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ERWACHSEN WERDEN UND BEHINDERUNG –<br />

BRÜCHE UND BEZÜGE<br />

CATHERINE AGTHE-DISERENS / MICHEL MERCIER<br />

Der folgende Text nimmt Überlegungen eines Gesprächs auf, das wir mit Eltern und<br />

Fachleuten in der Arbeitsgruppe "Loslassen" der Bieler Tagung 2001 führten. Die von<br />

insieme organisierte Tagung trug den Titel: Fast eine ganz normale Familie.<br />

Wir hatten als Leiterin und Leiter der Arbeitsgruppe für den Einstieg Brüche definiert, auf die<br />

Jugendliche mit einer geistigen Behinderung und ihre Umgebung gefasst sein sollten,<br />

besonders dann, wenn ein Eintritt in eine Institution bevorsteht. Als Vorgehen schlugen wir<br />

den anwesenden Eltern und Fachleuten vor, Orientierungen und Bezugspunkte zu<br />

erarbeiten, welche die unvermeidlichen Brüche beim Erwachsenwerden besser markieren:<br />

Die Bezugspunkte bringen die gesellschaftlichen und individuellen Vorstellungen von<br />

Sexualität und Behinderung ins Spiel, denen unbedingt Rechnung getragen werden muss<br />

(Michel Mercier : « Représentations sociales du handicap mental », Approches<br />

Interculturelles en Déficience Mentale, tome 1/ Presses Universitaires de Namur, Belgique<br />

1999).<br />

Auf diese Weise entstand das Projekt, einen Leitfaden für das Erwachsenwerden zu<br />

entwickeln. Er soll den verschiedenen Beteiligten helfen, sich klar zu verhalten und dabei<br />

sowohl dem persönlichen wie dem gesellschaftlichen Aspekt einer Person Rechnung zu<br />

tragen. Mit diesem Vorhaben werden den Heranwachsenden die Besonderheiten der<br />

seelischen und sexuellen Entwicklung zugestanden und erhält die geistige Behinderung<br />

soziale Anerkennung.<br />

ERWACHSEN WERDEN, EINE PHASE DES ÜBERGANGS<br />

Wenn wir uns mit dem Leben junger Menschen mit einer geistigen Behinderung<br />

beschäftigen, die ihre Kindheit abschliessen und sich auf das Erwachsenensein vorbereiten<br />

müssen, blicken wir zwangsläufig gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Zukunft. Ein<br />

anstrengender Vorgang, der von allen Innovation, Kreativität und Anpassung verlangt:<br />

Genau das, was auch die betroffenen jungen Menschen leben müssen.<br />

Das Erwachsenwerden ist das Alter "dazwischen" und hat seine Eigenheiten. Jungendliche<br />

mit einer geistigen Behinderung drücken dies folgendermassen aus:<br />

• Jérôme, Down Syndrom, 18 Jahre, zu seinen Eltern: "Ich will wie meine Freunde aus<br />

der Werkstatt im Wohnheim leben."<br />

Schweizerische Vereinigung der Elternvereine für Menschen mit einer geistigen Behinderung<br />

Postfach 6819 - 3001 Bern - Tel. 031 305 13 13 - Fax 031 305 13 14 - e-mail: sekretariat@insieme.ch - www.insieme.ch - Spenden PC 25-15000-6


• Adela, 15 Jahre, mit Missbildungen, fragt jeden Morgen bei der Toilette ihre<br />

Betreuerin: "Warum willst nicht, dass ich mich schminke?"<br />

• Marianne, mit einer schweren Behinderung, 16 Jahre: Sie weint verzweifelt, wenn sie<br />

ihre Regel hat, unternimmt nichts mehr und schliesst sich von der Umwelt ab.<br />

• Ein Vater: "Clara, 14 Jahre, setzt sich seit ihrer frühesten Kindheit allen auf die Knie.<br />

Ich ertrage es nicht mehr, wenn sie sich so andern gegenüber verhält. Ihretwegen<br />

und meinetwegen nicht."<br />

• René, 13 Jahre, zu seinem Betreuer: "Wann werde ich ganz allein entscheiden<br />

können, was ich esse?"<br />

• Adrien, 16 Jahre: "Man sagt mir, ich dürfe nicht mehr küssen, weil ich gross sei.<br />

Warum?"<br />

Aber auch:<br />

- Victor Hugo: "Die Jugend ist der heikelste Übergang"<br />

- Gérard Mauger: "Weder Kind noch Erwachsener"<br />

Kein Kind mehr sein und noch nicht erwachsen.... und dennoch alles auf einmal: Kind und<br />

erwachsen.<br />

Diese Zweideutigkeit, die wir alle erleben, wird besonders verwickelt, wenn wir die<br />

Aufmerksamkeit auf junge Menschen mit einer geistigen Behinderung richten. Der Grund<br />

dafür liegt nicht so sehr darin, dass sie ganz anders erwachsen werden. Vielmehr bewirken<br />

unsere gesellschaftlichen Vorstellungen, dass wir aus Angst vor ihrem Erwachsenwerden die<br />

sich verändernden Körper und Seelen leugnen oder sie dramatisieren. Unsere Widerstände,<br />

die übrigens sehr menschlich sind, haben ihren Ursprung im Tabu der Sexualität. Aber sie<br />

stammen auch aus einem wirklichen und offensicht-lichen Widerspruch zwischen den<br />

erwachsen gewordenen Körper und dem kindlich gebliebenen Denken.<br />

Ein Bilderbogen von Epinal illustriert in einer Darstellung aus dem 19. Jahrhundert "die<br />

Grade des Alters" von der Kindheit bis zur Vergreisung: Die Jugend belegt das Alter von 10<br />

bis 20 Jahren und ist durch ein junges Mädchen versinnbildlicht, das eine Puppe in der Hand<br />

hält, Spielzeug und Symbol der Müttelichkeit in einem.<br />

Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung Bezugspunkte zu geben bedeutet, ihre<br />

Sexualität und ihr gesellschaftliches Leben zu humanisieren und zu normalisieren. Dennoch<br />

müssen wir anerkennen, dass der Entwurf eines Erwachsenenzustandes einerseits durch die<br />

intellektuellen Einschränkungen, andererseits durch die Haltungen, die wir ihnen<br />

gesellschaftlich zuschreiben und die sie zu Kindern machen, begrenzt ist.<br />

BRUCHSTELLEN UND BEZUGPUNKTE<br />

Nach Françoise Dolto, ist die Jugend "der Tod der Kindheit".<br />

Sie bedeutet also für alle Jugendlichen und auch für ihre Eltern einen Verzicht und einen<br />

Bruch. Der Verzicht führt zu einer Neuverteilung der Regeln, einer Neudefiniftion der<br />

Beziehung zur Umwelt. Die Bezugspunkte kennzeichnen den Weg, der zurückgelegt werden<br />

muss.<br />

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• Jugendliche mit einer geistigen Behinderung brauchen in dieser Phase der<br />

Verstörung angepasste Bezugspunkte, die das Erwachsenwerden zeitlich<br />

strukturieren und ihm Anerkennung vermitteln, trotz der Beeinträchtigungen, die mit<br />

der Behinderung verbunden sind.<br />

• Die Bezugspunkte helfen den Eltern und Fachleuten, ihre Interventionen nicht allein<br />

auf guten Willen und auf die Willkür ihrer subjektiven Interpretationen zu<br />

beschränken.<br />

Ein Bezugspunkt ist ein Hinweis, der es erlaubt, sich zu situieren.<br />

Ein Vorbehalt ist anzubringen: Im Bereich der geistigen Behinderung wird man Jugendliche<br />

nicht wirklich als werdende Erwachsene anerkennen, indem man eine gewisse Anzahl<br />

Bezüge bezeichnet: Der Bezug führt nicht zwangläufig zur Anerkennung.<br />

Ausserdem gibt es keine Liste mit "guten" Bezügen, die ein für alle Mal und überall gelten,<br />

sowohl in der Familie wie in den verschiedenen Einrichtungen. Die Bezüge sind eng mit den<br />

Menschen verbunden, die an einem Ort leben, und ihrer Kultur. Viele Bezüge werden für die<br />

Gemeinschaft gelten, andere nur individuel bestehen. Die Zeit des Erwachsenwerdens<br />

verläuft im Bereich der geistigen Behinderung nicht linear: Die Anzeichen verdichten sich,<br />

bilden ein Gewebe, in dem sich nach und nach die Persönlichkeit abzeichnet: schöpferisch<br />

oder verkniffen, fügsam oder streng, selbständig oder abhängig. Diese Entwicklungen sind<br />

jeder Persönlichkeit eigen, da sie vom persönlichen und durch die Behinderung geprägten<br />

Erleben bedingt sind.<br />

INDIVIDUELLE UND INTIME BEZÜGE, KOLLEKTIVE UND ÖFFENTLICHE BEZÜGE<br />

Im individuellen, privaten, intimen Bereich bewirken die Bezüge Bewusstwerdung,<br />

Anerkennung und Akzeptanz in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Eintreten der<br />

Regel und der erste Samenerguss bilden Brüche in der Entwicklung, aber sie sind auch<br />

Bezugspunkte der Ver-änderung: Man kann sie durch Worte oder manchmal auch durch<br />

eine symbolische Handlung unterstreichen, z.B. Informationen geben, die Veränderung<br />

wertschätzen, eine Blume oder etwas anderes schenken.<br />

Der Kauf der ersten Binden könnte wie ein Ereignis verstanden werden, auf das eine junge<br />

Frau stolz sein kann.<br />

Bezüge deutlich herauszustellen liefert auch Antworten auf den zaghaften oder<br />

provozierenden Drang, zu gefallen und nachzuahmen.<br />

All dies dient dazu, den Unterschied zwischen dem Status der Kindheit, den man verlässt,<br />

und dem Status des Erwachsenen, den man nach und nach zu leben beginnt, zu markieren,<br />

Anerkennung auszudrücken und Sicherheit zu vermitteln.<br />

Im kollektiven Bereich sind die Bezüge öffentlich und können in institutionalisierter Form<br />

vorkommen. Es handelt sich zum Beispiel darum, Anlässe zu organsieren (Essen,<br />

Theaterauffüh-run-gen, Feste), die die verschiedenen PartnerInnen in einer Institution<br />

ansprechen, aber auch externe Partner wie die Eltern und die Familie.<br />

Einige Bezüge könnten sich im engeren Alltag der Wohnruppe abspielen, andere im weiteren<br />

institutionellen und gesellschaftlichen Umfeld. Oft sind dies dann anerkannte Festlichkeiten,<br />

die einen Bruch markieren: z.B. die Akzeptanz verschiedener Entwicklungen, neuer Gefühle<br />

und zwischenmenschlicher Beziehungen, die Gestalt anzunehmen beginnen.<br />

Diese Funktion haben auch Bezüge in Form von Ritualen:<br />

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Z.B. Crêpes machen, wenn bei einem Mädchen die Regel beginnt! Einen Tanzabend<br />

organisieren, um das Erreichen der sexuellen Reife deutlich zu machen. Ein "Zertifikat der<br />

sexuellen Mündigkeit" mit einem Foto verleihen (16 Jahre), später ein "Zertifikat der Reife"<br />

(18 Jahre), das die neuen Rechte und Pflichten festhält. Z.B. Verlobungen feiern, um das<br />

Leben als Paar zu kennzeichnen.<br />

Und schliesslich ist es im Hinblick auf die gesellschaftliche Anerkennung wichtig, einige<br />

Bezüge ausserhalb der Institution zu entfalten:<br />

Der Besuch einer Familienplanungsstelle oder ein Gespräch mit einer Gynäkologin über den<br />

Körper oder Empfängnisverhütung markieren z.B. das Frauwerden ganz anders, als wenn<br />

der Arzt der Institution konsultiert wird.<br />

VERSCHIEDENE EBENEN VON BEZÜGEN<br />

Bezüge zeigen sich manchmal als einfache Hinweise auf Brüche, die eine sorgfältige<br />

Entzifferung verlangen: Zum Beispiel zeigt man Francine am ersten Tag der Regel, wie man<br />

die Binden benutzt. Aurélien und Carole lieben sich und man akzpetiert, dass sie ihre Liebe<br />

zeigen.<br />

Für alle drei gilt: Man zeigt Toleranz, aber man spricht wenig darüber.<br />

Bezüge können Instrumente der gesellschaftlichen Anerkennung sein: Z. B. "Francine, von<br />

heute an anerkennen wir dich als Frau in deinem Körper." Aurélien und Carole werden als<br />

Liebespaar anerkannt. Man bietet ihnen die Möglichkeit, darüber zu sprechen, wenn sie es<br />

möchten, oder gemeinsam am gleichen Tisch zu essen usw. Für alle drei gilt: Man anerkennt<br />

sie, und man spricht darüber.<br />

Bezüge können Instrumente der gesellschaftlichen Akzeptanz in Form von Ritualen sein. Z.<br />

B. "Francine, wenn du möchtest, machen wir Crêpes für dich und organisieren ein kleine<br />

Fest, um diesen wichtigen Tag zu begehen." Um ihre in der Institution anerkannte<br />

Paarbeziehung zu feiern, kaufen sich Aurélien und Carole Ringe.<br />

Für alle drei gilt: Man akzeptiert ausdrücklich, und man markiert dies durch ein Ritual.<br />

BEZUGSPUNKTE FÜR DREI GROSSE BRÜCHE<br />

"Die Kindheit verlassen"<br />

Das ist ein wichtiger Bruch in diesen Unbruch-Jahren: Das Mädchen, der Junge mit einer<br />

geistigen Behinderung erfährt, wie sein runder und zarter Kinderköper mit seinen spontanen<br />

Regungen und unbekümmerten Entdeckungen dicker wird, sein Gesicht markantere Züge<br />

annimmt (besonders bei den Behinderungen, deren Merkmale deutlicher werden) und seine<br />

Gesten nicht mehr gleich toleriert werden.<br />

Bezugspunkte:<br />

• Fortlaufende Information in Form spezialisierter Sexualerziehung über die<br />

Veränderungen des Körpers, seine unerwarteten Ausdruckformen und über<br />

Gefühlsregungen.<br />

• Erziehung zur Intimität im Alltag durch Betreuungspersonen, die für die Thematik<br />

sensiblisiert sind (s. «Vom Herzen zum Körper, Bilden wir uns ... und dann bilden wir<br />

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sie!" Ausbildungsprogramm für Erziehungsfachleute, SonderpädagogInnen,<br />

Pflegefachleute und Therapeutinnen. Catherine Agthe Diserens und Françoise<br />

Vatré). : Die neu vorzunehmende Pflege des Körpers soll den Jugendlichen zugleich<br />

ein Schamgefühl bewusst machen. Man muss sie zum Beispiel ermutigen, immer in<br />

den Bademantel zu schlüpfen, die Türe des Badezimmers und der Toilette zu<br />

schiessen usw.<br />

• Sensibilisierung für die Freude an der Veränderung des Äusssern durch Kleidung,<br />

indem man z.B. in der Institution eine Modeschau oder eine Anprobe organisiert oder<br />

auch indem man Kleider, die Jugendlichen gefallen, auswählt.<br />

• Eintragung in die Familiengenealogie, um sich der Zugehörigkeit, Verpflichtungen<br />

und der Vergänglichkeit bewusst zu werden.<br />

• Die Freundschaften wertschätzen, wie auch immer sie sind, und die stärkere sexuelle<br />

Anziehungskraft anerkennen, auch wenn manchmal der Eindruck einer gewissen<br />

Homosexualität entsteht.<br />

• Erfahrungen sexueller Neugierde, die in diesem Lebensalter normal sind, in Worte<br />

fassen, wobei sie dafür sensibilisiert werden, den Körper des anderen und seinen<br />

Willen zu respektieren.<br />

• Für die behinderungsbedingten Grenzen sensibilisieren, ohne alle Träume zu<br />

zerstören!<br />

Eine Orientierung in Form eines Rituals könnte der Kauf eines Buches über Sexualerziehung<br />

sein, selbst wenn die Texte und die anatomischen Zeichnung nur teilweise verstanden<br />

werden.<br />

«DIE PUBERTÄT ERLEBEN!»<br />

Ein entscheidender Bruch findet statt, wenn die erste Regel und der erste Samenerguss<br />

auftreten: Die Pubertät gibt dem Menschen ein Geschlecht! Bei Menschen mit einer<br />

geistigen Behinderung konkretisieren sich dann die legitimen Befürchtungen des Umfeldes in<br />

Bezug auf die reproduktive Zweckbe-stim-mung der Sexualität.<br />

Wegen der Ängste und Unsicherheiten stellen wir einen doppelten Bruch fest:<br />

der erste vom Kind zur heranwachsenden Person<br />

der zweite, von der heranwachsenden Person .... wieder zum Kind!<br />

Trotz der "undenkbaren Fortpflanzung", trotz des unvollständigen Erwachsenenseins<br />

müssen wir echte Bezüge erfinden, um die Gefühlsenwicklung und die Beziehungswünsche<br />

der Personen mit Behinderungen anzuerkennen und zu akzeptieren, auch die unbeholfenen.<br />

Die Bezugspunkte werden dazu beitragen, den erwachsen werdenden Körper trotz der<br />

intellektuellen Grenzen und der infantilisierenden gesellschaftlichen Vorstellungen<br />

anzuerkennen.<br />

Bezugspunkte:<br />

• Fortsetzung der Informationen über den Körper, das Blut der Menstruation (das nicht<br />

das gleiche ist wie bei einer Wunde), das Sperma (das sauber ist und Zeichen guter<br />

Gesundheit!) usw. ... über die Ängste vor dem eigenen Körper und dem der anderen,<br />

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über Verhütung, Gefühle der Freundschaft und der Verliebtheit, Heiratsträume<br />

(manchmal sogar über den Kinderwunsch), die Lust und die Angst davor, die Eltern<br />

zu verlassen usw.<br />

• Kurse zur Sexualerziehung einführen, individuell oder in Gruppen (gemischt oder<br />

nicht), durchgeführt von gefühlsmässig neutralen Personen.<br />

• Arbeiten am Selbstbild, an der Vorstellung vom Körper, indem Hinweise auf die<br />

Körperhaltung (sitzen mit gespreizten Beinen) und die Hygiene gemacht werden.<br />

• Die seltenen Wünsche akzeptieren, modisch in zu sein, z. B. mit Piercings, Tatoos,<br />

Schminke und Frisuren, die wegen Missbildungen durch die Behinderung selten<br />

gestattet werden .<br />

• Den Wert neuer Seelenzustände oder neuer identitätsstiftender Verhalten<br />

anerkennen.<br />

• Die Person bei Wahl der zuständigen Betreuungsperson beiziehen, damit sie ihre<br />

Meinung sagen kann.<br />

• Die sexuelle Mündigkeit unterstreichen, indem über die neuen Rechte, aber auch<br />

über die neuen Pflichten informiert und die Regeln der Institution in Erinnerung<br />

gerufen werden.<br />

Auch hier können Rituale eingeführt werden, z.B. den Valentinstag feiern, eine Blume<br />

schenken beim ersten Tag der Regel, ein "Zertifikat der sexuellen Mündigkeit mit einem<br />

Photo übergeben.<br />

«ERWACHSEN WERDEN?»<br />

Der hoffnungsvolle Wunsch, sich zu emanzipieren und persönliche Bestätigung zu finden<br />

lebt vielleicht im Innern einer Person, aber oft wird er gebremst, manchmal sogar ganz<br />

unterdrückt:<br />

- durch behinderungsbedingte Einschränkungen, z.B. wenn die Ausdrucksmittel begrenzt<br />

sind,<br />

- durch die Vorstellungen, die Personen des Umfelds von Behinderung und Sexualität haben,<br />

- durch das institutionelle Leben.<br />

Das Wissen um die Grenzen erhöht unsere Ängste und zementiert unsere Abwehr: statt<br />

loszulassen verdoppeln wir unsere Wachsamkeit und organisieren mehr Schutz. Als ob<br />

Jugendliche mit einer geistigen Behinderung gross werden, Fortschritte machen und sich in<br />

die Gesellschaft integrieren sollten, ohne Wellen zu werfen und sich bemerkbar zu machen.<br />

Neue Brüche treten auf: Obwohl die Erziehungsfachleute bestrebt sind, die Integration junger<br />

Erwachsener mit einer Behinderung zu fördern, können deren gewöhnlichen Bekundungen<br />

sexueller oder emotionaler Bedürfnisse oft nicht Rechnung getragen werden, weil ihre<br />

Sexualität zu wenig sozialisiert ist.<br />

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Bereits beschriebene und neue Bezugspunkte:<br />

• Fortsetzung der Informationen zum Körper, zur Verhütung, zu Freundschaft und<br />

Liebe, zur Gefahr des sexuellen Missbrauchs unter Gleichen, zu Aids,<br />

Paarbeziehung, Treue, zum Zölibat, zum Kinderwunsch, zu den<br />

behinderungsbedingten Unmöglichkeiten usw.<br />

• Lernen, zu unterscheiden zwischen erträumten oder erwiderten Liebeswünschen<br />

zwischen Personen mit einer Behinderung und solchen, die sich auf<br />

Betreuungspersonen beziehen.<br />

• Den Wunsch nach einer Partnerschaft begleiten, ohne ihn zu leugnen oder ihn um<br />

jeden Preis zu wecken.<br />

• Anerkennen, dass die Suche nach körperlicher Zärtlichkeit gerechtfertigt ist, dabei<br />

sowohl den Respekt vor dem Partner betonen wie darauf achten, dass übertriebene<br />

Verbote des Umfelds gelockert werden.<br />

• Die Gefühlsbekundungen und sexuellen Äusserungen, die dem Wohlbefinden aller<br />

Beteiligten entsprechen, aufwerten, sei es nun im privaten oder im öffentlichen Raum<br />

oder zwischen Personen des gleichen Geschlechts.<br />

• Änderungen in der Verwaltung des Geldes und im Freizeitbereich unterstreichen<br />

• Die Beziehungen zur Familie und zu den Betreuungspersonen bereichern, indem<br />

Verantwortung oder Rollen übertragen werden wie z.B Pate oder Patin werden, sich<br />

in der Institution um die Jüngeren kümmern.<br />

• Die Intimität bei Postsachen, Telefongesprächen, Treffen unter Freunden<br />

respektieren. Wenn möglich einen Zimmerschlüssel übergeben.<br />

• In bestimmten Zusammenhängen oder Situationen das Siezen einführen, die Anrede<br />

"Frau", "Herr", die Hände schütteln statt Küsschen geben, die Zeichen der Zärtlichkeit<br />

an die köperlichen Veränderungen anpassen.<br />

Auch hier können Bezugspunkte in Form von Ritualen eingeführt werden:<br />

• Ein Zertifikat der Mündigkeit oder Reife vergeben, das der Leiter der Institution<br />

überreicht. Evtl. auch ein kleines symbolisches Erinnerungsgeschenk.<br />

• Ein Fest zur Verlobungsfeier einführen.<br />

• Tanzabende organisieren, an denen sich die Betreuungspersonen diskret<br />

verabschieden.<br />

• Den Austausch und die Interaktionen zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern<br />

anderer Einrichtungen fördern, um das Netz für Begegnungen zu erweiteren.<br />

ELTERN UND FACHLEUTE: ANDERE BEZUGSPUNKTE<br />

Wie für die Jugendlichen selbst sind bei jeder Etappe, die durch Brüche gekennzeichnet ist<br />

auch für die Eltern und Fachleute Bezüge möglich:<br />

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Für die Eltern:<br />

• Thematische Diskussionsabende oder Treffen nur mit Eltern von Mädchen oder von<br />

Knaben zu Verhütung, Sterilisation, die Gefahr des sexuellen Missbrauchs,<br />

Selbstbefriedigung, Liebesbeziehungen, Kinderwunsch usw.<br />

• Der familiäre und der persönliche Entwicklung des Jugendlichen machen eine<br />

Verständigung über Werte und Gefühle nötig. Deshalb braucht es Zeit für die Co-<br />

Bildung von Eltern und Fach-leuten in Hinblick auf die neuen Bedürfnisse der<br />

Heranwachsenden und der neuen Ängste, die diese Bedürfnisse wecken können.<br />

• Eine aktive Teilnahme an der Ausarbeitung von Leitbildern oder<br />

Grundlagendokumenten, die das Machbare und das Wünschbare im Gefühlsleben,<br />

im Intimbereich und im Sexualleben während des Erwachsenwerdens beschreiben.<br />

Für die Fachleute:<br />

• Weiterbildungen besuchen, die die heilkle Auswirkungen thematisieren, die mit der<br />

Rolle als Dritter in der Pflege, im Gefühlsbereich, im Intim- und Sexualleben von<br />

Heranwaschenden verbunden sind.<br />

• Von den Orten und Zeiten zum Nachdenken und Reden profitieren, die am Arbeitsort<br />

vorhanden sind, um die erwähnten Themen anzusprechen.<br />

• An der Erarbeitung einer Charta der Institution mitarbeiten, die die Regeln des<br />

Zusammenlebens für die dort wohnenden Heranwachsenden und junge Erwachsene<br />

festhält.<br />

Einfache Verhaltensregeln für Fachleute in Bezug auf Liebesbeziehungen und Verliebtheiten<br />

der jungen Menschen mit Behinderung einführen. Der Beizug einer Supervisorin/eines<br />

Supervisors oder einer Mediatorin/eines Mediators können sich manchmal günstig<br />

auswirken.<br />

"Vie d’ado, Vue de face": Erwachsen werden ernst genommen<br />

Wir können feststellen, das einige Regeln der sexuellen Sozialisation in Bezugspunkte und<br />

Übergangsrituale übersetzt werden können. Es liegt an uns, Wege zu finden, wie wir sie trotz<br />

der behinderungs-bedingten Hindernisse in die Phase des Erwachsenwerdens einführen<br />

können. Wir müssen ferner die Rollen verteilen: Wer ergreift die Initiative, wer handelt.<br />

Diese Erkenntnis führte zur Entwicklung eines Leitfadens, der eine Reihe von<br />

Bezugspunkten und Ritualen für den Alltag in der Familie und in der Institution vorschlägt,<br />

mit dem Ziel, die Brüche des Erwachsenwerdens und den Übergang in die Institution besser<br />

erleben zu lassen.<br />

Dieser Leitfaden heisst "Vie d’ado, Vue de face" (Erwachsen werden ernst genommen) und<br />

liegt zur Zeit als Prototyp in französischer Sprache vor. In Zusammenarbeit mit Eltern,<br />

Fachleuten und Menschen mit geistiger Behinderung wird er noch verändert und<br />

vervollständigt.<br />

Die Bezugspunkte sollen es uns ermöglichen, Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung<br />

ihren Platz als Subjekte einzuräumen.<br />

Sind wir Erwachsen fähig, sie als Heranwachsende ernst zu nehmen?<br />

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