine Eltern Christ geworden.<br />
Aber ich musste einfach meinen eigenen Weg<br />
finden.« Text: Melanie Michalski<br />
aufgehoben fühlt.<br />
Sie will noch viel<br />
ausprobieren, Neues<br />
erfahren und damit<br />
umgehen lernen. Sie<br />
sei immer wieder<br />
selbst überrascht,<br />
welche Kräfte in ihr<br />
und ihrer Umwelt<br />
stecken, erzählt sie.<br />
Jeder Mensch könne<br />
das nutzen. »Man muss es nur an sich heranlassen.«<br />
Wenn es ihr schlecht geht, stellt ihre Mutter<br />
ihr Aufgaben, die ihr helfen. »Ich musste meine<br />
böse Energie benennen und zähmen lernen. Ich<br />
soll sie zu meinem Freund machen, damit ich ihre<br />
Kraft positiv nutzen kann.«<br />
Text: Judith Daniel
»<br />
Glaube mit humor<br />
Wir haben zwei Heimaten«, sagt Angie,<br />
57 Jahre alt. »Drei bis vier Monate im<br />
Jahr sind wir in Indien, den Rest des<br />
Jahres verbringen wir in Deutschland.« Seit 34<br />
Jahren sind sie und Sriram, 60, ein Paar. Kennengelernt<br />
haben sie sich in Indien. Die indische Kultur<br />
hatte es Angie schon lange angetan, ebenso der<br />
Hinduismus. »Ich fühle mich mit dem Hinduismus<br />
verbunden, weil er im Gegensatz zu anderen Religionen<br />
keine ›Sekte‹ ist, bei der man durch Taufe<br />
eintritt. Die Geschichten des Hinduismus sind<br />
außerdem voller Humor und Doppeldeutigkeiten<br />
und finden sich somit im täglichen Leben wieder.<br />
Das Pendeln zwischen der westlichen und der asiatischen<br />
Welt stellt für das deutsch-indische Ehepaar<br />
kein Problem dar: Überall können sie ihren<br />
Glauben leben. Dazu gehört zum Beispiel das Aufstellen<br />
von Blumen vor Figuren, Bildern und Symbolen<br />
des Hinduismus und das Opfern von Essen.<br />
Das sei wichtig, um sich bewusst zu werden, dass<br />
das Essen nicht mein Eigentum, sondern nur ein<br />
studieren mit Gott<br />
Theologie? Ägyptologie?<br />
Oder vielleicht<br />
doch vor dem<br />
Studium ein FSJ in Israel?<br />
Tashina, 21 Jahre, hatte sich<br />
viele Gedanken gemacht<br />
für die Zeit nach dem Abitur.<br />
»Aber ich hatte nie das Gefühl ›Ja, das ist es!‹«,<br />
erzählt sie. Bis die Zusage vom »Europäischen<br />
Theologischen Seminar« kam. Das ist eine Ausbildungsstätte<br />
der »Gemeinde Gottes«, einer evangelisch-freikirchlichen<br />
Pfingstgemeinde, die in den<br />
meisten Ländern Europas und anderen Teilen der<br />
Welt vertreten ist.<br />
Seit letztem Jahr studiert Tashina hier Theologie<br />
mit pastoralem und musikalischem Schwerpunkt.<br />
»Meine Mutter war anfangs etwas kritisch.<br />
Schließlich kann ich mit einem solchen Studium<br />
nicht unbedingt viel Geld verdienen«, erzählt<br />
Geschenk ist. Angie und Sriram zeigen, wie sich<br />
auch der Glaube mit der Globalisierung verändert<br />
hat. Die Religionen werden dezentraler, sind nicht<br />
mehr gebunden an Orte und Gegebenheiten. Sie<br />
werden globaler, flexibler und damit auch persönlicher.<br />
Der Glaube begleitet die Menschen überall<br />
hin – und verbindet sie über den ganzen Globus.<br />
Text: Leonie Müller<br />
Tashina. »Aber sie war trotzdem happy; schließlich<br />
ist sie selbst sehr christlich.« Das besondere<br />
am ETS ist, dass viele Schüler auch in der Schule<br />
wohnen. Die Schüler kommen von überall her:<br />
USA, Indonesien, Rumänien. Man verbringt viel<br />
Zeit miteinander und wird geformt durch all die<br />
Konflikte und schönen Erlebnisse, die man zusammen<br />
hat. Tashinas Tag an der Schule beginnt um<br />
kurz vor Acht, da springt sie aus dem Bett und eilt<br />
nach unten zum Unterricht. Viel Freizeit bleibt der<br />
jungen Theologiestudentin aber nicht: Mindestens<br />
eine Stunde am Tag muss sie Klavier üben, eine<br />
weitere Altgriechisch lernen, damit sie später die<br />
Urschriften der Bibel lesen kann. Trotzdem würde<br />
sie das Leben, das sie hier hat, gegen kein anderes<br />
eintauschen wollen. Sie genießt die Zeit in Gemeinschaft,<br />
sagt Tashina. »Und meine Beziehung<br />
zu Gott ist viel intensiver geworden!«<br />
Text: Bettina Schneider<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
titEltHEma<br />
7
EPortagE<br />
8<br />
EiN HirtE zWiScHEN KNaStmaUErN<br />
Der katholische Gefängnisseelsorger Peter Knauf kümmert sich auch um muslimische<br />
Gefangene. Weil viele Moslems seinen Gottesdienst besuchen, liest er an Heiligabend<br />
auch aus dem Koran. <strong>NOIR</strong>-Autor Martin Zimmermann hat den religiösen Arbeitskreis<br />
im Gefängnis besucht.<br />
text: martin zimmermann | layout: tobias fischer<br />
Der Petrusfigur im Dom genügt ein einziger<br />
Schlüssel, um die Himmelstür aufzuschließen.<br />
Gefängnisseelsorger Peter<br />
Knauf aber braucht einen schweren Schlüsselbund,<br />
um in seine Kirche zu gelangen. Wenn er<br />
morgens mit seinem Auto durch die Gefängnisschleuse<br />
fährt, muss er zwischen den beiden Toren,<br />
die sich nicht gleichzeitig öffnen lassen, Ausweis<br />
und Handy abgeben.<br />
Lastwagen, die ihm aus dem Gefängnis entgegen<br />
kommen, werden in der Schleuse an einen<br />
Herzfrequenzmesser angeschlossen. Hätte sich<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
ein Häftling im Lkw versteckt, würde das Gerät<br />
seinen Herzschlag anzeigen.<br />
Die Kirche liegt im obersten Stock von Haus<br />
eins, einem Gebäude aus der Kaiserzeit. Die Zellen<br />
sind hier als Einzelzellen gebaut, trotzdem meist<br />
doppelt belegt, die Toiletten sind nicht abgetrennt.<br />
Weil diese Überbelegung eigentlich gegen die<br />
Menschenwürde verstößt, muss jeder Gefangene<br />
vorher eine schriftliche Einverständniserklärung<br />
unterzeichnen. Vorbei an den schweren, mit einem<br />
kleinen Guckloch versehenen Eisentüren der<br />
Zellen gelangt man über das Treppenhaus in die
Gefängniskirche. Die Kirche ist ein Ort, der schon<br />
architektonisch Gemeinschaft stiftet – im Kontrast<br />
zu den Gefängnismauern. Die Kirchenbänke<br />
sind nicht im rechten Winkel, sondern parallel<br />
zum Gang rechts und links angeordnet. Die Gottesdienstbesucher<br />
sitzen sich gegenüber. Die Deckenlampen<br />
sind in einem Leuchtkreis angeordnet,<br />
der Zusammengehörigkeit symbolisiert; einer<br />
Zusammengehörigkeit, die vor Religionsgrenzen<br />
nicht Halt macht.<br />
Im Heiligabendgottesdienst liest Peter Knauf die<br />
Sure Maryam aus dem Koran vor. In dieser 19. Sure<br />
ist von der jungfräulichen Geburt Jesu die Rede.<br />
Rund ein Drittel seiner Gottesdienstbesucher sind<br />
Moslems. »Dazu kommen einige Russisch-Orthodoxe<br />
und einige, die nicht genau wissen, was sie<br />
sind«, sagt Knauf.<br />
Jeden Montag kommen die Gefangenen zu Peter<br />
Knauf in den Nebenraum der Kirche. Er liest mit<br />
ihnen in der Bibel und dem Koran und diskutiert<br />
Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Religionen.<br />
»Die Häftlinge kommen freiwillig. Das ist mir<br />
wichtig«, sagt Peter Knauf. »In anderen Freizeitgruppen<br />
werden die Gefangenen ausgeschlossen,<br />
wenn sie unentschuldigt fehlen. Das ist hier<br />
bewusst nicht so.« Der Arbeitskreis »Bibel und<br />
Koran« gilt als religiöse Veranstaltung, von der<br />
Gefangene nicht aus disziplinarischen Gründen<br />
ausgeschlossen werden können. Früher leitete<br />
Knauf die Gruppe gemeinsam mit dem afghanischen<br />
Religionsgelehrten Hossein Fatimi aus<br />
Pforzheim, doch der hörte vor zehn Jahren aus Al-<br />
Sechs Häftlinge sitzen mit Peter Knauf an<br />
einem Tisch. Es gibt Kaffee und Kekse.<br />
tersgründen auf. Seither ist Knauf auf der Suche<br />
nach einem islamischen Pendant.<br />
Einer der Gefangenen, Yussuf (Namen geändert),<br />
rollt vor Beginn der Veranstaltung den Gebetsteppich<br />
aus und neigt sich gen Mekka. Der<br />
junge Algerier hat noch neun Monate wegen Körperverletzung<br />
abzusitzen. »Ich habe gegen ein Gebot<br />
Gottes verstoßen und Alkohol getrunken. Im<br />
Rausch bin ich gewalttätig.« Er glaubt, die Strafe<br />
wegen der Sünde gegen Gott und das Opfer »zweifach<br />
verdient« zu haben.<br />
Dieses Mal sind sechs Häftlinge gekommen: ein<br />
Deutscher, ein Bosnier, ein Algerier, ein Türke, ein<br />
Marokkaner und ein Tunesier. Man sitzt an einem<br />
großen Tisch. Es gibt Kaffee und Kekse, die Knaufs<br />
Ehefrau gebacken hat. Der Vater von drei Söhnen<br />
hat sich einst gegen die Priesterweihe und für die<br />
Gründung einer Familie entschieden. Der Theologe<br />
liest Stellen aus der Bibel und vergleichbare<br />
Koransuren in deutscher Übersetzung vor. Er legt<br />
Wert darauf, nicht missionieren zu wollen. Auch<br />
geht es nicht um Unterricht, sondern um einen<br />
Dialog, bei dem sich jeder einbringen kann. Zum<br />
Anfang des Jahres fängt er mit der Schöpfungsgeschichte<br />
wieder von vorne an. Sehr weit kommt<br />
In der Arbeitsgruppe geht es nicht nur um<br />
religiöse Diskussionen. Die Gefangenen er-<br />
zählen Peter Knauf auch ihre Sorgen und Nöte.<br />
er nicht, denn die Gefangenen sind aufgefordert<br />
nachzufragen und zu diskutieren. Davon machen<br />
sie regen Gebrauch.<br />
Yussuf will wissen, ob die Christen wirklich<br />
glauben, dass der Mensch vom Affen abstammt.<br />
Schließlich sei Charles Darwin doch ein Christ<br />
gewesen. Er könne dies nicht glauben, schließlich<br />
stünde im Koran, dass Affen keine Seele haben.<br />
Schnell findet er im Koran eine entsprechende<br />
Sure, um dies zu belegen. In der Sure al-Baqara,<br />
liest Yussuf vor, sagt Allah zu denen, die den Sabbat<br />
nicht befolgen: »Werdet verstoßene Affen«. Es<br />
entspinnt sich eine Diskussion über die Begriffe<br />
Seele und Geist und darüber, was Tiere von Menschen<br />
unterscheidet.<br />
Bei Wolfgang hat die Gruppe das Interesse an<br />
islamischer Kultur geweckt. Er hat sogar angefangen,<br />
Arabisch zu lernen. Yussuf und Ali dagegen<br />
nutzen die Gruppe, um besser Deutsch zu lernen.<br />
»Ob da die neun Monate, die ihr noch abzusitzen<br />
habt, ausreichen«, frotzelt Deniz. Er sitzt eine<br />
langjährige Strafe ab.<br />
Religiöse Diskussionen sind aber nicht der<br />
einzige Aspekt der Arbeitsgruppe. Peter Knauf<br />
ist auch ein Ansprechpartner für die Sorgen und<br />
Nöte der Gefangenen. Ali, ein Tunesier, wird gefragt,<br />
wie er die Lage in seiner Heimat sieht. »Gut<br />
und nicht gut«, meint Ali. »Gut, dass der Diktator<br />
Ben Ali weg ist. Nicht gut, dass man nicht weiß,<br />
was nachkommt.«<br />
Hassan und Deniz beschweren sich, dass sie<br />
beim Freitagsgebet erst spät in den Gebetsraum<br />
gelassen wurden. Peter Knauf empfiehlt ihnen,<br />
den Gefängnisdirektor zum nächsten Freitagsgebet<br />
einzuladen und ihm im Gespräch zu erklären,<br />
wie wichtig ihnen der Ablauf dieses Gebets sei.<br />
Als das Treffen zu Ende ist, wartet bereits ein<br />
Vollzugsbeamter vor der Kirche, um die Häftlinge<br />
wieder in ihre Zellen einzuschließen.<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
rEPortagE<br />
9
WiSSEN<br />
10<br />
UNStErBlicH?<br />
Himmel, Hölle, Wiedergeburt? Warum lässt Gott Böses geschehen? Und kann<br />
es sein, dass die Jungfrauengeburt ein Übersetzungsfehler war. Diese drei<br />
großen Glaubensfragen nehmen wir genauer unter die Lupe.<br />
texte: leonie müller | foto: Harriet Hanekamp | layout: tobias fischer<br />
Gibt es ein Leben nach dem Tod? Diese<br />
Frage beschäftigt Menschen aller Kulturen<br />
seit Jahrtausenden. Die Auferstehung<br />
Jesu Christi wurde bei uns zum gesetzlichen Feiertag.<br />
Kinder lieben die Gruselgeschichten von<br />
Geistern, die um Mitternacht auf dem Friedhof<br />
rumspuken. Aber was steckt dahinter?<br />
Die großen Weltreligionen haben sehr eigene<br />
Ansichten: Der Hinduismus glaubt an die Wiedergeburt<br />
in verschiedenen Körpern, im Buddhismus<br />
kann man aus dieser Wiedergeburts-Kette ausbrechen<br />
und das Nirwana, die vollendete Seelenruhe,<br />
erreichen. In Christentum, Judentum und Islam<br />
gibt es das Paradies und die Hölle, wenn auch in<br />
sehr unterschiedlichen Formen. Aus der christlichen<br />
Hölle gibt es kein Entkommen, während im<br />
Islam Allah die Dauer des Aufenthaltes bestimmt.<br />
Für Forscher ist dieses Thema ebenfalls ein<br />
spannendes Feld. Wissenschaftlich lassen sich<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
viele Vorgänge nicht erklären − zum Beispiel die<br />
Nahtoderfahrungen, die Menschen überall auf der<br />
Welt machen und die oft sehr ähnlich ablaufen. Die<br />
Seele des Sterbenden scheint den Körper zu verlassen<br />
und von oben auf ihn und den ganzen Raum<br />
blicken zu können. So konnten klinisch Tote, die<br />
wiederbelebt wurden, im Nachhinein genau beschreiben,<br />
wie der Raum oder der Ort ausgesehen<br />
hat. Sie wussten sogar, wo der Krankenwagen geparkt<br />
hatte, während sie klinisch tot waren. Ebenfalls<br />
unerklärlich bleiben Tonbandaufnahmen und<br />
Fotos, auf denen Personen erscheinen, die bei der<br />
Aufnahme nicht anwesend waren. Auch gibt es<br />
Menschen, die unter Hypnose in ein vermeintlich<br />
früheres Leben zurückversetzt wurden und von<br />
dieser Zeit erzählen konnten. Das Leben nach dem<br />
Tod bleibt mysteriös – und wohl eine persönliche<br />
Glaubensangelegenheit.
Die Bibel – ein altes und besonderes<br />
Schriftstück, das<br />
für viele Menschen die<br />
Grundlage ihres Glaubens darstellt.<br />
Doch unter welchen Bedingungen<br />
ist sie entstanden? Ist sie wörtlich<br />
zu verstehen oder symbolisch? Die<br />
Bibel ist in einem fast unüberschaubar<br />
langen Zeitraum entstanden,<br />
2 000 Jahre haben Spuren hinterlassen.<br />
Immer wieder wurden Form<br />
und Inhalt verändert, Texte ausgeschmückt,<br />
weggelassen – und übersetzt.<br />
Was das für die Bibel in ihrer<br />
heutigen Form bedeutet, versuchen<br />
Forscher seit langem herauszufinden.<br />
Das wohl prägnanteste Beispiel<br />
für diese Forschung und ihre Folgen<br />
ist die Jungfrauengeburt. Dass Maria<br />
bei der Geburt Jesu noch Jungfrau<br />
war, ist besonders in der katholischen<br />
Kirche zentraler Bestandteil<br />
diE tHEodizEE-fragE.<br />
gott UNd daS üBEl<br />
iN dEr WElt<br />
des christlichen<br />
Glaubens. Vom<br />
wissenschaftlichen<br />
Aspekt her ist jedoch<br />
von einem<br />
Übersetzungsfehler auszugehen: Im<br />
hebräischen Bibeltext ist die Rede<br />
von »alma«, einer jungen Frau im<br />
heiratsfähigen Alter. In der Übersetzung<br />
ins Altgriechische wurde daraus<br />
»parthenos«, was sowohl junge<br />
Frau, als auch Jungfrau bedeuten<br />
kann. Bei weiteren Übersetzungen<br />
wurde daraus Jungfrau. Ein gewaltiger<br />
Unterschied – erregt diese biologisch<br />
fragwürdige Geschichte doch<br />
überall auf der Welt die Gemüter und<br />
distanziert den modernen Menschen<br />
wohl eher von der Kirche, als sie<br />
mit ihm zu verbinden. Während die<br />
evangelische Kirche diese Lehre als<br />
irrelevant für den christlichen Glauben<br />
bezeichnet, tut sich die katholi-<br />
Wo war Gott, als es mir schlecht ging?<br />
Wie kann Gott das Böse zulassen? Die<br />
Theodizee-Frage (griechisch »theós«<br />
(Gott) und »diké« (Gerechtigkeit)) behandelt die<br />
Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts<br />
des Bösen in der Welt. Seit der Antike wird diese<br />
Frage diskutiert. Schon vor 2 300 Jahren formulierte<br />
der griechische Philosoph Epikur die Problemstruktur<br />
dieses Themas: »Entweder will Gott die<br />
Übel beseitigen und kann es nicht: Dann ist Gott<br />
schwach, was auf ihn nicht zutrifft. Oder er kann<br />
es und will es nicht: Dann ist Gott missgünstig,<br />
was ihm fremd ist. Oder er will es nicht und kann<br />
es nicht: Dann ist er schwach und missgünstig zu-<br />
diE JUNgfraUENgEBUrt –<br />
EiN üBErSEtzUNgSfEHlEr?<br />
sche mit diesem Sachverhalt deutlich<br />
schwerer. Der heutige Papst Joseph<br />
Ratzinger schrieb bereits 1967 in seinem<br />
Buch »Einführung in das Christentum«,<br />
die Lehre vom Gottsein<br />
Jesu würde nicht angetastet, wenn<br />
Jesus aus einer normalen menschlichen<br />
Ehe hervorgegangen wäre. Diese<br />
theologische Aussage verdeutlicht<br />
bis heute, dass die Kirchen mit der<br />
Bibelforschung so manches Problem<br />
haben und versuchen, unangenehme<br />
Ergebnisse irgendwie zu umgehen.<br />
Dauerhaft werden Kirche und Wissenschaft<br />
einen Weg finden müssen,<br />
miteinander umzugehen.<br />
gleich, also nicht Gott. Oder er will es und kann<br />
es, was sich allein für Gott ziemt.«<br />
Die Religionen antworten alle sehr unterschiedlich<br />
auf dieses Problem. Die Bibel widmet<br />
der Sache ein ganzes Buch (die Hiob-Geschichte).<br />
Dort verspricht Jesus letztendlich Gerechtigkeit<br />
im Paradies. Das Judentum sieht Leid als strafende<br />
Konsequenz der Sünde an. Der Islam lehrt den<br />
Glauben an das Jenseits; damit ist das Leben eine<br />
Prüfung, in der vom Menschen auch falsche Entscheidungen<br />
getroffen werden. Eine umfassende<br />
Erklärung aber liefert keine Religion. Im Laufe der<br />
Jahrhunderte haben sich ebenfalls verschiedene<br />
Meinungen herausgebildet: Manche sagen, Gott<br />
habe sich von den Menschen zurückgezogen, weil<br />
sie ihn ablehnen. Andere sehen in der fast unbegrenzten<br />
Freiheit des menschlichen Willens die<br />
Ursache allen Übels. Für den deutschen Philosophen<br />
Gottfried Leibniz, der im 18. Jahrhundert den<br />
Begriff »Theodizee« prägte, bedeutete das Böse die<br />
Chance zur eigenen Vervollkommnung und Verbesserung<br />
der Welt. Wieder andere meinen einfach:<br />
Gottes Wege sind eben unergründlich.<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
WiSSEN<br />
11
EPortagE<br />
12<br />
maria aUS dEr SPraydoSE<br />
Zwei Künstler, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: STEFAN STRUMBEL ist derzeit<br />
der bekannteste Pop-Art Künstler Deutschlands. Wie Leonardo da Vinci im 14. Jahrhundert<br />
verändert er heute den Kirchenstil: Er sprayt schrille Graffiti in Kirchen.<br />
text: laura Wolfert | layout: Borris golinski<br />
Leonardo da Vinci rebellierte<br />
im 14. und 15. Jahrhundert<br />
mit seiner Kunst gegen<br />
die traditionelle Art der Kirche. Er<br />
malte das Gemälde »Die Madonna<br />
in der Felsengrotte«, das eine Auftragsarbeit<br />
der »Bruderschaft der<br />
Unbefleckten Empfängnis« für die<br />
Kirche San Francesco in Mailand<br />
war. Da Vinci zeichnete Jesus ohne<br />
Gold und Heiligenschein. Das Bild<br />
entsprach nicht mehr dem kirchlichen<br />
Dogma und wurde deshalb<br />
nie der Kirche übergeben. Was hätte<br />
aber die Kirche damals wohl gesagt,<br />
wenn ein ehemaliger Graffiti-Künstler<br />
die heilige Maria in bayerischer<br />
Tracht darstellen und eine Kirche<br />
mit bunten Farben ausmalen würde?<br />
Der moderne da Vinci heißt Stefan<br />
Strumbel. Mit zwölf Jahren begann<br />
er, Graffiti auf Wände und Züge zu<br />
sprayen. »Der U-Bahn-Raum ist eine<br />
offene Kunstszene. Dort kommen<br />
selbst Leute mit Kunst in Berührung,<br />
die nie in eine Gallerie gehen würden.<br />
Züge und ICE-Züge machen dich und deine<br />
Werke dort bekannt, wo sonst Keiner seine Kunst<br />
zeigt«, sagt Strumbel. Heute sprayt er aber nicht<br />
mehr an Züge oder Wände. Seit 2001 ist Strumbel<br />
ein freischaffender Künstler und befasst sich mit<br />
dem, was jeden betrifft: »Heimat. Das hat für jeden<br />
eine andere Bedeutung. Das ist auch gut so, denn<br />
jeder sieht in meinen Arbeiten etwas anderes.«<br />
Der Schwarzwald inspiriert ihn. Strumbel malt<br />
Bommelhutmädchen mit Gewehren und fiesen<br />
Sprüchen, erschafft pinkfarbene Kuckucksuhren<br />
mit Handgranaten. Darüber sprayt er Sprüche, die<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
schocken. »Heimatdroge« oder »Who killed Bambie?«<br />
sollen ausdrücken, dass einen die Heimat ein<br />
Leben lang beschäftigt. Er kombiniert seine Ideen<br />
auch mit Religiösem. Eine Provokation? Für Stefan<br />
Strumbel nicht. »Ich habe noch viele weitere Ideen,<br />
die ich umsetzen werde und die vielleicht noch<br />
mehr schocken werden.« Doch wie kam Strumbels<br />
Kunst in eine Kirche? Es war eine normale Kirche<br />
in Goldscheuer bei Kehl, die verändert werden sollte.<br />
Das Gotteshaus stand kurz vor der Schließung.<br />
»Es kamen zu wenig Besucher. Die Kirche füllte<br />
sich nur zu zwei bis drei Prozent. Da hat man sich
schon überlegt, wofür man die Kirche gebrauchen<br />
könnte, aber die Gemeinde wollte sie behalten<br />
und spendete«, erzählt Thomas Braunstein, Pfarrer<br />
von Goldscheuer. Auch im Pfarrgemeinderat<br />
überlegte man, wie man mehr Besucher anlocken<br />
könnte. Man kam auf Herrn Strumbel, der durch<br />
einen Mann berühmt wurde: Karl Lagerfeld.<br />
Der war begeistert, als er Strumbels Uhr geschenkt<br />
bekam. Als im Stern zu Lagerfelds 75-jährigem<br />
Geburtstag ein Bild davon veröffentlicht wurde,<br />
schlug Strumbels Sternstunde. Er gewann 2007 das<br />
erste Graffiti-Stipendium der Welt und arbeitete<br />
immer häufiger im Ausland. Der<br />
ehemalige Graffiti-Sprayer hatte<br />
Einzelausstellungen in der »One<br />
Man Show«, Galerie Springmann<br />
in Freiburg und auch Ausstellungen<br />
in New York, Basel und Polen.<br />
Die New York Times ernannte ihn<br />
zum zurzeit besten Pop-Art-Künstlers. Die Kirche<br />
engagierte ihn als ihre letzte Rettung. Sie überließ<br />
ihm die komplette Innenraumgestaltung der<br />
Kirche.<br />
Mit seinem Hauptthema verbunden, will er<br />
nicht nur die Kirche retten. Er will einen Ort<br />
schaffen, wo Menschen ein Stück Heimat finden:<br />
Heimatgefühle in das Gotteshaus bringen. Strumbel<br />
kleidet seine heilige Maria kurzerhand in eine<br />
Tracht. Die Gemeinde ist empört: »Ein Teil wollte<br />
ihr Geld zurück«, erinnert sich Renate Hauer aus<br />
dem Pfarrgemeinderat. Strumbels Kunst wurde<br />
als Gottesverspottung deklariert. Doch Pfarrer<br />
Thomas Braunstein verstand, was der Künstler<br />
aussagen wollte und half, seine Absicht mit Artikeln<br />
im Amtsblatt zu vermitteln. »Ich habe mit dem<br />
Lied ›Maria ist im Volke‹ gezeigt, dass Strumbels<br />
Maria in Tracht durchaus berechtigt ist. Er hat sie<br />
mit einem Zeichen unseres Volkes verbunden. Das<br />
haben sie verstanden. Die Gemeinde steht mittlerweile<br />
voll hinter ihm«, sagt Pfarrer Braunstein.<br />
So konnte Strumbel der Kirche einen neuen<br />
Anstrich verleihen.<br />
Wo früher Empörung<br />
aufkam, wegen eines<br />
Bildes, das dem Dogma<br />
nicht entsprach,<br />
kommen heute Leute<br />
jedes Alters in die Kirche.<br />
Sie finden sich in der modernen Gestaltung<br />
wieder – mehr als je zuvor. Das Haus Gottes. Die<br />
Heimat Gottes. Von einem zweiten da Vinci revolutioniert.<br />
»Es war ein tolles Gefühl, mit der<br />
Spraydose in der Kirche zu stehen.<br />
Ihre Macht fasziniert mich!«<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
rEPortagE<br />
13
iNtErviEW<br />
14<br />
diE SiNNE täUScHEN NicHt<br />
Wo endet die Wissenschaft, wo beginnt der Glaube? Es ist eine Debatte,<br />
die so alt ist wie die Menschheit. <strong>NOIR</strong> lud den Theologen Albert Biesinger<br />
und den Neurobiologen Boris Kotchoubey zum Streitgespräch.<br />
text & fotos: Sanja döttling | layout: tobias fischer<br />
Warum glauben Menschen?<br />
Biesinger: Zum einen<br />
haben sie die Kompetenz, über das<br />
hinauszufragen, was empirisch verstanden<br />
werden kann. Sie treffen<br />
die Option: »Es muss mehr als alles<br />
geben.« Der zweite Grund ist, dass<br />
Menschen sich sagen: »Ich kann mich<br />
zwar darauf einlassen, dass mit dem<br />
Tod alles aus ist – das ist mir aber zu<br />
kurzschlüssig. Ich frage noch weiter,<br />
über den Tod hinaus.« Ein anderes<br />
Beispiel ist die Entstehung des Universums.<br />
Ich gehe selbstverständlich<br />
vom Grundmodell Evolution aus,<br />
frage aber als Theologe noch weiter.<br />
Nach der Bedingung der Möglichkeit,<br />
dass etwas ist. Die religiöse Frage<br />
ist deshalb immer die Frage nach<br />
der Bedingung der Möglichkeit der<br />
Wirklichkeit und der Existenz des<br />
Menschen.<br />
Kotchoubey: Ich frage mich eher,<br />
warum manche Menschen nicht<br />
glauben. Und zwar deshalb, weil ich<br />
mir den Glauben etwas breiter vorstelle:<br />
über den religiösen Rahmen<br />
hinaus. Menschen glauben, weil sie<br />
prinzipiell nicht alles wissen können.<br />
Sie brauchen eine Basis, die sie<br />
nicht genau prüfen können.<br />
Was gehört für Sie zur breiteren Definition<br />
von Glauben?<br />
Kotchoubey: Der Glaube zum Bei-<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
spiel, dass mich meine Sinne normalerweise<br />
nicht täuschen. Wenn ich<br />
Sie jetzt sehe, dann existieren Sie<br />
tatsächlich. Und daran glaube ich.<br />
Wenn man tiefer geht, dann kommt<br />
man zu dem Punkt, dass man das<br />
nicht beweisen kann, dass sie vor<br />
mir sitzen. Ich muss also bestimmte<br />
Glaubensinhalte haben.<br />
Biesinger: »Was glaubt, wer nicht<br />
an Gott glaubt?« – So haben es Kardinal<br />
Carlo Martini und Umberto<br />
Eco im Dialog thematisiert. Wenn<br />
ein Mensch sagt, es gibt keinen Gott,<br />
dann glaubt er eben, dass Gott nicht<br />
ist. Man kann weder beweisen, dass<br />
Gott existiert, noch dass er nicht<br />
existiert. Gott ist weiter und komplexer<br />
als unsere menschlichen Gehirnstrukturen.<br />
Kotchoubey: Die Ursache des Glaubens<br />
ist die unendliche Komplexität<br />
der Welt. Wir tendieren dazu, die<br />
Komplexität zu unterschätzen, um<br />
Vorhersagen zu treffen. Dazu vereinfachen<br />
wir Prozesse der Welt, die<br />
eigentlich viel komplexer sind. Die<br />
Begründer unserer modernen Wissenschaft,<br />
wie Galileo, haben einen<br />
Weg der Vereinfachung gefunden.<br />
Darin liegt ihre Genialität. Jeder<br />
kann sehen, dass ein Stein schneller<br />
fällt als eine Feder. Man muss<br />
aber, um wissenschaftliches Wissen<br />
aufzubauen, gewisse Aspekte vernachlässigen,<br />
wie den Luftwider-<br />
stand – dann fallen Feder und Stein<br />
gleich schnell. Aber wenn wir mit<br />
dem Fallschirm springen, können<br />
wir vom Luftwiderstand nicht absehen,<br />
denn er entscheidet über Leben<br />
und Tod. Man darf diese Vereinfachung<br />
nur bis zu einem gewissen<br />
Punkt betreiben. Es gibt zum Beispiel<br />
chemische Systeme, bei denen<br />
man keinen Schritt auslassen kann.<br />
Die Systeme kann man im Nachhinein<br />
zwar erklären, mit dem Ursache-Wirkung-Prinzip.<br />
Aber in die<br />
Zukunft kann man sie nicht vorhersehen.<br />
War die Entstehung des Glaubens<br />
eine Form, die Wirklichkeit zu vereinfachen?<br />
Kotchoubey: Gott ist für mich ein<br />
Begriff, der auf der gleichen Stufe<br />
steht wie die Welt als Ganzes. Wenn<br />
es Gott gibt, dann ist er nach Definition<br />
also unendlich komplex. Das<br />
heißt, wir können ihn nicht verstehen<br />
und damit auch nicht wissen.<br />
Biesinger: Ich sehe das so: Alles,<br />
was Naturwissenschaften entdecken,<br />
hilft mir als Theologe, den Schöpfer<br />
der Welt, also Gott, besser zu verstehen.<br />
Gerade weil ich davon ausgehe,<br />
dass Gott die Welt in Prozessen der<br />
Evolution erschaffen hat. Der Gegensatz<br />
zwischen Naturwissenschaft und<br />
Glaube muss aufgebrochen werden, sie<br />
schließen sich nicht aus.
Herr Kotchoubey, sind Sie gläubig?<br />
Wie vereinen Sie das mit Ihrem Beruf?<br />
Kotchoubey: Ich sehe darin keinen<br />
Widerspruch, solange man Gott<br />
nicht auf bestimmte Bilder reduziert.<br />
Es gibt einen Punkt, an dem ich an<br />
die Grenzen der Unvereinbarkeit<br />
komme.<br />
Glauben immer weniger Jugendliche<br />
an Gott?<br />
Biesinger: Der Religionsmonitor<br />
des Bertelsmann-Verlages zeigt: Die<br />
Hälfte der deutschen Jugendlichen<br />
ist in verschiedener Ausprägung religiös.<br />
Das andere größere Segment<br />
ist nicht atheistisch sondern agnostisch.<br />
Sie wissen nicht, ob es Gott<br />
gibt oder nicht. Die Statistik verändert<br />
sich durch die hohe Anzahl an<br />
Migranten, die tendenziell religiöser<br />
sind als die Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft.<br />
Kotchoubey: Die Zunahme des<br />
Atheismus ist ein kulturspezifisches<br />
Phänomen, das nur in ganz<br />
bestimmten Gesellschaften existiert.<br />
In Westeuropa sehen wir, je stärker<br />
entwickelt die Wissenschaften sind,<br />
desto weniger herrscht der Glaube<br />
vor. In Amerika, Afrika, Osteuropa<br />
Albert Biesinger wurde 1948 in Tübingen<br />
geboren, studierte katholische<br />
Theologie und Pädagogik. Seit 1991 ist<br />
Biesinger Professor für Religionspädagogik<br />
an der Universität Tübingen und<br />
seit 2001 Leiter des Instituts für berufsorientierte<br />
Religionspädagogik.<br />
oder in asiatischen Ländern sehen<br />
wir diesen Zusammenhang nicht.<br />
Biesinger: Vielleicht hängt das<br />
auch mit der Erfahrung zusammen,<br />
dass in den reicheren Ländern die<br />
Leute ihr Leben auch ohne Gott gestalten<br />
können. Man sagt: »Not lehrt<br />
beten.«<br />
Meine Theorie, warum Jugendliche<br />
zu Atheisten werden: Sie wollen<br />
mehr Selbstbestimmung und niemand<br />
anderen über sich stellen.<br />
Kotchoubey: Teilweise stimme ich<br />
zu. Es gibt in jedem das Bedürfnis,<br />
selbstbestimmt zu leben. Aber auch<br />
das Bedürfnis nach einer bestimmten<br />
Regelmäßigkeit. Viele Bücher<br />
in der Erziehungswissenschaft sagen<br />
aber, dass wir Jugendliche mit<br />
Selbstbestimmung überfordern. Sie<br />
fühlen sich in einer Welt ohne Regeln<br />
verloren. Welche Rolle kann<br />
hier eine Religion spielen? Wenn wir<br />
die russisch-orthodoxe Kirche mit<br />
der lutherisch-evangelischen Kirche<br />
vergleichen, schreibt die eine viel<br />
und die andere fast gar nichts vor.<br />
Das ändert nichts daran, dass die<br />
Jugendlichen auch aus der evangelischen<br />
Kirche aussteigen. Wenn Ihre<br />
Theorie stimmen würde, würden sie<br />
der evangelischen Kirche zulaufen.<br />
Und wenn Jugendliche in der Kirche<br />
nach Regeln suchen?<br />
Biesinger: Es gibt zwar Zulauf zu<br />
den Freikirchen, die große Gottesdienste<br />
feiern und klarere Orientierung<br />
in einer komplexen Welt<br />
bieten. Aber auch in den beiden großen<br />
Kirchen gibt es große religiöse<br />
Jugendtreffen. Ich glaube nicht, dass<br />
die Jugendlichen sich allgemein vom<br />
Glauben zurückziehen. Es gibt einen<br />
gewissen Rückzug von den Kirchen,<br />
aber auch von den Parteien. Also allgemein<br />
einen Rückzug aus der Verbindlichkeit.<br />
Vielen Dank für das Gespräch.<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
iNtErviEW<br />
Boris Kotchoubey wurde 1952 in<br />
Russland geboren. 1992 kam er nach<br />
Deutschland und ist heute Professor<br />
am Institut für medizinische Psychologie<br />
und Verhaltensneurobiologie an der<br />
Universität Tübingen.<br />
15
EPortagE<br />
16<br />
SüSS, SExy, SyNtHESizE<br />
text: Judith daniel | layout: Sebastian Nikoloff<br />
tEUfElSzEUg<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
Die Luft vibriert, es ist unglaublich laut,<br />
dabei hat das Konzert noch nicht begonnen.<br />
Tausende von kleinen Leuchtstäben<br />
bringen eine unwirkliche Atmosphäre in die<br />
dunkle Arena. »Hatsune! Hatsune!« brüllt das Publikum,<br />
bis sich der Rhythmus ändert und »Miku!<br />
Miku! Miku!« aus den Reihen tönt. Kurz wird<br />
es ganz still, dann antwortet eine glockenhelle<br />
Stimme über die Lautsprecher. Alles Weitere geht<br />
im Grölen unter. Hatsune Miku wächst aus dem<br />
Bühnenboden wie eine türkis leuchtende Blume.<br />
text: Henrike W. ledig | layout: Sebastian Nikoloff<br />
Auch der Teufel hat Anhänger: Satanisten.<br />
Im Zentrum deren »Religion« steht natürlich<br />
er selbst. Verehrt wird der Teufel<br />
entweder alleinstehend oder als »höllische Dreifaltigkeit«,<br />
bestehend aus Satan, Luzifer und Beelzebub.<br />
Aber nur für einen Bruchteil der bekennenden<br />
Satanisten gehört die Teufelsanbetung zum<br />
Glaubensprogramm. Vielmehr wird sich auf die<br />
eigentliche Absicht des Teufels zurückbesonnen:<br />
die Menschen vom Glauben an eine überirdische<br />
Sie sieht zart und zerbrechlich aus mit ihren großen<br />
Augen. Zur Schuluniform trägt sie Zöpfe, die<br />
fast bis zum Boden fließen, Strapse und Plateauschuhe.<br />
Kindchenschema und Sexappeal bis zur<br />
Gänze ausgereizt. Ein perfektes 16-jähriges Mädchen.<br />
Ein Hologramm.<br />
Doch was macht Hatsune Miku, eine Synthesizer-Illusion,<br />
so erfolgreich, dass sie durch die Welt<br />
tourt? Sie ist vollständig erdacht und programmiert:<br />
ihr Körper, ihre Bewegungen und auch ihre<br />
Stimme. Miku wiegt 42 Kilogramm bei einer Körpergröße<br />
von 1,58 Metern. Ihre Macher feiern jedes<br />
Jahr am 31. August ihren 16. Geburtstag – und<br />
über eine Viertelmillion Facebook-Nutzer feiern mit.<br />
Es werden Kuchen gebacken, Liebesgeständnisse<br />
gemacht und Ständchen gesungen.<br />
Was bringt uns Menschen dazu, das Privatleben<br />
einer fremden Person dermaßen zu verfolgen und<br />
ihr gegenüber von Zuneigung oder gar Liebe zu<br />
sprechen? So absurd der Kult um Hatsune Miku<br />
ist: Sie unterscheidet sich kaum von anderen Idolen.<br />
Auch deren Image kann völlig frei erfunden<br />
sein. Wir sind auf der Suche nach jemandem, an<br />
den wir glauben können. Wir haben die Eltern als<br />
Vorbilder verloren und suchen auf den Bühnen der<br />
Welt nach Idolen.<br />
Macht zu befreien. Die Aufmerksamkeit wird auf<br />
das Individuum gelenkt, der Teufel rät zu einem<br />
gesunden Egoismus.<br />
Da wäre allerdings ein simples Problem: Es<br />
gibt kein Buch wie die Bibel oder den Koran. Der<br />
Teufel ist entgegen der geläufigen Annahme kein<br />
sehr gesprächiger Geselle. Sämtliche Werke sind<br />
ausnahmslos von Menschen verfasst. Dazu gehört<br />
auch »Die schwarze Bibel«, die die Zehn Gebote<br />
des Satanismus beinhaltet. Somit existiert nur<br />
eine Orientierungshilfe auf der Suche nach einer<br />
Religion, der man oft mit Vorurteilen begegnet.
KircHE 2.0<br />
Wie cool wäre es, nicht mehr in die kalte Kirche gehen zu müssen, sondern von zu Hause aus zu<br />
beten. <strong>NOIR</strong>-Autorin Silke Brüggemann präsentiert: Die Kirche im Internet.<br />
text: Silke Brüggemann | layout: Sebastian Nikoloff<br />
Gottesdienst am Sonntagmorgen,<br />
Weihrauch und<br />
Orgelmusik: Religion leben<br />
geht heute auch anders. Dank Handy-Applikationen<br />
und Internet können<br />
Christen sich heute online austoben.<br />
Silke Brüggemann hat getestet,<br />
wie man im Web 2.0 beichtet und ob<br />
ein Handy-Tagebuch einen besseren<br />
Menschen aus einem macht.<br />
»Im Namen des Vaters, des Sohnes<br />
und des Heiligen Geistes«, tönt<br />
es aus den Lautsprechern meines<br />
Laptops. Eine Homepage, gestaltet<br />
in schwarz und lila, lädt mich ein,<br />
»online mit Jesus« zu gehen. So soll<br />
aus mir ein besserer Mensch werden<br />
– per Online-Beichte. Durch<br />
Klicks auf zwei Kästchen bestätige<br />
ich, dass ich etwas bereue und gelobe<br />
mich zu bessern. In anderen Online-<br />
Beichtstühlen kann ich meine Sünden<br />
als Foreneinträge direkt veröffentlichen.<br />
Andere Benutzer können<br />
die Beichten nicht nur lesen, sondern<br />
auch bewerten und ihren Senf dazu<br />
geben. Die Beichten reichen von Lügen<br />
über Betrug bis zu Tierquälerei.<br />
Online beichten ist nichts für<br />
mich, merke ich. Und suche weiter:<br />
nach einem religiösen Angebot, das<br />
zu mir passt. Ich google »pray« und<br />
lande auf einer Seite, die mich zum<br />
Online-Beten einlädt. Eine Oase der<br />
Ruhe im grauen Büroalltag; so soll<br />
die Seite wirken. Doch die Homepage<br />
ist ebenfalls grau. Dazwischen<br />
eine ockerfarbene Wiese mit einem<br />
blätterlosen Baum<br />
und einem Hauch<br />
von Kirchenmusik.<br />
Das soll wohl beruhigend<br />
wirken, auf<br />
mich wirkt es farblos.<br />
Per Mausklick<br />
startet eine Stoppuhr,<br />
die genau eine<br />
Minute abzählt, in<br />
der ich die Augen<br />
schließen und beten<br />
kann. Ich spule meine<br />
Sorgen und Hoffnungen<br />
gedanklich<br />
runter und bin nach<br />
zehn Sekunden fertig.<br />
Beichten und beten<br />
online ist noch lange nicht alles:<br />
Kirchengemeinden laden ihre Veranstaltungen<br />
auf Videoplattformen<br />
hoch, Gläubige bloggen über ihre<br />
Lieblingsbibelstelle und Geschäftsleute<br />
wollen ihre Jesus-Produkte<br />
loswerden, zum Beispiel christliche<br />
Handy-Applikationen. Orgelmusik<br />
und ein Wasserfall aus Bibelzitaten<br />
reißen mich aus dem Schlaf, als ich<br />
einen christlichen Wecker teste. Leider<br />
bin ich so müde, dass ich dem<br />
Sprecher mit der monotonen Stimme<br />
nicht folgen kann. Kein Zitat bleibt<br />
mir im Kopf und die Orgelmusik<br />
erinnert mich an den Soundtrack<br />
eines schlechten Vampir-Films. Ein<br />
Tagebuch als Handy-App soll aus<br />
mir einen besseren Christen ma-<br />
online-absolution von »gesegneter iP«<br />
chen. Auf einer Seite soll man fünf<br />
christliche Ziele eingeben. Ich gebe<br />
»mehr Nächstenliebe« und »mehr<br />
beten« ein. Die »Bibelstellen zur Inspiration«<br />
sind sehr ermutigend,<br />
aber helfen mir nicht, meine anderen<br />
drei Ziele zu finden. Zwei Ziele reichen<br />
für den Anfang, beschließe ich.<br />
Immer wenn ich es schaffe, eines der<br />
Ziele einzuhalten, darf ich mir einen<br />
Stern schenken. Sich ständig beobachten<br />
zu müssen, ist lästig und der<br />
Stern lässt sich nur schwierig eingeben.<br />
Ich gebe auf – und erwische<br />
mich dabei, wie ich bei einer langen<br />
Autofahrt anbiete, auf meine Beinfreiheit<br />
auf dem hinteren Mittelsitz<br />
zu verzichten. Vielleicht funktioniert<br />
das Tagebuch ja doch.<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
rEPortagE<br />
17
KolUmNE<br />
18<br />
Pizza Statt fiScH<br />
Jeden Freitag pulen Bettina Schneiders Mitschüler in der Kantine Gräten aus<br />
Backfischen. Ob sie dabei an Karfreitag denken und bewusst Verzicht üben?<br />
text: Bettina Schneider | layout & illustration: tobias fischer<br />
» Oh nein, heute ist Freitag. Ich riech‘s!«,<br />
plärrt meine Freundin Jasi, als wir die<br />
Schulkantine betreten. Eine Duftwolke<br />
von frischem Backfisch weht uns in die Nase. Wem<br />
es schmeckt, der pult Gräten aus seinem Tierchen.<br />
Immer wieder freitags – und keiner weiß wieso.<br />
»Kein Fleisch zu essen, soll eine Einschränkung<br />
sein, weil der Freitag an den Karfreitag erinnert,<br />
an dem Jesus umgebracht wurde«, lese ich online<br />
im »Typisch katholischen<br />
Lexikon«.<br />
Ahja. Was hat<br />
imPrESSUm<br />
Noir ist das junge magazin<br />
der <strong>Jugendpresse</strong> Baden-<br />
Württemberg e.v.<br />
ausgabe <strong>23</strong> – November 2011<br />
Herausgeber<br />
<strong>Jugendpresse</strong> Baden-Württemberg e.v.<br />
fuchseckstraße 7<br />
70188 Stuttgart<br />
tel.: 0711 912570-50 www.jpbw.de<br />
fax: 0711 912570-51 buero@jpbw.de<br />
Chefredaktion<br />
andreas Spengler andreas.spengler@noirmag.de<br />
(v.i.S.d.P., anschrift wie Herausgeber)<br />
anika Pfisterer anika.pfisterer@noirmag.de<br />
Susan djahangard susan.djahangard@noirmag.de<br />
miriam Kumpf miriam.kumpf@noirmag.de<br />
Chef vom Dienst<br />
alexander Schmitz alexander.schmitz@noirmag.de<br />
Lektorat<br />
dominik Einsele dominik.einsele@noirmag.de<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
Redaktion<br />
Silke Brüggemann (sbr), Judith daniel (jd), Sanja<br />
döttling (sdl), marie graef (mg), friederike Hawighorst<br />
(fh), lisa Kreuzmann (lkr), Henrike ledig<br />
(hl), melanie michalski (mm), leonie müller (lm),<br />
Elisabeth omonga (eo), anika Pfisterer (apf), Bettina<br />
Schneider (bs), lena Schubert (lsb), Nanda da Silva<br />
(nds), andreas Spengler (as), Kevin Weber (kwe),<br />
laura Wolfert (lw), martin zimmermann (mz)<br />
redaktion@noirmag.de<br />
Layout & Art Director<br />
tobias fischer tobias.fischer@noirmag.de<br />
Layout-Team<br />
tobias fischer, Borris golinski, Sebastian Nikoloff<br />
layout@noirmag.de<br />
Anzeigen, Finanzen, Koordination<br />
Sebastian Nikoloff sebastian.nikoloff@noirmag.de<br />
Druck<br />
Horn druck & verlag gmbH & co. Kg, Bruchsal<br />
www.horn-druck.de<br />
Jesus davon, wenn wir auf Schnitzel, Burger und<br />
Co. verzichten? Das Internet sagt: »Das ungute<br />
Gefühl, das jeder ungerecht Verurteilte in uns<br />
anklingen lässt, verbindet sich mit der Einschränkung,<br />
die an jedem Freitag daran erinnert, dass jeder<br />
eine Mitschuld an dem Tod hat.« Ich sehe mich<br />
an jenem Freitag in der Kantine um. Dort entdecke<br />
ich vieles – nur keine schuldbewussten Gesichter.<br />
Mit Appetit werden Pommes und Backfisch verdrückt.<br />
Nur Jasi und mich macht das nicht an. Wir<br />
gehen guten Gewissens in die nächste Pizzeria.<br />
Wie jeden Freitag. Danke, Jesus!<br />
Titelbilder<br />
titel: yariK / photocase.com; teaser-fotos, v.l.n.r:<br />
»Nico Piechulek«, »franziska Sucker«, »Hannah Netzer«<br />
/ jeweils www.jugendfotos.de [cc-lizenz (by-nd)]<br />
Bildnachweise<br />
S. 1 (oben): spacejunkie / photocase.com; S. 1<br />
(unten, v.l.n.r.): Privat, alexander Schmitz, Privat;<br />
S. 2 »zunge«: benicce / photocase.com; S. 2 »Buch«<br />
& »Kerzen«: Harriet Hanekamp; S. 2 »räuber«:<br />
froodmat / photocase.com; S. 3: fabian vögtle; S. 4<br />
(im Uhrzeigersinn): abcdz200 / sxc.hu, Privat (3x);<br />
S. 6-7: Privat (3x); S. 8: aleksandr zykov / fli ckr.com<br />
(cc-lizenz); S. 10: Harriet Hanekamp; S. 12-13: Stefan<br />
Strumbel / commons.wikimedia.org, cc-lizenz (bysa);<br />
S. 15: Sanja döttling; S. 16: youtube-Screenshot;<br />
S. 17: Website-Screenshot; S. 19: Privat (2x); S. 20: Eva<br />
Katrin Hermann; S. <strong>23</strong>: Privat<br />
Noir kostet als Einzelheft 2,00 Euro, im abonnement<br />
1,70 Euro pro ausgabe (8,50 Euro im Jahr, vorauszahlung,<br />
abo jederzeit kündbar).<br />
Bestellung unter der telefonnummer 0711 912570-50<br />
oder per mail an abo@noirmag.de.<br />
für mitglieder der <strong>Jugendpresse</strong> <strong>BW</strong> ist das abonnement<br />
im mitgliedsbeitrag enthalten.
BraUcHEN Wir diE KircHE?<br />
Kann man Glaube ohne Kirche und Kirche ohne Glauben leben? Zwei <strong>NOIR</strong>-Autorinnen,<br />
zwei Meinungen: Die Kirche schränkt uns in unserem Glauben ein,<br />
sagt Nanda da Silva. Glauben muss man gemeinsam leben, hält Friederike<br />
Hawighorst dagegen und fordert auf, die Kirche selbst positiv zu prägen.<br />
Pro: icH glaUBE,<br />
WiE icH Will.<br />
layout: Sebastian Nikoloff<br />
contra: glaUBEN<br />
BraUcHt KEiNE KircHE!<br />
text: friederike Hawighorst text: Nanda da Silva<br />
Es gibt viele Gründe,<br />
der katholi-<br />
Ist nur der gläubig,<br />
der sonntags in den<br />
schen Kirche den Rü-<br />
Gottesdienst geht und<br />
cken zu kehren. Ihre<br />
die Kirchenfeiertage<br />
von Grausamkeiten<br />
im Schlaf aufsagen<br />
gepflasterte Geschich-<br />
kann?<br />
te zum Beispiel, von<br />
Der Glaube jedes<br />
Kreuzzügen über den<br />
Menschen sollte indi-<br />
Ablasshandel bis hin<br />
viduell auf seinen eige-<br />
zu Skandalen um pänen<br />
Vorstellungen und<br />
dophile Prügelpriester<br />
Bedürfnissen beruhen<br />
in jüngster Vergangen-<br />
und das ausfüllen, was<br />
heit. Der reaktionäre Papst an der<br />
er für sich und für sein<br />
Spitze eines Apparates männlicher<br />
Leben als Stärkung empfindet. Die<br />
Dominanz, die Kirchensteuer und,<br />
Kirche hält sich an Regeln und Tradi-<br />
nicht zu vergessen, die unchristlitionen,<br />
die den Menschen in seinem<br />
chen Gottesdienstzeiten.<br />
Glauben mehr einschränken als ihn<br />
Warum ich nicht ausgetreten bin?<br />
darin zu unterstützen. Kein Wunder,<br />
Weil ich glaube, dass die Kirche zu<br />
denn wie kann man 2 000 Jahre alte<br />
einem Zweck geschaffen wurde: den<br />
Regeln in einer Zeit anwenden, die<br />
Geist Jesu zu verwirklichen, ihm als<br />
sich so komplett verändert hat – Mo-<br />
Gemeinschaft nachzufolgen und auf<br />
ral und Werte mit eingeschlossen.<br />
diese Weise Nächstenliebe zu leben.<br />
Wieso sollte Gott mit den Men-<br />
Das geht gemeinsam einfach besser<br />
schen nur über die Kirche in Kontakt<br />
als alleine. Übersteigerter Individu-<br />
treten. Laut dem christlichen Glaualismus<br />
ist im christlichen Glauben<br />
ben ist er doch allgegenwärtig.<br />
fehl am Platz.<br />
Die Freiheit jedes Einzelnen steht<br />
Natürlich ist fast jeder einmal von<br />
im Vordergrund. Wer die Regeln und<br />
der Kirche enttäuscht. Es wäre ver-<br />
die Kirche braucht, um seine Idee<br />
messen, zu glauben, die Geschichte<br />
von Glauben ausleben zu können,<br />
der Kirche wäre nicht auch durch<br />
dem stehe das frei. Auf der anderen<br />
fehlbare Menschen geschrieben. Und<br />
Seite sollte Glaube nicht von der Kir-<br />
fehlbar sind wir ausnahmslos alle.<br />
che abhängig sein. Jeder persönliche<br />
Eine Gemeinschaft ist nur so gut wie<br />
Glaube sollte respektiert werden.<br />
die Menschen, die sie gestalten. An-<br />
Das sollten auch die vielen Glaustatt<br />
zu nörgeln, sollten wir besser<br />
bensrichtungen einsehen. Gläubig<br />
selbst anpacken, um die Missstände<br />
ist, wer glaubt. Egal ob mit oder ohne<br />
zu beheben.<br />
Kirche.<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
titEltHEma<br />
19
EPortagE<br />
20 <strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
» ES vErfolgt micH tag<br />
Barbara Kohouts Leben war bestimmt vom Glauben. Sie fand Erfüllung bei den<br />
Zeugen Jehovas. Doch als sie deren perfide Methoden durchschaute, stieg sie<br />
aus. Heute spricht sie von Pest und Cholera und menschlichem Abfall.<br />
interview: lena Schubert | foto: Eva Katrin Hermann | layout & illustration: Sebastian Nikoloff<br />
Von klein auf waren Sie bei den<br />
Zeugen Jehovas. Nun sind Sie<br />
scharfe Kritikerin der Organisation.<br />
Wie kamen Sie zu den Zeugen<br />
Jehovas?<br />
Frau Kohout: Ich war seit meinem<br />
zehnten Lebensjahr mit den Zeugen Jehovas<br />
verbunden. Ich war evangelisch,<br />
blass und klapperdürr, weil ich mit<br />
knapper Not dem Hungertod entronnen<br />
war. Bitterarmen Flüchtlingen –<br />
und Heiden – wie uns begegnete man<br />
oft unfreundlich im katholischen Oberbayern.<br />
Wann fand der erste Kontakt statt?<br />
Es kam ein freundlicher Herr an<br />
unsere Türe. Er erzählte uns von einer<br />
wunderbaren Zukunft: Gott würde<br />
bald alle Ungerechtigkeit von der Erde<br />
beseitigen. Er lud uns zu einem Treffen<br />
ein. Auch dort waren die Leute freundlich<br />
zu uns. Wir kannten so eine Herzlichkeit<br />
nicht.<br />
Und was waren deren erste Aussagen<br />
über ihren Glauben?<br />
Sie glaubten<br />
alle, dass sie »in<br />
der Wahrheit«<br />
sind. Denn sie wären<br />
die Einzigen,<br />
die die Bibel rich-<br />
tig auslegen könnten. Sie wussten<br />
ganz sicher, dass bald Harmagedon<br />
kommt und alles Böse von der Erde<br />
schafft. Wer sich für die Wahrheit<br />
der Zeugen Jehovas entscheidet,<br />
würde gerettet werden. So begann<br />
mein Lebensweg innerhalb einer<br />
Gemeinschaft mit extremen Ordensregeln.<br />
Erst nach Jahrzehnten gelang<br />
es mir, die Ungereimtheiten zu<br />
durchschauen.<br />
Warum ist es gerade für Neu-Einsteiger<br />
so schwer, wieder Abstand<br />
zu finden?<br />
Menschen in Ausnahmesituationen<br />
stehen in der Gefahr, arglos in<br />
die Umgarnung extremer Gruppen<br />
zu geraten. Es sind Situationen, in<br />
denen man nach Trost, Halt oder<br />
nach Antworten auf die Frage nach<br />
dem »Warum« sucht.<br />
Wird so etwas erwähnt, wenn über<br />
die Anfänge anderer Mitglieder gesprochen<br />
wird?<br />
Die Veröffentlichungen der<br />
»Wachtturm-Gesellschaft« (Anm.<br />
der Red.: Herausgeber der Zeitschrift
UNd NacHt «<br />
»Wachtturm«) sind gespickt mit sogenannten<br />
Erfahrungen. Sie geben<br />
euphorische Berichte ab, wie man<br />
durch die Güte Jehovas zur Erkenntnis<br />
der Wahrheit gelangen könne.<br />
Diese Erfahrungen erzeugen das<br />
starke Gefühl, zu einer ganz besonderen,<br />
auserwählten Gruppe zu<br />
gehören. Man fühlt sich dankbar<br />
und verpflichtet, diese Dankbarkeit<br />
durch besondere Taten unter Beweis<br />
zu stellen.<br />
Von welchen Taten ist die Rede?<br />
Beispielsweise das Bibelstudium<br />
oder auch das Werben um Neumitglieder.<br />
Es wird von den Zeugen<br />
Jehovas Predigtdienst genannt. Jeder<br />
Zeuge ist zu diesem Dienst verpflichtet<br />
und wird aufgefordert, über<br />
den Zeiteinsatz und die verbreiteten<br />
Wachtturm-Schriften genauen Bericht<br />
zu erstatten. Die Wachtturm<br />
-Organisation stellt es so dar: Alles,<br />
was man in ihrem Auftrag tut, geschieht<br />
zur Förderung der Interessen<br />
des Königreiches Gottes. Ich habe<br />
es als Gnade und Vorrecht gesehen,<br />
freiwillig alles zu tun, um die Inte-<br />
ressen des Königreiches zu unterstützen.<br />
Wie weit sind Sie gegangen und<br />
wie viel Anstrengung haben Sie<br />
schlussendlich für die Zeugen Jehovas<br />
aufgewendet?<br />
Als Schülerin habe ich monatlich<br />
mindestens 60 Stunden eingesetzt.<br />
Als Sonderpionier wurden es neben<br />
dem regulären Predigtdienst von 150<br />
Stunden noch mindestens 50 Stunden<br />
mehr für die Versammlungsaktivitäten.<br />
In der Zeit verzichtete ich<br />
auf eine Berufstätigkeit und begnügte<br />
mich mit einem Taschengeld von<br />
150 Mark monatlich.<br />
Nach der Geburt meiner Tochter<br />
reduzierte ich den Stundeneinsatz<br />
zwar, war aber trotzdem weiter bis<br />
zur Erschöpfung tätig, sogar mit<br />
meinem Baby im Dienst von Haus zu<br />
Haus.<br />
Sie erwähnen einen Aufstieg. Gibt<br />
es eine klar sichtbare Hierarchie?<br />
Es gibt eine eindeutige Hierarchie.<br />
Die ist für gläubige Zeugen Jehovas<br />
aber nicht wahrnehmbar, weil<br />
sie nicht daran zweifeln, dass nur<br />
Christus der Führer und das Haupt<br />
der Versammlung sei.<br />
Welche Rechte ergeben sich aus einem<br />
Aufstieg?<br />
Die Ernennung ist ab einem bestimmten<br />
Status mit Vollmachten<br />
verbunden. So können die Ältesten<br />
innerhalb der Versammlungen über<br />
Verfehlungen der Zeugen Jehovas<br />
urteilen. Sie sind dabei Ankläger und<br />
Richter in einem und verhandeln<br />
nicht öffentlich.<br />
Wie haben Sie es geschafft, von den<br />
Zeugen loszukommen?<br />
Nachdem unsere Kinder die<br />
Wachtturm-Organisation verlassen<br />
hatten, interessierte ich mich für die<br />
Gründe. Mein Sohn zeigte mir anhand<br />
der Wachtturm-Schriften, wie<br />
wir gezielt manipuliert wurden und<br />
mit welchen Unwahrheiten die Zeugen<br />
Jehovas operierten. Die Erkenntnis,<br />
dass wir von Menschen benutzt<br />
und betrogen wurden, veranlasste<br />
mich, die Organisation zu verlassen.<br />
▶<br />
rEPortagE<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011) 21
EPortagE<br />
Wann war das?<br />
Im August 2008 beschloss ich zusammen<br />
mit meinem Mann den Ausstieg.<br />
Wir gingen nicht mehr zu den<br />
Zusammenkünften und gaben auch<br />
keinen Bericht mehr über unsere Tätigkeit<br />
für die Wachtturm-Organisation<br />
ab. Leider haben die Ältesten<br />
diese Entscheidung nicht akzeptiert.<br />
Sie bestanden darauf, uns die Gemeinschaft<br />
zu entziehen, mit der Begründung<br />
dass wir Abtrünnige seien<br />
und man somit keinen Kontakt mehr<br />
mit uns haben dürfte.<br />
Wie waren die Reaktionen?<br />
Ein Jahr später wurde uns die Gemeinschaft<br />
entzogen. Von diesem<br />
Zeitpunkt an konnten wir keinen<br />
Kontakt mehr mit unseren Freunden<br />
und Verwandten pflegen, die<br />
noch Zeugen Jehovas sind – auch<br />
nicht mit meiner Mutter, den Geschwistern<br />
und Verwandten. Es ist<br />
ein Trauma, von einem Tag auf den<br />
anderen alle sozialen Bindungen zu<br />
verlieren. Häufig folgen langwierige<br />
psychotherapeutische Behandlungen<br />
und leider nicht selten Suizid.<br />
22 <strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
Wären Sie auch von sich selbst aus<br />
ausgestiegen?<br />
Für mich war das niemals denkbar.<br />
Ich wäre nie bereit gewesen, Schriften<br />
von Ex-Zeugen zu lesen. Da ich<br />
mich außerstande fühlte, »dem vom<br />
Geist geleiteten treuen und verständigen<br />
Sklaven« ungehorsam zu sein.<br />
Wie empfanden Sie das Leben mit<br />
den Zeugen Jehovas im Nachhinein?<br />
Weil ich bereits als Kind gefischt<br />
wurde, gab es für mich keinen Alltag<br />
vor oder außerhalb der Sekte. Ich<br />
lebte in einem Kokon, abgeschirmt<br />
wie mit unsichtbaren Mauern.<br />
Wie schwierig war es, vollständig<br />
mit dem Thema abzuschließen?<br />
Für mich ist es bislang unmöglich.<br />
Es verfolgt mich Tag und Nacht. Ich<br />
fühle mich verpflichtet, meine Erfahrungen,<br />
mein Wissen und meine<br />
Erkenntnisse an andere<br />
weiterzugeben. Ich muss auf<br />
totalitäre Strukturen und Regeln<br />
eines Systems aufmerksam<br />
machen, das gegen unsere<br />
Verfassung verstößt, weil<br />
es keine wirkliche Gewissens-,<br />
Glaubens- und Meinungsfreiheit<br />
gewährt. Ich setze mich<br />
auch dafür ein, ehemalige Mitglieder<br />
nicht zu diskriminieren.<br />
Die Methode der Zeugen<br />
Jehovas, missliebige Mitglieder<br />
mit der Bestrafung durch<br />
sozialen Tod zu bedrohen und<br />
damit unter Druck zu setzen,<br />
ist menschenunwürdig. Es ist<br />
mittelalterlich. Das von einer<br />
Körperschaft des öffentlichen<br />
Rechtes ist öffentliches Unrecht.<br />
Vielen Dank für das Interview!
dEr tErroriSt iN UNS<br />
Islamismus, der Medienbegriff, wenn es um Terrorismus, Gewalt und Frauenunterdrückung<br />
geht. Doch nur wenige unterscheiden noch zwischen Religion<br />
und Fanatismus findet Elisabeth Omonga. Ein Kommentar.<br />
text: Elisabeth omonga | layout: tobias fischer<br />
Die Lehre des Islams: Kopftuchbedeckung<br />
à la Burka, muslimische Männer als Tyrannen<br />
und die Schweinefleischphobie.<br />
Und natürlich Töchter, die zur Heirat gezwungen<br />
werden oder im Namen der Ehre sterben müssen.<br />
Soweit die Klischees. Mit weltweit über 1,3 Milliarden<br />
Anhängern ist der Islam die zweitgrößte<br />
Religionsgemeinschaft der Welt. Dahinter stehen<br />
eine Vielzahl unterschiedlicher Lebenseinstellungen.<br />
Dennoch werden Muslime zunehmend als<br />
eine homogene Masse wahrgenommen: bedrohlich<br />
und meist rückständig. Der Ruf des Islams ist<br />
schlechter denn je. Wie kommt es, dass nicht die<br />
Vielfalt sondern die Einfalt Einzug in unsere Vorstellungen<br />
gehalten hat?<br />
»Was lehrt die Bibel über die Hölle?« Die Antwort<br />
auf diese Frage würde wohl lauten: »Frag<br />
doch einen Pastor!« Anders bei der Frage: »Was<br />
lehrt der Koran über den Jihad?« Hier denken sich<br />
viele Menschen: »Der Dönerverkäufer wird es bestimmt<br />
wissen.«<br />
Ein Schwamm saugt alles auf, er weiß nicht was<br />
und warum, aber er tut es. Und wir Menschen?<br />
Wir saugen alles auf, was wir im Radio hören, in<br />
der Zeitung lesen oder im Fernsehen sehen, ohne<br />
zu reflektieren, gehen wir unserer wachsenden<br />
Sensationslust nach. Die Medien leisten Vorarbeit<br />
und wir sind ihre Sklaven; ein primitiver Gedanke,<br />
um sich von seiner eigenen Verantwortung<br />
der Selbstreflexion zu entziehen. Doch drehen wir<br />
den Spieß mal um: Angenommen, nicht Muslime<br />
hätten am 11. September 2001 das World-Trade-<br />
Center bombardiert, sondern Christen. Schon die<br />
Vorstellung scheint zu irritieren? Christentumismus<br />
als neuer Medienbegriff? Eine Bedrohung<br />
für die ganze Menschheit – eine Religion, die die<br />
Instrumentalisierung als Mittel nutzt, einen sogenannten<br />
»Heiligen Krieg« gegen alle Nichtchristen<br />
durchzuführen. Nein, da hört sich Islamismus<br />
doch viel besser an. Islamisten passt doch. Kein<br />
Wunder, dass sogenannte Islamophobe uns mit ihrer<br />
Sicherheitspolitik Angst vor vollbärtigen Männern<br />
machen wollen.<br />
Es sind nicht nur die überspitzten Medien, es ist<br />
nicht nur die Ungewissheit. Es ist der Terrorist in<br />
uns, der uns dazu verleitet, eine Religion, Gruppen<br />
und dementsprechend Menschen zu beurteilen,<br />
noch bevor es die Sachkenntnis erlaubt. Was lehrt<br />
der Islam? Was bedeutet es, ein Muslim zu sein?<br />
Wer war Muhammad? Diese Religion, die heute<br />
als Quelle vieler Gewalt genannt wird, legt Wert<br />
auf die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens,<br />
auf Frieden und auf die Hingabe an Gott. Ohne unser<br />
Schubladendenken wäre das Zusammenleben<br />
einfacher, friedlicher und harmonischer.<br />
Elisabeth Omonga (19)<br />
studiert Regionalstudien<br />
Asien/Afrika und<br />
Portugiesisch an der<br />
Humboldt-Universität<br />
zu Berlin. Die gebürtige<br />
Aachenerin interessiert<br />
sich für kulturelle<br />
Themen und politische<br />
Konflikte, vor allem im arabischen Raum. Sie bekennt<br />
sich keiner Religion an, setzt sich aber für Vielfalt und<br />
Toleranz gegen Diskriminierung und Vorurteile ein.<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
KommENtar<br />
<strong>23</strong>
QUErBEEt<br />
24<br />
PEcHmariE<br />
Kein Menschenschlag ist abergläubiger als Schauspieler: Aus fremden Stücken zitieren ist<br />
verboten und wehe, man vergisst das rituelle Über-die-Schulter-Spucken vor der Aufführung.<br />
Henrike W. Ledig hat damit so ihre Erfahrungen gemacht.<br />
text: Henrike W. ledig | layout: tobias fischer<br />
» Wenn man an Dinge<br />
glaubt, die man nicht<br />
versteht, dann leidet<br />
man«, hat Stevie Wonder vor fast 40<br />
Jahren in seinem Lied »Superstition«<br />
(Aberglaube) gesungen. Das kann ich<br />
mit gutem Gewissen unterschreiben,<br />
denn ich laufe fröhlich unter<br />
Leitern durch, mache mir keinen<br />
Kopf um zerbrochene Spiegel und<br />
streichele schwarze Katzen, wenn<br />
sie meinen Weg kreuzen. Außerdem<br />
bin ich an einem Freitag dem 13. geboren<br />
und habe mich ganz gut entwickelt<br />
– obwohl ich dem Astro-TV<br />
nach die geborene Pechmarie bin.<br />
Was kann man sich über abergläubige<br />
Menschen nur amüsieren! Kein<br />
Menschenschlag allerdings ist aber-<br />
flEiScHloS<br />
text: Kevin Weber<br />
<strong>NOIR</strong> Nr. <strong>23</strong> (November 2011)<br />
gläubischer als Schauspieler: Da darf<br />
hinter der Bühne nicht gepfiffen,<br />
aus fremden Stücken nicht zitiert<br />
und nach der Generalprobe nicht<br />
geklatscht werden. Zudem folgt vor<br />
jeder Aufführung eine Art rituelles<br />
gegenseitiges Über-die-Schulter-Spucken<br />
aller Schauspieler. Bäh! Spucke<br />
auf dem Boden gegen Vergesslichkeit.<br />
Auf diesen Zug könnten die<br />
Pharmariesen aufspringen, das Zeug<br />
in Flaschen ziehen und teuer als<br />
Wundermittel gegen Demenz verschachern!<br />
Ich spiele selbst seit drei Jahren<br />
Theater und habe mich an die<br />
merkwürdigen Rituale vor jeder<br />
Aufführung gewöhnt. Sie sind mir<br />
sogar richtig ans Herz gewachsen:<br />
Mit der Erfahrung, einem toten Tier den<br />
Weg durch menschliche Innereien erspart<br />
zu haben, kann man sich mit<br />
olympischen Göttern messen. So meine Vorstellung.<br />
Wer Gutes tut, dem wird schließlich Gutes<br />
widerfahren. Deswegen wagte ich einen ungeheuren<br />
Versuch: zwei Monate ausnahmslos vegetarische<br />
Kost!<br />
Bei stechender Hitze am See geht es los. Und<br />
die Sonne ist nicht mein einziger Peiniger: Ein<br />
Nichts hilft so sehr gegen mörderisches<br />
Lampenfieber wie das Überdie-Schulter-Spucken,<br />
bevor man auf<br />
die Bühne geht. Ob ich an die glückbringende<br />
Wirkung glaube, kann<br />
ich nicht sagen. Ich weiß nur zwei<br />
Dinge: Erstens ist bisher jede unserer<br />
Aufführungen ein voller Erfolg<br />
gewesen und keiner hat davor aus<br />
einem fremden Stück zitiert. Im Gegenzug<br />
haben wir einmal ein Toi-Toi-<br />
Toi vergessen und prompt im ersten<br />
Akt von Dürrenmatts »Die Physiker«<br />
Einstein nicht auf die Bühne gelassen,<br />
da wir ihr Stichwort vermasselt<br />
haben. Das muss reichen als Beweis!<br />
Gelitten habe ich unter diesem Aberglauben<br />
meines Wissens nicht. Zeit<br />
für ein neues Lied, Stevie!<br />
Tropfen Fett verdampft mit einem von mir innig<br />
geliebten Zischen an der Grillkohle. Der himmlische<br />
Duft von bissfesten Steaks eingelegt in süßer<br />
Paprikasauce tanzt in meiner Nase Jive. Und ich<br />
greife zu. Nehme mir den daneben deponierten<br />
kaugummiartigen Grillkäse, der so schmeckt, wie<br />
er aussieht.<br />
Doch wo bleibt die gesteigerte Lebensqualität?<br />
Was ist mit dem erwarteten guten Gefühl, etwas<br />
Sinnvolles getan zu haben? Nicht da. Dafür geht<br />
nach über acht Wochen mein alltäglicher Traum<br />
vom Fleischverzehr endlich in Erfüllung und ich<br />
esse den Vegetariern nicht mehr ihr Gemüse weg.<br />
Nur als Fleischfresser bin ich unabhängig und<br />
glücklich. Und nun zwei Monate im Rückstand.
INTERNATIONALES<br />
JUGENDWERK DER AWO WÜRTTEMBERG • OLGASTRASSE 71 • 70182 STUTTGART • TEL. 07 11 / 52 28 41<br />
Die Welt in deinen Händen<br />
• Europäischer Freiwilligendienst<br />
• Jugendbegegnungen in Deutschland, Italien & Schweden<br />
Mit jungen Menschen aus anderen Kulturen zusammen Spass haben!<br />
weitere infos und anmeldung unter<br />
www.jugendwerk24.de