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NICOLETA<br />
Und das Geheimnis vom<br />
verschwundenen Spielzeug<br />
Susanna Isern<br />
Paco Hernández Cuadal
INHALT<br />
Die Schwalben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
Der Eindringling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />
Andrea hat Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />
Das verschwundene Spielzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />
Der GEK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />
Die Spioninnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />
Bestraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />
Die Gespensternacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />
Die Spinne kommt! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />
Das Geheimnis wird gelüftet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97<br />
Nachwort . Herr Igel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Die Schwalben<br />
„Die Wolken sind geheimnisvoll.<br />
Sie verbergen Geheimnisse hinter ihren sich ständig<br />
verändernden Formen und sie verhüllen die Träume, die<br />
zu ihnen fliegen“, träumte Nicoleta mit offenen Augen,<br />
während sie in sich gekehrt durchs Fenster schaute.<br />
Missi hingegen schlief tief und fest. Das Rattern<br />
des Zuges und die Wärme der Sonnenstrahlen, die<br />
durch die Gardinen schienen, waren geradezu perfekt<br />
für einen Mittagsschlaf.<br />
Missi war ein neugieriges Kätzchen, das in seiner<br />
Tasche Nicoleta überall hin begleitete. Es war so klein<br />
und geschickt, dass es sich praktisch in allen Löchern<br />
verstecken konnte. Und es konnte so gut riechen, dass es
eine Menge von Gerüchen mit einer einzigen Schnurrbartbewegung<br />
erkennen konnte.<br />
Schau nur, Missi, wach endlich auf!, rief Nicoleta<br />
plötzlich und weckte ihr Kätzchen jäh auf.<br />
„Miau, miau (Was ist los)?“, miaute Missi, der noch<br />
immer der Schrecken im Körper saß.<br />
„Diese rosa Wolke sieht genauso wie du aus!“, versicherte<br />
Nicoleta, die noch immer ganz erstaunt über<br />
ihre Entdeckung war.<br />
Aber das Kätzchen war so müde, dass es, als das<br />
Mädchen den Satz zu Ende gebracht hatte, gleich wieder<br />
auf ihrem Sitz zu schnarchen begann.<br />
Seitdem ihre Wege sich gekreuzt hatten, sind Missi<br />
und Nicoleta unzertrennlich. Gleich auf den ersten<br />
Blick hatten sie eine ganz besondere Beziehung zueinander.<br />
Deshalb, und obwohl Missi genauso miaute wie<br />
der Rest ihrer Artgenossen, gab Nicoleta sich besondere<br />
Mühe, bis sie letztlich ihr „miau, miau“ entschlüsseln<br />
konnte.<br />
„Schau nur, Missi, eine Schwalbe!“, rief Nicoleta<br />
erneut.<br />
Das Kätzchen, das dieses Mal die Lektion gelernt<br />
hatte, blieb unerschüttert.<br />
Nicoleta fand es herrlich zu beobachten, wie die<br />
Schwalben durch die Lüfte jagen. Sie fühlte sich wie sie,<br />
denn es waren freie, das Abenteuer liebende Vögel, die
stets auf der Reise waren. Ihre Silhouette waren für sie zu<br />
einem Symbol geworden, mit dem sie all ihre Kleidungsstücke<br />
bestickte. Ihre Beziehung zu diesem Vogel war zufällig<br />
entstanden, aber schon nach kurzer Zeit hatte er<br />
eine besondere Bedeutung in ihrem Leben erlangt.<br />
Nicoleta träumte davon, eine berühmte Journalistin<br />
zu werden und durch die ganze Welt zu reisen. Deshalb<br />
hatte sie schon vor einigen Monaten begonnen, eine<br />
Zeitung herauszugeben, die sie „Die Schwalbe“ nannte.<br />
Dort berichtete sie von dem, was sie bewegte und von<br />
ihren unglaublichen Erlebnissen, die sie so beschrieb,<br />
als handele es sich um eine echte Zeitungsreportage.<br />
„Die Schwalbe“ weckte schon bald das Interesse von<br />
Nicoletas Freunden, die zu ihren ersten treuen Lesern wurden.<br />
So entstand der „Schwalbenclub“, der immer größer<br />
wurde. Um sich diesem Zirkel anzuschließen und die Geheimnisse<br />
der Zeitung kennenzulernen, hatte Nicoleta sich<br />
eine Prüfung ausgedacht. Eine Prüfung, die nur die echten<br />
Clubmitglieder bestehen konnten. „Hilfst du gern anderen<br />
Menschen“, „Kannst du ein Geheimnis bei dir behalten?“,<br />
„Was tust du, wenn du vor einem Geheimnis stehst, das es<br />
zu lösen gilt?“, waren einige der Prüfungsfragen.<br />
Für ihre Treffen und um miteinander zu reden,<br />
hatten Nicoleta und ihre Freunde ein Baumhaus gebaut.<br />
Dort las Nicoleta die neuesten Nachrichten aus „Die<br />
Schwalbe“, sie berieten sich gegenseitig und erzählten
sich die best gehüteten Geheimnisse. Außerdem hatte<br />
der Baumstamm ein Loch, das sie als Briefkasten benutzten,<br />
in den sie Briefe warfen, die die anderen lesen<br />
konnten. Bevor sie in den Urlaub fuhr, hatte Nicoleta<br />
einen Abschiedsbrief geschrieben:<br />
Liebe Schwalbenfreunde,<br />
Nach einem bewegten Schuljahr voll Spannung und<br />
Abenteuern werde ich die Ferien bei meiner Großmutter<br />
Ellie verbringen. Meine Oma wohnt in einem Haus auf dem<br />
Land, nicht weit von einem Dorf an der Küste entfernt.<br />
Der ideale Ort zum Ausspannen und um viele Bücher<br />
zu lesen. Nach meiner Rückkehr werde ich noch mehr<br />
Energie haben, mich neuen Herausforderungen zu stellen<br />
und neue Geheimnisse zu lösen.<br />
Wir sehen uns, wenn ich wieder da bin. Ich wünsche euch<br />
allen einen schönen Urlaub und einen meilenweiten Flug!<br />
Tausend Küsse,.<br />
Eure Nicoleta
„Wach auf, Missi! Jetzt aber los! Wir sind gerade<br />
im Dorf angekommen!“, rief Nicoleta und sprang von<br />
ihrem Sitz hoch.<br />
Auf dem Bahnhofsgleis erwartete sie ihre Großmutter<br />
Ellie bereits mit ausgebreiteten Armen. „Meine<br />
Kleine, wie sehr ich dich vermisst habe!“, rief sie und<br />
umarmte sie.<br />
Oma Ellie war klein und flink, vor allem wenn<br />
man ihr Alter berücksichtigte. Ihre weißen Haare waren<br />
mit Haarnadeln zu einem Dutt hochgesteckt. Sie trug<br />
immer wadenlange Röcke und einfarbige Blusen. Aber<br />
am auffälligsten war ihre rote Hornbrille, die in ihrem<br />
Gesicht leuchtete. Nicoleta fand sie herrlich. Übrigens<br />
hatte sie sie selbst ausgesucht.<br />
Die Großmutter hatte einen alten Fiat 500, mit<br />
dem sie rasend schnell durch die Gegend brauste.<br />
Als sie im Dorf ankamen und die Hupe ertönte,<br />
gingen alle vorsichtshalber aus dem Weg. Beim<br />
Parken konnte sie es nie vermeiden, mit dem Auto<br />
vorn und hinten irgendwo anzustoßen. Oma Ellie<br />
war schon eigenartig, aber ihre Nachbarn schätzten<br />
sie sehr. Sie war eine großzügige und optimistische<br />
Frau, die gute Ratschläge erteilte. Sie liebte ihre En -<br />
kelin Nicoleta abgöttisch. Zusammen mit ihr konnte<br />
sie wieder Kind sein und manchmal sogar Streiche<br />
spielen.
Als sie zu Hause ankamen, erwartete sie ein Frau<br />
mittleren Alters, groß, blond und stark gebaut. Es war<br />
das erste Mal, dass Nicoleta Marie sah: eine Nachbarin,<br />
die ihre Großmutter im letzten Jahr als Haushaltshilfe<br />
angestellt hatte, aber auch, um ihr Gesellschaft zu leisten.<br />
Das waren Großmutter Ellies Gründe, aber Nicoletas<br />
Eltern hatten ihr versichert, dass es ihr, obwohl sie<br />
schon älter war, prächtig ginge und sie in Wirklichkeit<br />
keine Hilfe bräuchte. Man sagte, Großmutter Ellie sei<br />
sehr solidarisch und ihr einziger Grund diese Frau in<br />
ihr Haus aufzunehmen, sei gewesen, ihr Essen, eine Unterkunft<br />
und ein bisschen Geld zu geben.<br />
„Das ist Marie“, sagte die Großmutter. Nicoleta<br />
und Marie gaben sich höflich die Hand. Aber als sich<br />
ihre Blicke trafen, lief dem Mädchen ein kalter Schauer<br />
über den Rücken. Die durchdringenden grünen Augen<br />
der Haushälterin hatten ihr etwas Merkwürdiges und<br />
Beunruhigendes vermittelt. Etwas, von dem Nicoleta so<br />
schnell wie möglich herausfinden wollte, was es war.
Der Eindringling<br />
Für diesen Abend hatte Oma Ellie Hühn -<br />
chenkroketten vorbereitet, Nicoletas Lieblingsessen.<br />
Auch für Missi stand ein Teller auf dem Tisch. Sie hatte<br />
sich auf ihre Hinterpfoten auf einen hohen Hocker<br />
gesetzt und tat als wäre sie ein weiterer Tischgast. Ni -<br />
coleta fand es toll, dass ihre Oma das Kätzchen wie<br />
einen echten Gast behandelte. Wenn Papa und Mama<br />
sie sehen würden, würden sie die Hände über dem<br />
Kopf zusammenschlagen. Aber Großmutter Ellie war<br />
etwas ganz Besonderes. Sie sagte immer, Nicoleta erin -<br />
nere sie daran, wie sie als Kind gewesen sei. Manchmal<br />
verbrachten sie Stunden damit, sich alte Fotoalben<br />
anzuschauen, währenddessen Oma Ellie unglaublich
spannende Geschichten aus ihrer Kindheit erzählte.<br />
Nicoleta lauschte ihr fasziniert.<br />
„Und jetzt der Nachtisch!“, kündigte Großmutter<br />
Ellie an und brachte ein Riesentablett voller Kekse.<br />
„Zimtkekse!“, rief Nicoleta.<br />
„Miau, miau! (Meine Lieblingskekse!)“, miaute Missi.<br />
„Oma, niemand backt so leckere Zimtkekse wie<br />
du!“, versicherte das Mädchen mit vollem Mund.<br />
„Danke, meine Kleine“, sagte Großmutter Ellie.<br />
Du scheinst müde zu sein. Du solltest bald ins Bett<br />
gehen. Dein Zimmer ist fertig, aber denk daran, das<br />
Fenster zu schließen. Für heute Nacht ist ein Gewitter<br />
angesagt.“
„Du hast Recht. Es war eine lange Reise“, antwortete<br />
sie gähnend. „Ich gehe rauf. Morgen ist ein neuer Tag ...<br />
Komm, Missi! Du bist bestimmt auch erschöpft.“<br />
Das Mädchen gab der Oma einen Gutenachtkuss<br />
und Missi sprang die Treppenstufen hinauf.<br />
Nicoleta fand ihr Zimmer bei Oma herrlich. Die Decke<br />
war von alten Holzbalken durchzogen und die glatten<br />
Wände waren ockerfarben gestrichen. Eine Wand war von<br />
oben bis unten mit einem Bild tapeziert, das einen herbstlichen<br />
Wald voller Bäume mit orangefarbenen, roten und<br />
gelben Blättern darstellte. Einige schienen über die Wand<br />
zu fliegen, so als wollten sie aus ihr herauskommen.<br />
Es war ein ziemlich großes Zimmer. Auch das Bett<br />
und der Schreibtisch hatten eine ansehnliche Größe. Ein<br />
hohes Regal war vollgestopft mit Büchern voller Abenteuer,<br />
Geheimnissen und fantastischen Geschichten.<br />
Jeden Sommer las Nicoleta einige davon. Großmutter<br />
Ellie hob sie alle für sie auf. Deshalb ging Nicoleta<br />
als erstes zum Regal und begann die glänzenden<br />
Buchrücken zu lesen. Nach einigem Stöbern ergriff sie<br />
eins und nahm es mit ins Bett: Nichts war herrlicher als<br />
vor dem Lichtausschalten ein bisschen zu lesen. Aber<br />
an diesem Abend war sie so müde, dass sie einschlief,<br />
bevor sie die erste Seite beendet hatte.<br />
Plötzlich wurde sie von Donnerschlägen, Wind, dem<br />
gegen die Wand schlagenden Fenster und kalten Regentrop-
fen auf ihrem Gesicht geweckt. Das Gewitter war gekommen<br />
und Nicoleta hatte vergessen, das Fenster zu schließen.<br />
Sie sprang mit einem Satz aus dem Bett, um das<br />
sofort nachzuholen. Sie schaffte es erst, nachdem sie<br />
ein paar Sekunden gegen den Wind angekämpft hatte,<br />
der sich kräftig allem, was ihm in den Weg kam, entgegenstellte.<br />
Als sie endlich hinter dem Fenster Schutz<br />
gefunden hatte, schaute sie hindurch. Draußen war es<br />
stockdunkel, aber jedes Mal, wenn die Blitze am Himmel<br />
zuckten, erhellte der Garten sich gespenstisch. Es<br />
regnete in Strömen und der Wind zerzauste Bäume und<br />
Äste kräftig. Auch einige liegengebliebene Gegenstände<br />
schienen zum Leben erwacht zu sein, während sie ziellos<br />
von einer Ecke in die andere flogen: ein leichter alter<br />
Besen, ein Ball, der Hut des Gärtners<br />
Das Mädchen betrachtete dieses Schauspiel eine<br />
Weile. Missi hatte sich unter dem Bett versteckt und<br />
traute sich kaum hervorzuluken. Nach einer Weile<br />
überkam Nicoleta die Müdigkeit erneut. Trotzdem entschied<br />
sie sich, vor dem Zubettgehen in die Küche herunterzugehen,<br />
um etwas zu trinken. So viel Wasser zu<br />
sehen hatte sie nämlich durstig gemacht.<br />
Großmutters Haus war sehr alt und in der Stille<br />
der Nacht schienen alle Winkel etwas zu sagen zu haben.<br />
Nicoleta gefiel diese Mischung aus Angst und Aufregung,<br />
die es in ihr hervorrief. Außerdem hatten die
Geräusche sich bei dem Gewitter vertausendfacht. Der<br />
Wind, der durch den Kamin eindrang, ahmte den erbarmungslosen<br />
Schrei des Buhmanns nach. Die alten<br />
Hölzer knirschten, so als krabbelten darin kleine, eklige<br />
Insekten übereinander. Die Türen schienen von unsichtbaren<br />
Händen auf- und zugeschlagen zu werden.<br />
Und jedes Mal, wenn das Licht eines Blitzes durch die<br />
Fenster drang, entstanden dunkle Schatten, die durch<br />
das Zimmer huschten.<br />
Als Nicoleta im Erdgeschoss ankam, sah sie sofort<br />
ein schwaches Licht, das aus dem Wohnzimmer<br />
kam. Sie näherte sich ein bisschen ängstlich und sah,<br />
dass ihre Großmutter beim Kerzenschein strickend im<br />
Schaukelstuhl eingeschlafen war. Sie atmete schwer, ermüdet,<br />
aber ruhig.<br />
Sie ging weiter in die vom Kerzenlicht gesprenkelte<br />
Küche. Aber sobald sie durch die Tür eintrat, erlosch<br />
die Flamme und fast gleichzeitig war der Lärm eines<br />
metallischen Gegenstands zu vernehmen, der auf den<br />
Boden gefallen war. Sofort hörte sie klar, wie kräftige<br />
schnelle Schritte durch die andere Tür die Treppe hinauf<br />
flüchteten.<br />
Nicoleta standen vor Schreck die Haare zu Berge.<br />
Auch Missi, die hinter ihr herlief, sträubten sich die Haare<br />
vor Entsetzen. Als das Mädchen wieder reagieren konnte,<br />
tastete sie blind die Küchenwände ab, bis sie auf den Licht-
schalter stieß. Da sah sie, dass das Tablett mit den Zimtkeksen<br />
zu Boden gefallen war und die meisten in tausend<br />
Stücke zerbrochen waren. Die Großmutter atmete weiter,<br />
ruhig und tief: Sie schien nichts bemerkt zu haben.<br />
„Hast du das auch gehört, Missi?“<br />
„Miau, miau! (Ja, hier passiert etwas Merkwürdiges!)“,<br />
miaute die Katze, während sie an den Keksresten roch.<br />
„Lass uns rauf gehen. Vielleicht war es ja Marie,<br />
die sich bei unserem Eintreten erschreckt hat.“<br />
Nicoleta und Missi stiegen erneut in die zweite Etage,<br />
dieses Mal ganz vorsichtig. Draußen tobte das Gewitter<br />
weiter und drinnen klang es wie ein düsteres, verstimmtes<br />
Orchester, das auf skurrilen Instrumenten spielte. Auf Zehenspitzen<br />
näherten sie sich Maries Zimmer. Die Tür war<br />
angelehnt und ihr Schnarchen war zu vernehmen.<br />
„Es kann sein, dass sie in ihr Bett zurückgekehrt<br />
ist und sofort in tiefen Schlaf gefallen ist,“ sagte Nicoleta<br />
wenig überzeugt.<br />
„Miau, miau ... (Wie du meinst ...).“<br />
In diesem Augenblick versetzten sie ein heftiger<br />
Türschlag und das Knacken der Holzdielen, die vom<br />
Dachboden kamen, in Alarmbereitschaft.<br />
„Da oben ist jemand,“ flüsterte Nicoleta, „los, wir<br />
spüren den Eindringling auf!“<br />
Die Treppenstufen, die auf den Dachboden führten,<br />
waren schmal und steil. Nicoleta war erst einmal
hinaufgestiegen. Die Großmutter benutzte ihn als Abstellkammer,<br />
deshalb war alles voller Staub, Kisten und ...<br />
Spinnen! Vor Spinnen fürchtete Nicoleta sich mehr als<br />
vor allem anderen auf der Welt. Sie hatte panische Angst<br />
vor Spinnen.<br />
Wenn sie eine sah, blieb sie wie angewurzelt stehen<br />
und war nicht in der Lage, auch nur den kleinen Finger<br />
zu bewegen, bis sie niesen konnte. Spinnen waren ihr<br />
Schwachpunkt. Deshalb bat sie Missi einzutreten und<br />
einen Blick um sich zu werfen. Nach einer Weile kam<br />
das Kätzchen zurück.<br />
„Da gibt es keine Zweifel mehr,“ sagte Nicoleta, als<br />
sie Missi mit einem Stück Zimtkeks zwischen den Zähnen<br />
zurückkommen sah. „Sag mal, hast du eine Spinne<br />
gesehen? Egal, antworte mir besser nicht ... Lass uns<br />
reingehen!“<br />
Nicoleta riss die Tür auf, fasste allen ihren Mut und<br />
trat ein. Sie schaltete das Licht ein und zu ihrem Erstaunen<br />
fand sie weder Kisten, noch Staub, noch Spinnen.<br />
Es schien, als wollte Großmutter diesen Raum anderweitig<br />
nutzen, sodass sie diesen Ort in einen gemütlichen<br />
Raum verwandelt hatte. Dort standen ein Bett, ein<br />
kleines Sofa, eine Kommode mit einigen halb herausgezogenen<br />
Schubladen ... Und, was ihre Aufmerksamkeit<br />
am meisten auf sich lenkte, war ein Glas mit einem Rest<br />
Milch und ein Teller, auf dem man einige Kekskrümel
erahnen konnte. Dort stand auch ein verschlossener<br />
Schrank. Als sie ihn sah, war Nicoleta sich sofort sicher,<br />
dass sich der Eindringling dort versteckt hatte.<br />
„Ach, Missi! Es scheint so, als sei niemand hier!“,<br />
täuschte sie vor, während sie sich dem Schrank näherte.<br />
„Es ist wohl besser, wir kehren in unser Zimmer zurück.<br />
Falscher Alarm.“<br />
Als sie diese Worte ausgesprochen hatte, stürzte<br />
sie sich gegen die Schranktür, öffnete sie schwungvoll<br />
und rief:<br />
„Ich hab dich!“
Andrea hat Angst<br />
Im Schrank hingen ein paar Bügeln mit Kleidungsstücken,<br />
die Nicoleta - und daran konnte sie sich<br />
noch gut erinnern - im letzten Sommer im Kleiderschrank<br />
ihres Zimmers hatte hängen lassen. Ein Paar Taschen,<br />
die sie selbst entworfen und aus Stoffresten genäht<br />
hatte, schauten aus dem Regalbrett hervor. Außerdem erkannte<br />
sie sofort drei Paar Sandalen unten im Schrank.<br />
Die roten mit weißen Tupfen waren ihre Lieblingssandalen<br />
gewesen. Sie hatte sie völlig aufgetragen und sie<br />
Sommer für Sommer angezogen, bis sie ihr nichts anderes<br />
übrigblieb, sie auszumerzen, weil ihr großer Zeh so<br />
weit hervorlukte, dass er ständig über den Boden scheuerte,<br />
ganz zu schweigen von den schmerzhaften Stößen
gegen Tisch-, Stuhlbeine und das Bettgestell. Denn trotz<br />
Nicoletas Kühnheit und Abenteuerlust, war sie doch eitel<br />
und kokett. Deshalb durfte in ihrer Handtasche nie die<br />
Haarbürste, ein Handspiegel, Lipgloss und Rouge fehlen,<br />
egal, was sonst noch so drin war.<br />
Neben den Schuhen befand sich ein mit einer karierten<br />
Wolldecke bedecktes Bündel.<br />
„Da unten ist der Eindringling“, dachte Nicoleta,<br />
„er kann nicht besonders korpulent sein.“<br />
Missi war in den Schrank gesprungen und roch<br />
darin herum. Nicoleta musste nur einen Blick auf den
gerade aufgerichteten Schwanz des Kätzchens werfen,<br />
um zu verstehen, dass sie hier tatsächlich der Verursacher<br />
all dieses Aufruhrs verbarg. Dann ergriff sie eine<br />
der Spitzen dieser Decke, atmete tief ein, um Mut zu<br />
fassen und zog kräftig und entschieden daran. Zum<br />
Vorschein kam ein dünnes Mädchen, wahrscheinlich<br />
etwas jünger als Nicoleta. Sie zitterte zusammengekauert<br />
und legte beide Hände schützend über ihr Gesicht,<br />
auf das blonde, gelockte Strähnen fielen:<br />
„Bitte sperren Sie mich nicht ein. Ich werde es niemandem<br />
erzählen“, flehte das Mädchen, ohne den Kopf<br />
anzuheben.<br />
„Aber ... wer bist du denn?“, fragte Nicoleta verstört.<br />
Miau, miau? (Ja genau, wer bist du?)<br />
In diesem Augenblick nahm die Kleine die Hände<br />
von den Augen, sah Nicoleta und Missi an und rief erleichtert:<br />
„Uff, ist ja noch mal gut gegangen! Du muss Ellies<br />
Enkelin sein! Du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt!“<br />
„Dürfte man wohl wissen, was du hier oben tust<br />
und warum du meine Kleidung und meine Schuhe<br />
trägst?“, fragte Nicoleta und deutete auf die Schwalbe,<br />
die auf die Kleidungsstücke gestickt war.<br />
„Ja ..., die Wahrheit ist, dass ich kein Zuhause habe, zu<br />
dem ich gehen könnte“, erwiderte das Mädchen traurig.
„Willst du mir damit sagen, dass du auf dem Dachboden<br />
meiner Großmutter wohnst, ohne dass sie das<br />
weiß und nachts ihre Vorratskammer überfällst? Es tut<br />
mir Leid, aber ich werde sofort die Polizei anrufen.“<br />
„Nein, tu das bitte nicht! Ich heiße Andrea und bin<br />
Maries Tochter“, erklärte sie schluckend.<br />
„Du bist also die Tochter der Haushälterin? Aber<br />
dann weiß meine Oma, dass du hier lebst, nicht wahr?<br />
Warum sie mir wohl nichts gesagt hat?“<br />
„Deine Großmutter weiß nichts. Als meine Mama<br />
ihre Arbeit hier aufnahm, blieb ich im Dorf bei einer<br />
Tante. Aber vor ein paar Wochen fand meine Tante eine<br />
gute Arbeit in der Stadt und zog um. Daraufhin hatte<br />
ich keinen Ort zum Wohnen mehr und meine Mutter<br />
konnte es sich nicht leisten, diese Arbeit zu verlieren.“<br />
„Aber ... warum hat sie Großmutter nicht gesagt,<br />
dass ihr dieses Problem habt? Sie liebt Kinder und würde<br />
sich freuen, dich hier zu haben“. Nicoleta verstand<br />
die Welt nicht mehr.<br />
„Ich weiß. Deine Großmutter ist eine reizende<br />
Frau. Aber ich kann mein Versteck nicht verlassen.<br />
Wenn er wüsste, dass ich hier bin, würde er schon einen<br />
Weg finden, mich verschwinden zu lassen. Sogar meine<br />
Mutter findet, dass er ein komischer Kauz ist und<br />
wir besser warten sollten“, versicherte Andrea, der die<br />
Angst im Gesicht geschrieben stand.
„Er? Aber ... von wem zum Teufel sprichst du?“<br />
„Genau von dem - vom Teufel in Person.“<br />
„Rede keinen Blödsinn. Den Teufel gibt es nicht.“<br />
„Doch, das versichere ich dir. Es gibt ihn nicht<br />
nur, er läuft sogar fast den ganzen Tag lang durch dieses<br />
Haus,“ sagte Andrea mit angstverzerrtem Gesicht.<br />
Währenddessen gab es draußen anscheinend<br />
nichts, das den Regen, Donner und die Blitze stoppen<br />
konnte, die auf dem Dachboden noch verstärkt<br />
zu hören waren. Plötzlich öffnete sich das Oberlicht<br />
mit einem kräftigen Schlag gegen die Wand. Das<br />
Zimmer wurde mit feuchtem Wind gefüllt und das<br />
sich angesammelte Wasser ergoss sich in Wasserfäl -<br />
len auf den Boden.<br />
„Schnell! Wir müssen das Fenster schließen, bevor<br />
das Haus unter Wasser steht!“, rief Nicoleta.<br />
„Sei vorsichtig! Es kann sein, dass er uns von draußen<br />
nachspioniert!“, erwiderte Andrea fast ohne eine<br />
Reaktion zu zeigen.<br />
Nicoleta zog einen Stuhl herbei und stellte ihn<br />
unter das Oberlicht. Sie stieg darauf, ergriff das Fenster<br />
mit all ihrer Kraft und schloss es. In wenigen Sekunden<br />
war sie klatschnass geworden.<br />
„Geschafft! Und jetzt erzähl mir die ganze Geschichte!<br />
Wer ist er?“, fragte sie, während sie ihre langen<br />
Haare auswrang.
Das verschwundene Spielzeug<br />
Thomas war für Großmutter Ellies Garten<br />
und die Wartung ihres Hauses zuständig. Er war um die<br />
sechzig Jahre alt, hatte dichtes graues Haar und seine<br />
Haut war immer braun gebrannt und von der Sonne<br />
gegerbt. Er trug alte abgetragene Kleider und auf dem<br />
Kopf trug er immer den selben Seemannshut.<br />
Er war ein Einzelgänger und sehr schweigsam. Er<br />
wurde niemals von irgend jemandem begleitet und die<br />
wenigen Male, die er den Mund auftat, tat er das brummend.<br />
Wenn Thomas brummte, war er wie ein wildes<br />
Tier, das allen um sich herum Angst einjagen wollte. So<br />
hielt er sich die Leute vom Leibe und vermied es, dass<br />
sich ihm jemand zu sehr näherte.
In seiner Jugend war Thomas Fischer gewesen.<br />
Eine zeitlang war er davon besessen gewesen, einen<br />
alten Hai zu fangen, der seinen Fischfang erschwerte.<br />
Diese Verbohrtheit hatte dazu geführt, dass er ihn einmal<br />
in seinem kleinen Boot aufs offene Meer verfolgte<br />
und das Zeitgefühl verlor. Die Nacht brach herein, als<br />
Thomas noch weit von der Küste entfernt war. Orientierungslos<br />
verirrte er sich auf offenem Meer. Die Seeleute<br />
seines Dorfes suchten ihn mehrere Tage und Nächte<br />
lang. Als sie ihn schließlich fanden, war er schwach und<br />
fast verdurstet, aber er lebte noch. Der Arzt untersuchte<br />
ihn und erklärte, der Seemann habe einen schweren<br />
Fehler begangen, der ihn fast das Leben gekostet hätte:<br />
Er hatte viel Meerwasser getrunken. Trotzdem hatte<br />
Thomas Glück und es gelang ihm, seinen Körper von<br />
dem Salzüberschuss zu entgiften. Aber seitdem war er<br />
nie wieder der Alte. Er ging nicht mehr Fischen und<br />
wurde zu einer barschen und übellaunigen Person. Die<br />
Dorfbewohner meinten, das Salzwasser habe ihn ein<br />
bisschen verrückt gemacht.<br />
Nicoleta hatte sich immer gefragt, warum ihre<br />
Großmutter den Griesgram Thomas ausgesucht hatte,<br />
damit dieser sich um Haus und Garten kümmere. Aber<br />
so war Oma Ellie nun mal: Sie sagte immer, alle Leute<br />
seien es wert eine Chance zu bekommen und dass man<br />
sich nicht vom Aussehen täuschen lassen solle.
Diese Nacht erzählte Andrea Nicoleta etwas, das<br />
dieser die Haare zu Berge stehen ließ:<br />
„Ich meine den Gärtner,“ begann sie ihre Erzählung.<br />
„Thomas?“, fragte Nicoleta überrascht.<br />
„Schhhh … Ja, genau der“, sagte Andrea mit gedämpfter<br />
Stimme, so als befürchte sie, dass sie jemand<br />
hören könnte.<br />
„Ich weiß, dass Thomas ein Griesgram ist, aber ein<br />
Teufel?“<br />
„Du wirst deine Meinung ändern, wenn du hörst,<br />
was ich dir zu sagen habe,“sagte Andrea dramatisch.<br />
„Außerdem kannst du das mit deinen eigenen Augen<br />
sehen.“<br />
„Ich bin ganz Ohr“, erwiderte Nicoleta und steckte<br />
sich die Haare hinter die Ohren.<br />
„Alle Kinder im Dorf wissen, was für einen<br />
schlechten Charakter der unsympathische Gärtner hat,“<br />
begann Andrea. „Ich weiß nicht genau, wer zuerst mit<br />
diesem Kleinkrieg anfing, aber es steht fest, dass Thomas<br />
und einige Burschen sich gegenseitig schikanieren.<br />
Die Kinder kleben Kaugummi auf seine Klingel, zerschlagen<br />
Eier in seinem Briefkasten und machen seine<br />
Zeitung nass, bevor er sie lesen kann. Thomas rächt sich<br />
andererseits, indem er kaltes Wasser aus seinem Fenster<br />
schüttet oder ihnen den Ball nicht zurückgibt, wenn er<br />
in seinen Garten fällt. Er muss Dutzende davon haben.
„Ach so ... ich hatte keine Ahnung. Nach dem, was<br />
du sagst haben die Kinder allerdings auch einen Teil<br />
der Schuld.“<br />
„Ja. So weit, so gut. Aber das ist nicht alles,“ sagte<br />
Andrea mit zitternder Stimme. „Wie spät ist es?“<br />
„Es ist schon zwei Uhr morgens,“ antwortete<br />
Nicoleta mit einem Blick auf ihre rote Armbanduhr<br />
mit kleinen rosa Schwalben.<br />
„Kommt mit. Ich zeige euch etwas, was ich vor ein<br />
paar Tagen entdeckt habe!“<br />
Missi und die beiden Mädchen stiegen so leise sie<br />
konnten vom Dachboden herunter. In der zweiten Etage<br />
angekommen, betraten sie Nicoletas Zimmer. Dort<br />
bedeutete Andrea ihnen, still zu sein und durchs Fenster<br />
zu schauen und sich kein Detail entgehen zu lassen.<br />
Draußen regnete, donnerte und blitzte es weiter.<br />
Auch der Wind hatte sich nicht gelegt. Andrea, Nicoleta<br />
und Missi klebten ihre Nasen förmlich am Fenster.<br />
Plötzlich wurde der Garten von einem Blitz erhellt.<br />
Ein düsterer Schatten, der dieses Mal von einer echten<br />
Person stammte, tauchte mit dem winzigen Licht einer<br />
kleinen Taschenlampe aus dem Nichts auf.<br />
„Da ist er“, flüsterte Andrea kaum hörbar.<br />
Nicoleta flimmerten vor lauter Angst und Überraschung<br />
die Augen. Und Missi hatte sich wieder unter<br />
dem Bett verkrochen. Diese geheimnisvolle und gleich-
zeitig schreckliche Figur blieb ein paar Sekunden vor<br />
dem Schuppen stehen. Sie kramte etwas aus der Hosentasche<br />
hervor, offensichtlich einen Schlüssel, öffnete die<br />
Tür und betrat sie den Schuppen.<br />
„Jede Nacht im Morgengrauen, ungefähr zur selben<br />
Zeit, kehrt der Gärtner mit einem schwarzen Sack<br />
beladen aus dem Dorf zurück und geht in den Schuppen.<br />
Dort bleibt er etwa zwanzig Minuten lang. Wenn du<br />
genau hinschaust, siehst du, wie das schwache Licht seiner<br />
kleinen Taschenlampe durch die Gardinen scheint“,<br />
sagte Andrea ängstlich.<br />
„Aber … was ist denn in dem Schuppen? Warum<br />
kommt Thomas jede Nacht und bleibt so lange darin?“,<br />
überlegte Nicoleta laut.<br />
„Das ist ja das Schlimme. Ich habe dir ja schon<br />
erzählt, dass die Beziehung zwischen Thomas und den<br />
Kindern im Dorf nicht die beste ist ...“<br />
Nicoleta verstand immer noch nichts und war so<br />
verblüfft, dass sie nicht einmal mit den Augen blinzelte.<br />
„Als das gute Wetter anfing,“ fuhr Andrea fort,<br />
„sind rätselhafte Dinge im Dorf geschehen. Fast jeden<br />
Tag vor Einbruch der Dämmerung und bevor die Kinder<br />
nach Hause gehen, verschwindet das Spielzeug, das<br />
sie mit nach draußen genommen haben. Jemand versichert,<br />
den dunklen Schatten eines Fremdem wegrennen<br />
gesehen zu haben.“
„Um alle Rätsel der Welt! Das ist schrecklich!“ rief<br />
Nicoleta.<br />
„Ja, mir ist das auch passiert. Meine Lieblingspuppe<br />
ist verschwunden,“ sagte Andrea gleichzeitig traurig<br />
und verärgert.<br />
„Und du meinst, diese geheimnisvolle Person,<br />
die das Spielzeug verschwinden lässt, ist ...“, ? flüsterte<br />
Nicoleta erstaunt.<br />
„Ich bin sicher, dass es der Gärtner ist! Alles passt!<br />
Er mag keine Kinder und gibt ihnen niemals den Ball<br />
zurück. Ich glaube, er nimmt uns das Spielzeug weg, um<br />
sich an uns zu rächen, denn er hasst uns ...“, sagte Andrea<br />
überzeugt.<br />
„Das wäre ja furchtbar, Andrea! Und außerdem<br />
glaubst du, Thomas ... ?“, fragte Nicoleta noch ungläubiger.<br />
„Ich glaube, der Gärtner kehrt jeden Tag bei<br />
Morgengrauen mit dem Sack voller Spielzeug hierhin<br />
zurück, versteckt es und verschließt es im Schuppen.<br />
Er denkt, wenn er es in seinem eigenen Haus verste -<br />
cken würde, könnte es leicht entdeckt und er entlarvt<br />
werden“, versicherte Andrea und stotterte dabei ein<br />
bisschen.<br />
„Miau, miau (Es wäre besser, wir würden so schnell<br />
wie möglich hier abhauen)“, miaute Missi, die noch immer<br />
unter dem Bett lag, erschrocken.
„Davon ist keine Rede, Missi. Wenn es stimmt, was<br />
Andrea erzählt, müssen wir der Großmutter Bescheid<br />
geben“, sagte Nicoleta zu ihrem Kätzchen. „Dann …<br />
meinst du, im Schuppen befindet sich das verschwundene<br />
Spielzeug?“<br />
„Bestimmt, und außerdem befürchte ich, dass,<br />
wenn er mich entdeckt, er mich auch im Schuppen einsperrt,<br />
um mich dafür zu bestrafen, sein Geheimnis herausgefunden<br />
zu haben. Deshalb traue ich mich nicht,<br />
den Dachboden zu verlassen.“<br />
„In Ordnung, beruhige dich. Hast du das jemandem<br />
erzählt?“, wollte Nicoleta wissen.<br />
Andrea schüttelte den Kopf.<br />
„Wenn das, was du sagst, wahr ist, finde ich das<br />
heraus. Morgen beginnen wir mit der Untersuchung.<br />
Aber zuerst müssen wir meiner Großmutter erzählen,<br />
dass du hier wohnst. Es wäre nicht in Ordnung, es ihr<br />
zu verheimlichen. Sie würde dich bestimmt gern in<br />
ihrem Haus aufnehmen. Und mach dir keine Sorgen.<br />
Dir wird nichts Schlimmes passieren. Der Gärtner<br />
muss ja nicht erfahren, dass du ihn entdeckt hast.“<br />
„Na gut. Ich kann ja sowieso nicht ewig auf einem<br />
Dachboden leben“.<br />
„Schade, dass mir der „Schwalbenclub“ hier nicht<br />
mit Rat und Tat beiseite stehen kann. Sie könnten mir<br />
bei diesem Fall unter die Arme greifen. Auf alle Fälle
werde ich ihnen morgen einen Brief schreiben, um ihnen<br />
alles zu erzählen.“<br />
„Ein Schwalbenclub? fragte Andrea erstaunt.<br />
„Ja, meine Freunde. Eines Tages erzähl ich dir von<br />
ihnen,“ antwortete Nicoleta augenzwinkernd.
Der GEK<br />
Als Nicoleta am nächsten Tag in die<br />
Küche herunterkam, frühstückte Andrea am Tisch und<br />
Großmutter Ellie suchte etwas in den Schubladen.<br />
„Guten Morgen, Kleine! Wie habt Missi und du geschlafen?“,<br />
fragte ihre Großmutter, nachdem sie ihr einen<br />
Kuss gegeben hatte. „Komm her! Ich habe großartige<br />
Neuigkeiten für dich. Ich stelle dir Andrea vor, Maries<br />
Tochter. In der nächsten Zeit wird sie bei uns wohnen.“<br />
Die Mädchen begrüßten sich mit vielsagenden<br />
Blicken. Missi und Nicoleta setzten sich auch zum Frühstücken.<br />
„Es ist wohl besser, dass ich euch allein lasse,<br />
damit ihr euch besser kennenlernt,“ fügte Groß -<br />
mutter Ellie hinzu und verließ die Küche.
„Habt ihr es geschafft, ein bisschen zu schlafen?“,<br />
fragte Andrea.<br />
„Nicht eine Minute“, antwortete Nicoleta gähnend.<br />
„Miau, miau (Ein paar Nickerchen)“.<br />
„Ich habe auch kein Auge zugekriegt. Nicht nur<br />
wegen unseres Gesprächs gestern, sondern auch, weil<br />
ich mich nervös gefragt habe, wie deine Großmutter<br />
wohl reagieren würde, wenn sie mich sähe“, erklärte<br />
Andrea, nachdem sie ein Stück Madeleine heruntergeschluckt<br />
hatte.<br />
„Ich sagte dir ja, dass sie nichts dagegen haben<br />
würde.“<br />
„Ja, du hattest Recht. Heute früh hat sich meine<br />
Mutter zu ihr gesetzt und ihr unsere Lage erklärt. Deine<br />
Oma hat sofort gesagt, dass ich hier wohnen könnte<br />
solange ich wollte.“<br />
„Ich wusste es! Du kannst dir gar nicht vorstellen,<br />
wie ich mich freue! Ich bewundere meine Oma! Sie ist die<br />
Beste!“, versicherte Nicoleta stolz. „Aber lass uns zu unserem<br />
Fall zurückkommen: Ist der Verdächtige schon da?“<br />
„Ja, er kommt immer sehr früh“, antwortete Andrea,<br />
während ihr ruhiges Gesicht einen sorgenvollen<br />
Ausdruck annahm.<br />
„Begleite mich in mein Zimmer. Ich möchte dir etwas<br />
zeigen und wir haben einen Haufen Arbeit vor uns“, sagte<br />
Nicoleta, nachdem sie ihr Glas Milch ausgetrunken hatte.
Missi und die Mädchen stiegen in die obere Etage. Im<br />
Zimmer angekommen, schloss Nicoleta die Tür hinter sich<br />
und zog die Gardinen zu. Als sie sich sicher war, dass sie<br />
niemand sehen konnte, hockte sie sich hin und zog unter<br />
dem Bett einen ziemlich großes Bündel hervor, das in einer<br />
Samttasche steckte. Dann legte sie es auf ihren Schreibtisch.<br />
„Was ist das?“, fragte Andrea neugierig.<br />
„Das der GEK“, kündigte Nicoleta mit besonders<br />
glänzenden Augen an.<br />
„ Der GEK? Ich verstehe überhaupt nichts“, sagte<br />
Andrea ungeduldig.<br />
Daraufhin öffnete Nicoleta die Samttasche und<br />
holte einen glänzenden Aktenkoffer heraus. Er war mit<br />
einem schönen Schwalbenaufkleber geschmückt.<br />
„Wow!“, rief Andrea aus.<br />
„Du befindest dich vor dem GEK. Mein „Geheimer<br />
Ermittlungskoffer“. Man könnte sagen, dass da meine<br />
Arbeitswerkzeuge drinn sind. Weißt du, ich träume davon,<br />
eine großartige Journalistin zu werden. Eine dieser<br />
mutigen Reporterinnen, die durch die ganze Welt reisen<br />
und Geheimnisse lüften“, erklärte Nicoleta. Um so etwas<br />
Schwerwiegendes, wie das, das du mir gestern über Thomas<br />
erzählt hast, nachzuweisen, brauchen wir zunächst<br />
Beweise, die die Vermutungen belegen. Der Inhalt dieses<br />
Koffers wird uns helfen, den Fall zu untersuchen“, beendete<br />
sie aufgeregt ihre Erklärungen.
„Miau, miau (Nicoleta wird eine berühmte Journalistin<br />
werden)“, miaute Missi.<br />
„Danke, Kätzchen,“ Nicoleta streichelte sie zärtlich.<br />
„Irre!“, Andrea war immer noch fasziniert.<br />
„Warte nur, was da drin ist“.<br />
Nicoleta gab einen aus sechs Ziffern bestehenden<br />
Zahlencode ein und nach einem leisen Klick öffnete<br />
sich der Deckel automatisch.<br />
„Wahnsinn!“, staunte Andrea.<br />
–Mmmmm (Immer wenn sie den öffnet, bleibe<br />
ich ohne Miaus)“, versuchte Missi zu miauen.<br />
Nicoletas Geheimer Ermittlungskoffer war perfekt<br />
aufgeräumt und hatte viele Fächer mit Klettverschlüssen,<br />
Reißverschlüssen und Knöpfen. Auf den ersten Blick<br />
waren eine Fotokamera mit einem großen Objektiv, ein<br />
Fernglas, eine Lupe, eine supermoderne Nähmaschine,<br />
ein Nähkästchen mit Stoffen und Fäden,Walkie-Talkies,<br />
ein Tagebuch mit Verschluss, eine kleine Taschenlampe<br />
und ein blumenförmiges Kästchen zu sehen. Aber es gab<br />
auch andere Sachen, die zwischen den verschiedenen<br />
Täschchen und Kästchen zu erahnen wahren, Geheimnisse,<br />
die Nicoleta unter Verschluss hielt.<br />
„Das ist die Sofortbildkamera. Oma Ellie hat sie<br />
mir vor einigen Monaten zu meinem achten Geburtstag<br />
geschenkt. Die scheint zu zaubern; sie entwickelt<br />
die Fotos im selben Augenblick, in dem du sie schießt.
In diesem Fall wird sie uns sehr nützlich sein“, Nicoleta<br />
hängte sie sich um den Hals. „Hier, du bist für das Fernglas<br />
zuständig! Ah! Und diese Apparate, die wie Telefone<br />
aussehen, sind Walkie-Talkies, die keine Telefonleitung<br />
benötigen. Nimm dir eins mit in dein Zimmer. So<br />
können wir notfalls nachts miteinander sprechen, ohne<br />
die Zimmer verlassen zu müssen.“<br />
„Und was ist in diesem blumenförmigen Kästchen?“,<br />
fragte Andrea neugierig, als sie merkte, dass Nicoleta<br />
keine Anstalten machte, es ihr zu erzählen.<br />
„Na ja ...“, zögerte Nicoleta. Das ist ein Make-up-<br />
Set“, beichtete sie errötend. „Eine großartige Journalistin<br />
muss auf alle Gelegenheiten vorbereitet sein.“<br />
„Miau, miau (Nicoleta ist sehr eitel, hahaha)“<br />
stellte Missi sie bloß.<br />
„Ich habe eine Idee!“, schlug Nicoleta vor, die<br />
schnell das Thema wechseln wollte. „Lass uns das superdünne<br />
Fernrohr benutzen.“ Sie zog einen schmalen<br />
Stab aus einer der Innentaschen des Koffers.<br />
„Wozu ist das denn gut?“<br />
„Damit kann man alles größer und näher sehen.<br />
Es dient aber auch dazu, um durch klitzekleine Löcher<br />
zu schauen.“<br />
„Glaubst du, der Schuppen hat so ein Loch?“<br />
„Bestimmt!“, versicherte Nico. „Lass uns in den Garten<br />
gehen! Wir müssen mit den Ermittlungen beginnen!“
Thomas rupfte hinter dem Haus Unkraut aus. „Wir<br />
haben freie Luft“, dachte Nicoleta.<br />
„Missi, bewache du den Verdächtigen und sag uns sofort<br />
Bescheid, wenn er hierhin kommt“, bat Nicoleta, nachdem<br />
sie ein paar Fotos vom Schuppen geschossen hatte.<br />
„Miau, miau? (Warum muss ich immer das Langweiligste<br />
machen?)“, beschwerte sich Missi, gehorchte<br />
ihrer geliebten Freundin aber.<br />
„Missi ist eine Nörglerin, aber das mutigste und intelligenteste<br />
Kätzchen der Welt“, erklärte Nicoleta Andrea.<br />
„Und wenn Thomas uns entdeckt, wie wir die Nase<br />
in den Schuppen stecken?“<br />
„Immer mit der Ruhe. Es wird schon nichts passieren“,<br />
Missi deckt uns.<br />
Im Schuppen wurden die Werkzeuge aufbewahrt. Er<br />
befand sich in einer Ecke des Gartens, unter dem alten Feigenbaum.<br />
Er bestand aus vier hölzernen Wänden, die einen<br />
kleinen, etwa fünf Quadratmeter großen Raum einschlossen,<br />
der von einem Faserzementdach bedeckt war. An der<br />
Vorderseite gab es eine Tür und ein kleines Fenster.<br />
Nicoleta schlich sich mit Andrea an, ihr in einem<br />
Meter Abstand folgend. Das Fenster hatte keinen Rollladen,<br />
war aber mit dichten Vorhängen behängt, sodass<br />
man nicht reingucken konnte. Wie das Mädchen es sich<br />
schon gedacht hatte, war die Tür verschlossen. Nicoleta<br />
legte das Ohr an die Tür: Es war nichts zu hören. Dar-
aufhin steckte sie das superdünne Fernrohr ins Schlüsselloch<br />
und schaute sich alles aufmerksam an.<br />
Plötzlich kam Missi pfeilschnell angerannt und<br />
warnte: „Miau, miau! (Vorsicht: Der Verdächtige<br />
nähert sich!).“<br />
Nicoleta entfernte sich blitzschnell von der Tür.<br />
Dummerweise ließ sie vor lauter Schreck und Nervosität<br />
das Fernrohr los, das durch das Schlüsselloch in den<br />
Schuppen fiel. Ohne es verhindern zu können, rannten<br />
Nicoleta und Andrea zum Brombeerstrauch. Dort aßen<br />
sie zum Schein kleine rote Beeren.<br />
„Was ist los? Hast du etwas gesehen?“, fragte Andrea<br />
ganz leise mit einem Brombeerrest zwischen den Zähnen.<br />
„Nichts. Da drin ist es zu dunkel. Außerdem ist<br />
mir das superdünne Fernrohr durch das Schlüsselloch<br />
gefallen“, flüsterte Nicoleta mit blauer Zunge.<br />
„Und jetzt? Sobald der Verdächtige es findet, merkt<br />
er, dass wir dort herumgeschnüffelt haben“.<br />
„Daran habe ich auch schon gedacht. Aber, schau<br />
mal, wenn es stimmt, dass der Schuppen voller Spielzeug<br />
ist, wird er glauben, das superdünne Fernrohr gehöre<br />
dazu.“<br />
Im selben Augenblick beobachtete Nicoleta aus dem<br />
Augenwinkel heraus, wie Thomas Schatten sich näherte.<br />
Dieselbe beunruhigende Silhouette, die sie beim letzten<br />
Morgengrauen bei Blitz und Donner gesehen hatte.
Die Spioninnen<br />
„Dann sind wir ja wieder da, wo<br />
wir angefangen haben“, beschwerte sich Andrea, während<br />
sie ein Butterbrot mit Schokolade aßen. „Oder<br />
vielleicht noch schlimmer. Jetzt haben wir nicht nur das<br />
superdünne Fernrohr verloren, es kann auch sein, dass<br />
der Gärtner uns verdächtigt.“<br />
„Vielleicht hast du Recht, aber man sollte die Flinte<br />
nie ins Korn schmeißen. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen<br />
Weg. Um Beweise zu finden, muss man ermitteln!“<br />
„Was können wir jetzt machen? Der Schuppen ist<br />
immer abgeschlossen.“<br />
„Als Erstes schreibe ich einen Brief an den Schwalbenclub.<br />
Ich möchte ihnen alles, was passiert ist, erzählen.<br />
Normalerweise geben sie mir gute Tipps. Während-
dessen kannst du dich fertigmachen, um wegzugehen.<br />
Heute Nachmittag machen wir einen Ausflug“, schlug<br />
Nicoleta geheimnisvoll vor.<br />
„Miau, miau (Gute Idee)“, miaute Missi, die Nicoletas<br />
Gedanken erriet.<br />
Nicoleta ging in ihr Zimmer hinauf und setzte sich<br />
hin, um den Brief zu schreiben. Sie und ihre Freunde hatten<br />
ein enges Verhältnis und selbst wenn sie weit voneinander<br />
entfernt waren, ließen sie den Kontakt niemals<br />
abbrechen. Sie schrieben sich häufig Briefe an<br />
die Baumhausadresse, wo sie sich sicher<br />
waren, dass niemand die Post abfangen<br />
würde. Nur die Mitglieder des Geheimclubs<br />
und die Briefträgerin, zu der sie<br />
volles Vertrauen hatten, wussten von<br />
der Existenz dieses Briefkastens<br />
und kannten die Anschrift.<br />
Und genau in dem Moment,<br />
als sie den Schlusspunkt<br />
setzte, hörte sie ein merkwürdiges<br />
Geräusch: „Pick, pick, pick.“<br />
Das Mädchen schaute sofort<br />
zum Fenster und entdeckte<br />
überrascht eine Möwe, die<br />
leise gegen die Scheibe stieß. Sie<br />
schien ruhig zu sein und blickte so, als<br />
wollte sie etwas sagen. Nicoleta näherte
ScHWALBENcLUB<br />
BAUMHAUS<br />
FLUSSpROMENADE<br />
5. KASTANIENBAUM<br />
Liebe Schwalbenfreunde,<br />
neulich verabschiedete ich mich von euch in der Annahme, ich<br />
würde dieses Jahr einen besonders ruhigen Urlaub verbringen,<br />
mich ausruhen und viele Bücher lesen. Ihr könnt euch gar nicht<br />
vorstellen, wie sehr ich mich getäuscht habe.<br />
Hier, zu Hause bei meiner Großmutter Ellie, bin ich auf einen<br />
aufregenden Fall gestoßen, den es zu lösen gilt, und den ich „Das<br />
Geheimnis vom verschwundenen Spielzeug“ genannt habe.<br />
Thomas, der griesgrämige Gärtner, kommt jede Nacht bei Morgengrauen<br />
mit einem riesigen schwarzen Sack aus dem Dorf zurück.<br />
Dann geht er in den Schuppen, wo er etwa zwanzig Minuten bleibt.<br />
Meine Freundin Andrea ist überzeugt, dass er der geheimnisvolle<br />
Dieb ist, der in der letzten Zeit das Spielzeug der Kinder aus dem<br />
Dorf verschwinden lässt. Außerdem glaubt sie, dass das, was er im<br />
Schuppen versteckt, eben dieses Spielzeug ist.<br />
Stellt euch nur vor, wie schwerwiegend dieser Fall ist, dass ich<br />
heute Morgen den GEK öffnen musste, um mit der Untersuchung<br />
zu beginnen.<br />
Ich verspreche, euch auf dem Laufenden zu halten.<br />
Vielen Dank, für eure Unterstützung. Tausend schnabelige Küsse.<br />
Eure Nicoleta
sich ihr, um sie besser beobachten zu können. Unverzüglich<br />
bemerkte sie etwas wirklich Merkwürdiges: Am Hals<br />
des Vogels hing eine mit einer Kordel angebundene zylinderförmige<br />
Metallschachtel. In diesem Augenblick legte<br />
die Möwe sie mit einer flinken zielgenauen Bewegung auf<br />
den Rand des Fensterbretts. Daraufhin schwang sie sich<br />
zum Flug auf und verschwand am Himmel.<br />
Nicoleta öffnete das Fenster, um das geheimnisvolle<br />
Kästchen zu ergreifen. Mit der Schachtel in der Hand<br />
schloss sie das Fenster und zog die Gardinen vor. Der Deckel<br />
war mit einem winzigen Riegel verschlossen, den sie<br />
mühelos zurückschieben konnte. Sie konnte ihren Augen<br />
nicht glauben: In der Metallschachtel lag eine Pergamentrolle.<br />
Sie entrollte es vorsichtig und war noch verblüffter,<br />
als sie sah, dass darauf etwas geschrieben<br />
stand. Es handelte sich um für sie völlig<br />
unverständliche Zahlen- und Buchstabenkombinationen.<br />
Diese rätselhafte<br />
Kette begann so:
„Ich bin schon fertig“, erschreckte sie Andrea, die<br />
plötzlich hereinplatzte.<br />
„Miau, miau (ich auch)“, miaute Missi gähnend<br />
und mit einem Ausdruck, als habe sie einen ausgiebigen<br />
Mittagsschlaf gehalten.<br />
„Ihr könnt euch nicht vorstellen, was mir gerade<br />
passiert ist!“, sagte Nicoleta aufgeregt. „Eine Briefmöwe<br />
hat gerade an mein Fenster geklopft und bevor sie<br />
davonflog, hat sie mir dieses geheimnisvolle Pergament<br />
hinterlassen.“<br />
„Unglaublich!“, rief Andrea beeindruckt.<br />
„Miau, miau (Eine Möwe? Gut, dass ich nicht hier<br />
war. Ich habe Angst vor diesen Vögeln)“, fügte Missi hinzu.<br />
„Aber das Beunruhigendste ist, was auf diesem<br />
Pergament steht. Schaut euch das an, Mädchen, kommt<br />
her! Das scheint eine verschlüsselte Nachricht zu sein.<br />
Wisst ihr, was sie bedeutet?“<br />
„So etwas habe ich noch nie gesehen“, versicherte<br />
Andrea, während sie mit Interesse las, was dort stand.<br />
„Miau, miau … (Ich habe nicht die leiseste<br />
Ahnung …).“<br />
„Gut, ich werde später darüber nachdenken. Jetzt<br />
haben wir viel zu tun“, sagte Nicoleta und legte das Papier<br />
auf den Tisch. „Um wie viel Uhr geht der Verdächtige?“<br />
„Gegen sieben. Warum? Möchtest du den Garten<br />
weiter untersuchen?“
„Nein, wir werden ihm folgen,“ schlug Nicoleta<br />
vor und Andrea wurde weiß wie die Wand.<br />
Bevor sie aufbrachen, bat Nicoleta Großmutter Ellie<br />
um Erlaubnis:<br />
„Oma, dürfen Andrea, Missi und ich ins Dorf gehen?<br />
Ich muss einen Brief abschicken.“<br />
„Na gut. Aber ich möchte, dass ihr vor dem Abendessen<br />
wieder zurück seid“, bemerkte die Großmutter,<br />
nachdem sie den Dreien einen Kuss gegeben hatte. Die<br />
Mädchen hatten daraufhin ein schlechtes Gewissen,<br />
denn sie hatten ihr nicht die Wahrheit gesagt.<br />
Trotzdem gingen sie in den Garten und warteten<br />
dort, bis der Verdächtige sich zum Gehen aufraffen<br />
würde. Tatsächlich, Punkt sieben nahm der Gärtner seine<br />
Sachen und verschwand wortlos.<br />
„Der Augenblick ist gekommen. Hast du schon<br />
einmal jemanden verfolgt?“, wollte Nicoleta wissen.<br />
Andrea schüttelte den Kopf.<br />
„Der Trick ist, den richtigen Abstand zu halten:<br />
Wir müssen weit genug weg sein, damit er uns nicht<br />
entdeckt, und gleichzeitig nah genug, um ihn nicht aus<br />
dem Blick zu verlieren. Missi, ich glaube, du verkriechst<br />
dich ab jetzt in meiner Tasche.“<br />
„Miau, miau (In Ordnung).“<br />
Das Dorf lag gut zwanzig Minuten schnellen<br />
Schritts entfernt. Um dorthin zu gelangen, musste man
über einen ziemlich schmalen, nicht asphaltierten Weg<br />
quer durch einen dichten Wald gehen.<br />
Thomas ging langsam aber stetig den erdigen und<br />
steinigen Weg entlang. Nicoleta und Andrea folgten<br />
ihm im angemessenen Abstand und versteckten sich<br />
dabei zwischen den Eukalyptusbäumen. Es war unwahrscheinlich,<br />
dass der Verdächtige sie sehen würde,<br />
wenn sie sich zwischen den Bäumen versteckten.<br />
Am Ortseingang steckte Nicoleta unauffällig ihren<br />
Brief in den Briefkasten. Dahinter versteckt, beobachteten<br />
die Mädchen, wie der Verdächtige um die Ecke<br />
in die Straße einbog, die zu ihm nach Hause führte.<br />
Thomas wohnte in einem alten heruntergekommenen<br />
Gebäude, dass trotz seiner drei Stockwerke sehr schmal<br />
war. Es hatte einen winzigen, umzäunten Garten, wahrscheinlich<br />
ein Gemüsegarten. Der Gärtner öffnete die<br />
Haustür und verschwand dahinter.<br />
„Und jetzt? Gehen wir zurück nach Hause?“, fragte<br />
Andrea.<br />
„Nein, lass uns noch ein Weilchen warten - für alle<br />
Fälle.“<br />
Die beiden Mädchen hockten sich hinter ein rotes<br />
Auto, das vor dem Haus abgestellt war. Es wurde bereits<br />
dunkel und es waren immer weniger Leute auf der Straße.<br />
Sie wollten gerade nach Hause gehen, als sie plötzlich<br />
die Schreie eines Kindes zusammenfahren ließen.
Nicoleta und Andrea liefen auf die Stimmen zu.<br />
In einem nahe gelegenen Park weinten ein paar kleine<br />
Kinder untröstlich.<br />
„Was ist los?“, fragte Nicoleta ein Mädchen, das in<br />
ihrem Alter zu sein schien.<br />
„Niemand weiß wie, aber unser Spielzeug ist gerade<br />
spurlos verschwunden. Mir wurde das Springseil<br />
weggenommen“, sagte sie traurig.<br />
„Aber ... habt ihr denn niemanden gesehen?“,<br />
fragte Andrea.<br />
„Dieser kleine Junge, der so traurig ist, sagt er habe<br />
gesehen, wie sich ein Schatten hinter den Bäumen bewegte.<br />
Ihm wurde sein Glücksbringer-Plüschtier gestohlen.“<br />
„Um alle Rätsel der Welt! Das ist ja schrecklich!“,<br />
sagte Nicoleta und schlug sich die Hände über dem<br />
Kopf zusammen.<br />
„Um Himmels willen! Dem müssen wir so schnell<br />
wie möglich ein Ende bereiten!“, sagte Andrea bestimmt.<br />
„Ja, und es sieht ganz so aus, als sei Thomas völlig<br />
unschuldig. Wir haben gesehen wie er sein Haus betrat<br />
und die ganze Zeit die Haustür bewacht: Da ist er nicht<br />
rausgegangen. Der Spielzeugdieb ist ein anderer“, folgerte<br />
Nicoleta.<br />
„Ach was ...“, erwiderte Andrea. „Komm mit, ich<br />
will etwas überprüfen.“<br />
Sie führte sie in die Parallelstraße.
„Ich wusste es! Lasst uns hier warten!“, sagte Andrea,<br />
während sie ihrer Freundin ein Zeichen gab, sich<br />
wieder hinter einem geparkten Auto zu verstecken.<br />
„Was führst du im Schild?“, fragte Nicoleta, die gar<br />
nichts verstand.<br />
„Wenn du der Schuldige wärst, würdest du dann<br />
so einfach durch die Vordertür deines Hauses mit verschwundenem<br />
Spielzeug rein- und rausgehen?“<br />
„Nein, auf keinen Fall!“ Nicoleta war erstaunt<br />
über Andreas glänzende Schlussfolgerungen. Aber tatsächlich<br />
scheint es nicht, als habe der Gärtner sein Haus<br />
verlassen - weder mit, noch ohne Spielzeug.<br />
„Da liegt unser Fehler,“ brüstete sich Andrea. „In<br />
diesem Dorf haben die meisten Häuser eine Hintertür,<br />
die auf eine andere Straßen führt. Wenn ich mich nicht<br />
irre, ist das dort drüben die Hintertür des Gebäudes des<br />
Gärtners. Er kann ganz einfach mehrmals hier rein-<br />
und rausgegangen sein, ohne dass wir etwas bemerkt<br />
hätten.“<br />
„Klar ... Du denkst aber auch an alles!“, lobte Nicoleta<br />
sie.<br />
In diesem Moment ging das Licht der kleinen Tür<br />
an und Thomas trat mit einem großen schwarzen Sack<br />
auf dem Rücken heraus.<br />
„Um alle Rätsel der Welt! Siehst du, was meine Augen<br />
sehen?“, wollte Nicoleta wissen.
„Ja, und ich bin mir sicher, dass er nachdem er den<br />
Kindern das Spielzeug gestohlen hat, zum Entladen<br />
durch die Hintertür nach Hause zurückgekommen ist.<br />
Bestimmt kommt er jetzt wieder raus, um etwas anzustellen.“<br />
Andrea schluckte.<br />
„Wir müssen ihn verfolgen. Jetzt darf er uns nicht<br />
entwischen.“<br />
Die Nacht war bereits eingebrochen. Die Straßen -<br />
laternen, die das Dorf beleuchteten, waren von einem<br />
düsteren Gelb, das die Schatten verlängerte und ihnen<br />
andere Formen verlieh. Bei diesem Lichtspiel wirkten<br />
die Ratten wie Geier, die Katzen wie Tiger und die<br />
Hunde wie riesige Wölfe. Und jener Mann, der einen<br />
Sack auf dem Rücken trug, war wie ein scheußliches<br />
Monster. Nicoleta, Andrea und Missi, die noch immer<br />
in der Tasche steckte, folgten ihm ängstlich.<br />
Nach einer langen Wanderung durch die dunk -<br />
len Straßen blieb der Verdächtige vor dem Haus der<br />
Familie Lorenz stehen; sie hatte die meisten Kindern<br />
im Dorf. Sie bestand aus einem freundlichen Paar<br />
mittleren Alters und deren acht glücklichen Kindern.<br />
Sie waren mit allen gut Freund. Thomas schellte und<br />
betrat das Haus, als die Tür geöffnet wurde. Nach fünf<br />
Minuten kam er mit dem Sack wieder heraus.<br />
„Denkst du dasselbe wie ich?“, fragte Nicoleta<br />
ungläubig.
„Glaubst du, der Gärtner hat in seinem Sack das<br />
Spielzeug der Lorenz-Kinder mitgenommen?“<br />
„Kann sein ...“, sagte Nicoleta zweifelnd. „Lass uns<br />
ihn weiter verfolgen.“<br />
Der nächste Stopp verwirrte und ängstigte die<br />
Mädchen aufs Neue. Der Verfolgte machte vor der Tür<br />
des Fleischers Halt. Er klopfte laut mit den Fingerknöcheln<br />
an. Sofort wurde ihm von innen geöffnet und er<br />
wurde zum Eintreten aufgefordert.<br />
„Das wird immer geheimnisvoller. Warum verlässt<br />
der Gärtner bei Sonnenuntergang sein Haus mit einem<br />
Sack auf dem Rücken, besucht die Familie Lorenz und<br />
betritt danach die Fleischerei durch die Hintertür?“,<br />
überlegte Nicoleta laut.<br />
„Was mag er um diese Uhrzeit in der Fleischerei<br />
wollen?“<br />
„Ich weiß es nicht, aber es gibt auch nicht viele<br />
Möglichkeiten ... In Fleischereien gibt es Fleisch, riesige<br />
Kühltruhen, Schneidemaschinen und viele scharfe<br />
Messer,“ sagte Nicoleta und ihr Magen drehte sich um.<br />
„Das ist ja schrecklich!“, rief Andrea mit einem<br />
Knoten im Hals.<br />
„Miau, miau (Bitte sagt mir nicht, ich solle dort<br />
zum Schnüffeln reingehen)“, Missi befürchtete das<br />
Schlimmste am Boden der Tasche.<br />
„Ruhig, Kätzchen. Das würde ich nie machen“,
Nicoleta streichelte sie durch den Stoff. „Irgendetwas<br />
entgeht uns hier.“<br />
In diesem Augenblick verließ der Verdächtige die<br />
Fleischerei, immer noch mit dem Sack auf seinem Rücken.<br />
Schon im Türrahmen, tauschten der Fleischer und<br />
er noch ein paar Worte aus. Die Mädchen, die sich hinter<br />
einer Ecke versteckt hatte, konnten alles genau mithören.<br />
„Ich bin zufrieden. Bald habe ich erreicht, was ich<br />
will“, sagte der Verdächtige mit rauer Stimme.<br />
„Das freut mich sehr, Thomas.“<br />
„Später gehe ich in den Schuppen. Dahin gehe ich<br />
normalerweise im Morgengrauen. Ich weiß nicht, was geschähe,<br />
wenn jemand wüsste, was ich da versteckt halte.“<br />
Nachdem sie das gehört hatte, stockte Nicoleta,<br />
Missi und Andrea das Blut in den Adern. Sie waren der<br />
Wahrheit immer näher.
Bestraft<br />
Als sie nach Hause kamen, war es schon<br />
nach zehn. Marie und Großmutter Ellie warteten im<br />
Wohnzimmer auf sie. Ihre Gesichter sprachen Bände.<br />
Sie waren besorgt und sehr verärgert.<br />
„Ab ins Bett und ohne Abendessen! Du bekommst<br />
deine Strafe, mein junges Mädchen!“, schrie Marie Andrea<br />
an, ohne ihr die Möglichkeit zu einer Erklärung zu geben.<br />
Großmutter Ellie war ruhiger, wenn auch nicht<br />
weniger verärgert. Sie befahl Nicoleta sich hinzusetzen.<br />
„Kleine, du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt.<br />
Es ist sehr gefährlich,wenn ihr zu dieser Zeit<br />
nachts da draußen rumlauft. Es tut mir Leid, aber ich<br />
muss dich bestrafen. Morgen dürft Andrea und du euch
nicht treffen. Die meiste Zeit bleibt ihr in euren Zimmern<br />
und ihr esst nacheinander. Und natürlich ist es<br />
ab jetzt strengstens verboten, dass ihr nach der Abenddämmerung<br />
den Garten verlasst“, befahl Großmutter<br />
Ellie ohne dabei stolz auf ihre strengen Worte zu sein.<br />
„Na gut, Oma. Es tut mir sehr Leid. Du hast Recht.<br />
Wir sind herumgebummelt und haben das Zeitgefühl<br />
verloren. Es wird nicht noch einmal geschehen.“<br />
Nicoleta war traurig, insbesondere, weil sie sie<br />
enttäuscht hatte. Großmutter Ellie bestrafte sehr selten,<br />
aber wenn sie es tat, gab es kein Zurück. Nicoleta bewunderte<br />
sie sehr, unter anderem, weil sie, auch wenn<br />
sie verärgert war, leise sprach, niemals schrie und immer<br />
die Ruhe bewahrte. Liebevoll erklärte sie ihr, warum<br />
das, was sie getan hatte, nicht richtig war.<br />
Diese Nacht konnte Nicoleta wieder nicht schlafen.<br />
Sie musste immer an ihre Erlebnisse im Dorf denken.<br />
Der bloße Gedanke daran, dass Andrea Recht<br />
haben könnte, ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Im<br />
Wohnzimmer stand eine Kuckucksuhr, die jede Stunde<br />
schlug, und die man fast bis in jeden Winkel des Hauses<br />
hören konnte. Als der Kuckuck zwei Uhr morgens ankündigte,<br />
stand Nicoleta auf und ging zum Fenster.<br />
Der Verdächtige ließ nicht lange auf sich warten.<br />
Wie gewohnt, schleppte er den schwarzen Sack auf dem<br />
Rücken. In einer Hand hielt er die kleine Taschenlam-
pe, die in dieser dunklen, mondlosen Nacht den Weg<br />
erleuchtete. Mit ihrer Hilfe erreichte er den Schuppen,<br />
öffnete die Tür und trat ein. Nicoleta bekam Gänsehaut:<br />
Diese nächtlichen Besuche fand sie immer haarsträubender.<br />
Plötzlich: „Ring, ring, ring ...“.<br />
Nicoleta hüpfte das Herz vor Freude. Der Walkie-<br />
Talkie hatte geklingelt.<br />
„Ja?“, antwortete sie.<br />
„Du kannst auch nicht schlafen, stimmt‘s?“, ertönte<br />
Andreas Stimme auf der anderen Seite.<br />
„Hast du mir einen Schrecken eingejagt ... Uff, ich<br />
kann unmöglich einschlafen. Ich muss immer an das<br />
denken, was wir im Dorf gesehen haben.“<br />
„Er ist schon da drinnen. Hast du ihn auch kommen<br />
gesehen?“<br />
„Ja, ich bin ziemlich verwirrt. Ich weiß nicht, was<br />
mir machen sollen. Es wird uns gut tun, morgen ein<br />
bisschen auszuruhen und über alles nachzudenken. Ich<br />
versuche jetzt zu schlafen.“<br />
„Ja, ich auch.“<br />
„Gute Nacht, Andrea.“<br />
„Gute Nacht, Nicoleta.“<br />
Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, ging<br />
Nicoleta zu ihrer Großmutter Ellie, die freudig im<br />
Schaukelstuhl strickte.
„Oma, hast du ein Papier mit einer merkwürdigen<br />
Zahlen- und Buchstabenfolge gesehen? Ich habe es gestern<br />
auf meinem Schreibtisch liegen gelassen und jetzt<br />
ist es weg“, wollte Nicoleta wissen, die sich daran erinnerte,<br />
dass sie das eigenartige Pergament beim Aufstehen<br />
nicht gesehen hatte.<br />
„Meinst du das hier?“, Großmutter Ellie deutete<br />
mit einer der Stricknadeln darauf. „Das ist die Strickanleitung<br />
für eine Decke. Die, an der ich gerade arbeite.<br />
Ich dachte, du hättest es dort liegen gelassen, damit ich<br />
sie dir stricke“, erklärte sie.<br />
Großmutter Ellie war eine fantastische Strickerin.<br />
Deshalb bat Nicoleta sie manchmal ihr etwas zu stricken:<br />
Kleider, Pullover, Schals<br />
„Eine Decke? Diese komische Zahlen- und Buchstabenkombination<br />
ist eine Strickanleitung? Merkwürdig!“,<br />
dachte Nicoleta, die überhaupt nichts mehr verstand.<br />
„Ja, Oma, natürlich wünsche ich mir, dass du sie<br />
mir strickst. Wenn du fertig damit bist, zeigst du sie mir.<br />
Vielen Dank.“<br />
Sie ging in ihr Zimmer und überlegte, wie<br />
merkwürdig alles war, was mit diesem eigenartigen<br />
Stück Papier voller Zahlen und Buchstaben zu tun<br />
hatte. Sie konnte nicht glauben, dass es sich um eine<br />
Strickanleitung für eine Decke handelte. „Was für<br />
eine Art Decke das wohl sein mag?“, fragte sie sich
neugierig. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig als<br />
zu warten, bis Oma sie fertig gestrickt hatte. Währenddessen<br />
war die Angelegenheit, mit der sie ge -<br />
rade beschäftigt war, ernst genug, um sich ihr voll -<br />
kommen zu widmen. Sie musste nachdenken.<br />
Im Schlafzimmer holte sie die Nähmaschine hervor.<br />
Sie liebte es, alte Stoffstücke auszugraben und darauf<br />
zu experimentieren. Das entspannte sie nicht nur,<br />
sondern half ihr auch nachzudenken und Entscheidungen<br />
zu treffen. Missi hingegen fand es herrlich mit den<br />
Garnknäueln zu spielen. Sie liebte es, sie mit den Vorderpfoten<br />
anzustoßen und sich vorzustellen, es seien<br />
kleine Mäuse, die vor ihr wegliefen.<br />
Nach dem Essen setzte Nicoleta sich an den Tisch<br />
in ihrem Zimmer, um über den Fall nachzudenken. Sie<br />
holte den Notizblock und die Fotos, die sie bis jetzt geschossen<br />
hatte, hervor. Mit ihrer Lupe untersuchte sie<br />
die Fotos Stück für Stück. Plötzlich schnürte ihr eins<br />
der Fotos die Kehle zu.<br />
„Ring, ring, ring …“<br />
Der Walkie-Talkie schellte genau in diesem Moment.<br />
„Andrea, ich muss dir etwas Schreckliches er -<br />
zählen!“, schrie Nicoleta aufgeregt durch denWalkie-<br />
Talkie.<br />
„Ist etwas Schlimmes passiert?“, fragte Andrea, die<br />
langsam unruhig wurde.
„Schau, ich untersuche gerade die Fotos und habe<br />
festgestellt, dass zwischen einem Ast des Feigenbaums<br />
und den Wänden des Schuppens ein riesiges Spinnennetz<br />
hängt. Möglicherweise von einer Tigerspinne“,<br />
stotterte sie.<br />
Ach so ... ich hatte keine Ahnung. Aber ... warum<br />
macht dir das solche Sorgen? Hat das etwas mit dem<br />
Verdächtigen zu tun? Du tust so, als ob du ein Gespenst<br />
gesehen hättest.“<br />
Stille.<br />
„Nicoleta, bist du da? Ist alles in Ordnung?“, fragte<br />
Andrea beunruhigt, weil ihre Gesprächspartnerin nicht<br />
reagierte.<br />
„Ja, ja. Alles in Ordnung“, antwortete Nicoleta<br />
schließlich. Die Geschichte mit den Spinnen erzähle<br />
ich dir ein anderes Mal. Gleich rufe ich dich an. Du hast<br />
mich gerade auf eine glänzende Idee gebracht!“
Die Gespensternacht<br />
„Ring, ring, ring …“<br />
„Endlich! Hast du mich vielleicht auf die Folter<br />
gespannt! Was hast du vor?“, fragte Andrea am anderen<br />
Ende desWalkie-Talkies.<br />
„Komm sofort in mein Zimmer und du wirst es<br />
sehen!“, rief Nicoleta aufgeregt.<br />
„Ich darf nicht ... Heute sind wir bestraft, uns nicht<br />
zu sehen. Oder hast du das vergessen?“<br />
„Heute? Du meinst wohl gestern. Die Kuckucksuhr<br />
hat gerade zwölf geschlagen. Damit endet die Strafe<br />
offiziell“, unterstrich Nicoleta.<br />
„Wie Recht du hast! Ich komme sofort!“<br />
Als Andrea das Zimmer betrat, nähte Nicoleta auf
vollen Touren, während Missi, die auf dem Tisch saß,<br />
hypnotisiert die flinke kleine Nadel beobachtete.<br />
Auf dem Bett lagen zwei große weiße Betttücher.<br />
Nicoleta arbeitete gerade an dem kleineren.<br />
„Fertig! Missi, das ist deins!“, sagte sie und hielt<br />
ein Stück weißen Stoff hoch.<br />
„Miau, miau (Du hast ja sogar kleine Löcher für<br />
den Schwanz und den Schnurrbart geschnitten ... Du<br />
bist eine echte Künstlerin!).“<br />
„Hier, probier dieses an!“, rief Nicoleta und gab<br />
Andrea ein größeres Betttuch.<br />
„Ist das das, was ich mir vorstelle?“, fragte diese<br />
ungläubig.<br />
„Genau! Drei selbst gemachte wunderschöne Gespensterkostüme.“<br />
„Und dieses weiße Täschchen?“<br />
„Das ist eine Gespenstertasche. Ohne Handtasche<br />
gehe ich nirgendwo hin“, erwiderte Nicoleta kokett.<br />
Diesen Nachmittag hatte sie einen Plan ausgeheckt.<br />
Ihre Nähmaschine, die alte Betttücher im Schrank und<br />
das Wort „Gespenst“, das Andrea ausgesprochen hatte,<br />
hatten in ihr eine wortwörtlich gespenstische Idee hervorgerufen.<br />
„Wir verstecken uns im Eulenkiefernwald. Wenn der<br />
Verdächtige im Morgengrauen auftaucht und sich im Schuppen<br />
einschließt, beginnt die Vorstellung,“ erzählte Nicoleta.
„Möchtest du, dass wir uns als Gespenster verkleiden?“,<br />
fragte Andrea kurz.<br />
„Ich will ihn erschrecken. Ich glaube nicht, dass<br />
der Gärtner so naiv ist, zu glauben, wir seien böse Geister,<br />
die ihn für seine schlechten Taten bestrafen wollen.<br />
Aber zumindest wird er merken, dass jemand über seine<br />
nächtlichen Besuche Bescheid weiß. Es ist der Moment<br />
gekommen, an dem er sich in die Enge getrieben<br />
fühlen soll.“<br />
„Und was erreichen wir damit?“<br />
„Wir erreichen, dass er nervös wird und einen<br />
Fehler begeht. Einen Fehler, der uns den definitiven Beweis<br />
liefert.“<br />
„Miau, miau? (Und wenn er uns fängt und uns im<br />
Schuppen einsperrt?)“ Missi war nicht gerade begeistert.
„Daran habe ich schon gedacht. Und tatsächlich<br />
wäre das das Beste, was uns passieren könnte“, bestätigte<br />
Nicoleta erschrocken.<br />
„Wie bitte?“, Andrea traten die Augen aus den<br />
Höhlen.<br />
„Wir sind zu dritt. Es ist unmöglich, dass er uns alle<br />
schnappt. Und falls er eine von uns fangen und einsperren<br />
sollte, können die anderen beiden flüchten. Und wir<br />
erhalten den entscheidenden Beweis, um ihn vor den<br />
Großen anzuklagen“, erklärte Nicoleta selbstsicher.<br />
„Na gut. Wir müssen so bald wie möglich einen<br />
Schlussstrich unter diese Geschichte ziehen“, sagte<br />
Andrea, die Mut fasste, obwohl sie befürchtete, dass<br />
der Gärtner sie schnappen und in den Schuppen<br />
sperren könnte.<br />
„Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen könnte!“,<br />
Nicoleta umarmte sie. „Du solltest dem Schwalbenclub<br />
beitreten, du wärst eine gute Abenteuer-Kollegin.“<br />
„Danke“, sagte Andrea und wurde rot.<br />
„Los! Bevor der Verdächtige kommt, müssen wir<br />
noch etwas vorbereiten<br />
Die beiden Mädchen und Missi gingen nach unten.<br />
Wie gewöhnlich war Großmutter Ellie bei Kerzenschein<br />
im Schaukelstuhl eingeschlafen, während sie strickte.<br />
An ihren Stricknadeln hing die geheimnisvolle Decke,<br />
die erst halb fertig gestrickt war. Leise schlichten sie an
ihr vorbei und gingen zur Kommode. Nicoleta wusste,<br />
dass ihr Großmutter in einer dieser Schubladen Kerzen<br />
und Streichhölzer aufbewahrte. Vorsichtig öffnete sie<br />
sie der Reihe nach, bis sie auf die Richtige stieß.<br />
Andrea und Nicoleta nahmen alle Kerzen an sich<br />
und gingen ins Wohnzimmer. Glücklicherweise hatte<br />
Großmutter Ellie einen so tiefen Schlaf, dass sie nichts<br />
bemerkte. Danach öffneten sie vorsichtig die Haustür<br />
und gingen hinaus in den Garten.<br />
Draußen angekommen, gingen sie zum Eulen -<br />
kiefernwald, dem besten Versteck, um auf den Ver -<br />
dächtigen zu warten. Der kleine Kiefernwald hat -<br />
te nicht mehr als zehn Kiefern und befand sich im<br />
hinteren Teil des Gartens. Er hatte seinen Namen<br />
erhalten, weil sich dort vor vielen Jahren eine Eule<br />
häuslich niedergelassen hatte. Der eigenartige Schrei<br />
des Nachtvogels ließ einem jede Nacht Schauer über<br />
den Rücken laufen.<br />
Die Kuckucksuhr schlug zwei. Sie konnten sie<br />
durch eines der offenen Fenster hören. Thomas traf<br />
pünktlich mit dem schwachen Lichtschein seiner<br />
kleinen Taschenlampe ein.<br />
„Er hat sich schon im Schuppen eingeschlossen.<br />
Die Vorstellung beginnt,“ kündigte Nicoleta an, die sich<br />
ihre Hände rieb, obwohl mit einem etwas verängstigten<br />
Blick. „Zuerst müssen wir die Kerzen aufstellen.“
Sie zündeten die Kerzen an und verteilten sie strategisch<br />
im Garten. Danach versteckten sie sich wieder<br />
im Kiefernwald, um sich vorzubereiten.<br />
„Er kommt bestimmt gleich aus dem Schuppen.<br />
Wir müssen uns verkleiden“. Sagte Nicoleta und holte<br />
etwas aus ihrer Gespenstertasche hervor.<br />
„Was ist das?“, fragte Andrea erstaunt.<br />
„Das sind geräuschverzerrende Masken. Ich habe<br />
sie vorher aus meinem GEK geholt. Damit klingt unsere<br />
Stimme nicht wie die dreier hilfloser Wesen, sondern<br />
wie die von echten Monstern.“<br />
„Irre!“, rief Andrea, die langsam Vertrauen in den<br />
Plan fasste.<br />
„Was Oma Ellie betrifft, so glaube ich nicht, dass<br />
sie aufwacht. Sie hat einen unglaublich tiefen Schlaf.<br />
Aber deine Mutter macht mir Sorgen ...“<br />
„Ich glaube nicht, dass Mama aufwacht. Ihr Zimmer<br />
geht nach hinten und außerdem schläft sie nie bei<br />
offenem Fenster“, versicherte Andrea.<br />
„Nun gut, das Risiko müssen wir eingehen ... Jetzt<br />
müssen wir uns verkleiden! Der Moment naht!“<br />
Die Mädchen und das Kätzchen setzen sich die<br />
geräuschverzerrenden Masken auf und stülpten sich<br />
danach die Gespensterkostüme über den Kopf. Sie versteckten<br />
sich hinter den Kiefern, die dem Schuppen am<br />
nächsten standen, und begannen mit der Spionage.
Der Verdächtige ließ nicht lange auf sich warten.<br />
Er kam aus dem Schuppen und verschloss ihn. Auf seinem<br />
Rücken trug er den berühmten schwarzen Sack.<br />
Dann begann die Eule zu heulen, so als wolle sie das<br />
Startzeichen setzen.<br />
Andrea, Nicoleta und Missi traten bedeckt mit<br />
ihren Gespensterverkleidungen aus dem Versteck<br />
hervor und gingen auf ihr Ziel zu. Der Gärtner blieb<br />
regungslos und sprachlos in der Schuppentür stehen.<br />
Auch in dieser Nacht schien der Mond nicht und die<br />
Kerzen hatten ein Schrecken erregendes Ambiente<br />
geschaffen.<br />
Andrea machte mit einer Stimme aus dem Jen -<br />
seits „Huuuuuuuuu“. Missis Miauen klang wie das<br />
schrecklichen Brüllen eines Löwens. Die mutige<br />
Nicoleta traute sich noch einen Schritt weiter. Ihre<br />
Stimme schien die eines echten Teufels zu sein, als sie<br />
Thomas fragte: „Huuuuuuuuuu.... Was hast du getan,<br />
Thomas? Ich kenne dein Geheimnis. Ich weiß, was<br />
du im Schuppen versteckst. Huuuuuuuuu“.<br />
Der erschrockene Thomas rannte auf den<br />
Ausgang zu und versuchte, den Gespenstern aus<br />
dem Weg zu gehen. „Ich habe nichts Böses getan.<br />
Es ist zu ihrem Guten“, schrie er, während er durch<br />
die Gartentür lief.
Die Spinne kommt!<br />
„Ist der Verdächtige heute Morgen<br />
gekommen?“, fragte Nicoleta Andrea, als sie allein in<br />
der Küche waren.<br />
„Ja, in aller Frühe, wie immer. Glaubst du, unser<br />
Theater von gestern hat etwas genützt?“, wollte Andrea<br />
wissen, während sie ihren Kakao umrührte.<br />
„Ganz bestimmt ... Denk nur an sein erschrockenes<br />
Gesicht und die Worte, die er sagte, bevor er ging.“<br />
„Ja, er sagte: Ich habe nichts Böses getan. Es ist zu<br />
ihrem Guten,“ erinnerte sich Andrea.<br />
„Miau, miau (Sehr aufschlussreich)“, folgerte<br />
Missi, die auch am Tisch saß und ihre Milch von<br />
einem Teller schleckte.<br />
„Das sagt uns mehrere Dinge. Erstens, dass wir<br />
es geschafft haben, ihn zu erschrecken. Zweitens hat
er sein Verbrechen eingestanden, auch wenn er es entschuldigt,<br />
weil er meint, es wäre gut für die Kinder. Und<br />
das Wichtigste ist, dass er jetzt weiß, dass auch andere<br />
sein Geheimnis kennen.“<br />
„Ja, du hast Recht, Nicoleta.“<br />
„Ich verwette meine besten Sandalen, dass er heute<br />
im Verlauf des Tages einen Fehler begehen wird. Lass<br />
uns den Fotoapparat und das Fernglas holen. Wir bewachen<br />
ihn von hoch oben, von der Dachkammer aus.“<br />
Die beiden Mädchen stiegen auf den Dachboden.<br />
Dort zogen sie ein paar Stühle heran, öffneten das<br />
Oberlicht und steckten die Köpfe hinaus.<br />
„Jetzt füttert er gerade die Enten“ berichtete Andrea,<br />
die durch das Fernglas schaute.<br />
„Lass ihn nicht aus den Augen“, empfahl ihr<br />
Nicoleta, die ununterbrochen Fotos schoss.<br />
„Er verlässt mein Blickfeld. Er geht hinter das<br />
Haus“, warnte Andrea.<br />
„Bleib wachsam. Ich werde mir die Fotos mit der Lupe<br />
ansehen. Damit kann ich die Einzelheiten erkennen.“<br />
Nicoleta ging in ihr Zimmer und nahm die Fotos<br />
unter die Lupe. Häufig verbargen sie verdeckte Spuren.<br />
Die Fotos vom Schuppen untersuchte sie besonders<br />
gründlich. Leider befanden die Spinnweben sich immer<br />
noch an derselben Stelle. Aber nicht alles waren<br />
schlechte Nachrichten. Auf einem der Bild hatte sie den
Eindruck, etwas auf dem Dach zu sehen. Etwas, das sich<br />
hinter dem dichten Laub des Feigenbaums versteckte.<br />
Sie brachte die Lupe noch näher heran, um es sich<br />
gründlich anzuschauen.<br />
„Das ist ja schrecklich! Der Verdächtige hat sich schon<br />
im Schuppen eingeschlossen“, unterbrach Andrea sie.<br />
„Um diese Zeit? Ich wusste es! Es war mir klar, dass<br />
der Schreck von gestern Folgen haben würde ... Ich glaube,<br />
Thomas weiß, dass wir ihn entdeckt haben. Vielleicht will<br />
er jetzt anfangen, das Spielzeug aus dem Schuppen zu holen,<br />
um die Beweise zu vernichten,“ versicherte Nicoleta,<br />
ohne das Gesicht von der Lupe zu wenden.<br />
„Klar! Ganz bestimmt!“<br />
„Um alle Schwalben der Welt!“, stieß Nicoleta aufgeregt<br />
aus.<br />
„Was ist los?“,<br />
„Ich hab‘s! In das Dach des Schuppens ist ein kleines<br />
Oberlicht aus Glas eingelassen. Ich bin mir sicher, dass<br />
man von dort aus in den Innenraum schauen kann.“<br />
„Donnerwetter! Was für eine Entdeckung! Aber<br />
wie kommen wir da rauf?“<br />
„Ich habe eine Idee! Lass uns zum Schuppen gehen!“,<br />
schlug Nicoleta vor.<br />
Vom Gärtner war keine Spur zu sehen.<br />
„Glaubst du, er ist noch immer da drin?“, flüsterte<br />
Nicoleta.
„Muss er wohl. Im Garten sehe ich ihn nicht.“<br />
„Das ist unsere Chance, den ausschlaggebenden<br />
Beweis zu finden. Wir müssen auf den Feigenbaum<br />
klettern und ihn mit dem Spielzeug durch das Oberlicht<br />
fotografieren.“<br />
„Eine gute Idee! Aber ich weiß nicht, ob ich auf den<br />
Baum klettern kann. Ich bin ein bisschen ungeschickt<br />
mit solchen Sachen. Außerdem habe ich Höhenangst“,<br />
erklärte Andrea.<br />
„Na gut, das mache ich“, seufzte Nicoleta. „Ich konnte<br />
immer schon gut klettern. Es gibt nur ein kleines Problem ...“<br />
„Welches?“<br />
„Dieses ekelhafte Spinnengewebe, das zwischen<br />
dem Feigenbaum und dem Schuppen hängt.“<br />
Nicoleta hatte große Angst vor diesen achtbeinigen<br />
behaarten Viechern. Und noch mehr, wenn es tatsächlich<br />
eine echte Tigerspinne war. Trotzdem konnten sie sich diese<br />
Gelegenheit nicht entgehen lassen. Andererseits hegte sie<br />
die Hoffnung, dass die Spinne ihr Versteck nicht verlassen<br />
würde und sie in Ruhe ihre Aufgabe ausführen könnte.“<br />
„Behalte du das Fernglas. Wenn du siehst, dass sich<br />
die Tigerspinne nähert, sag mir sofort Bescheid,“ bat sie<br />
ihre Freundin zitternd.<br />
„In Ordnung, mach dir keine Sorgen“, erwiderte<br />
Andrea und ergriff das Fernglas mit beiden Händen.<br />
Mit der Kamera um den Hals baumelnd begann sie
den Feigenbaum hochzuklettern, indem sie sich an den Astknoten<br />
festhielt. Klettern war eine Sportart, die ihr wirklich<br />
gut lag und nach kurzer Zeit saß sie auf einem Ast.<br />
Aber um durch das Oberlicht zu blicken, musste sie<br />
sich dem Dach mehr nähern und infolgedessen auch der<br />
Spinnwebe. Sie atmete tief durch, fasste Mut und kletterte<br />
auf den obersten Ast, der sie zu ihrem Ziel führte. Mit dem<br />
Schwanken des Baums bewegte sich auch die Spinnwebe<br />
und was Nicoleta so sehr befürchtet hatte, war eingetreten.<br />
Aus einer Einbuchtung im Stamm kroch ein riesiges<br />
Vieh hervor. Es hatte acht behaarte Beine und acht eklige<br />
schwarze Augen. Ihr großer runder Körper war gelb mit<br />
schwarzen Streifen, genauso wie ein Tigerfell.<br />
„Die Spinne kommt!“, warnte Andrea von unten.<br />
„Wie bitte?, Wo? Wo denn? Wenn ich sie anschaue,<br />
bin ich verloren!“, jammerte Nicoleta erschrocken.<br />
Bevor Andrea antworten konnte, trafen Nicoletas<br />
blaue Augen die widerlichen acht Augen der Tigerspinne.<br />
„Komm schnell runter!“, ermutigte Andrea sie.<br />
„Ich kann nicht! Wenn ich eine Spinne sehe, bin<br />
ich wie gelähmt“, schrie Nicoleta, die sich nicht bewegen<br />
konnte. Die Spinne kroch zu ihr. „Oh Schreck, ich<br />
finde mein Zauberpulver nicht!“<br />
„Was kann ich tun?“, fragte Andrea, die sich machtlos<br />
fühlte.<br />
„Missi, lauf, kletter auf den Baum! Du musst mich
zum Niesen bringen!“, rief Nicoleta verzweifelt.<br />
„Missi ist nicht hier. Ich kann sie nirgendwo sehen“,<br />
Andrea weinte fast.<br />
„Das kann nicht sein! Wo mag er nur sein? Ich<br />
könnte schwören, den Puder in die Hosentasche gesteckt<br />
zu haben, bevor ich aus dem Haus ging! Ich brauche ihn!<br />
Wenn ich nicht niese, kann ich mich nicht bewegen.“<br />
„Warte mal, hier liegt etwas im Gras“, sagte Andrea<br />
und bückte sich, um es aufzuheben.<br />
Auf dem Feigenbaum kam die Tigerspinne langsam<br />
näher, während sie ihren Gast neugierig anschaute.<br />
„Es ist mir bestimmt aus der Tasche gefallen, als<br />
ich den Baumstamm hoch geklettert bin“, sagte Nicoleta<br />
hoffnungsvoll.<br />
„Oh, nein! Das ist es nicht. Es ist nur ein Kästchen<br />
mit Rouge“, antwortete Andrea enttäuscht.<br />
„Ja, das ist es! Das ist mein Zauberpulver! Schnell!<br />
Du musst hier hochklettern und mir das Pulver unter<br />
die Nase halten!“, schrie die immer noch bewegungsunfähige<br />
Nicoleta zwischen den Ästen.<br />
„Aber ... du weißt doch, dass ich Höhenangst habe.“<br />
„Beeil dich! Ich fühle, wie der Atem der Spinne<br />
immer näher kommt.“<br />
Andrea versuchte ihr Gehirn auszuschalten und für<br />
einen Moment ihr panische Angst vor Höhen zu vergessen.<br />
Danach kletterte sie entschieden auf den Feigenbaum
mit dem Zauberpulver in der Hosentasche. Obwohl sie nur<br />
langsam voran kam, erreichte sie schließlich die Stelle, an<br />
der Nicoleta hockte. Die Spinne hatte deren Haare erreicht<br />
und spielte, dieses mit den Vorderfüßen durcheinander zu<br />
bringen. Sehr nervös und ohne herunter zu schauen setzte<br />
sich Andrea auf den Ast, auf dem ihre Freundin saß, holte<br />
das Kästchen mit dem Zauberpulver hervor und öffnete<br />
es. Danach streckte sie ihren Arm so weit wie möglich aus<br />
und hielt es ihr unter die Nase.<br />
„Ein bisschen mehr“, bat Nicoleta sie, die immer<br />
erschrockener war.<br />
Die Spinne war bereits in ihr Haar gekrochen und<br />
kitzelte ihr schaurig den Kopf.<br />
„Geschafft“, sagte Andrea und hielt sich mit der<br />
anderen Hand kräftig am Baum fest.<br />
Schließlich schaffte Andrea nach mehreren Versuchen<br />
Nicoletas Nase mit dem Zauberpulver einzustäuben.<br />
„HATSCHIIIIIIIIII!“<br />
Nach diesem kräftigen Niesen, floh die Spinne entsetzt<br />
und versteckte sich wieder in der Baumspalte, aus der<br />
sie gekommen war. Im gleichen Moment begann Andrea,<br />
den Baum herunterzuklettern. Und Nicoleta blieb, sich<br />
mit beiden Händen festhaltend, an jenem Ast hängen. Es<br />
war ein Wunder, dass sie nicht heruntergefallen war.<br />
„Ich springe jetzt! Ist unten alles frei?“, wollte<br />
Nicoleta wissen.
„Ja, es liegt nichts herum. Aber ... Bist du dir sicher? Ist<br />
es nicht ein bisschen hoch?“, sorgte sich Andrea von unten.<br />
„Immer mit der Ruhe. Das habe ich schon oft gemacht.<br />
Der Rasen fängt den Sprung ab.“<br />
Gesagt, getan. Nicoleta löste sich vom Baum und<br />
fiel mit den Knien auf den Rasen.<br />
„Blöde Spinne! Wir haben nicht nur die Chance,<br />
den stichhaltigen Beweis zu bekommen, verpasst, sondern<br />
der Verdächtige hat uns bestimmt gehört und ist<br />
gewarnt,“ beschwerte sich Nicoleta. Danke, dass du auf<br />
den Baum geklettert bist. Du hast mich von der schrecklichen<br />
Tigerspinne befreit, die mich in jedem Moment<br />
gestochen hätte,“ dankte sie ihr.<br />
„Macht nichts. Du hättest für mich dasselbe getan“,<br />
sagte Andrea stolz auf sich.<br />
„Jetzt mache ich mir Sorgen um Missi. Sie verschwindet<br />
niemals, ohne mir Bescheid zu geben. Wo mag<br />
dieses neugierige Kätzchen bloß stecken? Das letzte Mal<br />
habe ich sie in der Küche beim Frühstücken gesehen.“<br />
„Um Himmels willen! Was ist das?“, unterbrach Andrea<br />
sie, die sich dem Eingang des Schuppens genähert hatte.<br />
Ein Pfad roter Tropfen nahm seinen Anfang an<br />
der Tür, verlief am Brombeerstrauch entlang und verlor<br />
sich im Rasen.<br />
„Sieht wie Blut aus!“, rief Nicoleta und schlug sich<br />
die Hände über dem Kopf zusammen.
Das Geheimnis wird gelüftet<br />
„Missiiiiiiii!, Missiiiiiiii!“<br />
Nicoleta und Andrea suchten das Kätzchen überall.<br />
Im Haus, im Garten, um das Grundstück der Großmutter<br />
herum ... Aber Missi schien vom Erdboden verschluckt<br />
worden zu sein.<br />
Für Nicoleta war Missi viel mehr als nur ein Haustier.<br />
Sie war ihre beste Freundin, ihre untrennbare Gefährtin,<br />
ihre Vertraute und Ratgeberin. Als sie sie adoptierte,<br />
war sie nicht mehr als ein kleines Wollknäuel, das<br />
kaum die Augen öffnen konnte. Seitdem hatten sie eine<br />
ganz besondere Beziehung zueinander und sie hatten<br />
sich nie voneinander getrennt.<br />
„Wenn Missi etwas Schlimmes passiert ist ...“, ihre
Stimme erstickte in Tränen.<br />
„Ganz ruhig, es geht ihr bestimmt gut“, tröstete<br />
Andrea sie.<br />
„Ach, Andrea! Ich bin sicher, dass Thomas sich an<br />
uns rächen wollte für den makabren Streich, den wir ihm<br />
gestern gespielt haben. Und Missi muss das jetzt ausbaden.<br />
Wir haben mit Feuer gespielt und uns verbrannt!“,<br />
Nicoleta strömten die Tränen über die Wangen.<br />
„Sag das nicht. Es wird sich schon wieder alles einrenken.<br />
Verlass dich auf mich“, versuchte Andrea sie zu trösten.<br />
„Ich kann nicht mehr, das ist einfach zu viel für<br />
mich. Missi auf geheimnisvolle Weise verschwunden,<br />
der Gärtner seit einer ganzen Weile im Schuppen eingeschlossen<br />
und diese schrecklichen Blutstropfen vor<br />
der Tür ... Wir dürfen nicht länger warten“, schluchzte<br />
Nicoleta verzweifelt. Wir müssen jetzt sofort mit Großmutter<br />
Ellie sprechen!“<br />
Die beiden Mädchen rannten zum Haus. Die<br />
Großmutter las ein Buch im Wohnzimmer, während<br />
Marie in der Küche einen Kuchen backte. Als sie ihre<br />
Enkelin in diesem Zustand eintreten sah, stand sie sofort<br />
beunruhigt auf.<br />
„Was ist los, Kleine? Ist alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt,<br />
während sie sie umarmte und ihre Tränen trocknete.<br />
„Missi ist verschwunden“, sagte Nicoleta unter<br />
Weinen mit gebrochener Stimme.
„Mach dir darüber keine Sorgen, meine Liebe. Du<br />
weißt, dass Missi ein neugieriges Kätzchen ist.“<br />
„Ich muss dir etwas erzählen, Oma. Es geht um<br />
Thomas, den Gärtner.“<br />
„Andrea, es ist doch alles in Ordnung, oder ...?“,<br />
schaltete sich Marie ein, die in das Wohnzimmer gekommen<br />
war, als sie die Aufruhr mitbekam.<br />
„Nicht ganz ...“, flüsterte Andrea ganz leise.<br />
„Was ist los mit diesem alten Griesgram?“, fragte<br />
die Großmutter, die sich nicht vorstellen konnte, was<br />
geschehen war.<br />
„Ich glaube, Thomas ist der geheimnisvolle Spielzeugdieb<br />
im Dorf und dass er das Spielzeug im Schuppen<br />
versteckt hält. Ich bin mir sicher, dass er auch Missi<br />
dort eingesperrt hat. Und es kommt noch schlimmer!<br />
Wir haben eine Blutspur vor dem Eingang gesehen“,<br />
stieß Nicoleta atemlos aus.<br />
„Das ist unmöglich, Kleine. Was meinst du damit?<br />
Thomas ist ein herzensguter Mensch. Ein bisschen<br />
übellaunig, das ist alles“, versicherte Großmutter Ellie,<br />
die glaubte nicht richtig verstanden zu haben.<br />
Daraufhin erzählten Nicoleta und Marie Großmutter<br />
Ellie und Marie die ganze Geschichte: die schlechte<br />
Beziehung zwischen Thomas und den Kindern im<br />
Dorf, seine nächtlichen Besuche im Schuppen mit dem<br />
schwarzen Sack, das Verschwinden des Spielzeugs im
Park, das Vorhandensein einer Hintertür in seinem<br />
Haus, sein merkwürdiger Besuch bei der Familie Lorenz,<br />
das rätselhafte Gespräch mit dem Fleischer, was<br />
er sagte, als sie ihn als Gespenster verkleidet erschraken<br />
und wie merkwürdig es sei, dass er so lange im Schuppen<br />
eingeschlossen und Missi verschwunden war.<br />
In dieser Situation entschied Großmutter Ellie an<br />
die Schuppentür zu klopfen und mit Thomas persönlich<br />
zu sprechen. Sie war sich sicher, dass er für alles<br />
eine Erklärung hatte.<br />
Mit klopfendem Herzen verließen sie das Haus.<br />
Die roten Tropfen waren noch immer vor der Schuppentür<br />
zu sehen und der Gärtner schien sich noch darin<br />
aufzuhalten. Großmutter Ellie klopfte laut an die Tür<br />
und die beiden Mädchen stellten sich hinter ihr auf:<br />
„Thomas, hören Sie mich? Sind Sie da drin? Öffnen Sie<br />
mir bitte! Ich bin‘s, Ellie.“<br />
Nach einer Weile war ein Geräusch von innen zu<br />
vernehmen und Thomas öffnete die Tür. Er steckte nur<br />
den halben Kopf durch den schmalen Türspalt.<br />
„Was möchten Sie, Ellie?“<br />
„Haben Sie die Katze meiner Enkelin gesehen?“,<br />
fragte die Großmutter.<br />
„Nein,“ antwortete er trocken und wollte die Tür<br />
wieder schließen.<br />
„Warten Sie mal!“, drängte Großmutter Ellie. „Wis-
sen Sie, von wem diese Blutstropfen stammen könnten?“<br />
„Keine Ahnung …“<br />
„Bitte, Thomas“, beharrte Großmutter Ellie. „Öffnen<br />
Sie die Tür richtig. Ich würde gerne eintreten.“<br />
„Nein, bitte nicht, Ellie …“<br />
„Es tut mir Leid. Aber ich muss wissen, was sich<br />
im Schuppen befindet.“<br />
„Ich wusste es! Ich wusste, dass Sie mich eines Tages<br />
entdecken würden...“, sagte der Gärtner resigniert.<br />
Nicoleta, Andrea und Großmutter Ellie rissen die<br />
Augen auf. Und Thomas zeigte schließlich sehr zu seinem<br />
Leidwesen, was er hinter dieser rätselhaften Tür verborgen<br />
hielt. Im Schuppen war es so dunkel, dass anfangs
niemand etwas sehen konnte. Als ihre Augen sich an die<br />
Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten sie nicht glauben,<br />
was sie sahen. Im Schuppen war kein einziges verschwundenes<br />
Spielzeug. Es gab drei ganz besondere Gäste.<br />
Drei Igelbabies, die sich vor dem starken Sonnenlicht,<br />
das durch die Tür fiel, erschrocken und unter<br />
einem Stuhl versteckt hatten. Eins steckte seine Nase<br />
heraus und mit geschlossenen Augen versuchte es die<br />
Zuschauer zu beschnuppern. Die anderen beiden hatten<br />
sich neben dem superdünnen Fernrohr zusammengerollt.<br />
Thomas hatte die drei verlassenen und wehrlosen<br />
Jungen schon vor einigen Wochen im Eulenkiefernwald<br />
gefunden. Er hatte sie gerettet und im Schuppen untergebracht,<br />
um sie vor der Eule und anderen wilden Tieren<br />
zu schützen. Er wollte sie pflegen und ernähren, bis<br />
sie groß und schlau genug waren, um sich vor den Gefahren<br />
der Welt da draußen zu schützen. Jede Nacht im<br />
Morgengrauen besuchte er sie eine Weile, damit sie sich<br />
nicht fürchteten und sich nicht allein fühlten. Er wollte<br />
dieses Geheimnis auf keinen Fall preisgeben, denn er<br />
schämte sich seiner gefühlvollen Seite. Er mochte sein<br />
Herz nicht öffnen.<br />
„Ich habe gerade den Fleischer und die Familie<br />
Lorenz angerufen.“ In diesem Augenblick kam Marie<br />
herein, ohne zu wissen, dass bereits alles aufgeklärt
war. Der Fleischer sagt, dass Thomas jeden Abend nach<br />
Hühnerresten fragt. Er versichert, sie seien für ein paar<br />
Igel, die er pflegt und denen er beim Heranwachsen hilft.<br />
Und die Lorenz meinen, Thomas sei ein herzensguter<br />
Mensch, der sie wann immer möglich besucht und ihnen<br />
Bälle für ihre Kinder schenkt. Ihr wisst ja, dass die<br />
Lorenz-Familie acht Kinder hat“, schloss sie.<br />
Die restlichen Rätsel lösten sich wie bei einer Kettenreaktion<br />
- eins nach dem anderen.<br />
Die Familie Lorenz hatte Marie auch erzählt, dass<br />
das Rätsel um das im Dorf verschwundene Spielzeug<br />
aufgeklärt worden sei. Ein verrückter Jugendlicher hatte<br />
sich dieses merkwürdige Spiel ausgedacht, um sich im<br />
Sommer zu amüsieren. Das unter seinem Bett aufgehäufte<br />
und im Schrank zusammengepferchte Spielzeug<br />
war von seiner Mutter gefunden worden.<br />
Das Blut, das die Mädchen so erschrocken hatte,<br />
war darauf zurückzuführen, dass einer der Igel mit seinem<br />
Stachel Thomas in den Finger gestochen hatte, der<br />
ordentlich geblutet hatte. Als Thomas den Schuppen<br />
verließ, um die Wunde zu reinigen, fielen einige Tropfen<br />
auf den Boden und hinterließen eine rote Spur, die<br />
er nicht bemerkt hatte.<br />
„Und Missi?“ Auch Missi tauchte in diesem Augenblick<br />
wieder auf. In ihrer Schnauze trug sie vorsichtig<br />
einen kleinen Frosch.
„Dürfte ich dich fragen, wo du gesteckt hast?“,<br />
fragte Nicoleta sie zufrieden und gleichzeitig verärgert,<br />
während sie sie zärtlich an sich drückte. Du hast mir<br />
einen Mordsschrecken eingejagt.“<br />
„Miau, miau (Tut mir Leid, ich hätte dir Bescheid<br />
geben müssen. Aber dieser kleine Frosch ist aus dem<br />
Ententeich gestiegen und hat den Garten verlassen. Ich<br />
musste fast den ganzen Vormittag hinter ihm her rennen.<br />
Wenn ich ihn nicht gerettet hätte, wäre er bestimmt<br />
da draußen vertrocknet)“, miaute Missi, ohne zu verstehen,<br />
woher all diese Aufregung kam.<br />
„Wie lieb du bist, mein Kätzchen“, Nicoleta, die<br />
sich etwas beruhigt hatte, gab ihr einen Kuss. „Ich bin<br />
sehr stolz auf dich.“<br />
Nicoleta und Andrea verstanden nicht, wie sie sich<br />
so hatten täuschen können. In dem geheimnisvollen<br />
Sack transportierte Thomas die Nahrung für die Igel,<br />
die Bälle für die Lorenz- Kinder oder einfach seine eigenen<br />
Sachen. Wenn Nicoleta ihre Handtasche überall<br />
mit hinnahm, was war außergewöhnlich daran, dass<br />
Thomas immer einen Sack bei sich trug?<br />
„Manchmal sind die Dinge anders als sie auf<br />
den ersten Blick erscheinen“ und „Bevor man je -<br />
manden beschuldigt, muss man sich absolut sicher<br />
sein“. Das waren zwei Lehren, die sie aus diesem Fall<br />
gezogen hatten.
Nachwort . Herr Igel<br />
Am nächsten Tag musste der junge Dieb<br />
das gesamte Spielzeug an die kleinen Besitzer zurückgeben.<br />
Die Schlange, die an seiner Haustür begann, war<br />
fast so lang, dass sie bis ins Nachbardorf reichte. So kam<br />
es, dass alle Kinder schließlich ihr Spielzeug zurück bekamen,<br />
einschließlich Andrea, die ihre Lieblingspuppe<br />
wiedererlangte. Als sie sie Nicoleta vorstellte, war sie so<br />
zufrieden, dass sie vor lauter Glück fast weinte.<br />
Und auch bei Oma zu Hause änderte sich einiges.<br />
Nicoleta und Andrea entschuldigten sich bei Thomas<br />
und schlugen ihm vor Freunde zu werden. Zu Anfang<br />
nörgelte der Gärtner wie gewöhnlich, aber bald vertraute<br />
er den beiden Mädchen. Er zeigte ihnen, wie die Igel
gefüttert werden und wie man den Garten pflegt. Außerdem<br />
setzten sie sich jeden Nachmittag ein Weilchen<br />
unter den Feigenbaum und Thomas, der eine Überraschungskiste<br />
zu sein schien, erzählte ihnen unglaubliche<br />
Geschichten aus der Zeit, als er noch Fischer war:<br />
Einige handelten von riesigen Walen, anderen von Piraten<br />
und verborgenen Schätzen<br />
Missi freundete sich mit den drei Igeln und dem<br />
kleinen Frosch an, dem sie das Leben gerettet hatte. Die<br />
Fünf verbrachten eine großartige Zeit. Sie spielten Verstecken,<br />
Fangen, sie weckten die Eule tagsüber auf und<br />
sie ärgerten die Tigerspinne, indem sie die Insekten aus<br />
ihrem Spinnennetz befreiten.<br />
Nicoleta verstaute den GEK (den Geheimen Ermittlungskoffer)<br />
erneut unter dem Bett und hoffte, sich<br />
in diesem Sommer ein bisschen entspannen zu können.<br />
Sie hatte sich vorgenommen, mindestens drei Bücher<br />
aus ihrem Regal zu lesen.<br />
Eines Nachmittags, als Thomas und die Kinder<br />
unter dem Feigenbaum picknickten, kam Großmutter<br />
Ellie aus dem Haus und näherte sich ihnen leichten<br />
Schrittes. Sie hielt etwas in den Händen.<br />
„Nicoleta, ich habe endlich deine Decke fertig gestrickt.<br />
Aber sie ist wirklich merkwürdig“, sagte sie und<br />
zeigte ein L-förmiges Strickmuster mit einem komischen<br />
aufgestickten Muster.
„Allerdings, die ist schon merkwürdig,“ sagte<br />
Nicoleta erstaunt und ergriff sie.<br />
„Darf ich mal, Schiffsmädchen?“, fragte Thomas<br />
und streckte die Hand aus.<br />
„Natürlich“, das Mädchen reichte sie ihm.<br />
Der Seemann untersuchte diese außergewöhnliche<br />
Decke eine Weile. Nicoleta, Andrea und Großmutter<br />
Ellie warteten ungeduldig.<br />
„Da gibt es keinerlei Zweifel. Diese Art von Mustern<br />
kenne ich gut. Es handelt sich um ein Fragment. Es<br />
fehlen mindestens zwei oder drei Teile, damit sie vollständig<br />
ist“, erklärte er fasziniert. Seit Jahren habe ich<br />
so etwas noch nicht gesehen. Unter den Schatzsuchern<br />
und sogar den Piraten sind sie sehr gefragt. Sie verbergen<br />
für gewöhnlich echte Wunderwerke. Diese Decke<br />
ist ... eine LANDKARTE.
Liebe Schwalbenfreunde,<br />
So endet die Geschichte vom Geheimnis des verschwundenen<br />
Spielzeugs. Bald könnt ihr die vollständige Reportage über dieses<br />
Abenteuer in der nächsten Ausgabe von „Die Schwalbe“ lesen.<br />
Wie meine Oma Ellie sagt, sollte man sich nie vom Schein trügen<br />
lassen. Ich glaube, in Wirklichkeit ist Thomas wie die Igel. Außen<br />
stachelig und innen ganz weich.<br />
Ich hoffe, endlich ausspannen und diesen Urlaub genießen zu<br />
können. Obwohl, man weiß ja nie ...Vielleicht erforsche ich die<br />
merkwürdige, L-förmige Decke. Thomas, der viel davon versteht,<br />
weil er die sieben Weltmeere durchkreuzt hat, meint es handle<br />
sich um eine außergewöhnliche Karte, der einige Teile fehlen.<br />
Wie ich immer sage:<br />
Wenn ein Rätsel<br />
aufgeklärt ist,<br />
kommt sogleich<br />
ein neues zum Vorschein.<br />
Wir sehen uns nach den Ferien mit mehr geheimnisvollen, neuen<br />
Abenteuern.<br />
Ich wünsche euch allen einen schönen Urlaub und einen<br />
meilenweiten Flug!<br />
Tausend Küsse,.<br />
Eure Nicoleta
Für Yuna, die kleine Schwalbe, die durch meinen Himmel zieht.<br />
Susanna.<br />
Übersetzung: Linguaserve I.S. S.A.<br />
(www.linguaserve.com)<br />
© Text: Susanna Isern<br />
© Illustration: Paco Hernández Cuadal<br />
© ItsImagical 2012<br />
PLA-ZA. Calle Osca, 4<br />
50197 Zaragoza (Spanien)<br />
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Die Wolken sind geheimnisvoll.<br />
Sie verbergen Geheimnisse hinter<br />
ihren sich ständig verändernden<br />
Formen und sie verhüllen die<br />
Träume, die zu ihnen fliegen