Mathematikunterricht in der gymnasialen Oberstufe â Quo vadis - MNU
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<strong>Mathematikunterricht</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>gymnasialen</strong> <strong>Oberstufe</strong> – <strong>Quo</strong> <strong>vadis</strong> ?<br />
Ra<strong>in</strong>er Danckwerts, Siegen<br />
Im Vortrag wurde über e<strong>in</strong>e Expertise berichtet, die im Auftrag <strong>der</strong> Kultusm<strong>in</strong>isterkonferenz <strong>der</strong><br />
Län<strong>der</strong> (KMK) entstand und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gekürzten Fassung bereits veröffentlicht ist. 1<br />
Dies s<strong>in</strong>d – hier durch Auszüge dokumentiert – die wesentlichen Orientierungen:<br />
Grundpositionen<br />
Ausgangspunkt ist die Frage, was den allgeme<strong>in</strong>bildenden Auftrag des <strong>Mathematikunterricht</strong>s<br />
ausmacht. He<strong>in</strong>rich W<strong>in</strong>ter antwortet darauf so:<br />
Der <strong>Mathematikunterricht</strong> ist dadurch allgeme<strong>in</strong>bildend, dass er drei Grun<strong>der</strong>fahrungen<br />
ermöglicht (W<strong>in</strong>ter 1996):<br />
(G1) “Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>der</strong> Welt um uns, die uns alle angehen o<strong>der</strong> angehen sollten, aus Natur,<br />
Gesellschaft und Kultur, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er spezifischen Art wahrzunehmen und zu verstehen,<br />
(G2) mathematische Gegenstände und Sachverhalte, repräsentiert <strong>in</strong> Sprache, Symbolen, Bil<strong>der</strong>n<br />
und Formeln, als geistige Schöpfungen, als e<strong>in</strong>e deduktiv geordnete Welt eigener Art<br />
kennen zu lernen und zu begreifen,<br />
(G3) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Aufgaben Problemlösefähigkeiten, die über die<br />
Mathematik h<strong>in</strong>aus gehen, (heuristische Fähigkeiten) zu erwerben.”<br />
Charakteristisch für die Mathematik ist das Spannungsverhältnis zwischen (G1) und (G2), das<br />
ihre breite Anwendbarkeit erst möglich macht. Im <strong>Oberstufe</strong>nunterricht muss dieses dynamische<br />
1 P. Borneleit/R. Danckwerts/H.-W. Henn/H.-G. Weigand: Expertise zum <strong>Mathematikunterricht</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>gymnasialen</strong><br />
<strong>Oberstufe</strong>. In: Journal für Mathematik-Didaktik 22 (2001) Heft 1, S. 73 - 90<br />
1
Gleichgewicht <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em Maße zur Geltung kommen. Modellbildende Aktivitäten s<strong>in</strong>d<br />
dafür konstituierend und deshalb unverzichtbar.<br />
Heuristische Fähigkeiten (→ G3) s<strong>in</strong>d Grundlage für e<strong>in</strong>e verständige Erschließung unserer<br />
Welt. Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tellektuelle Haltung, zu <strong>der</strong> auch die Bereitschaft gehört, sich<br />
frei, kreativ und positiv gestimmt e<strong>in</strong>er gedanklichen Herausfor<strong>der</strong>ung zu stellen. Die<br />
Entwicklung dieser Haltung zählt zu den zentralen Aufgaben des <strong>Mathematikunterricht</strong>s. In <strong>der</strong><br />
Sekundarstufe II gilt es darüber h<strong>in</strong>aus, sich <strong>der</strong> Kraft heuristischer Strategien bewusst zu<br />
werden.<br />
Diese programmatische Orientierung mündet <strong>in</strong> folgenden Leitl<strong>in</strong>ien:<br />
(L1) Grund- und Leistungskurse bedürfen gleichermaßen aller drei Grun<strong>der</strong>fahrungen.<br />
Leistungskurse dürfen sich nicht auf die zweite, Grundkurse nicht auf die erste<br />
Grun<strong>der</strong>fahrung beschränken.<br />
(L2) Je<strong>der</strong> Lernbereich (Analysis, Analytische Geometrie, Stochastik) muss se<strong>in</strong>e verb<strong>in</strong>dlichen<br />
Inhalte als exemplarischen Beitrag zur Integration dieser drei Grun<strong>der</strong>fahrungen<br />
legitimieren.<br />
(L3) Die Betonung heuristischer Denk- und Arbeitsweisen relativiert die Bedeutung <strong>der</strong><br />
formalen Fachsprache als Träger mathematischer Kommunikation. Zur Stärkung <strong>der</strong><br />
natürlichen Sprache im <strong>Mathematikunterricht</strong> gehört die Philosophie von <strong>der</strong><br />
‚Wie<strong>der</strong>entdeckung des Inhaltlichen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neuen Unterrichtskultur‘.<br />
Als unterliegendes Credo halten wir fest:<br />
Erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> expliziten Integration aller drei Grun<strong>der</strong>fahrungen kann <strong>der</strong> <strong>Mathematikunterricht</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>gymnasialen</strong> <strong>Oberstufe</strong> se<strong>in</strong>e spezifisch bildende Kraft entfalten Dies ist die mathematikdidaktische<br />
Position als Antwort auf den Bildungsauftrag <strong>der</strong> <strong>gymnasialen</strong> <strong>Oberstufe</strong>, <strong>der</strong> nach<br />
breitem Konsens dar<strong>in</strong> besteht, vertiefte Allgeme<strong>in</strong>bildung, Wissenschaftspropädeutik und<br />
Studierfähigkeit zu verb<strong>in</strong>den.<br />
Die berühmte TIMS-Studie aus den neunziger Jahren hat den Blick dafür geschärft, welche<br />
Bedeutung e<strong>in</strong>e för<strong>der</strong>liche Unterrichtskultur hat. Es geht um die Art und Weise, wie mit <strong>der</strong><br />
Mathematik umgegangen wird. Geme<strong>in</strong>t ist <strong>der</strong> Unterschied zwischen Mathematik als Produkt<br />
und Mathematik als Prozess. Die plakative Übersicht beschreibt dieses Spannungsverhältnis:<br />
2
Mathematik als<br />
Produkt ↔ Prozess<br />
isolierte Probleme<br />
mit e<strong>in</strong>deutiger Lösung<br />
Vermittlung und<br />
Anwendung e<strong>in</strong>es Kalküls<br />
im vorgegebenen<br />
mathematischen Modell arbeiten<br />
konvergente,<br />
ergebnisorientierte<br />
Unterrichtsführung<br />
Fehler als Zeichen<br />
mangeln<strong>der</strong><br />
Produktbeherrschung<br />
Abgeschlossenheit<br />
anstreben<br />
<strong>in</strong>sgesamt<br />
vernetzte Problemfel<strong>der</strong><br />
mit vielfältigen Lösungen<br />
e<strong>in</strong>sichtige Erarbeitung<br />
des Kalküls<br />
Realität modellieren<br />
offene, prozessorientierte<br />
Unterrichtsführung<br />
Fehler als Anlass für<br />
konstruktive Verbesserungen<br />
Offenheit<br />
bewusst zulassen<br />
Beide Sichtweisen gehören zu e<strong>in</strong>em gültigen Bild von <strong>der</strong> Mathematik, aber nur e<strong>in</strong>e pr<strong>in</strong>zipiell<br />
offene, prozessorientierte Unterrichtsführung kann <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Heuristik für das Lernen<br />
von Mathematik gerecht werden (vgl. Grun<strong>der</strong>fahrung (G3)).<br />
E<strong>in</strong> zweiter, für die Unterrichtskultur bedeutsamer Aspekt wird durch jüngere Ergebnisse<br />
erziehungswissenschaftlicher Forschung nachhaltig gestützt:<br />
Erfolgreiche Lernprozesse zeichnen sich durch zwei charakteristische Merkmale aus: Sie s<strong>in</strong>d<br />
konstruktiv und kumulativ. Da Lernen konstruktiv ist, spielt die Selbsttätigkeit <strong>der</strong> Schüler<strong>in</strong>nen<br />
und Schüler e<strong>in</strong>e entscheidende Rolle, und da es kumulativ ist, wird die Vernetzung neuer Inhalte<br />
mit dem Vorwissen zu e<strong>in</strong>er wichtigen Bed<strong>in</strong>gung erfolgreichen Unterrichts. Für die<br />
Entwicklung e<strong>in</strong>er ‚guten‘ Unterrichtskultur ist es daher unverzichtbar, geeigneten Formen<br />
explorativen Arbeitens genügend Raum zu geben und die horizontale und vertikale Vernetzung<br />
<strong>der</strong> Inhalte zu realisieren.<br />
Für den <strong>Mathematikunterricht</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>gymnasialen</strong> <strong>Oberstufe</strong> bedeutet dies,<br />
– zum potenziellen Kristallisationspunkt <strong>in</strong>nermathematischer und fächerübergreifen<strong>der</strong><br />
Projekte mit offenen Arbeitsformen zu werden (mit dem Computer als natürlichem<br />
Hilfsmittel)<br />
und<br />
3
– die drei Lernbereiche Analysis, Analytische Geometrie und Stochastik mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu<br />
verzahnen und sie jeweils als spezifische Fortentwicklungen e<strong>in</strong>schlägiger Vorerfahrungen<br />
aus <strong>der</strong> Mittelstufe sehen zu lernen.<br />
Die Auswahl <strong>der</strong> Lern<strong>in</strong>halte ist <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung zu unterwerfen, zu den drei Grun<strong>der</strong>fahrungen<br />
gleichermaßen beitragen zu können. (vgl. Leitl<strong>in</strong>ie L2). Hilfreich hierfür ist die Beachtung<br />
folgen<strong>der</strong> Kriterien:<br />
– Orientierung an fundamentalen Ideen<br />
– Priorität für den Aufbau von Grundvorstellungen<br />
– Inhaltliche Vernetzung<br />
– Anwendungsorientierung<br />
Folgerungen für die Lehrerbildung<br />
Die vorgeschlagenen Maßnahmen und Verän<strong>der</strong>ungen berühren jede <strong>der</strong> drei relevanten Phasen<br />
<strong>der</strong> Lehrerbildung, die universitäre Phase, den Vorbereitungsdienst und das Lernen im Beruf<br />
(Lehrerfortbildung).<br />
Universitäre Phase<br />
Das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Integration <strong>der</strong> drei Grun<strong>der</strong>fahrungen beschreibt e<strong>in</strong>e fachdidaktische<br />
Orientierung, die ihren festen Platz <strong>in</strong> <strong>der</strong> fachbezogenen Mathematik-Ausbildung haben muss.<br />
Dies erfor<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>en Paradigmenwechsel im Umgang mit <strong>der</strong> Mathematik: Nicht nur die<br />
Diszipl<strong>in</strong> Mathematik, son<strong>der</strong>n gleichgewichtig die Beziehung Mensch - Mathematik stehen im<br />
Mittelpunkt des Interesses. Dies bedeutet ke<strong>in</strong>esfalls e<strong>in</strong>e Aufweichung wissenschaftlicher<br />
Ansprüche an die mathematische Ausbildung, nur muss es zu e<strong>in</strong>er echten Verzahnung fachmathematischer,<br />
mathematikgeschichtlicher, fachdidaktischer und unterrichtspraktischer<br />
Kenntnisse und Erfahrungen kommen. Gerade dies s<strong>in</strong>d auch zentrale For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er<br />
Expertenkommission <strong>der</strong> KMK herausgegebenen “Perspektiven <strong>der</strong> Lehrerbildung <strong>in</strong><br />
Deutschland” (Terhart 2000).<br />
Das Ziel <strong>der</strong> Ausbildung liegt im Aufbau e<strong>in</strong>es kognitiven und motivationalen Fundaments, das<br />
dem berechtigten Anspruch von SII-Lehramtsstudierenden nach fachbezogener Professionalität<br />
Rechnung trägt. Mit ihrer Brückenfunktion zwischen fachmathematischen und<br />
4
unterrichtspraktischen Ausbildungskomponenten wird die Didaktik <strong>der</strong> Mathematik zur<br />
Berufswissenschaft des Mathematiklehrers.<br />
Die hier beschriebenen notwendigen Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> fachmathematischen Ausbildung s<strong>in</strong>d<br />
schwer zu implementieren. Am aussichtsreichsten sche<strong>in</strong>t die Lage an Orten mit e<strong>in</strong>er starken<br />
Mathematikdidaktik. Noch komplexer wird es, wenn auch erziehungswissenschaftliche Studien<br />
konzeptionell <strong>in</strong>tegriert werden sollen. Hier sche<strong>in</strong>en Orte bevorzugt zu se<strong>in</strong>, die über Zentren<br />
für Lehrerbildung als Querstruktur verfügen.<br />
Vorbereitungsdienst<br />
Kernpunkt ist e<strong>in</strong>e bessere Abstimmung <strong>der</strong> Ausbildungs<strong>in</strong>halte zwischen erster (universitärer)<br />
und zweiter Phase (Referendariat). Den Grundgedanken des Beziehungsgeflechts von<br />
fachmathematischen, fachdidaktischen und unterrichtspraktischen Elementen <strong>der</strong> Ausbildung<br />
muss die zweite Phase aktiv aufgreifen und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reflexion des Fachunterrichts lebendig halten.<br />
Das Fachsem<strong>in</strong>ar Mathematik ist <strong>der</strong> natürliche Ort, Spannungen zwischen normativen<br />
Stoffbil<strong>der</strong>n bei Lehrenden und <strong>in</strong>dividuellen S<strong>in</strong>nkonstruktionen bei Lernenden fortlaufend zu<br />
thematisieren.<br />
Die Entwicklung e<strong>in</strong>es angehenden Mathematiklehrers <strong>der</strong> <strong>gymnasialen</strong> <strong>Oberstufe</strong> zu e<strong>in</strong>em<br />
kompetenten Fachvertreter und Organisator von Lernprozessen erfor<strong>der</strong>t, dass Referendar und<br />
Fachleiter e<strong>in</strong>e lebendige, persönlich erfahrene Beziehung zu den drei Grun<strong>der</strong>fahrungen haben<br />
und wissen, dass erfolgreiches Lernen nicht durch Abbilden, son<strong>der</strong>n nur durch aktives<br />
Konstruieren möglich ist. Das heißt, die Professionalisierung von Lehramtsstudierenden,<br />
Referendaren und Fachleitern ist konzeptionell e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Aufgabe.<br />
Lernen im Beruf<br />
E<strong>in</strong> Kernbereich <strong>der</strong> Weiterbildung <strong>in</strong> <strong>der</strong> dritten Phase ist die <strong>in</strong>stitutionalisierte Lehrerfortbildung.<br />
Auf <strong>der</strong> <strong>in</strong>haltlichen Seite wird es darauf ankommen, solche Angebote zu<br />
konzipieren, die vertraute und etablierte Themenkreise <strong>der</strong> <strong>Oberstufe</strong>nmathematik mit Blick auf<br />
die drei Grun<strong>der</strong>fahrungen zu restrukturieren gestatten. Ohne die Entwicklung e<strong>in</strong>er verän<strong>der</strong>ten<br />
Aufgaben- und Unterrichtskultur werden solche Angebote allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>en nachhaltigen<br />
E<strong>in</strong>fluss auf die Unterrichtsrealität haben. Die vielversprechenden Anfänge des laufenden BLK-<br />
Projekts Steigerung <strong>der</strong> Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts für die<br />
Sekundarstufe I sollten hier aufgenommen und fortentwickelt werden.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus wird die Psychologie <strong>der</strong> Fortbildungsangebote entscheidend se<strong>in</strong>: Um die dritte<br />
Grun<strong>der</strong>fahrung von <strong>der</strong> Kraft heuristischer Denk- und Arbeitsweisen erlebbar zu machen,<br />
müssen sich alle Beteiligten als Suchende und an <strong>der</strong> offenen Erkundung Interessierte begreifen<br />
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können. Leiter gelungener Fortbildungsveranstaltungen s<strong>in</strong>d – bei aller notwendigen Kompetenz<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Sache – weniger wissende Instruktoren als kundige Mo<strong>der</strong>atoren von Lern- und Verständigungsprozessen.<br />
(Sie s<strong>in</strong>d damit im übrigen Modelle für gute Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer.) Die<br />
Sozialisation aus <strong>der</strong> ersten Phase mit ihrer e<strong>in</strong>seitigen Orientierung an <strong>der</strong> diszipl<strong>in</strong>ären Struktur<br />
<strong>der</strong> Mathematik wird hier oft zu e<strong>in</strong>em Problem. Den Fachlehrer<strong>in</strong>nen und -lehrern wohnt e<strong>in</strong><br />
beträchtliches ‚heuristisches Potenzial’ <strong>in</strong>ne. Dieses freizulegen und bewusst zu machen gehört<br />
zu den zentralen Aufgaben <strong>der</strong> fachbezogenen Lehrerfortbildung.<br />
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