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Pedal To The Medal Oliver Koletzki Andrea Rosso - PROUD Magazine

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czarnobyl 2009<br />

In der Kunstrichtung Streetart gibt es eine Strömung, die man aus Mangel an besseren Begriffen „Photorealismus“<br />

nennen muss. Ihre Vertreter sind Masochisten, die mit endloser Geduld und übermenschlicher Akribie Bilder schaffen,<br />

bei denen es erst nach dem dritten Mal Hinschauen so langsam einsickert, dass diese Kunstwerke tatsächlich mit<br />

Schablonen entstanden sind. hat einen von ihnen getroffen.<br />

Das erste Mal gehört habe ich von<br />

Czarnobyl über einen Streetart<br />

Verteiler aus New York. Zwei<br />

Wochen später sitze ich an seinem<br />

Küchentisch. „Ich war gerade in<br />

Barcelona“, beginnt er, noch bevor ich<br />

meine Jacke ausgezogen habe. „da<br />

hab‘ ich eine Uhr entdeckt, mit einem<br />

Motiv von mir auf dem Ziffernblatt.<br />

Für 42 Euro. Verrückt, oder? Ich<br />

denke, ich schreibe denen einen<br />

Brief, damit sie mir eine schenken.“<br />

Czarnobyl ist Muay Thai-Champion,<br />

komplett tätowiert und arbeitet nachts<br />

als Türsteher. Dabei ist er gar keine<br />

aufgepumpte Kante. Vielmehr hat er<br />

diese langen, sehnigen Muskeln, die<br />

aussehen, als könnte er problemlos<br />

mit jedem irischen Kirmesboxer<br />

über 12 Runden gehen. Seit 1993<br />

bewohnt er eine ganze Etage mitten<br />

in Kreuzberg, hat sie nach und nach<br />

in ein kleines Museum seiner Kunst<br />

verwandelt. Und die hat es in sich:<br />

Czarnobyls Bilder sind ultra detailliert.<br />

In monatelanger Arbeit schneidet er<br />

bis zu 8 Schablonen pro Motiv, die<br />

er Schicht für Schicht übereinander<br />

sprüht, um schließlich ein Bild<br />

zu schaffen, das den Betrachter<br />

16 streets<br />

in ungläubiges Staunen versetzt.<br />

Sein letztes Kunstwerk, Oldboy, ist<br />

zweieinhalb Meter hoch.<br />

Angefangen hat alles in den 80ern in<br />

seiner polnischen Heimat Jaroslaw.<br />

Inspiriert von den Stencils Darius<br />

Paczkowskis, die Lenin mit Irokesen-<br />

Schnitt zeigten, fing Czarnobyl selbst<br />

an, zu schneiden und zu sprühen.<br />

Mittlerweile bezahlt er mit seinen<br />

Bildern seine Steuerberaterin.<br />

Die Ästhetik seiner Motive ist nicht<br />

so leicht zugänglich: alte Männer,<br />

Maschinenbauteile, Betonmauern<br />

oder auch völlig psychodelische<br />

Kombinationen aus den verschiedenen<br />

Einzelschablonen sorgen für den<br />

dunklen, verstörenden Vibe von<br />

Czarnobyls Arbeit. Die Frage, was<br />

er damit aussagen will, ist für ihn<br />

dabei vollkommen irrelevant. „Mich<br />

interessiert viel mehr, was die eigene<br />

Interpretation über den Betrachter<br />

selbst aussagt“, erzählt er, während er<br />

mir das Bild einer absolut detaillierten<br />

und trotzdem völlig kahlen Mauer<br />

zeigt. „Ich will Bilder machen, die wie<br />

Fernsehen sind. Mit dem Unterschied,<br />

dass die verschiedenen Kanäle in<br />

deinem Kopf sind.“<br />

Aber was treibt einen Menschen dazu,<br />

monatelang, Tag für Tag, jede einzelne<br />

Falte im Gesicht eines alten Menschen<br />

als Schablone mit dem Messer<br />

nachzuziehen? Czarnobyl sieht mich<br />

an, als mache die Frage überhaupt<br />

keinen Sinn. „Jede Falte in seinem<br />

Gesicht hat eine Geschichte. Der<br />

Mann guckt einen an. Er folgt dir mit<br />

seinen Augen. Ich mag diesen Effekt“.<br />

Ich muss wohl akzeptieren, dass man<br />

seine Form der Besessenheit nicht in<br />

ein paar druckreife Sätze gießen kann.<br />

Noch deutlicher wird das in seinen<br />

nächsten Worten: „Ich habe ein paar<br />

Bilder verkauft, bei denen ich es<br />

danach bereut habe, sie weggegeben<br />

zu haben. Seitdem probiere ich, die<br />

Bilder zurückzukaufen, weil sie mir so<br />

gut gefallen.“ Ein Künstler, der seine<br />

verkauften Werke wieder zurückkaufen<br />

will? Dem Mann geht es nicht um<br />

Geld oder Fame. Czarnobyl geht es um<br />

Kunst.<br />

www.stencil-spray.de<br />

Images Czarnobyl<br />

Text Lukas Kampfmann

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