Leidbewältigung in Islam und Cristentum - MMH/MMS
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Thomas Dallendörfer<br />
<strong>Leidbewältigung</strong> <strong>in</strong> <strong>Islam</strong> <strong>und</strong><br />
Christentum<br />
Kullu maktūb, mit diesem Satz reagierte der muslimische Sohn<br />
auf me<strong>in</strong>en Zuspruch, als er se<strong>in</strong>e kranke Mutter <strong>in</strong> die<br />
Röntgenabteilung des Krankenhauses der EMO<br />
(Evangeliumsgeme<strong>in</strong>schaft Mittlerer Osten) <strong>in</strong> Assuan<br />
begleitete. Diese kurze Floskel bedeutet alles ist<br />
aufgeschrieben <strong>und</strong> stammt <strong>in</strong> der Sache, aber nicht der Form<br />
nach, aus dem Koran (z.B. Sure 9,51), will sagen: Alles ist<br />
vorherbestimmt, alles ist von Gottes Hand her festgelegt. Dies<br />
war die Antwort auf me<strong>in</strong> rabb<strong>in</strong>a maugūd, der Herr ist<br />
anwesend, erste Worte des Trostes, die ich an beide richtete.<br />
Der Versuch prallte an dieser Phrase ab, denn er wollte mich<br />
beruhigen <strong>und</strong> sagen: Wir wissen bereits, alles steht bei Gott.<br />
Man fragt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Situation: Warum macht man<br />
sich als Krankenhausseelsorger die Mühe mit guter<br />
evangelischer Absicht, auf die Not von Muslimen e<strong>in</strong>zugehen?<br />
Sollte man sich nicht lieber auf Christen beschränken, die das<br />
so nicht geäußert hätten, obwohl es auch <strong>in</strong> unserer eigenen<br />
Tradition <strong>in</strong> Psalm 139, 16 ebenfalls heißt: Alle Tage s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />
de<strong>in</strong> Buch geschrieben.<br />
Zwei Zehamputierte liegen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zimmer. Die Not ist bei<br />
beiden die gleiche <strong>und</strong> doch leidet der e<strong>in</strong>e als Christ <strong>und</strong> der<br />
andere als Muslim; macht das e<strong>in</strong>en Unterschied? E<strong>in</strong> junger<br />
Mann mit frischen Verbrennungen ersten bis dritten Grades am<br />
Arm <strong>und</strong> Gesicht wird beim Besuch des Seelsorgeteams mit<br />
der Frage begrüßt: Wie geht es dir? Se<strong>in</strong>e Antwort lautet<br />
stereotyp: al-hamdu-lillah! Gott sei gelobt!<br />
E<strong>in</strong>e ähnliche Situation außerhalb des Krankenhauses<br />
hatte ich mit e<strong>in</strong>em 16jährigen Jungen mit Namen Mohammed<br />
erlebt, den ich über die letzten 18 Monate bis kurz vor se<strong>in</strong>em<br />
Tod am 8. September 2005 begleiten konnte. Er stammte aus<br />
sehr armen Verhältnissen <strong>und</strong> war eigentlich nie ges<strong>und</strong>. Er<br />
hatte Polio als Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d, war über viele Jahre <strong>in</strong>kont<strong>in</strong>ent <strong>und</strong><br />
bekam zum Schluss auch noch Krebs. Gleichzeitig hatte er<br />
gegenüber se<strong>in</strong>en Besuchern nie e<strong>in</strong>e Klage oder Zweifel<br />
aufkommen lassen. Wie erfährt man aber, wie es diesen beiden<br />
Menschen wirklich geht? Denn zu sagen: „Es geht mir<br />
schlecht“ oder „Ich habe große Schmerzen“ verbieten zum<br />
e<strong>in</strong>en die Höflichkeit <strong>und</strong> zum anderen das muslimische<br />
Gottesbild.<br />
Die Frage nach dem Leid im <strong>Islam</strong> ist entscheidend durch das<br />
islamische Gottesbild bestimmt. <strong>Islam</strong> bedeutet bed<strong>in</strong>gungslose<br />
Unterwerfung, Ergebung oder H<strong>in</strong>gabe unter den Willen<br />
Gottes. Die e<strong>in</strong>zig angemessene Haltung ist das<br />
Sichniederwerfen <strong>und</strong> die Verbeugung, die mittlerweile<br />
allgeme<strong>in</strong> bekannt <strong>und</strong> durch das Thema <strong>Islam</strong> jedermann vor<br />
Augen ist. Das Partizip muslim bedeutet wörtlich: der sich<br />
Ergebende. Se<strong>in</strong> Angesicht ist beim Gebet wie das e<strong>in</strong>es<br />
Untergebenen auf den Boden gerichtet. Hier wird der ganze<br />
1
Glaube des muslimischen Gläubigen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Haltung<br />
symbolisiert <strong>und</strong> zusammengefasst. Der sich Gott<br />
Unterwerfende kann nicht aus e<strong>in</strong>er solchen Haltung heraus<br />
anklagen. Er kann bestenfalls alle Widerfährnis mehr oder<br />
weniger vertrauensvoll h<strong>in</strong>nehmen. Im <strong>Islam</strong> wird Gott weder<br />
angeklagt noch h<strong>in</strong>terfragt. Es gibt daher auch ke<strong>in</strong> Theodizee-<br />
Problem wie im Westen, also die Frage, warum Gott als der<br />
liebende <strong>und</strong> gerechte Schöpfer das Leid zulässt. Eigentlich<br />
gibt es im <strong>Islam</strong> ke<strong>in</strong> Gottesbild. Gott ist e<strong>in</strong> Begriff ohne<br />
Anschauung, denn er ist der ganz Andere, der<br />
Unvergleichliche, wie es die vielgebrauchte kürzeste Sure 112<br />
immer wieder nahelegt: Sprich: Er ist Gott, der e<strong>in</strong>e. Der<br />
ewige Gott. Er zeugt nicht <strong>und</strong> wird nicht gezeugt. Und ke<strong>in</strong>er<br />
ist ihm gleich.<br />
E<strong>in</strong>e Klage rückte Gott, den Hocherhabenen, zu sehr <strong>in</strong> die<br />
Nähe von Kritik, zumal menschliche Kriterien an Gott nicht<br />
herangetragen werden dürfen, ungeachtet der Not, die e<strong>in</strong><br />
Mensch zu erleiden hat, <strong>und</strong> die daraus resultierenden Fragen.<br />
Dies zu tun, würde den Menschen als Ungläubigen ausweisen,<br />
der durch se<strong>in</strong>e Kritik den über alles erhabenen Gott (allahu<br />
akbar) h<strong>in</strong>terfragte. E<strong>in</strong>e der Kard<strong>in</strong>alstellen für die Abwehr<br />
dieses Gedankens steht <strong>in</strong> Sure 21, 23: Er wird nicht befragt<br />
nach dem, was er tut; sie aber [die Menschen] werden gefragt.<br />
Dreht nicht aber auch der Gott der Bibel gelegentlich den Spieß<br />
um? Fragt er nicht Hiob (Hiob 38,2-4a): Wer ist’s, der den<br />
Ratschluss verdunkelt mit Worten ohne Verstand? Gürte de<strong>in</strong>e<br />
Lenden wie e<strong>in</strong> Mann! Ich will dich fragen, lehre mich! Wo<br />
warst du, als ich die Erde gründete? Dennoch gibt es <strong>in</strong> dieser<br />
Beziehung e<strong>in</strong>en Unterschied zwischen <strong>Islam</strong> <strong>und</strong> biblischem<br />
Verständnis. Gerade das Hiobbuch unterscheidet sich doch<br />
erheblich von den acht Versen, die von Hiob im Koran<br />
erzählen. Der literarisch großartige Dialog mit se<strong>in</strong>en Fre<strong>und</strong>en<br />
(Hiob 3,1 – 42,6) fehlt im Koran völlig, denn gerade <strong>in</strong> diesem<br />
Teil wird deutlich: Der Mensch darf vor Gott klagen. Gerade<br />
diese zum Zeitpunkt noch unbekannte Haltung gegenüber Gott<br />
will die Bibel e<strong>in</strong>führen. Der Mensch darf gegen ihn<br />
aufbegehren. Er hält dies aus. Hiob wagt deshalb zu sagen: Ich<br />
b<strong>in</strong> zum Rechtsstreit gerüstet! (Hiob 13,18) Es s<strong>in</strong>d die Fre<strong>und</strong>e<br />
Hiobs, die Hiob – geprägt von der alten Vorstellung: Leid<br />
setzte Sünde voraus, vor diesem neuen Gedanken warnen<br />
(11,7): Muss denn e<strong>in</strong> Schwätzer immer Recht haben? Und<br />
auch Hiob wird von Gott ermahnt (40,7-8): Ich will dich<br />
fragen; lehre mich! Willst du me<strong>in</strong> Urteil zunichte machen <strong>und</strong><br />
mich schuldig sprechen, dass du recht behältst? Aber am Ende<br />
ist es Gott, der Hiob trotzdem gegen die E<strong>in</strong>stellung der<br />
Fre<strong>und</strong>e rechtfertigt (42,7): …denn ihr habt nicht recht von mir<br />
geredet wie me<strong>in</strong> Knecht Hiob. Gott erlaubt somit die<br />
Theodizeefrage <strong>und</strong> gibt ihr <strong>in</strong> der Rede Hiobs ausdrücklich<br />
Raum. Das ungerechte <strong>und</strong> s<strong>in</strong>nnlose Leid darf vor Gott<br />
ausgesprochen <strong>und</strong> angemahnt werden. Der Koran h<strong>in</strong>gegen<br />
erlaubt das nicht. Dass Gott im <strong>Islam</strong> außerhalb des Leidens<br />
steht, wird auch an anderer Stelle deutlich: Die Ikonographie<br />
des Kreuzes, Symbol des leidenden Gottessohnes, wird im<br />
<strong>Islam</strong> verachtet. Ihm steht im <strong>Islam</strong> e<strong>in</strong>e auffällige<br />
Grafitographie der Macht <strong>und</strong> der Kraft Gottes gegenüber: Auf<br />
unzähligen Objekten im arabisch-islamischen Raum steht der<br />
2
Satz: ma scha`allah, was Gott will oder la quwa illa bilallhi, es<br />
gibt ke<strong>in</strong>e Kraft, außer durch Gott. Dazu gehören auch die<br />
Floskeln: <strong>in</strong> scha`allah, wenn Gott will <strong>und</strong> bi ´izn allah, mit<br />
Gottes Erlaubnis, die unablässig im Alltag gebraucht werden<br />
<strong>und</strong> das Denken der Menschen von Jugend an mehr prägen, als<br />
wir uns das im Westen vorstellen können. Dah<strong>in</strong>ter steht auch<br />
die Lehre von der kont<strong>in</strong>uierlichen Schöpfung: Gott ist derart<br />
eng mit dem Weltgeschehen verknüpft, dass er fortdauernd die<br />
Schöpfung weiter betreibt, so dass alles, was geschieht, von<br />
ihm her abgeleitet werden muss. Das jüdisch-christliche im<br />
Anfang schuf Gott, erfährt im <strong>Islam</strong> e<strong>in</strong>e ständige<br />
Aktualisierung, <strong>in</strong> der der Mensch eigentlich ke<strong>in</strong>en Freiraum<br />
hat. Das, was Gott für den Menschen vorher-bestimmt hat,<br />
kann vom Menschen zwar erworben werden (kasab), aber es<br />
gibt ke<strong>in</strong>e Willensfreiheit, sondern im Rahmen dieses Erwerbs<br />
e<strong>in</strong>en gewissen Handlungsspielraum, für den der Mensch<br />
e<strong>in</strong>mal vor Gericht gezogen wird (Sure 2,81). Letztlich kommt<br />
aber alles von Gott. Dabei kommt die Frage auf: Auch das<br />
Leid? An dieser Stelle taucht das Problem der Freiheit des<br />
Menschen <strong>in</strong> Bezug auf Gottes E<strong>in</strong>heit <strong>und</strong> Allmacht auf. Der<br />
<strong>Islam</strong> stellt diesen Aspekt besonders <strong>in</strong>s Zentrum se<strong>in</strong>er<br />
Theologie. Die extremste, kaum noch vertretene Postion f<strong>in</strong>det<br />
man sehr früh im <strong>Islam</strong> unter den Gabriten, die alle Aktivität<br />
<strong>und</strong> Macht von Gott ableiten, auch das Böse, also auch die<br />
Krankheit e<strong>in</strong>es Menschen, sogar den Diebstahl <strong>und</strong> den<br />
Mord. Der letzte Aspekt hat dann auch mehrheitlich zur<br />
Ablehnung dieser Me<strong>in</strong>ung geführt, weil man nicht denken<br />
mochte, dass Gott Sünde im Menschen verwirklicht. Nicht nur<br />
der <strong>Islam</strong> r<strong>in</strong>gt um diese Verhältnisfrage von menschlicher<br />
Freiheit (Verantwortung <strong>und</strong> Klage) <strong>und</strong> göttlicher Allmacht,<br />
sondern auch der christliche Glaube, wie dies <strong>in</strong> der<br />
Reformation durch Luther (Vom unfreien Willen) <strong>und</strong> Calv<strong>in</strong><br />
(Erlösung <strong>und</strong> Verwerfung des Menschen s<strong>in</strong>d<br />
vorherbestimmt) betont wurden. Im <strong>Islam</strong> geht es um den<br />
absoluten Erhalt der E<strong>in</strong>heit Gottes (tauhîd), bei Luther um die<br />
Bewahrung der göttlichen Gnade (sola gratia) <strong>und</strong> bei Clav<strong>in</strong><br />
um die Verteidigung der Ehre Gottes (soli deo gloria).<br />
Das Leid ist für den Betroffenen aber ke<strong>in</strong>e dogmatischsystematische<br />
oder philosophische Frage, denn die Krankheit<br />
ist immer e<strong>in</strong>e große Enttäuschung, die gelebt <strong>und</strong> akzeptiert<br />
werden muss. Viele fühlen sich schuldig <strong>und</strong> verlassen. Der<br />
Patient sucht Entlastung <strong>und</strong> Trost. Der Moslem f<strong>in</strong>det sie <strong>in</strong><br />
dem oben beschriebenen Gottesverständnis, das auch das<br />
Denken über Krankheit <strong>und</strong> Leid entscheidend prägt. Er ist im<br />
Moment se<strong>in</strong>er Ergebung (islam) e<strong>in</strong> Verbündeter der Allmacht<br />
Gottes. Selbst dann, wenn er leidet, weiß er sich mit Gott<br />
verb<strong>und</strong>en, ja er weiß sich umso stärker mit ihm verb<strong>und</strong>en, da<br />
er die Krankheit als Prüfung <strong>und</strong> Sakrament deuten kann.<br />
Vor e<strong>in</strong>iger Zeit wurde im Wolfsburger islamischen<br />
Kulturzentrum beim Freitagsgebet über das Begriffspaar<br />
Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit gepredigt. Dabei wurde deutlich:<br />
Krankheit ist Prüfung <strong>und</strong> dient der Läuterung. Das Leid führt<br />
darüber h<strong>in</strong>aus zu Gott <strong>und</strong> dient dem Erlass von Sünden.<br />
Vielen Muslimen <strong>in</strong> Oberägypten reicht das aber nicht. Es gibt<br />
neben dem Konzept der Ergebung <strong>und</strong> der Ansicht, dass alles<br />
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vorherbestimmt ist (maktūb), auch noch die Möglichkeit von<br />
Amuletten Gebrauch zu machen. E<strong>in</strong>e gebräuchliche Form s<strong>in</strong>d<br />
gefaltete Papiere, die <strong>in</strong> Stoffe gewickelt <strong>und</strong> umgehängt<br />
werden können. Oft werden sie unter das Kopfkissen des<br />
Patienten gelegt, <strong>in</strong> der Wohnung des Kranken aufgehängt oder<br />
mit anderen magischen Elementen (Pulver u.a.) versehen. Auf<br />
dem Zettel stehen meistens die erste <strong>und</strong> die letzten drei Suren<br />
zusammen mit seltenen Zeichen <strong>und</strong> Eulogien auf den<br />
Propheten. Die Menschen von Oberägypten s<strong>in</strong>d bereit die<br />
Hälfte des Monatslohns e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>fachen Arbeiters dafür zu<br />
bezahlen (25-50 Euro). Dass diese – aus aufgeklärter Sicht<br />
wirkungslosen – Zettel teuer bezahlt werden, zeigt auch, dass<br />
der Hochislam für viele Muslime zu abstrakt ist. Sie wünschen<br />
sich etwas Handfestes.<br />
All dies s<strong>in</strong>d muslimische Formen der Entlastung im Leid. Wie<br />
weit sie tragen, kann man nur mutmaßen. Die Hauptentlastung<br />
beruht schlicht auf der Tatsache des Moslem-Se<strong>in</strong>s. Der Gr<strong>und</strong>,<br />
dass sich e<strong>in</strong> Moslem entlastet fühlt, ist derselbe Gr<strong>und</strong> dafür,<br />
dass er es nicht wagt, Kritik an Gott zu üben. Weder Klage<br />
noch Zweifel, schon gar ke<strong>in</strong>e Theodizee, haben deshalb Raum<br />
im Verhältnis zu Gott, denn so lange man entlastet wird,<br />
besteht auch ke<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong> zu zweifeln. Ob man sich <strong>in</strong> diesem<br />
Zirkel ehrlich <strong>und</strong> aufrichtig <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Herz schauen lassen kann,<br />
bleibt offen.<br />
Me<strong>in</strong>e Frau <strong>und</strong> ich s<strong>in</strong>d seit 2000 Eltern e<strong>in</strong>es geistigkörperlich<br />
beh<strong>in</strong>derten Mädchens <strong>und</strong> haben während unserer<br />
Zeit <strong>in</strong> Assuan erfahren müssen, wie hilflos Eltern mit ihren<br />
beh<strong>in</strong>derten K<strong>in</strong>dern umgehen. Solche K<strong>in</strong>der werden oft zu<br />
Hause versteckt. Hier sche<strong>in</strong>t das Konzept der Entlastung im<br />
Leid ke<strong>in</strong>e Wirkung zu entfalten. Man schämt sich für diese<br />
K<strong>in</strong>der. Es ist e<strong>in</strong>e Schande <strong>und</strong> wirkt sich beispielsweise<br />
nachteilig auf die Heiratschancen der Geschwister aus. Aus<br />
diesem <strong>und</strong> vielen anderen Gründen gibt es seit 2005 e<strong>in</strong>e<br />
kle<strong>in</strong>e Arbeit für Eltern mit beh<strong>in</strong>derten K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> Assuan, wo<br />
man versucht die K<strong>in</strong>der therapeutisch <strong>und</strong> pädagogisch zu<br />
fördern <strong>und</strong> die Eltern zu ermutigen, öffentlich zu ihrem K<strong>in</strong>d<br />
zu stehen, so wie Gott <strong>in</strong> Jesus zu jedem steht, unabhängig von<br />
se<strong>in</strong>er Leistung <strong>und</strong> Verfassung.<br />
Jesus ist durch die vielen Heilungsgeschichten, die wir als<br />
Christen <strong>in</strong> unseren Gottesdiensten hören, zu e<strong>in</strong>er starken<br />
Anschauung der liebevollen Zuwendung geworden <strong>und</strong> die<br />
christlichen Lieder, die im Krankenhaus wöchentlich gesungen<br />
werden, haben e<strong>in</strong>e anziehende Wirkung auf Muslime. Sie<br />
selbst kennen ke<strong>in</strong>e Lieder. Die Mitarbeiter des<br />
Besuchsdienstes <strong>in</strong> Assuan haben regelmäßig erlebt, wie<br />
Patienten aus e<strong>in</strong>em Zimmer <strong>in</strong> das nächste Zimmer gefolgt<br />
waren, um die Lieder der Mitarbeiter <strong>und</strong> die Geschichten von<br />
Jesus <strong>und</strong> die Gebete für andere e<strong>in</strong> weiteres Mal zu hören <strong>und</strong><br />
zu erleben.<br />
Die wichtigste Geschichte, die wir für die Kranken erzählt<br />
haben, war die von der ganzheitlichen Heilung des<br />
Gichtbrüchigen, der mit Hilfe se<strong>in</strong>er Fre<strong>und</strong>e über e<strong>in</strong> Dach vor<br />
die Füße von Jesus gelangt ist (Mk 2,1-11).<br />
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Auch im Christentum führt das Leid zu Gott, allerd<strong>in</strong>gs ist es<br />
nicht das Leid des Menschen, sondern das Leid Gottes <strong>in</strong> Jesus<br />
Christus. Es ist das Leid der Sühne <strong>und</strong> der Versöhnung, die<br />
den Menschen aus dem Getrenntse<strong>in</strong> zurückkauft. Diese<br />
Trennung wird aber im islamischen Glauben, als Ergebung <strong>in</strong><br />
den Willen Gottes, weder wahrgenommen noch zugestanden.<br />
Denn der Moslem, als der Verbündete Gottes, wähnt sich nicht<br />
von Gott getrennt. Er muss auch nicht erlöst, sondern nur<br />
er<strong>in</strong>nert werden (uthkur allah!, Gedenke Gottes!, e<strong>in</strong> weiteres<br />
Beispiel der sehr häufigen Grafitographie).<br />
Wenn man sich aber das Leben des Menschen genau anschaut,<br />
se<strong>in</strong> Ausgeliefertse<strong>in</strong> an Sünde, Krankheit <strong>und</strong> Tod, wird man<br />
zugeben müssen, dass der Mensch von Gott, dem Guten<br />
schlechth<strong>in</strong>, getrennt ist. Und weiterh<strong>in</strong> wird man folgern:<br />
Nicht der Gott handelt angemessen, der darum mit Regeln <strong>und</strong><br />
Geboten an unser unseliges Leben appelliert, sondern der Gott,<br />
der diese zum Tode führende Existenz zu se<strong>in</strong>er eigenen macht<br />
<strong>und</strong> durch die Auferstehung überw<strong>in</strong>det. Im Glauben an diesen<br />
Gott verheißt er neues Leben, das im Neuen Testament an zwei<br />
Stellen ersche<strong>in</strong>t: <strong>in</strong> der letzten Bitte des Vaterunsers …<strong>und</strong><br />
führe uns nicht <strong>in</strong> Versuchung, sondern erlöse uns von dem<br />
Bösen <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Verheißung (Offg. 21,4) …<strong>und</strong> Gott wird<br />
abwischen alle Tränen von ihren Augen, <strong>und</strong> der Tod wird<br />
nicht mehr se<strong>in</strong>, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird<br />
mehr se<strong>in</strong>.<br />
Thomas Dallendörfer, geb. 1965 hat nach dem Abitur im<br />
Sem<strong>in</strong>ar Tabor von 1986-1990 evangelische Theologie<br />
studiert. Von 1990-1997 Prediger im Ohofer<br />
Geme<strong>in</strong>schaftsverband. 1998-2000 Teilnahme am<br />
Arabischprogramm von Dr. George Kelsey <strong>in</strong> Amman,<br />
Jordanien. 2000-2008 Mitarbeiter der<br />
Evangeliumsgeme<strong>in</strong>schaft Mittlerer Osten (EMO, www.emowiesbaden.de<br />
) <strong>in</strong> Assuan, Oberägypten <strong>und</strong> seit 2008 erneut<br />
im Ohofer Geme<strong>in</strong>schaftsverband tätig <strong>und</strong> weiterh<strong>in</strong><br />
Mitarbeiter der EMO (Wiesbaden) <strong>in</strong> Deutschland.<br />
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