II - CCA Monatsblatt
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Kultur Kultur<br />
Barock in der Chiquitania - die Neunte<br />
Der Motor unserer klapprigen Camioneta dröhnt mit jedem Kilometer<br />
lauter, vor uns die endlose rote Sandpiste, um uns herum menschenleeres<br />
Grün, zuweilen ein streunender Hund, und der kalte Sur pfeift. Wir sind<br />
auf dem Weg nach San Ignacio de Velasco, fünf Tage ganz weit weg von<br />
La Paz. Es ist wieder einmal Festival-Zeit in der Chiquitania, und wie<br />
einsam wir uns auf der Landstraße auch fühlen mögen – in den Dörfern<br />
und Städtchen ist jeder Restaurantbesitzer und jedes Schulkind auf den<br />
Beinen, um dieses nur alle zwei Jahre stattfindende Ereignis zu begleiten.<br />
Ganz offensichtlich ist das „Festival Internacional de Música<br />
Renacentista y Barroca Americana“ im 16. Jahr seines Bestehens von der<br />
Bevölkerung angenommen und zu etwas Eigenem gemacht worden. In<br />
San Javier schmückt die lokale Jugend schon Stunden vor dem Konzert<br />
die Kirche – erbarmungslos werden Palmenzweige an die hölzernen<br />
Säulen des Kirchenvorbaus gehämmert, um eine Bühne für die sich an<br />
das offizielle Programm anschließende Vorstellung der örtlichen Schule<br />
zu schaffen. Das Konzert des französischen „Ensemble Gilles Binchois“<br />
ist dann gepackt voll mit Einheimischen, unter denen sich die wenigen<br />
Touristen fast verlieren.<br />
Ein ganz anderes Bild in San Ignacio de Velasco – in dieser mit<br />
29.000 Einwohnern größten Stadt der Chiquitania sind die ausländischen<br />
Touristen sehr präsent, der Vertreter der Touristeninformation bittet uns<br />
mit herzlichem Lächeln in sein Büro und informiert uns über alles, was<br />
der Ort zu bieten hat – einschließlich des umfangreichen „Programa de<br />
actividades paralelas“, des „Nebenprogramms“ zu den Konzerten. Der<br />
Besitzer des Restaurants, in dem wir zu Abend essen, schwärmt, wie sehr<br />
sich San Ignacio entwickelt habe. In der Tat – es ist nicht zu übersehen, dass<br />
hier in den letzten Jahren ein wirtschaftlicher Aufschwung stattgefunden<br />
hat. Und auch hier sind die Plätze der großen (vor wenigen Jahren nach<br />
alten Plänen überwiegend neu errichteten) Kirche bereits eine halbe<br />
Stunde vor Konzertbeginn weitgehend besetzt; das Zentrum wimmelt<br />
von Kindern mit Instrumenten auf dem Rücken, die am nächsten Morgen<br />
in einer bolivianisch-französischen Koproduktion die von Piotr Nawrot<br />
rekonstruierte „Ópera San Ignacio“ aufführen sollen.<br />
Natürlich fehlt nicht das Lokalkolorit – die durch die Kirche streifenden<br />
Hunde, die Mutter, die gemeinsam mit ihrem Kind während des Konzerts<br />
die Musiker Musiker sein lässt und sich ausgiebig ihrem Handy widmet,<br />
das Fehlen des Konzertprogramms, das erst drei Tage nach Festival-Beginn<br />
eintrifft, das Cembalo, das bis Konzertbeginn leider – die Feuchtigkeit…<br />
- nicht mehr gestimmt werden konnte.<br />
Aber es gibt eben auch die zahlreichen Touristen, die einmal die Orgel<br />
von Santa Ana (die letzte noch erhaltene aus der jesuitischen Zeit) anfassen<br />
möchten und das auch dürfen, das Bürgertum von Santa Cruz, das geduldig<br />
Schlange steht, um einen Platz in der überfüllten Kirche San Roque zu<br />
erhalten, die aufgeregten Kinderchormitglieder, die abends um 23.00 Uhr<br />
noch zu einer letzten Probe auf der Plaza von San Ignacio erscheinen…<br />
Probenpause<br />
Ist dieses Festival ein Erfolg? - fragt man sich angesichts des enormen<br />
Aufwandes, mit dem hervorragende Ensembles aus Lateinamerika,<br />
den USA und Europa tagelang von Kirche zu Kirche gefahren werden,<br />
Instrumente beschafft und mühsam von einem Ort zum anderen transportiert<br />
werden müssen. Und das wohlgemerkt ohne entsprechende Einnahmen –<br />
alle Konzerte mit Ausnahme derer in Santa Cruz sind kostenlos, und nach<br />
Spenden wird eher schüchtern gefragt. Und dennoch – diese zwei Wochen<br />
des Ausnahmezustandes vermögen es offensichtlich, den Menschen vor<br />
Ort eine neue Identität, einen ganz besonderen Stolz auf ihr kulturelles<br />
Erbe zu vermitteln. Allein das lohnt vielleicht das Engagement – und ganz<br />
bestimmt eine Reise!<br />
Benita Schauer<br />
Boliviens Schokoladenseiten 76<br />
<strong>Monatsblatt</strong> 2/2012 <strong>Monatsblatt</strong> 2/2012<br />
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Boliviens Schokoladenseiten