6. Grundrechts-Wiederholung
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1<br />
Bedeutung der Grundrechte<br />
GR-Funktionen / Staatszielbestimmungen<br />
Teilhabe- / Leistungsrechte vs. Staatszielbestimmung<br />
Staatsziele sind verfassungsrechtlich vorgegebene Leitvorstellungen, die bei<br />
staatlichem Handeln berücksichtigt werden müssen – „unter dem Vorbehalt des<br />
Möglichen“ -, und die in Konkurrenz zueinander stehen. Es obliegt der jeweiligen<br />
staatlichen Entscheidung, im Rahmen des Ermessens, entsprechende Prioritäten<br />
zugunsten oder zulasten jeweiliger Staatsziele zu setzen. Ein Staatsziel läuft<br />
angesichts der notwendigen Unbestimmtheit in der Formulierung immer Gefahr,<br />
„Verfassungslyrik“ zu sein.<br />
GRe als „Leistungsrechte“ sind in ihrer handlungsleitenden Wirkung ähnlich wie<br />
verfassungsrechtlich garantierte Staatsziele. Sie stammen allerdings ihrer Herkunft<br />
nach von einem Grundrecht ab, das als Abwehrrecht dem einzelnen einen<br />
einklagbaren Anspruch verbürgt (subjektiv-öffentliches Recht), sind aber selbst nicht<br />
solche Anspruchsrechte, sondern entfalten lediglich eine Wirkung wie ein Staatsziel.<br />
!<br />
!<br />
GRe als Leistungsrechte:<br />
staatl. Schutzverpflichtung / gesetzgeberisches. Handeln<br />
Fluglärm, BVerfGE 56, 54 ff – Auszug -<br />
Leitsätze: (Auszug)<br />
.....2. Zur Pflicht des Gesetzgebers, Regelungen zur Bekämpfung des<br />
Fluglärms<br />
aus den Gründen:<br />
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1. Als verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab kommt vor allem das durch<br />
Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Recht auf körperliche Unversehrtheit in Betracht.<br />
Nach anerkannter Rechtsprechung schützt dieses Grundrecht den<br />
Staatsbürger nicht nur als subjektives Abwehrrecht gegen staatliche<br />
Eingriffe. Vielmehr folgt darüber hinaus aus seinem objektiv-rechtlichen<br />
Gehalt die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor<br />
die in Art. 2 Abs. 2 GG genannten Rechtsgüter zu stellen und sie<br />
insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren.<br />
Diese zunächst im Urteil zur Fristenlösung (BVerfGE 39, 1 (41)) bestätigte<br />
Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht in seinen beiden<br />
Atomrechts- Entscheidungen inzwischen auch auf den Umweltschutz<br />
angewandt (BVerfGE 49, 89 (141*) - Kalkar; BVerfGE 53, 30 (57) - Mülheim-<br />
Kärlich).<br />
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(Anspruch auf Leistung –ausnahmsweise – nur bei evidenter<br />
Schutzpflichtverletzung)<br />
II. Entgegen der Meinung der Beschwerdeführer hat der Gesetzgeber eine<br />
etwaige, aus Art. 2 Abs. 2 GG folgende Schutzpflicht nicht durch das<br />
Unterlassen von Nachbesserungen verletzt.<br />
1. Dieses Prüfungsergebnis bedeutet nicht, daß auf dem Gebiet der<br />
Fluglärmbekämpfung bereits befriedigende Verhältnisse erreicht und alle<br />
denkbaren Schutzmaßnahmen schon verwirklicht worden sind (vgl. dazu etwa<br />
Rohrmann u. a., Fluglärm und seine Wirkung auf den Menschen, 1978, S. 235<br />
ff., und insbesondere den 1978 veröffentlichten Bericht des Arbeitskreises 14 -<br />
Fluglärm - der beim Bundesminister des Innern gebildeten Projektgruppe<br />
Lärmbekämpfung, S. 15 ff.). Das Ergebnis beruht vielmehr darauf, daß das<br />
Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde der<br />
vorliegenden Art erst dann eingreifen kann, wenn der Gesetzgeber die<br />
genannte Pflicht evident verletzt hat.<br />
In der Entscheidung zur Fristenlösung (BVerfGE 39, 1 (44)) und erneut im<br />
Schleyer-Urteil (BVerfGE 46, 160 (164*)) hat das Bundesverfassungsgericht<br />
betont, über die Art und Weise, wie die aus Art. 2 Abs. 2 GG hergeleitete<br />
Schutzpflicht zu erfüllen sei, hätten in erster Linie die staatlichen Organe<br />
in eigener Verantwortung zu entscheiden; sie befänden darüber, welche<br />
Maßnahmen zweckdienlich und geboten seien, um einen wirksamen Schutz<br />
zu gewährleisten. Schon vorher hatte das Bundesverfassungsgericht in<br />
anderen Entscheidungen als maßgeblich darauf abgestellt, ob den staatlichen<br />
Organen eine evidente Verletzung der in den Grundrechten verkörperten -<br />
Numerus clausus; vgl. ferner BVerfGE 4, 7 (18); 27, 253 (283)*; - Numerus<br />
clausus; vgl. ferner BVerfGE 4, 7 (18*); 27, 253 (283)*; 36, 321 (330 f.)). Diese<br />
Begrenzung der verfassungsrechtlichen Nachprüfung erscheint deshalb<br />
geboten, weil es regelmäßig eine höchst komplexe Frage ist, w i e eine<br />
positive staatliche Schutz- und Handlungspflicht, die erst im Wege der<br />
Verfassungsinterpretation aus den in den Grundrechten verkörperten<br />
Grundentscheidungen hergeleitet wird, durch aktive gesetzgeberische<br />
Maßnahmen zu verwirklichen ist. Je nach der Beurteilung der tatsächlichen<br />
Verhältnisse, der konkreten Zielsetzungen und ihrer Priorität sowie der<br />
Eignung der denkbaren Mittel und Wege sind verschiedene Lösungen<br />
möglich. Die Entscheidung, die häufig Kompromisse erfordert, gehört nach<br />
dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem demokratischen Prinzip in<br />
die Verantwortung des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers<br />
und kann vom Bundesverfassungsgericht in der Regel nur begrenzt<br />
nachgeprüft werden, sofern nicht Rechtsgüter von höchster Bedeutung auf<br />
dem Spiele stehen. Diese Erwägungen fallen verstärkt ins Gewicht, wenn es<br />
nicht allein um die Frage geht, ob der Gesetzgeber eine aus den<br />
Grundrechten herleitbare Schutzpflicht verletzt hat, wenn vielmehr darüber<br />
hinaus die weitere Frage strittig ist, ob er diese Verletzung durch<br />
unterlassene Nachbesserung begangen hat. Einen Verfassungsverstoß<br />
dieser Art kann das Bundesverfassungsgericht erst dann feststellen, wenn<br />
evident ist, daß eine ursprünglich rechtmäßige Regelung wegen<br />
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zwischenzeitlicher Änderung der Verhältnisse verfassungsrechtlich<br />
untragbar geworden ist, und wenn der Gesetzgeber gleichwohl weiterhin<br />
untätig geblieben ist oder offensichtlich fehlsame<br />
Nachbesserungsmaßnahmen getroffen hat. Im Bereich der<br />
Fluglärmbekämpfung kann dabei nicht außer acht bleiben, daß verläßliche<br />
wissenschaftliche Erkenntnisse über die Grenzen zumutbarer<br />
Fluglärmbelastungen noch nicht vorliegen und daß es sich schon wegen der<br />
internationalen Verflechtung des Flugverkehrs um eine komplexe Materie<br />
handelt, zu deren Regelung dem Gesetzgeber angemessene Erfahrungs- und<br />
Anpassungsspielräume gebühren (vgl. auch BVerfGE 54, 11 (37) m.w.N. -<br />
Rentenbesteuerung).<br />
Staatsziele<br />
hessische Verfassung (1946)<br />
Artikel 27<br />
Die Sozial- und Wirtschaftsordnung beruht auf der Anerkennung der Würde<br />
und der Persönlichkeit des Menschen<br />
Artikel 28<br />
(1) Die menschliche Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutze des<br />
Staates.<br />
(2) Jeder hat nach seinen Fähigkeiten ein Recht auf Arbeit und, unbeschadet<br />
seiner persönlichen Freiheit, die sittliche Pflicht zur Arbeit.<br />
(3) Wer ohne Schuld arbeitslos ist, hat Anspruch auf den notwendigen<br />
Unterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen. Ein Gesetz<br />
regelt die Arbeitslosenversicherung........<br />
Staatsziele<br />
sächsische Verfassung (1991)<br />
Seite 3 von 43<br />
Artikel 7 (Staatsziele: Arbeit, Wohnraum, Bildung)<br />
(1) Das Land erkennt das Recht eines jeden Menschen auf ein<br />
menschenwürdiges Dasein, insbesondere auf Arbeit, auf angemessenen<br />
Wohnraum, auf angemessenen Lebensunterhalt, auf soziale Sicherung und<br />
auf Bildung, als Staatsziel an.<br />
(2) Das Land bekennt sich zur Verpflichtung der Gemeinschaft, alte und<br />
behinderte Menschen zu unterstützen und auf die Gleichwertigkeit ihrer<br />
Lebensbedingungen hinzuwirken.<br />
Artikel 8 (Gleichstellung von Mann und Frau)<br />
Die Förderung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung von Frauen<br />
und Männern ist Aufgabe des Landes.<br />
Das Land hat die Pflicht, nach seinen Kräften die in dieser Verfassung<br />
niedergelegten Staatsziele anzustreben und sein Handeln danach<br />
auszurichten.<br />
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Norm-, Schutz-Bereiche, GR-Tatbestände<br />
ausgewählter Grundrechte des GG<br />
Seite 4 von 43<br />
1. zum allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Absb 1 GG<br />
„....2. a) Kommt hiernach eine Verletzung von Einzelgrundrechten nicht in Betracht,<br />
so bleibt als Prüfungsmaßstab nur das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG<br />
verfassungsrechtlich gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht.<br />
12<br />
Dieses ergänzt als "unbenanntes" Freiheitsrecht die speziellen ("benannten")<br />
Freiheitsrechte, die, wie etwa die Gewissensfreiheit oder die Meinungsfreiheit, ebenfalls<br />
konstituierende Elemente der Persönlichkeit schützen. Seine Aufgabe ist es,<br />
im Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der "Würde des Menschen" (Art. 1 Abs.<br />
1 GG) die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen<br />
zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien<br />
nicht abschließend erfassen lassen; diese Notwendigkeit besteht namentlich<br />
auch im Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen<br />
Gefährdungen für den Schutz der menschlichen Persönlichkeit. Wie der Zusammenhang<br />
mit Art. 1 Abs. 1 GG zeigt, enthält das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art.<br />
2 Abs. 1 GG ein Element der "freien Entfaltung der Persönlichkeit", das sich als<br />
Recht auf Respektierung des geschützten Bereichs von dem "aktiven" Element dieser<br />
Entfaltung, der allgemeinen Handlungsfreiheit (vgl. BVerfGE 6, 32), abhebt.<br />
Demgemäß müssen auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des allgemeinen<br />
Persönlichkeitsrechts enger gezogen werden als diejenigen der allgemeinen Handlungsfreiheit:<br />
Es erstreckt sich nur auf Eingriffe, die geeignet sind, die engere Persönlichkeitssphäre<br />
zu beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 34, 238 [247] - heimliche Tonbandaufnahme;<br />
BGHZ 24, 72 [81]; 27, 284 [287]).<br />
13<br />
Wegen der dargelegten Eigenart des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat die<br />
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ebenso wie die des Bundesgerichtshofs,<br />
den Inhalt des geschützten Rechts nicht abschließend umschrieben,<br />
sondern seine Ausprägungen jeweils anhand des zu entscheidenden Falles<br />
herausgearbeitet. So sind als Schutzgüter des allgemeinen Persönlichkeitsrechts<br />
anerkannt die Privatsphäre, Geheimsphäre und Intimsphäre (vgl. etwa<br />
BVerfGE 27, 1 [6] - Mikrozensus; 27, 344 [350 f.] - Scheidungsakten; 32, 373 [379] -<br />
Arztkartei; 34, 238 [245 f.] - heimliche Tonbandaufnahme; 47, 46 [73] - Sexualkundeunterricht;<br />
49, 286 [298] Transsexuelle), die persönliche Ehre, das Verfügungsrecht<br />
über die Darstellung der eigenen Person (BVerfGE 35, 202 [220] Lebach),<br />
das Recht am eigenen Bild und am gesprochenen Wort (BVerfGE 34, 238 [246])<br />
und unter bestimmten Umständen das Recht, von der Unterschiebung nicht getaner<br />
Äußerungen verschont zu bleiben (vgl. BVerfGE 34, 269 [282 f.] - Soraya).<br />
Diese Ausformungen des verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht<br />
müssen entsprechend beachtet werden, wenn es sich um gerichtliche Entscheidun-<br />
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Seite 5 von 43<br />
gen über kollidierende Interessen nach Vorschriften des Privatrechts handelt (vgl.<br />
BVerfGE 35, 202 [221]).<br />
BVerfGE 54, 148 - Eppler<br />
„......1. Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erstreckt sich auch auf Abbildungen<br />
einer Person durch Dritte.<br />
65<br />
a) Dem Grundrecht kommt die Aufgabe zu, Elemente der Persönlichkeit zu gewährleisten,<br />
die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes<br />
sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht<br />
nachstehen (vgl. BVerfGE 54, 148 [153]; 99, 185 [193]). Die Notwendigkeit einer solchen<br />
lückenschließenden Gewährleistung besteht insbesondere im Blick auf neuartige<br />
Gefährdungen der Persönlichkeitsentfaltung, die meist in Begleitung des wissenschaftlich-technischen<br />
Fortschritts auftreten (vgl. BVerfGE 54, 148 [153]; 65, 1 [41]).<br />
Die Zuordnung eines konkreten Rechtsschutzbegehrens zu den verschiedenen Aspekten<br />
des Persönlichkeitsrechts muß daher vor allem im Blick auf die Persönlichkeitsgefährdung<br />
erfolgen, die den konkreten Umständen des Anlaßfalls zu entnehmen<br />
ist.<br />
66<br />
b) Die Befugnis zur Veröffentlichung von Fotografien, die Personen in privaten oder<br />
alltäglichen Zusammenhängen abbilden, bemißt sich nach dem Recht am eigenen<br />
Bild und der Garantie der Privatsphäre, die das allgemeine Persönlichkeitsrecht konkretisieren.<br />
67<br />
aa) Ein allgemeines und umfassendes Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen<br />
Person enthält Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG entgegen der<br />
Auffassung der Beschwerdeführerin nicht. Soweit sie ein derartiges Recht aus früheren<br />
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entnehmen möchte (vgl.<br />
BVerfGE 35, 202 [220]; 54, 148 [155 f.]; 63, 131 [142]), liegt darin eine unzutreffende<br />
Verallgemeinerung des in Ansehung der konkreten Fälle formulierten Schutzgehalts<br />
der grundrechtlichen Gewährleistung. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits<br />
mehrfach betont hat, gibt das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Einzelnen nicht<br />
den Anspruch, nur so von anderen dargestellt zu werden, wie er sich selber sieht<br />
oder gesehen werden möchte (vgl. BVerfGE 82, 236 [269]; 97, 125 [149]; 97, 391<br />
[403]; 99, 185 [194]). Ein derart weiter Schutz würde nicht nur das Schutzziel, Gefährdungen<br />
der Persönlichkeitsentfaltung zu vermeiden, übersteigen, sondern auch<br />
weit in die Freiheitssphäre Dritter hineinreichen.<br />
Caroline von Monaco III [BVerfG] BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1999 - 1 BvR 653/<br />
96<br />
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2. zum Normbereich Art. 4 GG – Glaubensfreiheit:<br />
Seite 6 von 43<br />
„ .... 2. In einem Staat, in dem die menschliche Würde oberster Wert ist, und in dem<br />
der freien Selbstbestimmung des Einzelnen zugleich ein gemeinschaftsbildender<br />
Wert zuerkannt wird, gewährt die Glaubensfreiheit dem Einzelnen einen von<br />
staatlichen Eingriffen freien Rechtsraum, in dem er sich die Lebensform zu geben<br />
vermag, die seiner Überzeugung entspricht. Insofern ist die Glaubensfreiheit<br />
mehr als religiöse Toleranz, d. h. bloße Duldung religiöser Bekenntnisse<br />
oder irreligiöser Überzeugungen (BVerfGE 12, 1 (3)). Sie umfaßt daher nicht nur<br />
die (innere) Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch die äußere<br />
Freiheit, den Glauben zu manifestieren, zu bekennen und zu verbreiten (vgl.<br />
BVerfGE 24, 236 (245)). Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes<br />
Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung<br />
gemäß zu handeln. Dabei sind nicht nur Überzeugungen, die auf<br />
imperativen Glaubenssätzen beruhen, durch die Glaubensfreiheit geschützt. Vielmehr<br />
umspannt sie auch religiöse Überzeugungen, die für eine konkrete Lebenssituation<br />
eine ausschließlich religiöse Reaktion zwar nicht zwingend fordern, diese Reaktion<br />
aber für das beste und adäquate Mittel halten, um die Lebenslage nach der<br />
Glaubenshaltung zu bewältigen. Andernfalls würde das Grundrecht der Glaubensfreiheit<br />
sich nicht voll entfalten können....“<br />
(BVerfGE 32, 98 ff)<br />
„....1. Art. 4 Abs. 1 GG schützt die Glaubensfreiheit. Die Entscheidung für oder gegen<br />
einen Glauben ist danach Sache des Einzelnen, nicht des Staates. Der Staat<br />
darf ihm einen Glauben oder eine Religion weder vorschreiben noch verbieten. Zur<br />
Glaubensfreiheit gehört aber nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern<br />
auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu<br />
handeln (vgl. BVerfGE 32, 98 ). Insbesondere gewährleistet die Glaubensfreiheit<br />
die Teilnahme an den kultischen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt<br />
oder in denen er Ausdruck findet. Dem entspricht umgekehrt die Freiheit, kultischen<br />
Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Diese Freiheit<br />
bezieht sich ebenfalls auf die Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion<br />
sich darstellt. Art. 4 Abs. 1 GG überläßt es dem Einzelnen zu entscheiden, welche<br />
religiösen Symbole er anerkennt und verehrt und welche er ablehnt. Zwar hat er in<br />
einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein<br />
Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen<br />
Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom<br />
Staat geschaffene Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem<br />
Einfluß eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert,<br />
und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist. Insofern entfaltet<br />
Art. 4 Abs. 1 GG seine freiheitssichernde Wirkung gerade in Lebensbereichen, die<br />
nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in<br />
Vorsorge genommen worden sind (vgl. BVerfGE 41, 29 ). Dem trägt auch Art.<br />
140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 4 WRV dadurch Rechnung, daß er ausdrücklich<br />
verbietet, jemanden zur Teilnahme an religiösen Übungen zu zwingen....“<br />
(BVerfGE 93, 1-37)<br />
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4<br />
3. zu Art. 5 Abs. 1 S.1 GG – Meinungsäußerungsfreiheit<br />
Seite 7 von 43<br />
1. Bei den von der Leitung der Vollzugsanstalt beanstandeten Passagen des von<br />
dem Beschwerdeführer verfaßten Briefes handelt es sich um schriftlich niedergelegte<br />
Meinungen im Sinne des Art. 5 Abs. 1 GG.<br />
26<br />
a) Zu "Meinungen" im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gehören jedenfalls<br />
Werturteile, also wertende Betrachtungen von Tatsachen, Verhaltensweisen<br />
oder Verhältnissen. Ein derartiges Werturteil ist notwendigerweise subjektiv. Es<br />
spielt keine entscheidende Rolle, ob es "richtig" oder "falsch", emotional oder rational<br />
begründet ist. Die beanstandeten Passagen des Briefes des Beschwerdeführers geben<br />
seine Ansichten über verschiedene Personen aus dem Anstalts- und Justizbereich<br />
wieder. Sie enthalten Werturteile und sind damit Meinungsäußerungen im Sinne<br />
des Art. 5 Abs. 1 GG.<br />
27<br />
b) Diesen Meinungsäußerungen kann der Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG nicht schon<br />
aus der Erwägung abgesprochen werden, dieses Grundrecht schütze nur "wertvolle"<br />
Meinungen, d. h. Meinungen, die eine gewisse ethische Qualität besitzen. Eine derartige<br />
Einschränkung enthält Art. 5 Abs. 1 GG schon seinem Wortlaut nach nicht. Sie<br />
würde auch seinem Sinn widersprechen. Das in ihm gewährleistete Recht der freien<br />
Meinungsäußerung ist für die freiheitliche Demokratie schlechthin konstituierend<br />
(BVerfGE 5, 85 [134 f.]; 7, 198 [208]; 12, 113 [125]; 20, 56 [97]). Daraus folgt der umfassende<br />
Charakter dieses Rechts. Es soll jede Meinung erfassen. Eine Differenzierung<br />
nach der sittlichen Qualität der Meinungen würde diesen umfassenden Schutz<br />
weitgehend relativieren. Abgesehen davon, daß die Abgrenzung von "wertvollen" und<br />
"wertlosen" Meinungen schwierig, ja oftmals unmöglich wäre, ist in einem pluralistisch<br />
strukturierten und auf der Konzeption einer freiheitlichen Demokratie beruhenden<br />
Staatsgefüge jede Meinung, auch die von etwa herrschenden Vorstellungen abweichende,<br />
schutzwürdig. Aus diesem Grunde werden auch abwertende Werturteile<br />
über andere Personen oder bestimmte Geschehnisse oder Verhältnisse durch Art. 5<br />
Abs. 1 Satz 1 GG gedeckt, soweit nicht eine der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG<br />
eingreift....“<br />
(BVerfGE 33, 1 ff)<br />
„...18<br />
1. Die angegriffenen Entscheidungen sind an dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit<br />
(Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) zu messen. Das ebenfalls als verletzt gerügte Grundrecht<br />
auf Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) scheidet dagegen als Prüfungsmaßstab<br />
aus. Im vorliegenden Fall geht es ungeachtet des Verbreitungsmediums<br />
allein um die Frage, ob eine bestimmte Äußerung strafrechtlich sanktioniert<br />
werden durfte (vgl. BVerfGE 85, 1 [11 ff.]).<br />
19<br />
2. Die umstrittene Äußerung in dem Artikel, "C. sollte lieber einen Arzt aufsuchen" -<br />
nur hierauf haben die Gerichte die Verurteilung wegen Beleidigung gestützt - fällt in<br />
den Schutzbereich des <strong>Grundrechts</strong> auf Meinungsfreiheit. Das Grundrecht der Mei-<br />
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5<br />
nungsfreiheit schützt die Meinungskundgabe unabhängig davon, ob die Äußerung<br />
rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen<br />
für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird (vgl.<br />
BVerfGE 33, 1 [14 f.]; 61, 1 [7]; stRspr). Auch die polemische oder verletzende<br />
Formulierung der Aussage entzieht sie nicht seinem Schutzbereich (vgl.<br />
BVerfGE 54, 129 [138 f.]; 93, 266 [289]; stRspr)....“<br />
(BVerfG, Beschluss vom 1. 8. 2001 - 1 BvR 1906/ 97)<br />
4. zu Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG – Meinungsäußerungsfreiheit;<br />
zugleich Abgrenzung zu Art. 5 Abs. 1 S.2 GG – Pressefreiheit:<br />
Seite 8 von 43<br />
Leitsatz:<br />
1. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist verkannt, wenn Formulierungen, in denen die Bewertung<br />
tatsächlicher Vorgänge zum Ausdruck kommt, als Tatsachenbehauptungen angesehen<br />
werden.<br />
2. Es verstößt gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG),<br />
wenn sich jemand, der eine herabsetzende Tatsachenbehauptung über Dritte aufstellt,<br />
die nicht seinem eigenen Erfahrungsbereich entstammt, zur Erfüllung seiner<br />
Darlegungslast nicht auf unwidersprochene Pressemitteilungen beziehen darf.<br />
Aus den Gründen:<br />
Die angegriffenen Urteile verletzen die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus<br />
Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.<br />
36<br />
1. Verfassungsrechtlicher Maßstab ist das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus<br />
Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.<br />
37<br />
Zwar handelt es sich bei dem Aufruf, der die umstrittene Äußerung enthält, um ein<br />
Druckerzeugnis, das zur Verbreitung geeignet und bestimmt ist und damit nach<br />
herrschender Auffassung die Voraussetzung des Pressebegriffs im Sinn von Art. 5<br />
Abs. 1 Satz 2 GG erfüllt. Daraus folgt jedoch nicht ohne weiteres, daß dieses Grundrecht<br />
auch die einzelne Meinungsäußerung schützt, sobald sie in einem Druckerzeugnis<br />
enthalten ist. Die Pressefreiheit ist weder ein Spezialgrundrecht für<br />
drucktechnisch verbreitete Meinungen noch eine auf die Presse gemünzte verstärkende<br />
<strong>Wiederholung</strong> der Meinungsfreiheit. Wäre es nur darum gegangen sicherzustellen,<br />
daß auch die gedruckte Meinung grundrechtlich geschützt ist, so hätte<br />
es einer eigenen Garantie der Pressefreiheit nicht bedurft. Vielmehr wäre die Beibehaltung<br />
des Mediums "Druck", das bereits in Art. 143 Abs. 1 Satz 1 der Paulskirchen-<br />
Verfassung und Art. 118 Abs. 1 der Weimarer Verfassung neben Wort, Schrift und<br />
Bild stand, ausreichend gewesen. Auch aus den Debatten im Parlamentarischen Rat<br />
ergibt sich, daß der Verzicht auf das Wort "Druck" im Rahmen der Meinungsfreiheit<br />
und die Schaffung einer eigenen Garantie der Pressefreiheit nicht den Sinn haben<br />
sollte, gedruckte Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit auszuschließen<br />
und statt dessen dem Schutzbereich der Pressefreiheit zuzuweisen. Das<br />
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Seite 9 von 43<br />
Wort "Druck" wurde vielmehr nur deswegen aus dem Entwurf gestrichen, weil es<br />
nach Auffassung des Parlamentarischen Rats bereits im Tatbestandsmerkmal<br />
"Schrift" enthalten war (vgl. JöR N.F. 1, S. 80 ff.).<br />
38<br />
Während die in einem Presseerzeugnis enthaltene Meinungsäußerung bereits durch<br />
Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt ist, geht es bei der besonderen Garantie der<br />
Pressefreiheit um die einzelne Meinungsäußerungen übersteigende Bedeutung<br />
der Presse für die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung, die Art. 5<br />
Abs. 1 GG gewährleisten will (vgl. BVerfGE 20, 162 [175 f.]). Daher bezieht sich der<br />
Schutz von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG vor allem auf die Voraussetzungen, die gegeben<br />
sein müssen, damit die Presse ihre Aufgabe im Kommunikationsprozeß<br />
erfüllen kann. Das ist gemeint, wenn das Bundesverfassungsgericht von einem weiten<br />
Pressebegriff gesprochen und festgestellt hat, das Grundrecht schütze die institutionelle<br />
Eigenständigkeit der Presse von der Beschaffung der Information bis zur<br />
Verbreitung der Nachricht und der Meinung (vgl. BVerfGE 10, 118 [121]). Wenn es<br />
bei dieser Gelegenheit heißt, die institutionelle Sicherung der Presse schließe das<br />
subjektive öffentliche Recht der im Pressewesen tätigen Personen ein, ihre Meinung<br />
in der ihnen geeignet erscheinenden Form ebenso frei und ungehindert zu äußern<br />
wie jeder andere Bürger, so waren damit nicht einzelne Äußerungen in der Presse<br />
gemeint. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage dieser Formulierung<br />
die Verfassungsmäßigkeit eines Landesgesetzes geprüft, das der Regierung<br />
das Recht einräumte, Redakteuren unter bestimmten Voraussetzungen die Berufsausübung<br />
zu untersagen (vgl. BVerfG, a.a.O.).<br />
39<br />
Der Schutzbereich der Pressefreiheit ist daher berührt, wenn es um die im Pressewesen<br />
tätigen Personen in Ausübung ihrer Funktion, um ein Presseerzeugnis<br />
selbst, um seine institutionell-organisatorischen Voraussetzungen und<br />
Rahmenbedingungen sowie um die Institution einer freien Presse überhaupt<br />
geht. Handelt es sich dagegen um die Frage, ob eine bestimmte Äußerung erlaubt<br />
war oder nicht, insbesondere ob ein Dritter eine für ihn nachteilige Äußerung<br />
hinzunehmen hat, ist ungeachtet des Verbreitungsmediums Art. 5 Abs. 1 Satz 1<br />
GG einschlägig. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht auch bisher<br />
schon die Zulässigkeit von Meinungsäußerungen in Büchern oder Flugblättern, also<br />
Publikationen, die nach allgemeiner Auffassung dem Pressebegriff unterfallen, am<br />
Grundrecht der Meinungsfreiheit gemessen (vgl. BVerfGE 43, 130 [137]; 71, 162<br />
[179 ff.]). Ob daneben auch das Grundrecht der Pressefreiheit Prüfungsmaßstab sein<br />
kann, bedarf hier keiner Entscheidung.<br />
40<br />
2. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zivilgerichtliche Entscheidungen<br />
über privatrechtliche Unterlassungs- und Widerrufsansprüche. Es ist Aufgabe der<br />
ordentlichen Gerichte, die einschlägigen Bestimmungen auszulegen und anzuwenden.<br />
Bei ihrer Entscheidung haben sie jedoch dem Einfluß der Grundrechte auf die<br />
Vorschriften des Zivilrechts und des Strafrechts Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 7,<br />
198 [208]; st. Rspr.). Dem Bundesverfassungsgericht obliegt es lediglich, die Beachtung<br />
der grundrechtlichen Normen und Maßstäbe durch die ordentlichen Gerichte<br />
sicherzustellen (vgl. BVerfGE 42, 143 [147 f.]). Ein Verstoß gegen Verfassungsrecht,<br />
den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, liegt erst vor, wenn eine ge-<br />
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richtliche Entscheidung Auslegungsfehler erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich<br />
unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite eines <strong>Grundrechts</strong>, insbesondere<br />
vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 [93]; 42,<br />
143 [149]).<br />
41<br />
Handelt es sich um Eingriffe in die Meinungsfreiheit, kann das allerdings schon bei<br />
unzutreffender Erfassung oder Würdigung einer Äußerung der Fall sein. Der Einfluß<br />
des <strong>Grundrechts</strong> wird verkannt, wenn Gerichte der Verurteilung eine Äußerung<br />
zugrunde legen, die so nicht gefallen ist, wenn sie ihr einen Sinn geben, die sie nach<br />
dem festgestellten Wortlaut objektiv nicht hat, oder wenn sie sich unter mehreren<br />
objektiv möglichen Deutungen für die zur Verurteilung führende entscheiden, ohne<br />
die anderen unter Angabe überzeugender Gründe auszuschließen (vgl. BVerfGE 43,<br />
130 [136 f.]; 82, 43 [52 f.]; 82, 272 [280 f.]). Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit<br />
sind ferner verkannt, wenn die Gerichte eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung,<br />
Formalbeleidigung oder Schmähkritik einstufen mit der Folge,<br />
daß sie dann nicht im selben Maß am Schutz des <strong>Grundrechts</strong> teilnimmt wie Äußerungen,<br />
die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen<br />
sind (vgl. BVerfGE 60, 234 [242]; 61, 1 [10]; 82, 43 [51]; 82, 272 [281]). Sachverhaltsfeststellungen<br />
und Rechtsanwendungen dieses Inhalts können den Zugang<br />
zu dem grundrechtlich geschützten Bereich von vornherein verstellen. Daher müssen<br />
sie vom Bundesverfassungsgericht in vollem Umfang überprüfbar sein, wenn der<br />
Schutz der Meinungsfreiheit nicht unzuträglich verkürzt werden soll (vgl. BVerfGE 43,<br />
130 [136 f.]; 54, 208 [215]; 82, 272 [281]).<br />
42<br />
Die Voraussetzungen einer vollständigen Überprüfung des tatsächlichen Verständnisses<br />
und der rechtlichen Bewertung des Aufrufs liegen hier vor. Die Zivilgerichte<br />
haben der Verurteilung der Beschwerdeführer ein bestimmtes Verständnis der umstrittenen<br />
Textpassage zugrunde gelegt und diese dann ganz oder zum Teil als unwahre<br />
Tatsachenbehauptung bewertet mit der Folge, daß sie nicht den Schutz der<br />
Meinungsfreiheit genießt. Die Unterlassungsurteile beschränken sich daher auch<br />
nicht darauf, den Beschwerdeführern die Äußerung lediglich in der von ihnen gewählten<br />
Form zu verbieten, wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens meint. Gegenstand<br />
der Unterlassungs- und Widerrufspflicht ist vielmehr der von den Beschwerdeführern<br />
verbreitete Inhalt der umstrittenen Textpassage.<br />
43<br />
3. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet jedermann das Recht, seine Meinung<br />
frei zu äußern und zu verbreiten. Dabei sind Meinungen im Unterschied zu Tatsachenbehauptungen<br />
durch das Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens<br />
oder Meinens geprägt (vgl. BVerfGE 61, 1 [9]). Sie genießen den Schutz des<br />
<strong>Grundrechts</strong>, ohne daß es darauf ankäme, ob die Äußerung wertvoll oder wertlos,<br />
richtig oder falsch, begründet oder grundlos, emotional oder rational ist (vgl. BVerfGE<br />
33, 1 [14]; 61, 1 [7]). Auch scharfe und übersteigerte Äußerungen fallen grundsätzlich<br />
in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Insoweit kann die Frage<br />
nur sein, ob und wie sich aus Art. 5 Abs. 2 GG im Einzelfall Grenzen ergeben.<br />
44<br />
Die Mitteilung einer Tatsache ist dagegen im strengen Sinne keine Äußerung<br />
einer Meinung, weil ihr die für eine Meinungsäußerung charakteristischen<br />
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8<br />
Seite 11 von 43<br />
Merkmale fehlen. Tatsachenbehauptungen fallen deswegen aber nicht von vornherein<br />
aus dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG heraus. Sie sind vielmehr<br />
durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt, weil und soweit sie Voraussetzung<br />
der Bildung von Meinungen sind, welche Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet<br />
(vgl. BVerfGE 54, 208 [219]; 61, 1 [8]). Daher endet der Schutz der Meinungsfreiheit<br />
für Tatsachenbehauptungen erst dort, wo sie zu der verfassungsrechtlich<br />
vorausgesetzten Meinungsbildung nichts beitragen können. Unter<br />
diesem Gesichtspunkt ist unrichtige Information kein schützenswertes Gut. Das Bundesverfassungsgericht<br />
geht deswegen davon aus, daß die erwiesen oder bewußt<br />
unwahre Tatsachenbehauptung nicht vom Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG umfaßt<br />
wird (vgl. BVerfGE 61, 1 [8]). Allerdings dürfen die Anforderungen an die<br />
Wahrheitspflicht nicht so bemessen werden, daß darunter die Funktion der<br />
Meinungsfreiheit leidet (vgl. BVerfGE 54, 208 [219 f.]; 61, 1 [8]).<br />
45<br />
Die Abgrenzung zwischen Werturteilen und Tatsachenbehauptungen kann im<br />
Einzelfall schwierig sein, vor allem deswegen, weil die beiden Äußerungsformen<br />
nicht selten miteinander verbunden werden und erst gemeinsam den Sinn einer Äußerung<br />
ausmachen. In solchen Fällen ist der Begriff der Meinung im Interesse eines<br />
wirksamen <strong>Grundrechts</strong>schutzes weit zu verstehen: Sofern eine Äußerung, in der<br />
Tatsachen und Meinungen sich vermengen, durch die Elemente der Stellungnahme,<br />
des Dafürhaltens oder Meinens geprägt sind, wird sie als Meinung von dem Grundrecht<br />
geschützt. Das gilt insbesondere dann, wenn eine Trennung der wertenden und<br />
der tatsächlichen Gehalte den Sinn der Äußerung aufhöbe oder verfälschte. Würde<br />
in einem solchen Fall das tatsächliche Element als ausschlaggebend angesehen, so<br />
könnte der grundrechtliche Schutz der Meinungsfreiheit wesentlich verkürzt werden<br />
(vgl. BVerfGE 61, 1 [8 f.]).<br />
46<br />
Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist allerdings nicht unbegrenzt gewährleistet.<br />
Nach Art. 5 Abs. 2 GG findet es seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen<br />
Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und dem Recht<br />
der persönlichen Ehre. Jedoch sind grundrechtsbeschränkende Vorschriften des einfachen<br />
Rechts wiederum im Lichte des eingeschränkten <strong>Grundrechts</strong> auszulegen,<br />
damit dessen wertsetzende Bedeutung für das einfache Recht auch auf der Rechtsanwendungsebene<br />
zur Geltung kommt (vgl. BVerfGE 7, 198 [208]; st. Rspr.). Das<br />
führt im Rahmen der auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmale der einfachrechtlichen<br />
Vorschriften regelmäßig zu einer fallbezogenen Abwägung zwischen der Bedeutung<br />
der Meinungsfreiheit und dem Rang des durch die Meinungsäußerung beeinträchtigten<br />
Rechtsguts, das das einfache Recht schützen will.<br />
47<br />
Das Ergebnis dieser Abwägung läßt sich wegen ihres Fallbezugs nicht generell und<br />
abstrakt vorwegnehmen. Das Bundesverfassungsgericht geht jedoch davon aus, daß<br />
scharfe und überspitzte Formulierungen für sich genommen eine schädigende Äußerung<br />
noch nicht unzulässig machen. Vielmehr spricht gerade, wenn es um Beiträge<br />
zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden<br />
Frage geht, die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede (vgl. BVerfGE 7, 198<br />
[212]). Das ist eine Folge der fundamentalen Bedeutung, die die Meinungsfreiheit für<br />
die menschliche Person und die demokratische Ordnung hat (vgl. BVerfG, a.a.O., S.<br />
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9<br />
208). Erst wenn bei einer Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache,<br />
sondern die Herabsetzung der Person im Vordergrund steht, hat eine solche<br />
Äußerung als Schmähung regelmäßig hinter dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen<br />
zurückzutreten (vgl. BVerfGE 82, 272 [283 f.]).<br />
48<br />
Für Tatsachenbehauptungen gilt dagegen der Satz, daß die Vermutung zugunsten<br />
der freien Rede spreche, nur eingeschränkt. Soweit Tatsachenbehauptungen nicht<br />
von vornherein außerhalb des Schutzes von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bleiben, sind sie<br />
Einschränkungen im Interesse anderer Rechtsgüter leichter zugänglich als Meinungsäußerungen<br />
(vgl. BVerfGE 61, 1 [8]). Das gilt auch, wenn sich wertende und<br />
tatsächliche Elemente in einer Äußerung so vermengen, daß diese insgesamt als<br />
Werturteil anzusehen ist. Die Richtigkeit der tatsächlichen Bestandteile kann dann im<br />
Rahmen der Abwägung eine Rolle spielen. Enthält die Meinungsäußerung erwiesen<br />
falsche oder bewußt unwahre Tatsachenbehauptungen, so wird regelmäßig das<br />
Grundrecht der Meinungsfreiheit hinter dem durch das grundrechtsbeschränkende<br />
Gesetz geschützten Rechtsgut zurücktreten. Auch in diesem Fall ist freilich zu beachten,<br />
daß an die Wahrheitspflicht im Interesse der Meinungsfreiheit keine Anforderungen<br />
gestellt werden dürfen, die die Bereitschaft zum Gebrauch des <strong>Grundrechts</strong> herabsetzen<br />
und so auf die Meinungsfreiheit insgesamt einschnürend wirken können<br />
(vgl. BVerfGE 54, 208 [219 f.]; 61, 1 [8]).<br />
(BVerfGE 85, 1 - Bayer-Aktionäre)<br />
5. zu Art. 5 Abs. 3 GG – Kunstfreiheit<br />
Seite 12 von 43<br />
Leitsätze:<br />
1. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist eine das Verhältnis des Bereiches Kunst zum Staat<br />
regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Sie gewährt zugleich ein individuelles<br />
Freiheitsrecht.<br />
2. Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft nicht nur die künstlerische Betätigung, sondern<br />
auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks.<br />
3. Auf das Recht der Kunstfreiheit kann sich auch ein Buchverleger berufen.<br />
Aus den Gründen:<br />
III.<br />
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erklärt die Kunst neben der Wissenschaft, Forschung und<br />
Lehre für frei. Mit dieser Freiheitsverbürgung enthält Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nach<br />
Wortlaut und Sinn zunächst eine objektive, das Verhältnis des Bereiches Kunst zum<br />
Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Zugleich gewährleistet die Bestimmung<br />
jedem, der in diesem Bereich tätig ist, ein individuelles Freiheitsrecht.<br />
48<br />
1. Der Lebensbereich "Kunst" ist durch die vom Wesen der Kunst geprägten,<br />
ihr allein eigenen Strukturmerkmale zu bestimmen. Von ihnen hat die Auslegung<br />
des Kunstbegriffs der Verfassung auszugehen. Das Wesentliche der künstlerischen<br />
Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Er-<br />
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Seite 13 von 43<br />
fahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten<br />
Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische<br />
Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen,<br />
die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition,<br />
Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung,<br />
sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit<br />
des Künstlers.<br />
49<br />
Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft in gleicher Weise den "Werkbereich" und den<br />
"Wirkbereich" des künstlerischen Schaffens. Beide Bereiche bilden eine unlösbare<br />
Einheit. Nicht nur die künstlerische Betätigung (Werkbereich), sondern darüber hinaus<br />
auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks sind sachnotwendig für die<br />
Begegnung mit dem Werk als eines ebenfalls kunstspezifischen Vorganges; dieser<br />
"Wirkbereich", in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird, ist<br />
der Boden, auf dem die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG vor allem erwachsen<br />
ist. Allein schon der Rückblick auf das nationalsozialistische Regime und seine<br />
Kunstpolitik zeigt, daß die Gewährleistung der individuellen Rechte des Künstlers<br />
nicht ausreicht, die Freiheit der Kunst zu sichern. Ohne eine Erstreckung des personalen<br />
Geltungsbereichs der Kunstfreiheitsgarantie auf den Wirkbereich des Kunstwerks<br />
würde das Grundrecht weitgehend leerlaufen.<br />
50<br />
2. Wie weit die Verfassungsgarantie der Kunstfreiheit reicht und was sie im<br />
einzelnen bedeutet, läßt sich ohne tieferes Eingehen auf die sehr verschiedenen<br />
Äußerungsformen künstlerischer Betätigung in einer für alle Kunstgattungen<br />
gleichermaßen gültigen Weise nicht erschöpfend darstellen. Für die Zwecke<br />
dieser Entscheidung bedarf es jedoch einer so weit ausgreifenden Erörterung nicht,<br />
da die Instanzgerichte - in Übereinstimmung mit den Prozeßbeteiligten und soweit<br />
ersichtlich mit dem Urteil aller kompetenten Sachverständigen - dem hier zu beurteilenden<br />
Roman die Eigenschaft eines Kunstwerks mit Recht zuerkannt haben. Es genügt<br />
deshalb, auf die spezifischen Gesichtspunkte einzugehen, die bei der Beurteilung<br />
eines Werkes der erzählenden (epischen) Kunst in Betracht kommen können,<br />
das an Vorgänge der historischen Wirklichkeit anknüpft und bei dem deshalb die Gefahr<br />
eines Konfliktes mit schutzwürdigen Rechten und Interessen der in dem Werk<br />
dargestellten Personen gegeben ist.<br />
51<br />
Auch wenn der Künstler Vorgänge des realen Lebens schildert, wird diese Wirklichkeit<br />
im Kunstwerk "verdichtet". Die Realität wird aus den Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten<br />
der empirisch-geschichtlichen Wirklichkeit gelöst und in neue Beziehungen<br />
gebracht, für die nicht die "Realitätsthematik", sondern das künstlerische<br />
Gebot der anschaulichen Gestaltung im Vordergrund steht. Die Wahrheit des einzelnen<br />
Vorganges kann und muß unter Umständen der künstlerischen Einheit geopfert<br />
werden.<br />
52<br />
Sinn und Aufgabe des <strong>Grundrechts</strong> aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist es vor allem,<br />
die auf der Eigengesetzlichkeit der Kunst beruhenden, von ästhetischen Rücksichten<br />
bestimmten Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen von jeglicher<br />
Ingerenz öffentlicher Gewalt freizuhalten. Die Art und Weise, in der der<br />
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Seite 14 von 43<br />
Künstler der Wirklichkeit begegnet und die Vorgänge gestaltet, die er in dieser Begegnung<br />
erfährt, darf ihm nicht vorgeschrieben werden, wenn der künstlerische<br />
Schaffensprozeß sich frei soll entwickeln können. Über die "Richtigkeit" seiner Haltung<br />
gegenüber der Wirklichkeit kann nur der Künstler selbst entscheiden. Insoweit<br />
bedeutet die Kunstfreiheitsgarantie das Verbot, auf Methoden, Inhalte und Tendenzen<br />
der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum<br />
einzuengen, oder allgemein verbindliche Regeln für diesen Schaffensprozeß<br />
vorzuschreiben. Für das erzählende Kunstwerk ergibt sich daraus im besonderen,<br />
daß die Verfassungsgarantie die freie Themenwahl und die freie Themengestaltung<br />
umfaßt, indem sie dem Staat verbietet, diesen Bereich spezifischen künstlerischen<br />
Ermessens durch verbindliche Regeln oder Wertungen zu beschränken.<br />
Das gilt auch und gerade dort, wo der Künstler sich mit aktuellem Geschehen auseinandersetzt;<br />
der Bereich der "engagierten" Kunst ist von der Freiheitsgarantie nicht<br />
ausgenommen.<br />
53<br />
3. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG garantiert die Freiheit der Betätigung im Kunstbereich umfassend.<br />
Soweit es daher zur Herstellung der Beziehungen zwischen Künstler und<br />
Publikum der publizistischen Medien bedarf, sind auch die Personen durch die<br />
Kunstfreiheitsgarantie geschützt, die hier eine solche vermittelnde Tätigkeit ausüben.<br />
Da ein Werk der erzählenden Kunst ohne die Vervielfältigung, Verbreitung und Veröffentlichung<br />
durch den Verleger keine Wirkung in der Öffentlichkeit entfalten könnte,<br />
der Verleger daher eine unentbehrliche Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum<br />
ausübt, erstreckt sich die Freiheitsgarantie auch auf seine Tätigkeit. Die Beschwerdeführerin<br />
als Verleger des Romans kann sich deshalb auf das Grundrecht<br />
aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG berufen (vgl. auch BVerfGE 10, 118 [121]; 12, 205 [260]<br />
zur Pressefreiheit).<br />
(BVerfGE 30, 173 – Mephisto)<br />
„....2. Die Zeichnungen des Beschwerdeführers sind Kunst im Sinne der <strong>Grundrechts</strong>gewährleistung<br />
des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.<br />
17<br />
Ungeachtet der Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren, gebietet die verfassungsrechtliche<br />
Verbürgung dieser Freiheit, ihren Schutzbereich bei der<br />
konkreten Rechtsanwendung zu bestimmen (BVerfGE 67, 213 [225]). Die Grundanforderungen<br />
künstlerischer Tätigkeit festzulegen, ist daher durch Art. 5 Abs. 3 Satz<br />
1 GG nicht verboten, sondern verfassungsrechtlich gefordert. Erlaubt und notwendig<br />
ist allerdings nur die Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst; eine<br />
Niveaukontrolle, also eine Differenzierung zwischen "höherer" und "niederer", "guter"<br />
und "schlechter" (und deshalb nicht oder weniger schutzwürdiger) Kunst, liefe demgegenüber<br />
auf eine verfassungsrechtlich unstatthafte Inhaltskontrolle hinaus (Scholz,<br />
in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Abs. 3 Rdnr. 39).<br />
18<br />
Die umstrittenen Karikaturen sind das geformte Ergebnis einer freien schöpferischen<br />
Gestaltung, in welcher der Beschwerdeführer seine Eindrücke, Erfahrungen<br />
und Erlebnisse zu unmittelbarer Anschauung bringt. Sie genügen damit<br />
den Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht als wesentlich für eine künst-<br />
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Seite 15 von 43<br />
lerische Betätigung ansieht (BVerfGE 67, 213 [226] unter Berufung auf BVerfGE 30,<br />
173 [189]). Daß mit ihnen gleichzeitig eine bestimmte Meinung zum Ausdruck gebracht<br />
wird, nimmt ihnen nicht die Eigenschaft als Kunstwerk. Kunst und Meinungsäußerung<br />
schließen sich nicht aus; eine Meinung kann - wie es bei der sogenannten<br />
engagierten Kunst üblich ist - durchaus in der Form künstlerischer Betätigung kundgegeben<br />
werden (Scholz, a.a.O., Rdnr. 13). Maßgebliches Grundrecht bleibt in diesem<br />
Fall Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, weil es sich um die spezielle Norm handelt (BVerf-<br />
GE 30, 173 [200]).<br />
19<br />
3. Den heute noch gültigen Weg, die Sonderstellung von Satire und Karikatur methodisch<br />
zu erfassen, hat bereits das Reichsgericht gewiesen (RGSt 62, 183 ff.). Da es<br />
dieser Kunstgattung wesenseigen ist, mit Übertreibungen, Verzerrungen und Verfremdungen<br />
zu arbeiten, erfordert ihre rechtliche Beurteilung die Entkleidung des in<br />
"Wort und Bild gewählten satirischen Gewandes" (RGSt. a.a.O.), um ihren eigentlichen<br />
Inhalt zu ermitteln. Dieser Aussagekern und seine Einkleidung sind sodann gesondert<br />
daraufhin zu überprüfen, ob sie eine Kundgabe der Mißachtung gegenüber<br />
der karikierten Person enthalten. Dabei muß beachtet werden, daß die Maßstäbe für<br />
die Beurteilung der Einkleidung anders und im Regelfall weniger streng sind, als die<br />
für die Bewertung des Aussagekerns; denn ihr ist die Verfremdung wesenseigen.<br />
20<br />
4. Hiernach hält die Entscheidung des Oberlandesgerichts einer verfassungsrechtlichen<br />
Prüfung stand.<br />
21<br />
a). Es hat die Karikaturen zutreffend dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG<br />
zugeordnet und bei ihrer strafrechtlichen Beurteilung die diese Kunstgattung prägenden<br />
Eigenheiten hinreichend gewürdigt. Ausdrücklich nennt das Oberlandesgericht<br />
die Kunstfreiheit zwar nur an einer Stelle seiner Urteilsbegründung; daraus kann jedoch<br />
nicht geschlossen werden, es habe der Bedeutung dieses <strong>Grundrechts</strong> für die<br />
Auslegung des § 185 StGB nicht in dem gebotenen Maße Rechnung getragen. Es<br />
untersucht nämlich eingehend, ob sich die Zeichnungen in "dem der Satire gestatteten<br />
Freiraum" halten (S. 4 bis 6 des Urteilsabdrucks). Dadurch verdeutlicht es, daß<br />
ihm der Rang des in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleisteten Rechts und seine den<br />
Straftatbestand der Beleidigung und damit den Ehrschutz begrenzenden Wirkungen<br />
durchaus bewußt waren.<br />
22<br />
Es hat den Zeichnungen auch werkgerechte Maßstäbe angedeihen lassen. Entsprechend<br />
der gesicherten Tradition der Rechtsprechung hat es Aussagekern und Einkleidung<br />
der Karikaturen herausgearbeitet und gesondert auf ihren ehrverletzenden<br />
Charakter hin überprüft. Dem Beschwerdeführer mag eingeräumt werden, daß die<br />
Entscheidungsgründe zunächst den Eindruck vermitteln, das Oberlandesgericht habe<br />
den Aussagekern der ersten Zeichnung mißverstanden. Wenn es ausführt, das<br />
Landgericht habe verkannt, daß der Aussagekern beleidigend sei, weil der Nebenkläger<br />
durch den Vergleich mit einem kopulierenden Schwein in provozierender Weise<br />
habe lächerlich gemacht werden sollen, scheint es Einkleidung und Aussagekern<br />
zu verwechseln. Die weiteren Entscheidungsgründe zeigen indessen, daß die Karikaturen<br />
durchaus werkgerecht interpretiert wurden. So stellt das Gericht im folgenden<br />
zutreffend fest, die Zeichnung bringe zum Ausdruck, der Nebenkläger mache sich<br />
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"die Justiz in anstößiger Weise seinen Zwecken zunutze", und lege das Verständnis<br />
nahe, er "empfinde an einer ihm willfährigen Justiz ein tierisches Vergnügen". Das<br />
bezeichnet das Gericht ausdrücklich als den Aussagekern der Zeichnung, die durch<br />
die Art der Einkleidung, die Darstellung als kopulierendes Schwein, eine zusätzliche<br />
Ehrverletzung enthalte. Den weiteren Zeichnungen hat es denselben Aussagekern<br />
beigemessen, ihnen aber zu Recht - soweit es um die Verfremdung der Aussage<br />
geht - eine Tendenz zur Steigerung des Ehrangriffs entnommen, der nicht nur in der<br />
<strong>Wiederholung</strong> liegt, sondern auch in den dargestellten Verhaltensweisen der<br />
Schweine sowie darin, daß das Bemühen des Nebenklägers um Ehrenschutz ins<br />
Lächerliche gezogen wird....“<br />
(BVerfGE 75, 369 - Strauß-Karikatur)<br />
<strong>6.</strong> zu Art. 10 Abs. 1. 3. Alt GG – Fernmeldegeheimnis<br />
Seite 16 von 43<br />
„....C.<br />
Die angegriffenen Vorschriften sind nicht in vollem Umfang mit dem Grundgesetz<br />
vereinbar.<br />
156<br />
I.<br />
Maßstab der verfassungsrechtlichen Prüfung ist vor allem Art. 10 GG. Das aus<br />
Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgende Recht auf informationelle<br />
Selbstbestimmung kommt neben Art. 10 GG nicht zur Anwendung. Bezogen<br />
auf den Fernmeldeverkehr enthält Art. 10 GG eine spezielle Garantie, die<br />
die allgemeine Vorschrift verdrängt (vgl. BVerfGE 67, 157 [171]). Soweit es um die<br />
Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Maßnahmen nach § 3 G 10 und um<br />
die Rechtswegbeschränkung in § 9 Abs. 6 G 10 geht, tritt Art. 19 Abs. 4 GG hinzu.<br />
Die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer zu 2a) und 3) sind überdies am<br />
Maßstab des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zu prüfen.<br />
157<br />
1. Art. 10 GG schützt das Fernmeldegeheimnis.<br />
158<br />
a) Das Fernmeldegeheimnis umfaßt zuvörderst den Kommunikationsinhalt. Die<br />
öffentliche Gewalt soll grundsätzlich nicht die Möglichkeit haben, sich Kenntnis<br />
vom Inhalt des über Fernmeldeanlagen abgewickelten mündlichen oder<br />
schriftlichen Informations- und Gedankenaustauschs zu verschaffen. Einen Unterschied<br />
zwischen Kommunikationen privaten und anderen, etwa geschäftlichen<br />
oder politischen, Inhalts macht Art. 10 GG dabei nicht (vgl. BVerfGE 67, 157 [172]).<br />
Der <strong>Grundrechts</strong>schutz bezieht sich vielmehr auf alle mittels der Fernmeldetechnik<br />
ausgetauschten Kommunikationen.<br />
159<br />
In der Abschirmung des Kommunikationsinhalts gegen staatliche Kenntnisnahme<br />
erschöpft sich der <strong>Grundrechts</strong>schutz jedoch nicht. Er umfaßt ebenso<br />
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14<br />
Seite 17 von 43<br />
die Kommunikationsumstände. Dazu gehört insbesondere, ob, wann und wie oft<br />
zwischen welchen Personen oder Fernmeldeanschlüssen Fernmeldeverkehr stattgefunden<br />
hat oder versucht worden ist (vgl. BVerfGE 67, 157 [172]; 85, 386 [396]).<br />
Auch insoweit kann der Staat grundsätzlich keine Kenntnis beanspruchen. Die Nutzung<br />
des Kommunikationsmediums soll in allem vertraulich möglich sein.<br />
160<br />
Indem das Grundrecht die einzelnen Kommunikationsvorgänge grundsätzlich dem<br />
staatlichen Zugriff entzieht, will es zugleich die Bedingungen einer freien Telekommunikation<br />
überhaupt aufrechterhalten. Mit der grundrechtlichen Verbürgung<br />
der Unverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnisses soll vermieden werden, daß der<br />
Meinungs- und Informationsaustausch mittels Fernmeldeanlagen deswegen<br />
unterbleibt oder nach Form und Inhalt verändert verläuft, weil die Beteiligten<br />
damit rechnen müssen, daß staatliche Stellen sich in die Kommunikation einschalten<br />
und Kenntnisse über die Kommunikationsbeziehungen oder Kommunikationsinhalte<br />
gewinnen.<br />
161<br />
Die freie Telekommunikation, die Art. 10 GG sichert, leidet ferner, wenn zu befürchten<br />
ist, daß der Staat Kenntnisse von Fernmeldeumständen und -inhalten in anderen<br />
Zusammenhängen zum Nachteil der Kommunikationspartner verwertet (vgl. insgesamt<br />
BVerfGE 65, 1 [42 f.]; 93, 181 [188]). Daher entfaltet Art. 10 GG seinen Schutz<br />
nicht nur gegenüber staatlicher Kenntnisnahme von Fernmeldekommunikationen, die<br />
die Kommunikationspartner für sich behalten wollten. Vielmehr erstreckt sich seine<br />
Schutzwirkung auch auf den Informations- und Datenverarbeitungsprozeß, der sich<br />
an die Kenntnisnahme von geschützten Kommunikationsvorgängen anschließt, und<br />
den Gebrauch, der von den erlangten Kenntnissen gemacht wird (so schon für das<br />
Recht auf informationelle Selbstbestimmung BVerfGE 65, 1 [46]).<br />
162<br />
b) Beschränkungen des Fernmeldegeheimnisses sind zwar gemäß Art. 10 Abs. 2<br />
GG möglich. Sie bedürfen aber nicht nur, wie jede <strong>Grundrechts</strong>beschränkung,<br />
einer gesetzlichen Regelung, die einen legitimen Gemeinwohlzweck verfolgt<br />
und im übrigen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Vielmehr ergeben<br />
sich aus Art. 10 GG auch besondere Anforderungen an den Gesetzgeber, die gerade<br />
die Verarbeitung personenbezogener Daten betreffen, welche mittels Eingriffen in<br />
das Fernmeldegeheimnis erlangt worden sind. Insoweit lassen sich die Maßgaben,<br />
die das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung<br />
mit Art. 1 Abs. 1 GG entwickelt hat (vgl. BVerfGE 65, 1 [44 ff.]), weitgehend<br />
auf die speziellere Garantie in Art. 10 GG übertragen.<br />
(BVerfGE 100, 313 - Telekommunikationsüberwachung I)<br />
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15<br />
Seite 18 von 43<br />
7. zum Normbereich Art. 12 Abs. 1 GG – Berufsausübungsfreiheit:<br />
„Leitsatz<br />
1. In Art. 12 Abs. 1 GG wird nicht die Gewerbefreiheit als objektives Prinzip der Gesellschafts-<br />
und Wirtschaftsordnung proklamiert, sondern dem Einzelnen das Grundrecht<br />
gewährleistet, jede erlaubte Tätigkeit als Beruf zu ergreifen, auch wenn sie<br />
nicht einem traditionell oder rechtlich fixierten "Berufsbild" entspricht.<br />
2. Der Begriff "Beruf" in Art. 12 Abs. 1 GG umfaßt grundsätzlich auch Berufe, die Tätigkeiten<br />
zum Inhalt haben, welche dem Staate vorbehalten sind, sowie "staatlich<br />
gebundene" Berufe. Doch gibt und ermöglicht für Berufe, die "öffentlicher Dienst"<br />
sind, Art. 33 GG in weitem Umfang Sonderregelungen....<br />
aus den Gründen:<br />
...... 1. Art. 12 Abs. 1 schützt die Freiheit des Bürgers in einem für die moderne arbeitsteilige<br />
Gesellschaft besonders wichtigen Bereich: er gewährleistet dem Einzelnen<br />
das Recht, jede Tätigkeit, für die er sich geeignet glaubt, als "Beruf" zu ergreifen,<br />
d. h. zur Grundlage seiner Lebensführung zu machen. Es handelt sich um ein Grundrecht,<br />
nicht - wie etwa in Art. 151 Abs. 3 WV - um die Proklamierung der "Gewerbefreiheit"<br />
als eines objektiven Prinzips der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.<br />
Verbürgt ist dem Einzelnen mehr als die Freiheit selbständiger Ausübung eines Gewerbes.<br />
Wohl zielt das Grundrecht auf den Schutz der wirtschaftlich sinnvollen - Arbeit,<br />
aber es sieht sie als "Beruf", d. h. in ihrer Beziehung zur Persönlichkeit des<br />
Menschen im ganzen, die sich erst darin voll ausformt und vollendet, daß der Einzelne<br />
sich einer Tätigkeit widmet, die für ihn Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist<br />
und durch die er zugleich seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringt.<br />
56<br />
....2. Aus dieser Sicht des <strong>Grundrechts</strong> ist der Begriff "Beruf" weit auszulegen. Er umfaßt<br />
nicht nur alle Berufe, die sich in bestimmten, traditionell oder sogar rechtlich fixierten<br />
"Berufsbildern" darstellen, sondern auch die vom Einzelnen frei gewählten<br />
untypischen Betätigungen, aus denen sich dann wieder neue, feste Berufsbilder<br />
ergeben mögen 57<br />
....Auch Berufe, die Tätigkeiten zum Inhalt haben, welche nach heutigen Vorstellungen<br />
der organisierten Gemeinschaft, in erster Linie dem Staate, vorbehalten bleiben<br />
müssen, sind in Art. 12 Abs. 1 jedenfalls in dem Sinn gemeint, daß auch sie vom<br />
Einzelnen als Beruf frei gewählt werden können und daß keinem ihre Wahl aufgezwungen<br />
oder verboten werden darf. .........59<br />
....Art. 12 Abs. 1 unterscheidet nicht zwischen dem selbständig und dem unselbständig<br />
ausgeübten Beruf; auch abhängige Arbeit kann als Beruf gewählt werden und<br />
wird es in der modernen Gesellschaft tatsächlich immer mehr. Wenn eine Tätigkeit in<br />
selbständiger und in unselbständiger Form ausgeübt werden kann und beide Formen<br />
der Ausübung eigenes soziales Gewicht haben, so ist auch die Wahl der einen oder<br />
der anderen Form der Berufstätigkeit und der Übergang von der einen zur anderen<br />
eine Berufswahl im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG.<br />
(BVerfGE 7, 377 ff)<br />
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16<br />
Seite 19 von 43<br />
„Beruf ist jede Tätigkeit von einer gewissen Dauer, die der Schaffung oder Erhaltung<br />
der Lebensgrundlage (u.a. Gewinnerzielung) dient, mit Ausnahme absolut<br />
gemeinschädlicher Betätigungen.“...<br />
Aufgrund des Ausgangsbegriffs „Tätigkeit“ ist die Begriffsbestimmung handlungsbezogen.<br />
Deshalb ist häufig zweckmäßig, statt „Beruf“ eine „Berufliche Betätigung“ zu<br />
prüfen. Diese kann auch konkreter bezeichnet werden als „Wahl“ oder „Ausübung“.<br />
(nach Schmalz, Grundrechte, 2. Auflg, Baden-Baden, 1991, RdNr. 711)<br />
„...1. Die Beschwerdeführer können den Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG für sich in Anspruch<br />
nehmen.<br />
65<br />
a) Nicht nur Hufbeschlagschmiede, sondern auch Hufpfleger und Huftechniker üben<br />
einen Beruf im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG aus. Damit ist die Berufsfreiheit für die<br />
Beschwerdeführer zu 6) bis 15), die bereits als Huftechniker tätig sind, ebenso gewährleistet<br />
wie für die Beschwerdeführer zu 16) bis 21), die durch die Anmeldung zur<br />
entsprechenden Ausbildung oder durch die bereits erfolgte Aufnahme der Berufsausbildung<br />
ihre Entscheidung für den Hufpfleger- oder Huftechnikerberuf getroffen<br />
haben.<br />
66<br />
aa) Für die Anerkennung einer auf Dauer angelegten und auf die Schaffung und Erhaltung<br />
der Lebensgrundlage ausgerichteten Tätigkeit (vgl. zu dieser Voraussetzung<br />
BVerfGE 7, 377 ) als Beruf ist nicht ausschlaggebend, ob der Gesetzgeber<br />
bereits ein entsprechendes Berufsbild vorgesehen hat (vgl. BVerfGE 97, 12 ).<br />
Von der Berufsfreiheit geschützt sind nicht nur traditionell oder gesetzlich fixierte Berufsbilder,<br />
sondern auch aufgrund der fortschreitenden technischen, sozialen oder<br />
wirtschaftlichen Entwicklung neu entstandene Berufe (vgl. BVerfGE 97, 12 ).<br />
Wie das Bundesverfassungsgericht im vorliegenden Verfahren bereits in seiner Entscheidung<br />
über den Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. Beschluss des Ersten<br />
Senats vom 5. Dezember 2006, NVwZ 2007, S. 324 ) ausgeführt hat, könnte<br />
auch ein etwaiges Verbot für Huftechniker durch das Hufbeschlaggesetz 1940 der<br />
Annahme nicht entgegenstehen, dass deren Tätigkeit die Voraussetzungen eines<br />
Berufs erfüllt...“<br />
(Zitierung: BVerfG, 1 BvR 2186/06 vom 3.7.2007, Absatz-Nr. (1 - 114),<br />
http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20070703_1bvr21860<strong>6.</strong>html)<br />
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17<br />
Seite 20 von 43<br />
8. zum Normbereich Art. 13 GG – Unverletzlichkeit der Wohnung:<br />
„.....Der Besucherraum einer Untersuchungshaftvollzugsanstalt fällt jedoch nicht in<br />
den Schutzbereich des Art. 13 GG. Der Begriff der Wohnung i.S.d. Art. 13 GG ist<br />
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 32, 54, 69<br />
ff.) nicht im engen Sinne der Umgangssprache zu verstehen, vielmehr ist er weit<br />
auszulegen (vgl. BGHSt 42, 372, 375 f.). Er umfaßt zur Gewährleistung einer räumlichen<br />
Sphäre, in der sich das Privatleben ungestört entfalten kann, alle Räume, die<br />
der allgemeinen Zugänglichkeit durch eine Abschottung entzogen und zur Stätte privaten<br />
Wirkens gemacht sind (vgl. BVerfGE 89, 1, 12; Maunz/Dürig/Herzog, GG Art.<br />
13 Rdn. 3 c; Herdegen in Bonner Kommentar, GG Art. 13 Rdn. 26). Maßgeblich ist<br />
dabei die nach außen erkennbare Zweckbestimmung des Nutzungsberechtigten. Der<br />
Schutzbereich des Art. 13 GG erfaßt danach außer Wohnräumen im engeren Sinne<br />
etwa Gartenhäuser, Hotelzimmer, Wohnwagen, nicht allgemein zugängliche Geschäfts-<br />
und Büroräume, Personalaufenthaltsräume, Arbeitshallen, Werkstätten oder<br />
ein nicht allgemein zugängliches Vereinsbüro. Demgegenüber werden z. B. Unterkunftsräume<br />
eines Soldaten oder Polizeibeamten (vgl. Maunz/Dürig/Herzog, GG Art.<br />
13 Rdn. 3 c; Herdegen in Bonner Kommentar, GG Art. 13 Rdn. 26), Personenkraftwagen<br />
(vgl. BGH -Ermittlungsrichter- NStZ 1998, 157) oder Hafträume in einer Justizvollzugsanstalt<br />
(vgl. BVerfG NJW 1996, 2643) nicht als Wohnung im Sinne des Art.<br />
13 GG angesehen.<br />
14<br />
Ein Besucherraum in einer Untersuchungshaftvollzugsanstalt gewährt dem Gefangenen<br />
keine Privatsphäre, wie sie der Schutzbereich des Art. 13 GG voraussetzt. Das<br />
Recht des Einzelnen, in Ruhe gelassen zu werden (vgl. BVerfGE 89, 1, 12), wird einem<br />
Gefangenen unter den besonderen Bedingungen des Untersuchungshaftvollzugs<br />
in einem Besucherraum nur in erheblich beschränktem Umfang gewährleistet.<br />
Eine räumliche Privatsphäre ist dort noch weniger garantiert als in einem Haftraum.<br />
Dies folgt schon daraus, daß gemäß § 119 Abs. 3 StPO, Nr. 27 UVollzO die Besuche<br />
regelmäßig durch einen Anstaltsbediensteten, in besonderen Fällen auch durch einen<br />
Kriminalbeamten überwacht werden können. Dieser kann eingreifen, notfalls den<br />
Besuch abbrechen, wenn ihm der Inhalt der Unterredung im Hinblick auf das Strafverfahren<br />
oder mit Rücksicht auf die Ordnung in der Anstalt bedenklich erscheint, vgl.<br />
Nr. 27 Abs. 3 UVollzO; hierbei muß der Gefangene damit rechnen, daß der Gesprächsinhalt<br />
in Vermerkform in die Ermittlungsakten aufgenommen wird<br />
BGHSt 44, 138; Untersuchungshaft; Begriff der Wohnung (nicht bei einem Besuchsraum<br />
in der Vollzugsanstalt);<br />
„.......II.<br />
Ein besonderer Angriff der Beschwerdeführer richtet sich gegen § 20 HwO, insoweit<br />
er § 17 Abs. 2 für anwendbar erklärt. Sie sehen es als eine Verletzung ihres <strong>Grundrechts</strong><br />
auf Unverletzlichkeit der Wohnung an, daß die Beauftragten der Handwerkskammer<br />
das Recht erhalten sollen, ihre "Grundstücke und Geschäftsräume" zu betreten,<br />
um dort "Prüfungen und Besichtigungen" vorzunehmen.<br />
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18<br />
Seite 21 von 43<br />
47<br />
Wortlaut und erkennbarer Zweck der Bestimmungen legen es nahe anzunehmen,<br />
daß sie nur das Betreten gewerblich genutzter Räumlichkeiten erlauben wollen, nicht<br />
auch das der privaten Wohnräume des Betriebsinhabers. Die Rüge der Beschwerdeführer<br />
wäre also gegenstandslos, wenn Geschäfts- und Betriebsräume überhaupt<br />
nicht unter den Begriff "Wohnung" im Sinne des Art. 13 GG fielen. Dieser Ansicht, die<br />
auch vom Bundesminister der Justiz vertreten wird, vermag das Bundesverfassungsgericht<br />
jedoch nicht beizutreten.<br />
48<br />
1. Art. 13 Abs. 1 GG umschreibt den von ihm geschützten <strong>Grundrechts</strong>bereich mit<br />
einer seit langem feststehenden Formel.<br />
.... Die Wohnung jedes Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich........<br />
war es einhellige Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum, daß der Begriff "Wohnung"<br />
weit auszulegen sei und die Geschäftsräume (auch von Vereinen) mitumfasse.....<br />
.... Von der weiten Auslegung des Wohnungsbegriffs abzugehen, besteht kein Anlaß....<br />
Sie fügt sich überdies sinnvoll in die Grundsätze ein, die das Bundesverfassungsgericht<br />
zur Interpretation des <strong>Grundrechts</strong> der Berufsfreiheit entwickelt hat. Wenn dort<br />
die Berufsarbeit als ein wesentliches Stück der Persönlichkeitsentfaltung gesehen<br />
und ihr deshalb im Rahmen der individuellen Lebensgestaltung des Einzelnen ein<br />
besonders hoher Rang zuerkannt wird [BVerfGE 7, 377 [397]; 13, 97 [104 f.]], so ist<br />
es nur folgerichtig, dem räumlichen Bereich, in dem sich diese Arbeit vorwiegend<br />
vollzieht, einen entsprechend wirksamen rechtlichen Schutz angedeihen zu lassen,<br />
jedenfalls den bereits bestehenden verfassungsrechtlichen Schutz dieser Räume<br />
nicht ohne zwingende Notwendigkeit zu schmälern. In diesem Zusammenhang ist<br />
darauf hinzuweisen, daß auch nur bei dieser Auslegung den juristischen Personen<br />
und den Personenvereinigungen der Schutz dieses <strong>Grundrechts</strong>, dessen sie bisher<br />
nach allgemeiner Meinung teilhaftig waren, erhalten werden kann.<br />
54<br />
Der Wortlaut des Art. 13 Abs. 1 GG kann demgegenüber nicht entscheidend sein.<br />
Die sprachliche Einkleidung dieses <strong>Grundrechts</strong> hat seit jeher die juristische Präzision<br />
zugunsten des feierlichen Pathos einer einprägsamen Kurzformel zurücktreten<br />
lassen. "Wohnung" ist in diesem Zusammenhang immer im Sinn der "räumlichen Privatsphäre"<br />
verstanden worden....“<br />
BVerfGE 32, 54 – Betriebsbetretungsrecht<br />
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Januar 08
1<br />
Schutz der Grundrechte durch Verfassungsbeschwerde<br />
Aufbau-Schema<br />
Verfassungsbeschwerde (§§ 90 ff BVerfGG)<br />
Die Verfassungsbeschwerde hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und<br />
begründet ist.<br />
I. Beschwerdeführer:<br />
Zulässigkeit:<br />
1. Beteiligtenfähigkeit (§ 90 BVerfGG „jedermann“ - richtet sich im übrigen nach der<br />
<strong>Grundrechts</strong>berechtigung; vgl. „Jedermannsrechte“, „Deutschenrechte“, <strong>Grundrechts</strong>berechtigung<br />
vor und nach dem Tod, Personenmehrheiten (Art 19 III GG)<br />
2. Prozeßfähigkeit, <strong>Grundrechts</strong>mündigkeit<br />
II. Beschwerdegegenstand<br />
jeder Akt der öffentlichen Gewalt (Rechtsprechung, Gesetzgebung, Verwaltung):<br />
ggf. Problem bei Fiskalgeltung der GRe<br />
III. Beschwerdebefugnis (Prozeßführungsbefugnis)<br />
1. Möglichkeit einer <strong>Grundrechts</strong>verletzung<br />
2. eigene, gegenwärtige und unmittelbare Beschwer (unmittelbare Beschwer<br />
mit besonderer Bedeutung bei VB gegen Rechtsnormen)<br />
IV. Rechtsschutzbedürfnis<br />
1. Erschöpfung des Rechtswegs (beachte besondere Problematik bei VB gegen<br />
Rechtsnormen!)<br />
2.Möglichkeit der Durchbrechung der Rechtswegerschöpfung bei allg.<br />
Bedeutung oder schwerem und unabwendbarem Nachteil<br />
V. Frist und Form<br />
Seite 22 von 43<br />
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Januar 08
2<br />
Begründetheit:<br />
Begründetheit: VB zu Freiheitsrechten:<br />
Die VB ist begründet, wenn der Beschwerdeführer in einem oder mehreren seiner<br />
Grundrechte verletzt ist.<br />
I. Betroffenheit des „Schutz“-, „Normbereichbereiches“ des <strong>Grundrechts</strong><br />
II. Eingriff in Schutzbereich<br />
klassischer Eingriff: unmittelbare, zielgerichtete (finale) negative Einwirkung auf<br />
den Normbereich<br />
aber ggf.auch konkrete Gefährdung,<br />
aber ggf. auch mittelbarer (faktischer) Eingriff<br />
III. mögliche Rechtfertigung des Eingriffs<br />
• Gestattung eines Eingriffs (Schranken)<br />
• Vorliegen einer gesetzlichen Eingriffsermächtigung<br />
• verfassungsrechtlich unbedenkliche Eingriffsermächtigung<br />
o formell fehlerfrei : Zuständigkeit, Verfahren(nur prüfen, soweit Bedenken<br />
bestehen könnten oder SV oder Aufgabenstellung es erfordern)<br />
o materiell fehlerfrei: Beachtung der „Schranken-Schranken“:<br />
Zielsetzung im öffentlichen Interesse<br />
Verhältnismäßigkeit (Art. 19 II GG - aber: gesetzgeberisches<br />
Ermessen)<br />
Bestimmtheitsgebot beachtet (Art. 20 – Rechtsstaatsprinzip)<br />
• kein Maßnahmegesetz, Art. 19 Abs. 1 GG<br />
• Zitiergebot beachtet, Art. 19 Abs. 1 GG<br />
Seite 23 von 43<br />
Ergebnis feststellen, soweit Verfassungsbeschwerde sich nur gegen Gesetz<br />
richtet<br />
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Januar 08
3<br />
IV: sofern VB nicht gegen Gesetz, sondern gegen gerichtliche Entscheidung od. –<br />
ausnahmsweise – gegen Exekutiv-Entscheidung gerichtet ist:<br />
zusätzlich prüfen:<br />
verfassungsrechtlich unbedenkliche Anwendung der gesetzlichen Grundlage bei<br />
deren Umsetzung:<br />
dabei insbes. beachtlich: Verkennung der Tragweite und Bedeutung der<br />
Grundrechte (etwa durch das erkennende Gericht oder die Behörde), z.B. bei:<br />
o Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe<br />
o Ermessensbetätigung<br />
Seite 24 von 43<br />
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Januar 08
1<br />
I. Skript zur Vorlesung<br />
Ein erstes Skript zur Vorlesung (GR-Skript) finden sie passwortgeschützt auf<br />
meiner web-site:<br />
http://www.virtual-staatsrecht.de/vorlesungsunterlagen/index.htm,<br />
auf die Sie auch über den Fachbereich – Lehrbeauftragte – geleitet werden<br />
Dort laden sie bitte unter:<br />
III. Öffentliches Recht II (VerfR BRD II)<br />
2. Begleitscript Vorlesung<br />
2.1. Verfassungsfunktionen, Grundrechte<br />
die notwendigen Unterlagen herunter (Das Passwort erhalten Sie in der Vorlesung).<br />
Die weiteren Skripte werden im Laufe des Semesters ins Netz gestellt. Sie finden<br />
auf der web-site zudem auch die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen und<br />
weitere Materialien.<br />
II. weitere Einführung ins öffentliche Recht - Verfassungsrecht:<br />
Bedeutung der Grundrechte<br />
Einführungsfall: „Klimakiller - Fall“<br />
Seite 25 von 43<br />
In Vorbereitung auf die Klimakonferenz Ende März 1995 machte die Umweltorganisation<br />
Greenpeace e.V., Sitz in Hamburg, in einer bundesweiten Plakataktion auf sich aufmerksam:<br />
Auf einem der riesigen, eine Plakatwand der Deutschen Städtereklame GmbH 1 völlig<br />
ausfüllenden Plakat – gestaltet von dem bekannten Heidelberger Künstler Klaus Staeck<br />
(geb. in Pulsnitz/Sachsen) - war das Porträt von Dietmar Kuhnt 2 , Vorstandsvorsitzender der<br />
RWE Energie AG zu sehen. Darunter stand als Text:<br />
“Ich ruiniere das Klima, weil meine Kraftwerke jährlich 100 Millionen Tonnen<br />
Kohlendioxyd in die Luft schleudern.“<br />
Auch andere Konzernchefs und Politiker waren auf vergleichbaren Großplakaten als<br />
„Klimakiller“ dargestellt worden.<br />
Greenpeace rechtfertigte sich damit, daß die Kampagne nicht als persönliche Diffamierung<br />
gemeint sei, sondern daß einzelne Personen „aus ihrer bequemen Anonymität“ herausgeholt<br />
werden sollten; denn hinter Unternehmen stünden Menschen, die den ökologischen Kollaps<br />
mitzuverantworten hätten.<br />
So sei die RWE verantwortlich für 12 % der Kohlendioxyd-Emissionen in Deutschland. Die<br />
Stromerzeugung beruhe bei diesem Unternehmen zu mehr als 50% aus Braunkohle und zu<br />
mehr als 20% aus Steinkohle. Statt sich gegen den ökologischen Umbau der deutschen<br />
1 Die Deutsche Städte-Reklame GmbH war – zur Zeit der Auseinandersetzung – noch mehrheitlich in der Hand<br />
von Kommunen, insbesondere in der Hand der Stadt Frankfurt a.M.<br />
2 Die Position als Vorstandsvorsitzender hat Kuhnt im Frühjahr 2002 aus Altersgründen aufgegeben.<br />
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Oktober 07
2<br />
Energiewirtschaft zu stellen, solle Kuhnt den Ausstieg aus dem Verbrauch von fossilen und<br />
atomaren Brennstoffen einleiten.<br />
Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) sah in der Aktion eine unzulässige<br />
Diffamierung leitender Persönlichkeiten deutscher Großunternehmen, die durch die<br />
Plakatierung an den Pranger gestellt würden.<br />
Aufgabenstellung:<br />
1. Hätte eine Verfassungsbeschwerde der Firma RWE Energie AG, die diese stellvertretend<br />
für ihren Vorstandsvorsitzenden erhebt, Aussicht auf Erfolg ?<br />
2. Wie wäre der Erfolg einer Verfassungsbeschwerde zu beurteilen, die der<br />
Vorstandsvorsitzende Kuhnt selbst erhebt?<br />
Anmerkung:<br />
• Nach einer ähnlichen Kampagne im Jahr 1990 (damals gegen die Produktion von FCKW)<br />
hatten mehrere Gerichte über mehrere Instanzen rechtskräftig festgestellt, dass die<br />
persönliche Nennung verantwortlicher Unternehmensführer legitim sei.<br />
• Bei der Aufgabenstellung 1. und 2. ist davon auszugehen, dass der Rechtsweg erschöpft ist.<br />
• Die Fallgestaltung geht auf eine Meldung der FAZ vom 12.11.1994 zurück. 3<br />
• bei Fallgestaltung auch BGB beachten !!<br />
§ 1004 Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch<br />
(1) 1Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des<br />
Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der<br />
Beeinträchtigung verlangen. 2Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der<br />
Eigentümer auf Unterlassung klagen.<br />
(2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist.<br />
§ 823 Schadensersatzpflicht<br />
(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das<br />
Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen<br />
zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.<br />
(2) 1Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen<br />
bezweckendes Gesetz verstößt. 2Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses<br />
auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.<br />
3 Im vorliegenden Fall liegt ebenso wie in einem vergleichbaren Fall mittlerweile eine Entscheidung<br />
des BVerfG vor (vgl. dazu GR-Skript).<br />
Seite 26 von 43<br />
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Oktober 07
1<br />
Klimakiller-Fall zu<br />
Schutz der Grundrechte – Aufbau einer Verfassungsbeschwerde<br />
- Lösungsvorschlag -<br />
Lösungsvorschlag<br />
zu 1. VB der Firma RWE Energie AG<br />
Die Verfassungsbeschwerde der Firma RWE Energie AG ist erfolgreich, wenn sie zulässig<br />
und begründet ist.<br />
Zulässigkeit der VB<br />
Seite 27 von 43<br />
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen<br />
gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG und §§ 90 ff. BVerfGG erfüllt sind.<br />
I. Beteiligtenfähigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "jedermann")<br />
Die Firma RWE Energie AG ist zwar keine natürliche Person im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr.<br />
4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG, aber sie könnte ggf. - wie Art. 19 Abs. 3 GG zeigt - auch als<br />
juristische Person des Zivilrechtes <strong>Grundrechts</strong>trägerin sein. Dann müsste das Grundrecht,<br />
auf das sie sich beziehen könnte, seinem Wesen nach auf die Firma RWE Energie AG passen.<br />
Im vorliegenden Fall ist einschlägiges Grundrecht das allgemeine Persönlichkeitsrecht<br />
(APR), Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, ein höchstpersönliches Recht, das die Firma<br />
RWE Energie AG als juristische Person nicht für sich in Anspruch nehmen kann. Es fehlt<br />
folglich an der Beteiligtenfähigkeit der Firma RWE Energie AG<br />
II. Beschwerdegegenstand GG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Akt der<br />
öffentlichen Gewalt")<br />
Verfassungsbeschwerden können sich nur gegen einen "Akt öffentlicher Gewalt" richten.<br />
Gemeint sind damit alle Äußerungen von vollziehender, gesetzgeberischer und rechtsprechender<br />
Gewalt. Die Firma RWE Energie AG greift die BGH-Entscheidung an, nach der<br />
Green-Peace weiterhin plakatieren darf. Diese Entscheidung ist als ein Akt der Judikative ein<br />
"Akt der öffentlichen Gewalt".<br />
III. Beschwerdebefugnis (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Behauptung, in<br />
einem seiner Grundrechte verletzt zu sein")<br />
Die Firma RWE Energie AG müsste behaupten können, durch die BGH-Entscheidung in ihren<br />
Grundrechten verletzt zu sein, sie müsste also beschwerdebefugt sein, d.h. es dürfte<br />
nicht von vornherein ausgeschlossen sein, dass durch die BGH-Entscheidung Grundrechte<br />
der Firma RWE Energie AG. verletzt werden.<br />
Eine mögliche <strong>Grundrechts</strong>verletzung der Firma RWE Energie AG ist aber nicht ersichtlich.<br />
Zudem müsste die Firma RWE Energie AG , um beschwerdebefugt zu sein, durch die BGH-<br />
Entscheidung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Die Selbstbetroffenheit ist<br />
nicht gegeben, denn die Plakatierung richtet sich nicht direkt gegen die Firma RWE Energie<br />
AG, sondern gegen ihren Vorstandsvorsitzenden: dessen Porträt wird abgebildet und dem<br />
wird etwas in den Mund gelegt. Dementsprechend ist die Firma RWE Energie AG nicht.<br />
beschwerdebefugt.<br />
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Januar 08
2<br />
Ergebnis zu 1.<br />
Die Verfassungsbeschwerde der Firma RWE Energie AG ist unzulässig. Sie hat keine Aussicht<br />
auf Erfolg.<br />
zu 2. VB des Vorstandsvorsitzenden Kuhnt<br />
Die Verfassungsbeschwerde des Vorstandsvorsitzenden Kuhnt ist erfolgreich, wenn sie zulässig<br />
und begründet ist.<br />
A) Zulässigkeit der VB Kuhnts<br />
Seite 28 von 43<br />
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen<br />
gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG und §§ 90 ff. BVerfGG erfüllt sind.<br />
I. Beteiligtenfähigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "jedermann")<br />
Kuhnt ist als natürliche Person. "jedermann" im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90<br />
Abs. 1 BverfGG; das in Betracht kommende Grundrecht, das allgemeine Persönlichkeitsrecht<br />
gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (APR) ist ein „Jedermanns-Grundrecht“;<br />
Kuhnt ist folglich beteiligtenfähig.<br />
II. Beschwerdegegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Akt der öffentlichen<br />
Gewalt")<br />
Verfassungsbeschwerden können sich nur gegen einen "Akt öffentlicher Gewalt" richten.<br />
Gemeint sind damit alle Äußerungen von vollziehender, gesetzgeberischer und rechtsprechender<br />
Gewalt. Kuhnt wendet sich gegen die BGH-Entscheidung, nach der Greenpeace<br />
weiterhin sein Porträt plakatieren darf. Diese Entscheidung ist als ein Akt der Judikative ein<br />
"Akt der öffentlichen Gewalt". Ein geeigneter Beschwerdegegenstand ist folglich gegeben.<br />
III. Beschwerdebefugnis (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Behauptung, in<br />
einem seiner Grundrechte verletzt zu sein")<br />
Kuhnt müsste behaupten können, durch die BGH-Entscheidung in seinen Grundrechten verletzt<br />
zu sein, er müsste also beschwerdebefugt sein, d.h. es dürfte nicht von vornherein ausgeschlossen<br />
sein, dass durch die o.a. Entscheidung Grundrechte des Kuhnt. verletzt werden.<br />
Bezüglich des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes, das u.a. das Recht am eigenen Bild sowie<br />
am gesprochenen Wort umfasst, ist eine <strong>Grundrechts</strong>verletzung nicht von vornherein<br />
ausgeschlossen, da sein Schutzbereich offensichtlich berührt wird<br />
Um beschwerdebefugt zu sein, müsste Kuhnt jedoch zudem durch die Gerichtsentscheidung<br />
selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Die Selbstbetroffenheit und die Unmittelbarkeit<br />
sind gegeben, da Kuhnts Rechtsposition durch die ‚Entscheidung direkt berührt ist.<br />
Die Betroffenheit ist auch gegenwärtig, da die Entscheidung noch weiterhin wirkt.<br />
Dementsprechend ist Kuhnt. beschwerdebefugt.<br />
IV. Rechtschutzbedürfnis: Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) und<br />
"Subsidiarität" der Verfassungsbeschwerde<br />
Ausweislich des Sachverhaltes ist im vorliegenden Fall der Rechtsweg erschöpft, sodaß das<br />
Rechtschutzinteresse gegeben ist.<br />
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3<br />
V. Frist (§ 93 Abs. 3 BVerfGG) und Form<br />
Es ist davon auszugehen, dass Frist und Form der VB ist eine <strong>Grundrechts</strong>verletzung nicht<br />
von vornherein ausgeschlossen, da sein Schutzbereich offensichtlich berührt wird eingehalten<br />
sind.<br />
Zwischen-Ergebnis zu 2.<br />
Die Verfassungsbeschwerde Kuhnts ist damit zulässig.<br />
B) Begründetheit der VB Kuhnts<br />
Seite 29 von 43<br />
Die Verfassungsbeschwerde Kuhnts gegen die gerichtliche Entscheidung, dass Greenpeace<br />
weiterhin plakatieren darf, ist begründet, wenn sie Kuhnt in seinen Grundrechten verletzt.<br />
Grundrechte Kuhnts sind verletzt, wenn die gerichtliche Entscheidung den Normbereich eines<br />
oder mehrerer <strong>Grundrechts</strong> berührte, in dieses oder diese Grundrechte eingreifen würde<br />
und dieser Eingriff verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen wäre.<br />
.<br />
Im vorliegenden Fall könnte eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes gem.<br />
Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (APR) in Betracht kommen.<br />
I. Betroffenheit des Normbereichs des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes gem. Art. 2<br />
Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (APR)<br />
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die enge persönliche Lebenssphäre. Es verleiht<br />
dem einzelnen die Befugnis, sich zurückzuziehen, abzuschirmen, für sich und allein zu bleiben.<br />
Dieses Recht ist nicht auf den häuslichen Bereich beschränkt. Es vermittelt ihm (u.a.)<br />
ein Recht am eigenen Bild, d.h. das Recht, die Darstellung der eigenen Person anderen gegenüber<br />
grundsätzlich selbst zu bestimmen, ebenso wie ein Recht am gesprochenen Wort,<br />
d.h. die Befugnis, selbst zu bestimmen, was von dem Gesagten verbreitet wird und auf welche<br />
Weise. Dazu gehört auch das Recht, daß dem Betroffenen keine Äußerung untergeschoben<br />
werden darf.<br />
Durch die gerichtliche Entscheidung kann Kuhnt nicht uneingeschränkt darüber befinden, ob<br />
sein Porträt öffentlich gezeigt werden soll ebenso wenig wie er die weitere Verbreitung von<br />
Äußerungen nicht unterbinden kann, die er nicht getan hat. Demzufolge ist sein Persönlichkeitsrecht<br />
betroffen.<br />
II. Eingriff<br />
Als Eingriff gilt jede rechtliche – nicht unbeträchtliche – Schlechterstellung (Minderung) der<br />
<strong>Grundrechts</strong>position. Die gerichtliche Entscheidung nimmt Kuhnt die Verfügungsgewalt über<br />
seine engere persönliche Lebensspähre. EinEingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht<br />
Kuhnts liegt demnach vor.<br />
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III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs<br />
4<br />
Seite 30 von 43<br />
Dieser Eingriff in des APR Kuhnts wäre nur zulässig, wenn er verfassungsrechtlich gerechtfertigt<br />
wäre.<br />
Das wäre dann der Fall, wenn ein Eingriff in das APR grundsätzlich gestattet wäre, wenn er<br />
auf einer gesetzlichen Ermächtigung beruhte, wenn diese gesetzliche Ermächtigung verfassungsrechtlich<br />
fehlerfrei wäre und wenn schließlich das erkennende Gericht bei der Anwendung<br />
der gesetzlichen Ermächtigung verfassungsrechtlich unbedenklich vorgegangen wäre<br />
1. Gestattung des Eingriffs<br />
Eine Eingriffsrechtfertigung setzt zunächst voraus, dass eine gesetzliche Eingriffsermächtigung<br />
von einer <strong>Grundrechts</strong>schranke das APR gestattet ist und daß sie sich ggf. innerhalb<br />
dieser <strong>Grundrechts</strong>schranke bewegt.<br />
Die gerichtliche Entscheidung ist gestützt auf die gesetzliche Ermächtigung der §§ 22, 23<br />
KUG und §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB. Diese gesetzlichen Ermächtigungen soll en mit der gerichtlichen<br />
Entscheidung das Recht der freien Meinungsäußerung , Art. 5 Abs. 1 GG, für<br />
Greenpeace zur Geltung bringen; d.h. die gerichtliche Eingriffsentscheidung dient dem<br />
<strong>Grundrechts</strong>schutz von Greenpeace.<br />
Damit kann die gesetzliche Ermächtigung auf eine einschlägige Schranke des APR zurückgreifen,<br />
denn das APR enthält als Eingriffsschranke (u.a.) „Rechte anderer“.<br />
Der Eingriff in das APR durch die o.a. gesetzlichen Vorschriften ist folglich generell gestattet.<br />
2. gesetzliche Eingriffsermächtigung<br />
Entsprechend dem Gesetzesvorbehalt aus Art. 20 Abs. 3 GG muß ein staatlicher eingriff auf<br />
eine gesetzliche Ermächtigung gestützt sein: diese liegt in §§ 22, 23 KUG und §§ 823 Abs. 1,<br />
1004 BGB vor-<br />
3. Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Eingriffsermächtigung<br />
Die gesetzlichen Bestimmungen, auf die die gerichtliche Entscheidung gestützt ist (§§ 22, 23<br />
KUG und §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB), müssen verfassungmäßig fehlerfrei sein, d.h. die formelle<br />
und die materielle Verfassungsmäßigkeit muß gegeben sein.<br />
3a) Formelle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Eingriffsermächtigungen<br />
Von der ordnungsgemäßen Durchführung des Gesetzgebungsverfahrens und der Beachtung<br />
der Gesetzgebungszuständigkeit ist - mangels entgegenstehender Angaben im Sachverhalt -<br />
auszugehen.<br />
Die gesetzlichen Eingriffsermächtigungen sind also formell verfassungsgemäß.<br />
3b) Materielle Verfassungsmäßigkeit (Schranken-Schranken; insbesondere Beachtung<br />
des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit)<br />
Die Eingriffsermächtigungen müssten auch materiell verfassungsmäßig sein, d.h. sie müssten<br />
insbesondere zur Erreichung der mit ihnen beabsichtigten Zweckes geeignet, erforderlich<br />
und angemessen (also verhältnismäßig i.e.S.) sein.<br />
Davon ist im vorliegenden Falle auszugehen.<br />
Dementsprechend sind die Eingriffsermächtigungen materiell verfassungsgemäß.<br />
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5<br />
Seite 31 von 43<br />
4. verfassungsrechtlich unbedenkliche Anwendung der Eingriffsermächtigung<br />
Das erkennende Gericht muß bei der Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Eingriffsgrundlagen<br />
ggf. betroffene Grundrechte berücksichtigen. Das verlangt bei iFällen der vorliegenden<br />
Art in der Regel eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung<br />
durch die Äußerung und Abbildung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit<br />
durch eine mögliche Untersagung der Äußerung andererseits, die im Rahmen der auslegungsfähigen<br />
Tatbestandsmerkmale des einfachen Rechts vorzunehmen ist und die besonderen<br />
Umstände des Falles zu berücksichtigen hat. Das Ergebnis dieser Abwägung läßt<br />
sich wegen der Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls nicht generell und abstrakt<br />
vorausbestimmen.“<br />
Demzufolge wäre zunächst zu prüfen, ob das erkennende Gerichtprüfen, ob vom erkennenden<br />
Gericht letzter Instanz bei Anwendung der §§ 22, 23 KUG und §§ 1004, 823 BGB überhaupt<br />
die Ausstrahlungswirkung des APR erkannt worden hat:<br />
Die Argumentation des BGH in dessen Urteilsbegründung zeigt, daß er sehr wohl von dem<br />
APR des Kuhnt ausgegangen ist, wenn er sagt, er„ könne sich grundsätzlich auf sein durch<br />
Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschütztes allgemeines<br />
Persönlichkeitsrecht berufen, wenn er sich gegen die Veröffentlichung seines Bildes und<br />
die Nennung seines Namens wehre.<br />
Zugleich hat der BGH aber deutlich gemacht, daß das APR Kuhnts seine Schranken an den<br />
schutzwürdigen Interessen von Greenpeace auf das Recht der freien Meinungsäußerung,<br />
Art. 5 Abs. 1 GG, finden könne: Danach ist geschützt ist das Haben, Äußern und Nichtäußern<br />
(negative Meinungsfreiheit) von Werturteilen (=Meinung). Dabei können diese Werturteile<br />
auch mit Tatsachenbehauptungen verbunden sein Nicht geschützt ist "die erwiesen oder<br />
bewusst unwahre Tatsachenbehauptung". Die Meinungsfreiheit umfasst auch die grafische<br />
Umsetzung einer kritischen Aussage.<br />
Zwar enthält der Text eine Reihe von Tatsachenbehauptungen. Doch diese Behauptungen<br />
sind wahr. Auf den tatsächlichen Aussagen beruhen Wertungen, welche die Gesamtaussage<br />
des Plakats prägten. In der Formulierung "Wir ruinieren das Klima" liegt die Anklage einer für<br />
das Klima als verhängnisvoll bewerteten unternehmerischen Entscheidung.<br />
Das Plakat ist insgesamt als von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Meinungsäußerung zu<br />
verstehen, da die Tatsachenbehauptungen ersichtlich der Meinungsbildung dienen.<br />
Auch der Abdruck des Portraits und die Namensnennung, welche Teile der Gesamtaussage<br />
des Plakats sind, fallen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Das Porträt soll die<br />
Wirkung des Textes verstärken. Die Namensnennung soll deutlich machen, daß für die Unternehmenspolitik<br />
auch so großer Wirtschaftsunternehmen Personen verantwortlich sind. Die<br />
Personalisierung des Angriffs soll die Wirkung der Meinungsäußerung verstärken.<br />
Der BGH hat folglich die Relevanz der für den vorliegenden Fall bedeutsamen Grundrechte<br />
bei der Anwendung der Eingriffsgrundlagen erkannt<br />
Weiterhin ist zu prüfen. ob Reichweite und Wirkkraft der einschlägigen Grundrechte hinreichend<br />
beachtet worden sind:<br />
Im vorliegenden Fall ist die Spannungslage zwischen dem in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung<br />
mit Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Schutz der Persönlichkeit für Kuhnt und Recht der Meinungsäußerungsfreiheit<br />
gemäß Art. 5 Abs. 1 GG Greenpeace zu beachten.<br />
Dies hat der BGH bei seiner Entscheidung getan: Er hat weder die Bedeutung und Tragweite<br />
des APR für Kuhnt, noch die des Rechts der freien Meinungsäußerung für Greenpeace verkannt,<br />
denn er hat in seiner Rechtsgüterabwägung sehr wohl den besonders massiven prangerartigen<br />
Angriff auf Kuhnt, der von dem Plakat ausging, berücksichtigt wie auch – gerade<br />
in einer Frage von herausragender umweltpolitischer Bedeutung – Gesichtspunkte, die für<br />
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Januar 08
6<br />
den Vorrang der Meinungsfreiheit sprechen. Dabei hat der BGH sich zu Recht auch davon<br />
leiten lassen, daß Kuhnt nicht als Privatperson, sondern als verantwortlicher Unternehmensführer<br />
angegriffen worden ist..<br />
Schließlich muß geprüft werden, ob das Gericht – bei hinreichender Beachtung der einschlägigen<br />
Grundrechte innerhalb der einschlägigen zivilrechtlichen Norm – zu einem vertretbaren<br />
Ergebnis gekommen ist:<br />
Die Entscheidung des BGH, dem Recht von Greenpeace auf Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1<br />
GG, im vorliegenden Fall den Vorrang einzuräumen vor dem Persönlichkeitsrecht Kuhnts ist<br />
angesichts der Abwägungsargumente nachvollziehbar und verfassungsrechtlich nicht zu<br />
beanstanden.<br />
Der Eingriff durch die gerichtliche Entscheidung in das Persönlichkeitsrecht Kuhnts ist demzufolge<br />
gerechtfertigt, eine <strong>Grundrechts</strong>verletzung liegt nicht vor. Kuhnts Verfassungsbeschwerde<br />
ist unbegründet.<br />
C) Ergebnis<br />
Die Verfassungsbeschwerde Kuhnts ist somit zulässig aber unbegründet..<br />
Seite 32 von 43<br />
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Januar 08
1<br />
Übungsfall 1 zu<br />
Schutz der Grundrechte – Aufbau einer Verfassungsbeschwerde<br />
High ist okay<br />
In letzter Zeit sind in wachsendem Maße Publikationen auf dem Büchermarkt erschienen, in<br />
denen die Einnahme von Drogen und Betäubungsmitteln und der dadurch hervorgerufene<br />
Zustand zu einer Art Pseudo-Religion hochstilisiert werden. Die hiermit verbundenen Gesundheitsgefahren<br />
werden hierbei zwar durchgängig nicht geleugnet, jedoch als ein Opfer<br />
angesehen, das man eben erbringen müsse, um an den Freuden des Drogenkonsums teilhaben<br />
zu können. Um dem entgegenzutreten, wird durch das Bundesgesetz zur Verhinderung<br />
der Verbreitung schädlicher Informationen über Drogengebrauch (Drogengebrauchsinformationsverbreitungsverhinderungsgesetz<br />
- DroGeInfVerVerG) das Strafgesetzbuch in der<br />
Weise geändert, dass dort ein neuer §144 eingefügt wird, der das Anpreisen und Verherrlichen<br />
der Einnahme von Betäubungsmitteln und die Verbreitung entsprechender Schriften<br />
unter Strafe stellt. Begründet wird das Gesetz mit der Notwendigkeit, die Volksgesundheit zu<br />
erhalten und die Jugend vor Betäubungsmittelkonsum zu schützen. Das Gesetz soll am Tag<br />
nach seiner Verkündung in Kraft treten.<br />
Die in Saarheim bestehende Bürgerinitiative "Alternative Aktion e.V.", die sich vehement für<br />
die Legalisierung von Haschisch einsetzt, hatte bereits in der Vergangenheit - so etwa anlässlich<br />
der Vorbereitung der Veranstaltung SAARHEIM ALTERNATIV - mehrere solcher<br />
Schriften herausgegeben und zum Selbstkostenpreis vertrieben. Sie hat auch schon ein weiteres<br />
einschlägiges Manuskript erstellen lassen, das sie ebenfalls zum Selbstkostenpreis<br />
veröffentlichen will. Hieran sieht sie sich nunmehr durch das StGB gehindert. Drei Monate<br />
nach Verkündung des Änderungsgesetzes im Bundesgesetzblatt erhebt daher die "Alternative<br />
Aktion e.V." durch ihr - hierzu in ihrer Vereinssatzung ermächtigtes - Vorstandsmitglied<br />
Karla Körnli unmittelbar gegen das DroGeInfVerVerG Verfassungsbeschwerde. Sie behauptet,<br />
in ihren Grundrechten aus Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und 3 GG sowie Art. 12 Abs. 1 GG<br />
verletzt zu sein, auch wenn zuzugeben sei, dass es sich bei dem Werk, dessen Herausgabe<br />
beabsichtigt ist, nicht gerade um ein Kunstwerk handle. Jedoch erlaube das Gesetz letztlich<br />
nichts anderes als eine Zensur, da man nicht mehr sagen dürfe, was man wolle. Der hierin<br />
liegende <strong>Grundrechts</strong>eingriff wiege um so schwerer, weil überhaupt nicht erkennbar sei,<br />
weshalb der Bund plötzlich "Handlungsbedarf" sehe, nachdem die meisten Länder, die doch<br />
eigentlich für Kulturfragen zuständig seien, entsprechende Regelungen bisher für nicht notwendig<br />
erachtet haben.<br />
Hat die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?<br />
Seite 33 von 43<br />
1 Saarheimer Fälle zum Staats- und Verwaltungsrecht von Univ.-Prof. Dr. Klaus Grupp (Universität<br />
des Saarlandes) und Univ.-Prof. Dr. Ulrich Stelkens (Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften<br />
Speyer) unter Mitarbeit von Julie-Andrée Trésoretmit freundlicher Unterstützung der jurmatiX<br />
GbR, Ottweiler<br />
hier: http://www.saarheim.de/Faelle/high-fall.htm<br />
Saarheim - Ausgezeichnet!<br />
Im Januar 2007 sind die "Saarheimer Fälle" mit dem VISU-Förderpreis "Neue Medien in der Lehre"<br />
ausgezeichnet worden.<br />
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November 07
1<br />
Übungsfall 1 zu<br />
Schutz der Grundrechte – Aufbau einer Verfassungsbeschwerde<br />
- Lösungsvorschlag -<br />
Lösungsvorschlag<br />
High ist okay<br />
Das BVerfG wird der Verfassungsbeschwerde der Alternativen Aktion e.V. stattgeben,<br />
wenn sie zulässig und begründet ist.<br />
A) Zulässigkeit<br />
Seite 34 von 43<br />
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen<br />
gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG und §§ 90 ff. BVerfGG erfüllt sind.<br />
I. Beteiligtenfähigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "jedermann")<br />
Die Alternative Aktion e.V. ist "jedermann" im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §<br />
90 Abs. 1 BVerfGG, denn sie kann - wie Art. 19 Abs. 3 GG zeigt - auch als juristische<br />
Person (§ 21 BGB) <strong>Grundrechts</strong>trägerin sein.<br />
II. Beschwerdegegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Akt<br />
der öffentlichen Gewalt")<br />
Verfassungsbeschwerden können sich nur gegen einen "Akt öffentlicher Gewalt"<br />
richten. Gemeint sind damit alle Äußerungen von vollziehender, gesetzgeberischer<br />
und rechtsprechender Gewalt. Die Alternative Aktion e.V. greift unmittelbar das Dro-<br />
GeInfVerVerG an. Dieses Bundesgesetz ist ein "Akt der öffentlichen Gewalt".<br />
III. Beschwerdebefugnis (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Behauptung,<br />
in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein")<br />
Die Alternative Aktion e. V müsste behaupten können, durch das DroGeInfVerVerG<br />
in ihren Grundrechten verletzt zu sein, sie müsste also beschwerdebefugt sein, d.h.<br />
es dürfte nicht von vornherein ausgeschlossen sein, dass durch das DroGeInfVer-<br />
VerG Grundrechte der Alternativen Aktion e.V. verletzt werden.<br />
• Bezüglich des von ihr gerügten Art. 4 Abs. 1 GG ist eine <strong>Grundrechts</strong>verletzung<br />
von vornherein ausgeschlossen, da sein Schutzbereich offensichtlich nicht be-<br />
1 Die Lösungsskizze entspricht weitgehend der entsprechenden Lösungsskizze in „Saarheimer Fälle<br />
zum Staats- und Verwaltungsrecht“ von Univ.-Prof. Dr. Klaus Grupp (Universität des Saarlandes)<br />
und Univ.-Prof. Dr. Ulrich Stelkens (Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer)<br />
unter Mitarbeit von Julie-Andrée Trésoret mit freundlicher Unterstützung der jurmatiX GbR, Ottweiler<br />
hier: http://www.saarheim.de/Faelle/high-loesung.htm; Vgl. hierzu auch die Fallbearbeitung von<br />
Huster, JuS 2002, 262 ff.<br />
Saarheim - Ausgezeichnet!<br />
Im Januar 2007 sind die "Saarheimer Fälle" mit dem VISU-Förderpreis "Neue Medien in der Lehre"<br />
ausgezeichnet worden.<br />
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November 07
2<br />
Seite 35 von 43<br />
rührt wird: Ein Rauschzustand und das Erstreben eines Rauschzustandes sind<br />
weder Religion noch Weltanschauung, wobei hierunter eine religiöse bzw. areligiöse<br />
Sinndeutung von Welt und Mensch verstanden wird (vgl. Pieroth/Schlink, Rn.<br />
508). Es fehlt hier der notwendige Bezug auf "das Weltganze". Daher braucht hier<br />
auch nicht der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich die Alternative Aktion<br />
e.V. gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auf dieses Grundrecht überhaupt berufen kann.<br />
• Auch hinsichtlich des gerügten Art. 12 Abs. 1 GG ist die Beschwerdebefugnis<br />
nicht gegeben. Zwar können sich gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auch juristische Personen<br />
auf dieses Grundrecht berufen, soweit sie eine Erwerbszwecken dienende<br />
Tätigkeit, insbesondere ein Gewerbe in der gleichen Art und Weise wie eine natürliche<br />
Person betreiben (BVerfGE 21, 261, 266; BVerfGE 50, 290, 363). Hier erfolgte<br />
der Vertrieb der Bücher durch die Alternative Aktion e.V. jedoch zum<br />
Selbstkostenpreis und damit gerade nicht mit Gewinnerzielungsabsicht (was der<br />
Alternativen Aktion e.V. wegen § 22 BGB auch nicht ohne weiteres erlaubt gewesen<br />
wäre). Daher ist eine Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG von vornherein nicht<br />
möglich.<br />
• Schließlich ist auch die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG erkennbar nicht verletzt:<br />
Zwar könnte sich die Alternative Aktion e.V. als Verlag - und damit als<br />
"Kunstvermarkter" - grundsätzlich auf die Kunstfreiheit berufen, da nicht nur der<br />
Werk-, sondern auch der Wirkbereich und damit auch der Vertrieb von Kunstwerken<br />
durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt wird (BVerfGE 30, 173, 189). Voraussetzung<br />
hierfür wäre aber, dass es sich bei dem Buch um Kunst handelt. Schriftwerke<br />
können zwar Kunst sein, aber der Schriftsteller muss wohl mindestens selbst<br />
davon ausgehen, Kunst geschaffen zu haben. Dass der Künstler oder - wie hier<br />
der Vertreiber - dies selbst nicht glaubt, ist ein so wichtiges Indiz gegen das Vorliegen<br />
von Kunst, dass der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG von vornherein<br />
nicht als einschlägig erscheint. Da auch in Zukunft nicht die Herausgabe künstlerischer<br />
"Rauschbücher" beabsichtigt ist, fehlt der Alternativen Aktion e.V. auch in<br />
Bezug auf Art. 5 Abs. 3 GG die Beschwerdebefugnis.<br />
• Auch die Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG wird nicht berührt. Presse<br />
meint hier zwar an sich jedes gedruckte Schriftstück, also auch Bücher. Die Pressefreiheit<br />
schützt jedoch nur die Institution der freien Presse als solche, nicht die<br />
Meinungsäußerung in der Presse (BVerfGE 85, 1, 112 ff.; BVerfGE 86, 122, 128),<br />
um die es der Alternativen Aktion e.V. hier gerade geht.<br />
• Jedoch erscheint nicht als von vornherein ausgeschlossen, dass die Veröffentlichung<br />
und der Vertrieb von Schriften, die die Einnahme von Drogen anpreisen<br />
oder verherrlichen, in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit des Art.<br />
5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG fällt. Auf dieses Grundrecht können sich nach Art. 19<br />
Abs. 3 GG auch juristische Personen berufen: Zwar kann eine juristische Person<br />
selbst keine Meinung haben, sie kann aber die Meinung ihrer Mitglieder - oder<br />
anderer Personen - verbreiten und in dieser Hinsicht am <strong>Grundrechts</strong>schutz partizipieren<br />
(BVerfGE 24, 278, 282; Stern III/1, § 71 IV 6 c, S. 1126).<br />
Um beschwerdebefugt zu sein, müsste die Alternative Aktion e.V. jedoch zudem<br />
durch das DroGeInfVerVerG gegenwärtig und unmittelbar selbst betroffen sein. Die<br />
Selbstbetroffenheit ist immer schon dann gegeben, wenn die fragliche Norm den Beschwerdeführer<br />
rechtlich, also nicht bloß mittelbar faktisch berührt; ihn mithin nicht<br />
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November 07
3<br />
Seite 36 von 43<br />
lediglich eine Reflexwirkung der Norm trifft, sondern seine geschützte Rechtssphäre<br />
nach Zweck und Hauptwirkung der Regelung deren eigentliches Ziel ist (BVerfGE 6,<br />
273, 278; BVerfGE 78, 350, 354). Dies könnte fraglich sein, da das Gesetz als Strafnorm<br />
an sich nur natürliche Personen betrifft, weil juristische Personen nach deutschem<br />
Recht nicht als straffähig angesehen werden. Jedoch geht § 30 OWiG davon<br />
aus, dass die Verhaltensverbote und die Verhaltensgebote des Strafrechts auch für<br />
juristische Personen gelten (sie sind nur nicht strafbar, sondern werden allenfalls mit<br />
einem Bußgeld belegt), so dass das Verbot die Alternative Aktion e.V. selbst trifft. Die<br />
unmittelbare Betroffenheit der Alternativen Aktion e.V. ergibt sich dementsprechend<br />
daraus, dass ihr das Gesetz die Veröffentlichung dieser Schriften unmittelbar (§ 30<br />
OWiG) verbietet, ohne dass es hierzu noch eines weiteren Vollzugsakts bedürfte. Die<br />
Betroffenheit ist auch gegenwärtig, da das Verbot bereits gegolten hat und noch weiterhin<br />
gilt. Dementsprechend ist die Alternative Aktion e.V. beschwerdebefugt.<br />
IV. Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) und "Subsidiarität" der<br />
Verfassungsbeschwerde<br />
Gegen Bundesgesetze steht kein Rechtsweg (außer Verfassungsbeschwerde) offen,<br />
so dass die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erfüllt sind. Fraglich<br />
ist jedoch, ob der Verfassungsbeschwerde der der "Grundsatz der Subsidiarität der<br />
Verfassungsbeschwerde" entgegensteht. Nach diesem - vom BVerfG letztlich in erweiternder<br />
Auslegung des § 90 Abs. 2 BVerfGG "gefundenen" - Grundsatz hat der<br />
Beschwerdeführer neben der Erschöpfung des Rechtswegs alle anderweitig bestehenden<br />
Möglichkeiten auszuschöpfen, die geeignet sind, die <strong>Grundrechts</strong>verletzung<br />
zu beseitigen oder ohne Inanspruchnahme des BVerfG im praktischen Ergebnis dasselbe<br />
zu erreichen (Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, § 90 Rn. 127). Insoweit<br />
stellt das BVerfG teilweise strenge Voraussetzungen auf: So hat es zum Beispiel verlangt,<br />
dass der Beschwerdeführer selbst dann, wenn er von einem Gesetz unmittelbar,<br />
gegenwärtig und selbst betroffen ist, zunächst Rechtsschutz bei den Fachgerichten<br />
suchen muss, um eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG zu initiieren<br />
(BVerfGE 69, 122, 124 ff.). Hier wäre deshalb denkbar, die Alternative Aktion e.V.<br />
zunächst darauf zu verweisen, gegen das Gesetz zu verstoßen und anschließend<br />
den Erlass eines Bußgeldbescheides nach §§ 30, 88 OWiG abzuwarten und im Einspruchsverfahren<br />
nach §§ 67 ff. OWiG eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100<br />
Abs. 1 GG anzuregen. Die Durchführung eines solchen Verfahrens wäre für die Alternativen<br />
Aktion e.V. allerdings unzumutbar (vgl. den Rechtsgedanken des § 90<br />
Abs. 2 Satz 2 BVerfGG): Auch unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde<br />
kann nicht verlangt werden, dass ein Betroffener vor der Erhebung<br />
einer Verfassungsbeschwerde gegen eine straf- und bußgeldbewehrte Rechtsnorm<br />
zunächst verstößt und sich so dem Risiko eines Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahrens<br />
aussetzt (BVerfGE 20, 283, 290; BVerfGE 46, 246, 256; BVerfGE 81,<br />
70, 82 f.).<br />
V. Frist (§ 93 Abs. 3 BVerfGG)<br />
Die Jahresfrist nach § 93 Abs. 3 BVerfGG ab Inkrafttreten des Gesetzes ist eingehalten<br />
worden.<br />
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November 07
4<br />
VI. Verfahrensfähigkeit<br />
Der Verein ist fähig, Prozesshandlungen durch seine Vertreter - hier sein durch Satzung<br />
zur Alleinvertretung berechtigtes Vorstandsmitglied Karla Körnli (§ 26 Abs. 2<br />
BGB) - vorzunehmen und ist deshalb auch verfahrensfähig (prozessfähig).<br />
Anmerkung: Wenn nicht gerade eine juristische Person, ein minderjähriges Kind oder<br />
ein Geisteskranker Verfassungsbeschwerde erhebt, ist zur Frage der Verfahrens-<br />
oder Prozessfähigkeit kein Wort zu verlieren.<br />
VII. Ergebnis zu A<br />
Die Verfassungsbeschwerde ist damit insgesamt zulässig.<br />
B) Begründetheit<br />
Seite 37 von 43<br />
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die Alternative Aktion e.V. durch<br />
das Gesetz in ihren Grundrechten verletzt wird. Ein Grundrecht ist verletzt, wenn<br />
dasjenige Verhalten, an dem sich die Alternative Aktion e.V. gehindert sieht, in den<br />
Schutzbereich eines <strong>Grundrechts</strong> fällt, das Gesetz in dieses Grundrecht eingreift und<br />
dieser Eingriff verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist. Hier kommt (s.o. A III)<br />
nur eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG (Meinungsäußerungsfreiheit)<br />
in Betracht.<br />
I. Schutzbereich<br />
Die Veröffentlichung der Schriften der Alternativen Aktion e.V. könnte eine Meinungsäußerung<br />
i.S.d. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG darstellen, auf die sich auch juristische<br />
Personen gemäß Art. 19 Abs. 3 GG berufen können (s.o. A III): Unter Meinungsäußerung<br />
ist zunächst die Äußerung aller Werturteile zu verstehen. Für sie ist<br />
das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens kennzeichnend, weshalb sie<br />
sich nicht als wahr oder unwahr beweisen lassen. Dementsprechend schützt Art. 5<br />
Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG die Äußerung von Werturteilen schlechthin, ohne dass es<br />
darauf ankäme, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational,<br />
wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos ist. Von der Meinungsäußerungsfreiheit<br />
werden darüber hinaus auch Tatsachenbehauptungen umfasst, obwohl sie<br />
streng genommen keine Meinungen sind, da sie erweislich wahr oder unwahr sein<br />
können. Den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG auch auf Tatsachenbehauptungen<br />
zu erstrecken, ist geboten, da sich Meinungen regelmäßig auf tatsächliche<br />
Annahmen stützen oder zu tatsächlichen Verhältnissen Stellung beziehen, so dass<br />
ihre Mitteilung Voraussetzung für die Bildung von Meinungen ist. Dies gilt jedenfalls<br />
insoweit, als die Tatsachenbehauptung nicht bewusst oder erweislich unwahr ist<br />
(BVerfGE 90, 241, 247 f.).<br />
Nach diesen Maßstäben beabsichtigt die Alternative Aktion e.V. hier eine Meinungsäußerung<br />
zur Gebotenheit des Drogenkonsums, wobei es auf die angenommene<br />
"Gefährlichkeit" einer solchen Aussage - wie oben gesagt - gerade nicht ankommt.<br />
Dass sie unwahre Tatsachenbehauptungen über die Gefährlichkeit von Drogen<br />
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verbreiten will, lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen und ist daher nicht anzunehmen.<br />
Unter Äußerung i.S.d. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG ist schließlich ausdrücklich<br />
die Äußerung in Wort, Schrift und Bild angesprochen, so dass hierunter<br />
gerade auch das Verbreiten von Büchern und Broschüren fällt.<br />
Das von der Alternativen Aktion e.V. beabsichtigte Verhalten unterfällt also dem<br />
Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG.<br />
II. Eingriff<br />
Das Gesetz verbietet der Alternativen Aktion e.V., ihre Schriften zu veröffentlichen,<br />
um dadurch ihre Meinung zu verbreiten. Ein Eingriff in die Meinungsfreiheit liegt daher<br />
vor.<br />
III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs<br />
Dieser Eingriff ist nur zulässig, wenn er verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden<br />
kann, wenn das angegriffene Gesetz also in jeder Hinsicht verfassungsgemäß ist.<br />
1. Schrankenvorbehalt<br />
Dies setzt zunächst voraus, dass das Gesetz den von Art. 5 GG aufgestellten besonderen<br />
Anforderungen für Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit entspricht, welche<br />
sich aus Art. 5 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG ergeben.<br />
* Das Gesetz soll zunächst dem Jugendschutz dienen. Der Jugendschutz ist in Art. 5<br />
Abs. 2 GG erwähnt, so dass insoweit das Gesetz den Anforderungen des Art. 5 Abs.<br />
2 GG genügt.<br />
* Das Gesetz soll darüber hinaus dem Schutz der Volksgesundheit dienen. Ein solches<br />
Gesetz kann nach Art. 5 Abs. 2 GG nur dann die Meinungsfreiheit einschränken,<br />
wenn es sich hierbei um ein "allgemeines Gesetz" handelt. Nach der Rechtsprechung<br />
des BVerfG (BVerfGE 7, 198, 209 f. [Lüth-Urteil]) sind unter allgemeinen Gesetzen<br />
alle Gesetze zu verstehen, "die nicht eine Meinung als solche verbieten, die<br />
sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten, die vielmehr dem<br />
Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden<br />
Rechtsguts dienen, dem Schutze eines Gemeinschaftswertes, der gegenüber<br />
der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat."<br />
Ob das Verbot der Werbung für Drogen ein allgemeines Gesetz in diesem Sinne ist,<br />
ist durchaus zweifelhaft: Das Gesetz verbietet ja ausdrücklich das Äußern einer bestimmten<br />
Meinung, nämlich die Befürwortung des Rauschmittelkonsums. Allerdings<br />
gilt ein grundrechtseinschränkendes Gesetz auch dann als „allgemeines Gesetz“,<br />
wenn der Freiheitseingriff dem Schutz eines der Meinungsfreiheit vorgehenden<br />
Rechtsgutes dient (vgl. Huster, JuS 2002, 262, 263).<br />
Hier ist die Volksgesundheit ein von der Verfassung anerkannter Wert (Art. 2 Abs. 2<br />
Satz 1 GG), zu dessen Schutz daher grundsätzlich auch in die Meinungsäußerungsfreiheit<br />
eingegriffen werden kann. Damit ist das Gesetz mit dem Schrankenvorbehalt<br />
des Art. 5 Abs. 2 GG vereinbar.<br />
* Das Gesetz müsste auch mit dem Schrankenvorbehalt des Zensurverbots des<br />
Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG vereinbar sein, welches auch durch ein Gesetz nach Art. 5<br />
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Abs. 2 GG nicht eingeschränkt werden kann. Hier ist jedoch fraglich, ob die bloße<br />
Möglichkeit der Einleitung eines Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahrens überhaupt<br />
als "Zensur" angesehen werden kann, da unter "Zensur" wohl nur ein planmäßiges<br />
Kontrollverfahren oder zumindest Kontrollüberwachungssystem durch besondere<br />
Behörden verstanden werden kann (vgl. Hoffmann-Riem, in: Benda/Maihofer/Vogel<br />
(Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1995, § 7 Rn. 45). Jedenfalls<br />
ermöglicht das DroGeInfVerVerG allenfalls eine nachträgliche Kontrolle bereits<br />
herausgegebener Schriften und nicht eine sogenannte Präventivzensur. Das<br />
Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG soll aber nach Ansicht des BVerfG nur vor<br />
einer solchen Präventivzensur schützen, also vor Maßnahmen vor der Herstellung<br />
und Verbreitung eines Geisteswerkes, insbesondere das Abhängigmachen des Herstellens<br />
und Verbreitens von einer behördlichen Vorprüfung und Genehmigung, was<br />
im Wesentlichen mit der Entstehungsgeschichte des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG begründet<br />
wird und damit, dass andernfalls die besonderen Schranken des Art. 5 Abs.<br />
2 GG weitgehend gegenstandslos würden, wäre jegliche inhaltliche Kontrolle auch<br />
nach der Verbreitung eines Werkes ausgeschlossen (BVerfGE 33, 52, 69 ff.; BVerf-<br />
GE 87, 209, 230). Somit ist das DroGeInfVerVerG auch mit Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG<br />
vereinbar.<br />
Das DroGeInfVerVerG entspricht somit den Schrankenvorbehalten des Art. 5 Abs. 1<br />
Satz 3 und Art. 5 Abs. 2 GG.<br />
2. Formelle Verfassungsmäßigkeit des DroGeInfVerVerG<br />
Das DroGeInfVerVerG müsste formell verfassungsmäßig sein. Von der ordnungsgemäßen<br />
Durchführung des Gesetzgebungsverfahrens und der Beachtung der Formvorschriften<br />
ist - mangels entgegenstehender Angaben im Sachverhalt - auszugehen.<br />
Fraglich ist jedoch, ob dem Bund für das DroGeInfVerVerG auch die Gesetzgebungskompetenz<br />
2 zusteht.<br />
Als Gesetzgebungstitel des Bundes kommt nur Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (Strafrecht) in<br />
Betracht. Dem steht nicht entgegen, dass der Kulturbereich nach Art. 70 GG im Wesentlichen<br />
in die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder fällt; denn<br />
bei der Schaffung neuer Straftatbestände ist der Bund nicht an die Zuständigkeitsgrenzen<br />
aus der materiellen Kompetenzordnung im Übrigen gebunden (BVerfGE 23,<br />
113, 124), auch wenn als äußerste Grenze anzusehen ist, dass der Bund nicht durch<br />
Schaffung letztlich beliebiger Straftatbestände die landesgesetzgeberischen Zuständigkeiten<br />
aushöhlen darf (Degenhart, in: Sachs, Art. 74 Rn. 14). Diese Grenze ist hier<br />
jedoch sicher nicht überschritten, zumal der neue Straftatbestand noch in einer gewissen<br />
Nähe zum herkömmlichen Betäubungsmittelstrafrecht steht, dass unstreitig<br />
von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG umfasst wird.<br />
Da Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG jedoch nur eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit<br />
des Bundes begründet, durfte der Bundesgesetzgeber nach Art. 72 Abs. 2<br />
GG dieses Gesetz nur dann erlassen, wenn und soweit<br />
* die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder<br />
* die Wahrung der Rechtseineinheit im gesamtstaatlichen Interesse oder<br />
* die Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse<br />
dies erforderlich macht.<br />
2 Lösungsskizze beruht noch auf GG vor der Föderalismusreform I<br />
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a) Dient das DroGeInfVerVerG den Zielvorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG?<br />
Damit ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob das DroGeInfVerVerG den in Art. 72<br />
Abs. 2 n. F. GG genannten Zielvorgaben entspricht. Diese Zielvorgaben werden vom<br />
BVerfG besonders einschränkend ausgelegt und hierdurch präzisiert:<br />
* Ein Gesetz soll hiernach nur dann der "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse<br />
im Bundesgebiet" dienen, wenn es darum geht, eine bereits eingetretene oder<br />
konkret drohende erhebliche Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse in den<br />
Bundesländern umzukehren oder zu verhindern, die das bundesstaatliche Sozialgefüge<br />
beeinträchtigt. Nicht hinreichend ist dementsprechend, dass das bloße In-Kraft-<br />
Treten des Gesetzes für gleichwertige Lebensverhältnisse sorgt. Ebenfalls ist unerheblich,<br />
dass die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet durch die gesetzliche Regelung<br />
lediglich verbessert werden sollen. Schon gar nicht ist "Gleichwertigkeit" mit<br />
"Einheitlichkeit" gleichzusetzen (BVerfG, 2 BvF 1/01 vom 24. Oktober 2002,<br />
http://www.bverfg.de, Abs. 318 ff. = BVerfGE 106, 62, 143 f.; BVerfG, 2 BvF 2/02<br />
vom 27. Juli 2004, http://www.bverfg.de, Abs. 98 = BVerfGE 111, 226, 253). Angesichts<br />
dieser restriktiven Auffassung wird man kaum annehmen können, dass das<br />
DroGeInfVerVerG der "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" dient. Denn<br />
dass es ohne eine bundeseinheitliche Regelung über das Verbot "drogenverherrlichender<br />
Schriften" zu einer erheblichen Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse<br />
zwischen den einzelnen Ländern kommen wird, die das bundesstaatliche Sozialgefüge<br />
insgesamt beeinträchtigen, erscheint kaum als wahrscheinlich.<br />
* Ein Gesetz soll ferner der "Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse"<br />
dienen, wenn die unterschiedliche Behandlung desselben Lebenssachverhalts<br />
in den verschiedenen Ländern unter Umständen erhebliche Rechtsunsicherheiten<br />
und damit unzumutbare Behinderungen für den länderübergreifenden Rechtsverkehr<br />
ergeben kann. Der Bund muss einer Bedrohung der Rechtssicherheit und damit auch<br />
der Freizügigkeit entgegentreten. Nicht ausreichend soll deshalb insbesondere sein,<br />
dass bundeseinheitliches Recht vielfach wünschenswert ist; denn unterschiedliche<br />
Rechtslagen für die Bürger sind notwendige Folge des bundesstaatlichen Aufbaus<br />
(BVerfG, 2 BvF 1/01 vom 24. Oktober 2002, http://www.bverfg.de, Abs. 324 ff. =<br />
BVerfGE 106, 62, 145 f.; BVerfG, 2 BvF 2/02 vom 27. Juli 2004,<br />
http://www.bverfg.de, Abs. 99 = BVerfGE 111, 226, 253). Auch zur Wahrung einer so<br />
verstandenen Rechtseinheit erscheint eine einheitliche Regelung des Vertriebs drogenverherrlichender<br />
Schriften im Bundesgebiet allerdings als zulässig. Denn eine<br />
unterschiedliche Regelung in den verschiedenen Ländern würde den Vertrieb solcher<br />
Schriften mit einer erheblichen Rechtsunsicherheit belasten.<br />
* Der "Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse" dient ein Gesetz<br />
nach Auffassung des BVerfG schließlich (nur) dann, wenn es um die Erhaltung<br />
der Funktionseinheit des Wirtschaftsraums durch bundeseinheitliche Rechtssetzung<br />
geht. Es muss um wirtschaftspolitisch bedrohliche oder unzumutbare Auswirkungen<br />
einer Rechtsvielfalt oder mangelnder gesetzlicher Regelung durch die Länder gehen.<br />
Hierbei ist davon auszugehen, dass wirtschaftliche Lagen im Grundsatz ebenso von<br />
den Ländern wie vom Bund reguliert werden können. Jedoch können unterschiedliche<br />
wirtschaftliche Regelungen die Verteilung der wirtschaftlichen (personellen und<br />
sachlichen) Ressourcen verzerren (BVerfG, 2 BvF 1/01 vom 24. Oktober 2002,<br />
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http://www.bverfg.de, Abs. 327 ff. = BVerfGE 106, 62, 146 ff.; BVerfG, 2 BvF 2/02<br />
vom 27. Juli 2004, http://www.bverfg.de, Abs. 100 = BVerfGE 111, 226, 254). Auch<br />
unter diesem Gesichtspunkt scheint eine bundeseinheitliche Regelung über die Verherrlichung<br />
des Drogengebrauchs als gerechtfertigt, weil durch eine unterschiedliche<br />
Regelung über den Vertrieb drogenverherrlichender Schriften für den betroffenen<br />
Bereich der Printmedien das Bundesgebiet als einheitlicher Wirtschaftsraum tangiert<br />
wird.<br />
Dementsprechend lässt sich auf der ersten Stufe feststellen, dass das DroGeInfVer-<br />
VerG der "Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse"<br />
dient.<br />
b) Ist das DroGeInfVerVerG zur "Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen<br />
Interesse" erforderlich ?<br />
Von der Frage, ob ein Gesetz einer der Zielvorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht,<br />
ist die Frage zu unterscheiden, ob eine bundeseinheitliche Regelung i.S.d.<br />
Art. 72 Abs. 2 GG auch "erforderlich" ist, um diese Zielvorgaben zu erreichen. Nach<br />
Auffassung des BVerfG ist dieses "Erforderlichkeitskriterium" als Grundsatz des geringstmöglichen<br />
Eingriffs in das Gesetzgebungsrecht der Länder zu verstehen<br />
(BVerfG, 2 BvF 1/01 vom 24. Oktober 2002, http://www.bverfg.de, Abs. 338 ff. =<br />
BVerfGE 106, 62, 149; Kenntner, NVwZ 2003, 821, 823 f.).<br />
Nicht entscheidend für die "Erforderlichkeit" ist damit, ob das Gesetz als solches<br />
als sinnvoll oder notwendig erscheint. Vielmehr ist darauf abzustellen, ob - wenn der<br />
politische Wille besteht, eine bestimmte Regelung überhaupt zu treffen - gerade eine<br />
bundeseinheitliche Regelung zur Erreichung (oder Beibehaltung) der Zielvorgaben<br />
des Art. 72 Abs. 2 n. F. GG "erforderlich" ist oder ob auch durch entsprechende Länderregelungen<br />
diese Zielvorgaben erreicht werden können (deutlich Lechleitner, Jura<br />
2004, 746, 749). Der "Erforderlichkeit" steht deshalb auch nicht bereits die Möglichkeit<br />
gleich lautender Landesgesetze entgegen, denn dies würde die konkurrierende<br />
Gesetzgebungskompetenz des Bundes letztlich gegenstandslos machen; außerdem<br />
könnte jedes der 16 Bundesländer nach In-Kraft-Treten gleichlautender Landesgesetze<br />
aus dem eine bundesgesetzliche Regelung hindernden Konsens ausscheiden.<br />
Da sich die "Erforderlichkeit" einer bundesgesetzlichen Regelung in diesem Sinne<br />
vielfach nur aufgrund von Prognosen bestimmen lässt, räumt das BVerfG dem Bundesgesetzeber<br />
in diesem Zusammenhang jedoch Einschätzungs- und Prognosespielräume<br />
ein. Die ordnungsgemäße Ausfüllung dieser Spielräume muss jedoch<br />
durch konkrete Tatsachen belegt werden. Auch in diesem Zusammenhang sollen<br />
reine Vermutungen und Spekulationen nicht ausreichen (BVerfG, 2 BvF 1/01 vom 24.<br />
Oktober 2002, http://www.bverfg.de, Abs. 341 ff. = BVerfGE 106, 62, 150 ff.; BVerfG,<br />
2 BvF 2/02 vom 27. Juli 2004, http://www.bverfg.de, Abs. 101 f. = BVerfGE 111, 226,<br />
254 f.; Kenntner, NVwZ 2003, 821, 823).<br />
Hier wird im Sachverhalt ausdrücklich hervorgehoben, dass die meisten Länder von<br />
sich aus keinen Anlass zur Pönalisierung der Verherrlichung des Drogengebrauchs<br />
sehen. Wenn also eine solche Regelung geschaffen werden soll, kann dies in einer<br />
Weise, die die Rechts- und Wirtschaftseinheit wahrt, von vornherein nur auf Bundes-<br />
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ebene geschehen. Damit ist das DroGeInfVerVerG auch i.S.d. Art. 72 Abs. 2 GG erforderlich.<br />
c) Ergebnis zu 2<br />
Da der Bund somit auch über die Gesetzgebungskompetenz zum Erlass des Dro-<br />
GeInfVerVerG verfügte, ist das Gesetz insgesamt formell verfassungsgemäß.<br />
3. Materielle Verfassungsmäßigkeit, insbesondere Verhältnismäßigkeit des Gesetzes<br />
Das DroGeInfVerVerG müsste auch materiell verfassungsmäßig sein. Hier kommt<br />
allenfalls ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsprinzip in Betracht.<br />
Das DroGeInfVerVerG müsste also zur Erreichung der mit ihm beabsichtigten Zwecke<br />
geeignet, erforderlich und angemessen (verhältnismäßig i.e.S.) sein.<br />
* Soweit das DroGeInfVerVerG dem Jugendschutz dienen soll, ist es geeignet. Jedoch<br />
erscheint im Hinblick auf diesen Zweck ein vollständiges Verbot der Verbreitung<br />
solcher Schriften nicht erforderlich. Vielmehr käme als milderes Mittel auch ein Verbot<br />
der Abgabe nur an Jugendliche in Betracht; etwa durch ein Verfahren ähnlich<br />
dem, wie es im Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und Medieninhalte<br />
vorgesehen ist.<br />
* Soweit das DroGeInfVerVerG dem Schutz der Volksgesundheit dienen soll, ist bereits<br />
fraglich, ob das Gesetz überhaupt geeignet ist, sein Ziel zu erreichen und wirklich<br />
der Volksgesundheit dient: Anhaltspunkte dafür, dass schon das bloße Verherrlichen<br />
des Drogenkonsums zu seiner Steigerung beiträgt, gibt es wohl nicht. Insoweit<br />
wird man aber dem Parlament noch einen Einschätzungsspielraum zubilligen können.<br />
Hält man das DroGeInfVerVerG noch zum Schutz der Volksgesundheit für geeignet,<br />
wird man es wohl auch für erforderlich halten müssen. Im Ergebnis kann dies<br />
jedoch dahingestellt bleiben, da das Gesetz jedenfalls nicht verhältnismäßig im engeren<br />
Sinne (angemessen) ist, da die Zweck-Mittel-Relation nicht stimmt. Bei der hier<br />
gebotenen Abwägung bezüglich der Zumutbarkeit des Eingriffs ist zu berücksichtigen,<br />
dass der Meinungsfreiheit gerade im hier betroffenen politischen Bereich<br />
schlechthin konstitutive Bedeutung für die demokratische Willensbildung zukommt.<br />
Die sachliche Reichweite gerade dieses <strong>Grundrechts</strong> darf damit nicht jeder Relativierung<br />
durch einfaches (allgemeines) Gesetz überlassen bleiben, sondern das allgemeine<br />
Gesetz (und seine Auslegung durch die Gerichte) muss dem besonderen<br />
Wertgehalt dieses Rechts Rechnung tragen (sog. Wechselwirkungslehre, siehe hierzu<br />
grundlegend BVerfGE 7, 198, 208 f. [Lüth-Urteil]).<br />
Berücksichtigt man diesen überragenden Stellenwert der Meinungsfreiheit, so wird<br />
erkennbar, dass ein Verbot der Verherrlichung des Drogenkonsums zum Schutz der<br />
Volksgesundheit nicht als zumutbar erscheint. Es ist davon auszugehen, dass es<br />
kein Verfassungsgebot gibt, Drogenkonsum unter Strafe zu stellen. Die entsprechenden<br />
Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes könnten daher in verfassungsmäßiger<br />
Weise jederzeit aufgehoben werden (soweit dem Schutz von Kindern<br />
und Jugendlichen genüge getan wird). Unter diesem Blickwinkel wäre es aber<br />
schlechthin unerträglich, wenn es in einer Demokratie dem Bürger nicht möglich wäre,<br />
Argumente für die Aufhebung einer Strafnorm vorzubringen bzw. "Stimmung" gegen<br />
die Existenz einer Strafnorm zu machen. Der Staat darf eine solche Diskussion<br />
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nicht durch Gesetz verbieten. Soweit tatsächlich negative Auswirkungen auf die<br />
Volksgesundheit und den Jugendschutz befürchtet werden, muss dem auf andere<br />
Weise (z.B. durch Aufklärungskampagnen) entgegnet werden.<br />
Dementsprechend ist das DroGeInfVerVerG insgesamt nicht verhältnismäßig und<br />
damit materiell verfassungswidrig.<br />
IV. Ergebnis zu B<br />
Das Gesetz ist daher zumindest nicht verhältnismäßig i.e.S. und verletzt deshalb die<br />
Alternative Aktion. e.V. in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG.<br />
C) Ergebnis<br />
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Die Verfassungsbeschwerde der Alternative Aktion e.V. ist somit zulässig und begründet.<br />
Das BVerfG wird nach § 95 Abs. 1 BVerfGG feststellen, dass das Gesetz<br />
die Alternative Aktion e.V. in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG verletzt und es nach § 95<br />
Abs. 3 BVerfGG für nichtig erklären<br />
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