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„[...] Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das ... - Kerber-Net

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Bürgerlicher Realismus:<br />

Theodor Fontane (1819-1898) legte seine Auffassung des Realismus als Erscheinung, die<br />

<strong>„</strong>unsere Zeit nach <strong>allen</strong> Seiten hin charakterisiert", in seinem 1853 veröffentlichten Aufsatz<br />

<strong>„</strong>Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848" dar. Er modifizierte im Laufe der<br />

folgenden 40 Jahre seine Konzeption bis hin zur Anerkennung des Naturalismus Gerhart<br />

Hauptmanns.<br />

Fontane übte Kritik sowohl am Ausweichen vor der Gegenwart oder der bloßen Fiktion<br />

(Tradition der Romantik) als auch an bloßer Wiedergabe der Realität oder politischer Utopie<br />

(Literatur des <strong>Vor</strong>märz). Die künstlerische Formung dient der <strong>„</strong>Wahrheit" als in der Vielfalt<br />

der Erscheinungen enthaltene Ordnung. Für dieses Realismus-Verständnis wurden die<br />

Bezeichnungen <strong>„</strong>Poetischer Realismus" und <strong>„</strong>Idealrealismus" geprägt.<br />

REALISMUS<br />

<strong>„</strong>[...] <strong>Vor</strong> <strong>allen</strong> <strong>Dingen</strong> <strong>verstehen</strong> <strong>wir</strong> <strong>nicht</strong> <strong>darunter</strong> <strong>das</strong> nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens,<br />

am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. Traurig genug, <strong>das</strong>s es nötig ist, derlei sich<br />

von selbst <strong>verstehen</strong>de Dinge noch erst versichern zu müssen. Aber es ist noch <strong>nicht</strong> allzu lange her,<br />

<strong>das</strong>s man (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines<br />

sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder gar bei Produktionen jener so<br />

genannten Tendenzbilder 1 (schlesische Weber, <strong>das</strong> Jagdrecht u. dgl. m.) sich einbildet, der Kunst<br />

eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben. Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus<br />

wie <strong>das</strong> rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt. Wohl ist <strong>das</strong> Motto des Realismus der<br />

Goethesche Zuruf:<br />

Greif nur hinein ins volle Menschenleben,<br />

Wo du es packst, da ist's interessant 2 .<br />

Aber freilich, die Hand, die diesen Griff tut, muss eine künstlerische sein. Das Leben ist doch<br />

immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie<br />

schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu<br />

erwecken. Der Block an sich, nur herausgerissen aus einem größeren Ganzen, ist noch kein<br />

Kunstwerk, und dennoch haben <strong>wir</strong> die Erkenntnis als einen unbedingten Fortschritt zu begrüßen,<br />

<strong>das</strong>s es zunächst des Stoffes, oder sagen <strong>wir</strong> lieber des Wirklichen, zu allem künstlerischen Schaffen<br />

bedarf. [...]<br />

Wenn <strong>wir</strong> in <strong>Vor</strong>stehendem - mit Ausnahme eines einzigen Kernspruchs - uns lediglich negativ<br />

verhalten und überwiegend hervorgehoben haben, was der Realismus <strong>nicht</strong> ist, so geben <strong>wir</strong><br />

nunmehr unsere Ansicht über <strong>das</strong>, was er ist, mit kurzen Worten dahin ab:<br />

Er ist die Widerspiegelung alles <strong>wir</strong>klichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente<br />

der Kunst; er ist, wenn man uns diese scherzhafte Wendung verzeiht, eine ‘Interessenvertretung’ auf<br />

seine Art. Er umfängt <strong>das</strong> ganze reiche Leben, <strong>das</strong>s Größte wie <strong>das</strong> Kleinste: den Kolumbus, der<br />

der Welt eine neue zum Geschenk machte, und <strong>das</strong> Wassertierchen, dessen Weltall der Tropfen ist;<br />

den höchsten Gedanken, die tiefste Empfindung zieht er in seinen Bereich, und die Grübeleien eines<br />

Goethe wie Lust und Leid eines Gretchen sind sein Stoff. Denn alles <strong>das</strong> ist <strong>wir</strong>klich. Der Realismus<br />

will <strong>nicht</strong> die bloße Sinnenwelt und <strong>nicht</strong>s als diese; er will am allerwenigsten <strong>das</strong> bloß<br />

Handgreifliche, aber er will <strong>das</strong> Wahre. Er schließt <strong>nicht</strong>s aus als die Lüge, <strong>das</strong> Forcierte, <strong>das</strong><br />

Nebelhafte, <strong>das</strong> Abgestorbene - [...] er lässt die Toten oder doch wenigstens <strong>das</strong> Tote ruhen; er<br />

1 Fontane denkt etwa an Mitglieder der <strong>„</strong>Düsseldorfer Schule", vor allem an Karl Wilhelm Hübner; von<br />

ihm stammen die erwähnten Gemälde: Eine Darstellung schlesischer Weber bei der Ablieferung von<br />

Leinwand im Haus eines Fabrikanten (1844, zwei Monate vor dem schlesischen Weberaufstand<br />

vollendet und noch im selben Jahr von Friedrich Engels in seinem Aufsatz <strong>„</strong>Rascher Fortschritt des<br />

Kommunismus in Deutschland" gewürdigt) und <strong>„</strong>Das Jagdrecht" (1845), auf dem ein junger Bauer mit<br />

seinem tödlich getroffenen Vater Zuflucht in einer Kapelle sucht; ein Förster im Hintergrund und ein<br />

von den Bauern erlegtes Wildschwein, <strong>das</strong> ihr Kornfeld verwüstet hat, deuten den<br />

Handlungszusammenhang an (<strong>„</strong>Die ganze Darstellung ist ein Schrei des Entsetzens, ein Ruf nach<br />

blutiger Rache", schrieb die <strong>„</strong>Düsseldorfer Zeitung" in ihrer Rezension des Gemäldes).<br />

2 Zitat aus dem <strong>„</strong><strong>Vor</strong>spiel auf dem Theater" in Goethes 'Faust. Der Tragödie erster Teil' (1808).


durchstöbert keine Rumpelkammern und verehrt Antiquitäten nie und nimmer, wenn sie <strong>nicht</strong>s<br />

anderes sind als eben - alt. Er liebt <strong>das</strong> Leben je frischer je besser, aber freilich weiß er auch, <strong>das</strong>s<br />

unter den Trümmern halb vergessener Jahrhunderte manche unsterbliche Blume blüht. [...]“<br />

[Aus: Chr. Wetzel: Textband Literaturgeschichte kurz gefasst, Stuttgart 1990, S. 66]

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