Humboldt Kosmos 90/2007: Wissen schafft Entwicklung

Humboldt Kosmos 90/2007: Wissen schafft Entwicklung Humboldt Kosmos 90/2007: Wissen schafft Entwicklung

07.03.2013 Aufrufe

Wissen schafft Entwicklung | || From Knowledge to Development Wissen schafft Entwicklung | || From Knowledge to Development unentbehrlich erscheinen lassen. Es muss sich aber um extreme Situationen handeln, bei denen die Allgemeinheit nicht mehr bereit sein kann, das Risiko einer Straftat hinzunehmen. Die Sicherungsverwahrung muss weiter im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zwischen der Schwere der zu erwartenden Straftaten und der Dauer des Freiheitsentzugs angewandt werden. Durch Vollzugslockerungen und sorgfältige richterliche Kontrollen von Gefahrenprognosen sind darüber hinaus realistische und realisierbare Chancen zu baldiger Wiedererlangung der Freiheit zu eröffnen. Bei der Sicherungsverwahrung geht es nicht um Schuld, sondern um Gefahrenabwehr, und hierbei ist ein „für immer“ gerade nicht selbstverständlich. „Lebenslänglich kann auch wirklich lebenslänglich bedeuten. Bei solchen Strafen braucht man keine Sicherungsverwahrung!“ Die argentinische Diskussion über die „gefährlichen Straftäter“ verläuft seit Jahrzehnten ganz anders: Gefahrenprognosen werden grundsätzlich abgelehnt. Denkt man an die argentinische Erfahrung mit autoritären Regimes, ist das nicht überraschend. Während der Militärdiktatur als „gefährlich“ abgestempelt zu werden, bedeutete die Möglichkeit eines grausamen Todes in staatlichen Händen. Bei ungesicherten rechtsstaatlichen Institutionen sind solche Ängste zum Teil auch heute noch berechtigt. In der Folge sehen die meisten argentinischen Strafjuristen in jeder Gefährlichkeitsprognose einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz. Die Kehrseite des argentinischen Modells Eine so strenge Haltung lässt sich aber in der Praxis nicht durchhalten. Das argentinische Strafrecht ist – insbesondere im Strafvollzug – vom Resozialisierungsgedanken geprägt, und insofern ist ein Verzicht auf Gefährlichkeitsprognosen nicht möglich. Jeder Resozialisierungsversuch setzt eine positive beziehungsweise negative Gefährlichkeitsprognose voraus: Gefährlichkeit ist die Kehrseite der Resozialisierung. So trivial diese Erkenntnis in Deutschland klingen mag, in Argentinien wird dies meistens verkannt. Darüber hinaus sollte die harte Kritik der argentinischen Lehre und der Rechtsprechung, die die Sicherungsverwahrung sogar für verfassungswidrig erklärt hat, nicht dahin gehend verstanden werden, dass in Argentinien die Präventionsbedürfnisse niedriger in the context of the commensurability of the seriousness of the expected offence with the duration of imprisonment. In addition, realistic and realisable opportunities for regaining freedom at an early stage must be opened up by introducing privileges and careful judicial controls of danger prognoses. Preventive detention is not concerned with guilt, but with averting danger, and in this context “for good” is not exactly a matter of course. “A life sentence really can mean life. With such penalties, who needs preventive detention!” For decades, the Argentine debate about “dangerous offenders” has taken quite a different turn: danger prognoses are rejected on principle. If you consider the Argentine experience with authoritarian regimes this is hardly surprising. During the military dictatorship, being labelled as “dangerous” meant you might suffer a dreadful death at the hands of the state. In unsecured constitutional institutions fears of this kind are still justified to some extent today. Consequently, most Argentine criminal lawyers consider danger prognoses to be an infringement of the presumption of innocence. the other side of the Argentine model However, such a strict approach cannot be maintained in practice. Argentine criminal law – particularly in the penal system – is influenced by the idea of resocialisation and to this extent cannot completely dispense with danger prognoses. Every attempt at resocialisation assumes a positive or negative danger prognosis: danger is the other side of resocialisation. However trivial this perception may sound in Germany, in Argentina it is not usually recognised. Furthermore, the harsh criticism in Argentine teaching and jurisdiction, which has even declared preventive detention to be unconstitutional, should not be understood to mean that there is less need of prevention in Argentina or greater respect for basic freedoms. Even just a glance at the Argentine penal code reveals that the range of sentences is significantly longer than in Germany. There is far more scope for a life sentence actually to signify life, and the conditions for privileges – particularly for recidivists – are so strict that life really can mean life. The conclusions are obvious: with such penalties, who needs preventive detention! Wegschließen, und zwar für immer? Zelle einer deutschen Haftanstalt | || Shut away for ever? A cell in a German prison sind oder die Grundfreiheiten höheren Respekt genießen. Schon eine flüchtige Lektüre des argentinischen Strafgesetzbuches zeigt, dass die Strafrahmen bedeutend höher als in Deutschland sind. Auch die absolute lebenslängliche Freiheitsstrafe ist sehr viel häufiger vorgesehen und die Bedingungen für Vollzugslockerungen – insbesondere für Rückfällige – sind so streng, dass lebenslänglich tatsächlich lebenslänglich bedeuten kann. Die Folge liegt auf der Hand: Bei solchen Strafen braucht man keine Sicherungsverwahrung! Die Sicherungsverwahrung wirft schwer lösbare Probleme auf, da sie stets das Risiko in sich birgt, einem nicht gefährlichen Menschen die Freiheit grundlos zu entziehen. Doch die Alternative der höheren „Schuldstrafen“ ist nicht unbedingt die bessere Lösung: Die Diskussion über die rechtsstaatlichen Grenzen der vorbeugenden Eingriffe wird zwar vermieden, aber die Legitimationsprobleme werden verschleiert. Dass solche Strafen rechtsstaatlich nicht einwandfrei sind, ist evident. Bei einer sinnvollen und offenen Auseinandersetzung mit den möglichen rechtlichen Lösungen im Umgang mit „gefährlichen“ Straftätern sollten die dogmatischen und verfassungsrechtlichen Argumente von kriminalpolitischen Postulaten deutlich getrennt werden. Dabei muss zunächst klargestellt werden, inwiefern man bereit ist, auf Sicherheit zu verzichten oder Rückfälligkeiten in Kauf zu nehmen. Endgültige Lösungen gibt es bei Problemen dieser Art wahrscheinlich nicht, aber man ist einer akzeptablen Alternative näher, wenn Schwachpunkte sichtbar gemacht werden und man sich nicht hinter Lösungen versteckt, die die Freiheitsrechte nur scheinbar achten. n Professor Dr. Patricia Ziffer de Sancinetti lehrt strafrecht an der universität Buenos Aires, Argentinien. Als georg forster- forschungsstipendiatin war sie von 2006 bis 2007 an der universität freiburg. Preventive detention raises problems that are difficult to solve because it always carries the risk of depriving someone who is not dangerous of his freedom for nothing. However, the alternative of longer “penal sentences” is not necessarily the better solution. It does avoid discussion about the constitutional limits of preventive action, but the problem of legitimacy is glossed over. That penalties of this kind are not impeccable constitutionally is obvious. In a reasonable and open debate on possible legal solutions for dealing with “dangerous” offenders dogmatical, constitutional arguments must be clearly separated from political postulations about crime. First of all, we must be clear in our minds to what extent we are prepared to sacrifice security or accept the possibility of recidivism. There probably are no final solutions to problems of this kind but we are an awful lot closer to an acceptable alternative if we highlight the weak points and do not hide behind solutions that only ostensibly respect civil liberties. n Professor Dr. Patricia Ziffer de Sancinetti teaches criminal law at Buenos Aires university, Argentina. she was a georg forster research fellow at freiburg university from 2006 to 2007. 30 Humboldt kosmos Sonderausgabe 2008 31

<strong>Wissen</strong> <strong>schafft</strong> <strong>Entwicklung</strong> | || From Knowledge to Development <strong>Wissen</strong> <strong>schafft</strong> <strong>Entwicklung</strong> | || From Knowledge to Development<br />

unentbehrlich erscheinen lassen. Es muss sich aber um extreme<br />

Situationen handeln, bei denen die Allgemeinheit nicht mehr<br />

bereit sein kann, das Risiko einer Straftat hinzunehmen. Die<br />

Sicherungsverwahrung muss weiter im Rahmen der Verhältnismäßigkeit<br />

zwischen der Schwere der zu erwartenden Straftaten<br />

und der Dauer des Freiheitsentzugs angewandt werden. Durch<br />

Vollzugslockerungen und sorgfältige richterliche Kontrollen von<br />

Gefahrenprognosen sind darüber hinaus realistische und realisierbare<br />

Chancen zu baldiger Wiedererlangung der Freiheit zu<br />

eröffnen. Bei der Sicherungsverwahrung geht es nicht um Schuld,<br />

sondern um Gefahrenabwehr, und hierbei ist ein „für immer“<br />

gerade nicht selbstverständlich.<br />

„Lebenslänglich kann auch wirklich<br />

lebenslänglich bedeuten. Bei solchen Strafen braucht<br />

man keine Sicherungsverwahrung!“<br />

Die argentinische Diskussion über die „gefährlichen Straftäter“<br />

verläuft seit Jahrzehnten ganz anders: Gefahrenprognosen werden<br />

grundsätzlich abgelehnt. Denkt man an die argentinische Erfahrung<br />

mit autoritären Regimes, ist das nicht überraschend. Während<br />

der Militärdiktatur als „gefährlich“ abgestempelt zu werden,<br />

bedeutete die Möglichkeit eines grausamen Todes in staatlichen<br />

Händen. Bei ungesicherten rechtsstaatlichen Institutionen sind<br />

solche Ängste zum Teil auch heute noch berechtigt. In der Folge<br />

sehen die meisten argentinischen Strafjuristen in jeder Gefährlichkeitsprognose<br />

einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz.<br />

Die Kehrseite des argentinischen Modells<br />

Eine so strenge Haltung lässt sich aber in der Praxis nicht durchhalten.<br />

Das argentinische Strafrecht ist – insbesondere im Strafvollzug<br />

– vom Resozialisierungsgedanken geprägt, und insofern<br />

ist ein Verzicht auf Gefährlichkeitsprognosen nicht möglich.<br />

Jeder Resozialisierungsversuch setzt eine positive beziehungsweise<br />

negative Gefährlichkeitsprognose voraus: Gefährlichkeit<br />

ist die Kehrseite der Resozialisierung. So trivial diese Erkenntnis<br />

in Deutschland klingen mag, in Argentinien wird dies meistens<br />

verkannt.<br />

Darüber hinaus sollte die harte Kritik der argentinischen Lehre<br />

und der Rechtsprechung, die die Sicherungsverwahrung sogar<br />

für verfassungswidrig erklärt hat, nicht dahin gehend verstanden<br />

werden, dass in Argentinien die Präventionsbedürfnisse niedriger<br />

in the context of the commensurability of the seriousness of the<br />

expected offence with the duration of imprisonment. In addition,<br />

realistic and realisable opportunities for regaining freedom at an<br />

early stage must be opened up by introducing privileges and careful<br />

judicial controls of danger prognoses. Preventive detention is<br />

not concerned with guilt, but with averting danger, and in this<br />

context “for good” is not exactly a matter of course.<br />

“A life sentence really can mean life.<br />

With such penalties, who needs preventive<br />

detention!”<br />

For decades, the Argentine debate about “dangerous offenders”<br />

has taken quite a different turn: danger prognoses are rejected on<br />

principle. If you consider the Argentine experience with authoritarian<br />

regimes this is hardly surprising. During the military dictatorship,<br />

being labelled as “dangerous” meant you might suffer<br />

a dreadful death at the hands of the state. In unsecured constitutional<br />

institutions fears of this kind are still justified to some<br />

extent today. Consequently, most Argentine criminal lawyers<br />

consider danger prognoses to be an infringement of the presumption<br />

of innocence.<br />

the other side of the Argentine model<br />

However, such a strict approach cannot be maintained in practice.<br />

Argentine criminal law – particularly in the penal system – is<br />

influenced by the idea of resocialisation and to this extent cannot<br />

completely dispense with danger prognoses. Every attempt at<br />

resocialisation assumes a positive or negative danger prognosis:<br />

danger is the other side of resocialisation. However trivial this<br />

perception may sound in Germany, in Argentina it is not usually<br />

recognised.<br />

Furthermore, the harsh criticism in Argentine teaching and<br />

jurisdiction, which has even declared preventive detention to be<br />

unconstitutional, should not be understood to mean that there is<br />

less need of prevention in Argentina or greater respect for basic<br />

freedoms. Even just a glance at the Argentine penal code reveals<br />

that the range of sentences is significantly longer than in Germany.<br />

There is far more scope for a life sentence actually to signify life,<br />

and the conditions for privileges – particularly for recidivists – are<br />

so strict that life really can mean life. The conclusions are obvious:<br />

with such penalties, who needs preventive detention!<br />

Wegschließen, und zwar für immer?<br />

Zelle einer deutschen Haftanstalt | ||<br />

Shut away for ever? A cell in a<br />

German prison<br />

sind oder die Grundfreiheiten höheren Respekt genießen. Schon<br />

eine flüchtige Lektüre des argentinischen Strafgesetzbuches zeigt,<br />

dass die Strafrahmen bedeutend höher als in Deutschland sind.<br />

Auch die absolute lebenslängliche Freiheitsstrafe ist sehr viel häufiger<br />

vorgesehen und die Bedingungen für Vollzugslockerungen<br />

– insbesondere für Rückfällige – sind so streng, dass lebenslänglich<br />

tatsächlich lebenslänglich bedeuten kann. Die Folge liegt auf<br />

der Hand: Bei solchen Strafen braucht man keine Sicherungsverwahrung!<br />

Die Sicherungsverwahrung wirft schwer lösbare Probleme auf, da<br />

sie stets das Risiko in sich birgt, einem nicht gefährlichen Menschen<br />

die Freiheit grundlos zu entziehen. Doch die Alternative der<br />

höheren „Schuldstrafen“ ist nicht unbedingt die bessere Lösung:<br />

Die Diskussion über die rechtsstaatlichen Grenzen der vorbeugenden<br />

Eingriffe wird zwar vermieden, aber die Legitimationsprobleme<br />

werden verschleiert. Dass solche Strafen rechtsstaatlich<br />

nicht einwandfrei sind, ist evident.<br />

Bei einer sinnvollen und offenen Auseinandersetzung mit den<br />

möglichen rechtlichen Lösungen im Umgang mit „gefährlichen“<br />

Straftätern sollten die dogmatischen und verfassungsrechtlichen<br />

Argumente von kriminalpolitischen Postulaten deutlich getrennt<br />

werden. Dabei muss zunächst klargestellt werden, inwiefern man<br />

bereit ist, auf Sicherheit zu verzichten oder Rückfälligkeiten in<br />

Kauf zu nehmen. Endgültige Lösungen gibt es bei Problemen<br />

dieser Art wahrscheinlich nicht, aber man ist einer akzeptablen<br />

Alternative näher, wenn Schwachpunkte sichtbar gemacht werden<br />

und man sich nicht hinter Lösungen versteckt, die die Freiheitsrechte<br />

nur scheinbar achten. n<br />

Professor Dr. Patricia Ziffer de Sancinetti<br />

lehrt strafrecht an der universität Buenos<br />

Aires, Argentinien. Als georg forster-<br />

forschungsstipendiatin war sie von 2006 bis<br />

<strong>2007</strong> an der universität freiburg.<br />

Preventive detention raises problems that are difficult to solve<br />

because it always carries the risk of depriving someone who is not<br />

dangerous of his freedom for nothing. However, the alternative of<br />

longer “penal sentences” is not necessarily the better solution. It<br />

does avoid discussion about the constitutional limits of preventive<br />

action, but the problem of legitimacy is glossed over. That penalties<br />

of this kind are not impeccable constitutionally is obvious.<br />

In a reasonable and open debate on possible legal solutions for<br />

dealing with “dangerous” offenders dogmatical, constitutional<br />

arguments must be clearly separated from political postulations<br />

about crime. First of all, we must be clear in our minds to what<br />

extent we are prepared to sacrifice security or accept the possibility<br />

of recidivism. There probably are no final solutions to problems<br />

of this kind but we are an awful lot closer to an acceptable<br />

alternative if we highlight the weak points and do not hide behind<br />

solutions that only ostensibly respect civil liberties. n<br />

Professor Dr. Patricia Ziffer de Sancinetti<br />

teaches criminal law at Buenos Aires university,<br />

Argentina. she was a georg forster research<br />

fellow at freiburg university from 2006 to <strong>2007</strong>.<br />

30 <strong>Humboldt</strong> kosmos Sonderausgabe 2008<br />

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