Full Book (pdf) - von Katharina Mommsen
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First Edition 2004<br />
Printed in Egypt by Ithad Press<br />
ISBN 977-09-1123-2<br />
Einleitung<br />
"Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen",<br />
schrieb Goethe 1826 mitten im Schaffensprozeß am zwei<br />
ten Teil der Faust-Tragödie:<br />
Wer sich selbst und andre kennt<br />
Wird auch hier erkennen:<br />
Orient und Okzident<br />
Sind nicht mehr zu trennen.<br />
Die Worte "auch hier" zielen speziell auf Faust. Goe<br />
thes berühmteste Dichtung. Der 77-jährige Poet kannte<br />
"sich selbst" gut genug, um zu wissen, dass seine dichteri<br />
sche Phantasie während der rund sechs Jahrzehnte, die er<br />
an diesem Werk gearbeitet hatte, immer wieder durch den<br />
,Orient'- und das hiess in diesem Fall vor allem die arabi<br />
sche Welt - inspiriert worden war. Oft und gern hatte er<br />
sich beim schöpferischen Prozeß ,orientalischer' Mittel<br />
und Farben bedient, wie es sie vorher in westlicher Poesie<br />
nicht gegeben hatte. So kam es, dass sich im zweiten Teil<br />
des Faust westliche und typisch östliche Elemente völlig<br />
harmonisch miteinander verbinden.<br />
Mit Bezug auf Ost und West, Morgenland und Abend<br />
land gab es für Goethe kein Entweder-Oder. Beide Welten<br />
5
waren für ihn untrennbar. Als westlicher Dichter und<br />
Denker hielt er sich bewußt, wie viel geistigen Gewinn er<br />
dem ,Orient' zu verdanken hatte. Seiner Erkenntnis der<br />
Untrennbarkeit <strong>von</strong> Orient und Okzident, die der erste<br />
Vierzeiler bekundet, fUgte er darum noch vier weitere<br />
Verse hinzu, die an alle Menschen die Aufforderung rich<br />
ten, sich "zwischen Ost- und Westen" hin und her zu be<br />
wegen, ja sich zwischen beiden Welten "zu wiegen":<br />
Sinnig zwischen beiden Welten<br />
Sich zu wiegen lass' ich gelten:<br />
Also zwischen Ost- und Westen<br />
Sich bewegen, sei's zum Besten!<br />
Bei diesem sich zwischen beiden Welten Bewegen und<br />
Wiegen ist es allerdings wichtig, dass es "sinnig", d.h. mit<br />
Besonnenheit und Geist, mit Maß und Takt geschieht. Nur<br />
unter dieser Voraussetzung können die Verbindungen<br />
zwischen Ost- und Westen "zum Besten" gereichen.<br />
Mit diesen Versen erhebt der Altmeister Goethe seine<br />
eigene west-östliche Orientierung zum weitausschauenden<br />
Progranun. Das drücken auch die folgenden Verse aus, die<br />
er<br />
6<br />
auf die Rückseite einer Faust-Handschrift schrieb:<br />
So der Westen wie der Osten<br />
Geben Reines dir zu kosten.<br />
Laß die Grillen, laß die Schale,<br />
Setze dich zum großen Mahle:<br />
Mögst auch im Vorübergehn<br />
Diese Schüssel nicht verschmähn.<br />
Hier richtet Goethe die Aufforderung an seine Lands<br />
leute, sich getrost zum großen Mahle der Weltliteratur zu<br />
setzen und auch an der ungewolmten "Schale", dem Äuße<br />
ren orientalischer Dichtung, keinen Anstoß zu nelunen,<br />
sondern sich an der "Reine" des Gehalts zu erfreuen.<br />
Goethe war es wie wenigen Deutschen bewußt, welchen<br />
großen Anteil die arabische Kultur, insbesondere ihre Po<br />
esie , an der deutschen und an der Weltliteratur hatten. Er<br />
erkannte mit großer Offenheit und Dankbarkeit die unge<br />
heure Bereicherung an, die Europa durch den ,Orient'<br />
erfahren hatte. Heute gilt es, sich dieser kulturellen Dan<br />
kesschuld erneut zu erinnern und die Verdienste der Ara<br />
ber um die Weltliteratur angemessener zu würdigen, als<br />
es bisher geschehen ist.<br />
In dieser Weltphase der Konfrontationen zwischen dem<br />
Islam und der westlichen Welt ist es deshalb auch an der<br />
7
züge in Richtung Jerusalem zu feindlichen Berührungen<br />
mit oftmals schrecklichen Folgen kam. Doch hatten diese<br />
mittelalterlichen Überfalle auch positive Auswirkungen,<br />
insofern als seit damals arabische Stoffe und literarische<br />
Formen durch spielmännische Träger in die deutsche<br />
Spielmanns- und Heldenepik eindrangen. Aus der um<br />
fangreichen Fachliteratur zu diesem Thema weiß man<br />
z.B., dass sich in Wolfram <strong>von</strong> Eschenbachs großer Hel<br />
denepik Arabica befinden oder dass Heinrich Frauenlob<br />
die Rahrnenhandlung aus 1001 Nach! verwendete. Man<br />
weiß auch, dass seit den Kreuzzügen in der Spielmanns<br />
epik ein märchenhaftes Erzählen mit spürbarer Freude am<br />
Fabelhaften und Wunderbaren aufkam, und dass es dort<br />
plötzlich <strong>von</strong> Anklängen an Stoffe, Märchenmotive und<br />
erzählerische Mittel wimmelt, wie sie sich in frühen arabi<br />
schen 1001 Nacht-Handschriften finden. Ins allgemeine<br />
Bewusstsein aber sind solche Tatsachen nie gedrungen.<br />
Die Deutschen wie auch die anderen europäischen Völker<br />
- mit Ausnahme der Spanier - haben ihre kulturelle Dan<br />
kesschuld gegenüber den Arabern aus ihrem kollektiven<br />
Gedächtnis getilgt. Das sogenannte ,christliche Abend<br />
land' hat sich, eben weil es sich als ,christlich' definierte,<br />
10<br />
seit Jahrhunderten dagegen gesträubt, den Einfluss islami<br />
scher Kultur, islamischen Geistes auf die eigene Kultur<br />
zur Kenntnis zu nehmen, man hat ihn schlichtweg geleug<br />
net.<br />
Allerdings gab es Ausnahmen, die unsere Aufmerk<br />
samkeit verdienen. Da ist vor allem Gotthold Ephraim<br />
Lessing (1729-1781) zu rühmen, der in seinem Drama<br />
Nathan der Weise (1779) die drei Religionen der Juden,<br />
Christen und Muslimen als gleichberechtigt nebeneinan<br />
der gestellt und diese tolerante Auffassung auch in vielen<br />
anderen Schriften vertreten hatte. Und da ist Johann Gott<br />
[ried Herder (1744-1803), der obwohl zum prote<br />
stantischen Geistlichen ausgebildet, doch als Kulturhisto<br />
riker ebenso unvoreingenommen wie mutig in einer Preis<br />
schrift <strong>von</strong> 1778 Über die Wirkung der Dichtkunst auf die<br />
Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten erklärte:<br />
Als Araber einen Teil Europens überschwemmten und<br />
Jahrhunderte darin wohnten, konnten sie nicht anders als<br />
Spuren, wie ihrer Dichtkunst, so auch ihrer Wis<br />
senschaften ... lassen. Durch ... die Dichtkunst haben sie<br />
vielleicht · so viel gewirkt, als durch die Wissenschaften,<br />
die wir fast alle aus ihren Händen empfingen ...<br />
11
Osten als einen Quellgrund europäischer Kultur dar. Be<br />
dauerlicherweise wurde diese Humboldtsche Schrift bis<br />
heute noch in keine andere Sprache übersetzt - auch nicht<br />
ins Arabische. Es würde sich lohnen, sie der Vergessen<br />
heit zu entreißen. Die Kenntnis und Verbreitung .dieses<br />
Textes und all dessen, was Autoren wie Lessing, Herder<br />
und Goethe über die Araber wußten, könnte helfen, den<br />
Vorurteilen entgegenzuwirken, die sich seit dem 17. Jh.<br />
entwickelten und sich bis heute im Lesepublikum erhalten<br />
haben. Damals fachten barock illustrierte tendenziöse<br />
Schilderungen <strong>von</strong> Despotismus, Grausamkeit, Oda<br />
liskenwesen, Prunk und ungeheurem Reichtum über<br />
schwängliches Interesse an einem Pseudo-Orient an, das<br />
der Sensationslust und Voreingenommenheit der Leser<br />
entgegen kam. Solche publikumswirksame Klischeehaf<br />
tigkeit blieb keineswegs auf das 17. Jahrhundert be<br />
schränkt, sondern ging bis in WIsere Tage in vielfältiger<br />
Weise in die Trivialliteratur ein, in der sich solche kli<br />
scheehaften Vorstellungen verfestigten. Als Beispiel sei<br />
Kar! May angeführt, der die arabische Welt nicht aus ei<br />
gener Anschauung kannte, als er sein dem Envartungsho<br />
rizont jugendlicher Konsumenten angepasstes Lesefutter<br />
14<br />
zusammenphantasierte, das ihm eine Auflagenhöhe <strong>von</strong><br />
43 Millionen sicherte. Sowohl ein Blick auf die Darstel<br />
lung der arabischen Muslime bei Karl May als auch ein<br />
Gesamtüberblick über die Behandlung der Araber in der<br />
deutschen Literatur ergibt, dass Fairness äußerst selten<br />
war und ist. Sie findet sich nur bei Autoren wie Lessing,<br />
Herder, Goethe, Rückert, Alexander <strong>von</strong> Humboldt und<br />
einigen anderen, die ebenso kundig wie nobel waren.<br />
15
Die Entdeckung der ar'abischen Dichtung<br />
Was wussten und wissen die deutschen Autoren <strong>von</strong> den<br />
Arabern und ihrer Literatur? Zu Beginn des 18. Jahrhun<br />
derts gelangte erstmals ein authentisches Werk arabischer<br />
Literatur nach Europa, allerdings in französierter Form: es<br />
war die J001-Nacht-Übersetzung des französischen Orien<br />
talisten Antoine Galland (1646-1715). Von Frankreich aus<br />
nahm 1001 Nacht seinen Siegeslauf durch die ganze Welt.<br />
Denn nächst der Bibel gab es wenige Bücher, die eine so<br />
große Verbreitung erlangten und so weit umherwanderten,<br />
wie diese arabische Sammlung märchenhafter Erzäh<br />
lungen. Zum Teil gewann sie direkt Bedeutung, insofern es<br />
in den meisten Kulturländern kaum Menschen gibt, die<br />
nicht wenigstens ein Mal in ihrem Leben mit Freude und<br />
Interesse 1001 Nacht gelesen und daraus eine Reihe phan<br />
tusievoller Vorstellungen in sich aufgenommen haben, zum<br />
'feil indirekt, insofern ein Dichtergeschlecht nach dem an<br />
dem kam, seinen Stoff daraus zu holen und aus dieser un<br />
versiegbaren Quelle zu schöpfen. Die Bezauberung durch<br />
dies Meisterwerk arabischer Erzählkunst war so groß, daß<br />
17
zieht auch der stereotyp behaupteten Geringschätzung der<br />
Frauen in der arabischen Welt den Boden.<br />
Übrigens spielt 1001 Nacht nicht in irgendeinem traumt<br />
haften Utopien, wo die Menschen nur Interesse gewinneIl<br />
durch das Maß des Zaubers, der sich an ihnen vollzieht. His ..<br />
torisch und geographisch einigermaßen bestimmbarer Bodenl<br />
ein geschlossen wirkendes Kulturmilieu bildet den Schau ..<br />
platz. Ein Milieu, an dessen Gestaltung noch Kräfte des<br />
Geistes, der Ratio wesentlichen Anteil hatten. Geist und Ver·<br />
nunft beeinflussen die Bestimmung der Werte. Das gilt nich1<br />
nur für den Bereich der Bildung sondern auch für den der<br />
Moral. Der arabische Volkserzähler war zugleich Erzieher<br />
und so ist es eine Welt der moralischen Ordnung, an die das<br />
Fabulieren der Scheherazade glauben machen will.<br />
Was die deutschen Dichter an 1001 Nacht faszinierte, hatl<br />
niemand besser zum Ausdruck gebracht als Hugo <strong>von</strong> Hof·<br />
mannsthai (1874-1929) in seinem 1001 Nacht-Essay <strong>von</strong><br />
1906. Über seine eigene frühere 1001 Nacht-Lektüre berich<br />
tet er dort:<br />
22<br />
In der Jugend unseres Herzens, in der Einsamkeit<br />
unserer Seele fanden wir uns in einer sehr großen<br />
I<br />
Stadt, die geheimnisvoll und drohend und verlockend<br />
war, wie Baghdad und Basra ... wie glichen<br />
wir diesen weit <strong>von</strong> der Heimat verirrten Prinzen,<br />
diesen Kaufmannssähnen, deren Vater gestorben ist<br />
und die sich den Verführungen des Lebens preisgeben,<br />
wie meinten wir ihnen zu gleichen!<br />
Als Ergebnis erneuter IDOl-Nach/-Lektüre in späteren<br />
I.cbensphasen teilt Hofmannsthai die folgenden Erkenntnisse<br />
III i t:<br />
Hier ist ein Gedicht, woran freilich mehr als einer<br />
gedichtet hat; aber es ist wie aus einer Seele heraus,<br />
es ist ein Ganzes, es ist eine Welt durchaus. Und<br />
was für eine Welt! Der Homer mächte in manchen<br />
Augenblicken daneben farblos und unnaiv erscheinen.<br />
Hier ist eine Buntheit und TiefsiIm, Überschwang<br />
der Phantasie und schneidende Weltweisheit;<br />
hier sind unendliche Begebenheiten, Träume,<br />
Weisheitsreden, Schwänke, Unanständigkeiten, Mysterien;<br />
hier ist die kühnste Geistigkeit und die voll·<br />
kommenste Sinnlichkeit in eins verwoben Es ist<br />
kein Sinn in uns, der sich nicht regen müsste, vom<br />
obersten bis zum tiefsten; alles, was in uns ist, wird<br />
hier belebt und zum Genießen aufgerufen... Wir<br />
bewegen uns aus der höchsten in die niedrigste<br />
Welt, vom Kalifen zum Barbier, vom armseligen Fischer<br />
zum fürstlichen Kaufherm, und es ist eine<br />
Menschlichkeit, die uns umgibt, mit breiter, leichter<br />
Woge W1S hebt und trägt; wir sind unter Geistern,<br />
unter Zauberern, unter Dämonen und fühlen uns<br />
wiederum zu Hause ...<br />
23
purgisnacht nie gelungen, die auch zahlreiche Einzelmo<br />
tive aus 1001 Nacht aufweist. Kein Wunder, dass Scheher<br />
azade durch den Mund des Kaisers als "Meisterin" gehul<br />
digt wird. Für Goethe war 1001 Nacht ein Lebensbuch, das<br />
zu den wenigen auserlesenen Hervorbringungen der Weltli<br />
teratur gehörte wie die Bibel, Homer, Plutarch, Shake<br />
speare und Moliere, mit denen er sich in periodischer Wie<br />
derkehr bis zum Lebensende beschäftigte.<br />
Im klassischen Weimar Goethes und Herders wusste man<br />
mehr <strong>von</strong> den Metropolen arabischer Kultur und den geisti<br />
gen Hervorbringungen der Araber, als man sich heute vor<br />
stellen kann. Ihren Briefen ist auch zu entnehmen, wie er<br />
staunlich viele Menschen ihrer Umgebung an der benach<br />
barten Universitätsstadt Jena Arabisch lernen wollten und<br />
mit welchem Interesse man die Reisen <strong>von</strong> Zeitgenossen in<br />
arabische Länder verfolgte.<br />
Als Goethe im West-östlichen Divan erklärte: "Für Lie<br />
bende ist Bagdad nicht weit", besaß er bereits eine erstaun<br />
liche Vertrautheit mit dieser kulturell so bedeutsamen Stadt,<br />
die auf gründlicher Beschäftigung mit ihrer Geschichte ba<br />
sierte, speziell mit Bagdads glänzendster Epoche in der, wie<br />
er in den Noten und Abhandlungen zum Divan berichtet,<br />
26<br />
"die Barmekiden Einfluss hatten zu Bagdad, die das heilige<br />
Feuer der Dicht- und Redekunst bewahrten, aber auch durch<br />
ihre Welt-Klugheit und Charakter-Größe einen hohen Rang<br />
in der politischen Sphäre behaupteten."<br />
Die sprichwörtliche Redensart der Araber "schön wie die<br />
Zeit der Barmekiden" machte Goethe sich ganz zu eigen. Er<br />
erläuterte sie in einem merkwürdig sibyllinischen Aus<br />
spruch als eine "Zeit lokalen, lebendigen Wesens und Wir<br />
kens, <strong>von</strong> der man, wenn sie vorüber ist, nur hoffen kann,<br />
daß sie nach geraumen Jahren an fremden Orten unter älmli<br />
ehen Umständen vielleicht wieder aufquellen werde:'<br />
Schon im Vorspruch zum West-östlichen Divan spielt<br />
Goethe indirekt auf Bagdad an und setzt diese ihm als Stätte<br />
hoher Bildung bekannte arabische Stadt in Bezug zu Wei<br />
mar. Er wusste, dass Bagdad besonders gute Bildungsanstal<br />
ten besaß und erwälmte z.B. in der Lebensdarstellung des<br />
persischen Dichters Saadi (1189-1291), dass dieser <strong>von</strong><br />
Schiras aus "zum Studium nach Bagdad ging". Goethes<br />
Interesse für das Bagdad seiner eigenen Tage geht u.a. dar<br />
aus hervor, dass er zugab, den in Bagdad residierenden<br />
sprachenkundigen Engländer D.C, Rich um seine dort er<br />
worbene Sammlung arabischer Kalligraphien zu beneiden.<br />
27
Mit spürbarer Sympathie berichtete Goethe auch da<strong>von</strong>, wie<br />
es den Orientreisenden Pietro della Valle (1586-1652) nach<br />
Bagdad zog, wo er eine begehrenswerte Frau, <strong>von</strong> der er<br />
schon in Georgien hatte erzählen hören, so lange umwarb,<br />
bis sie einwilligte, ihn zu heiraten, d.h. die Frau eines römi<br />
schen Edelmannes zu werden, Doch als Goethe den Vers<br />
"Für Liebende ist Bagdad nicht weit" schrieb, knüpfte er<br />
damit weder an 1001 Nacht noch an Pietro della Valles Lie<br />
besgeschichte an, sondern an Verse des türkischen Dichters<br />
Nedschati:<br />
Wenn's <strong>von</strong> dir bis zur Geliebten so weit seyn<br />
sollte, als vom Orient bis Occident,<br />
So lauf nur, 0 Herz, denn für Liebende ist Bagdad<br />
nicht weit.<br />
Diese Verse verwandelte Goethe in ein Liebesgedicht für·<br />
,Suleika', das im Buch Suleika des West-östlichen Divans<br />
steht:<br />
28<br />
Bist du <strong>von</strong> deiner Geliebten getrennt<br />
Wie Orient vom Okzident<br />
Das Herz durch alle Wüsten rennt;<br />
Es gibt sich überall selbst das Geleit,<br />
Für Liebende ist Badgdad nicht weit.<br />
Bekanntlich verbarg Goethe hinter dem arabischen<br />
Decknamen Suleika die geliebte Frau seines Frankfurter<br />
Freundes Johann Jakob Willemer: die hochbegabte Sänge<br />
rin und Dichterin Mariane Willemer. In seiner Phantasie<br />
versetzte er die im Divan besungene Geliebte ins Zwei<br />
stromland des Euphrat und Tigris und beim Gedanken an<br />
Bagdad erschien es ihm damals, "als wenn die Luft dorther<br />
mit Rosenduft und Ambrageruch geschwängert wäre". In<br />
Suleikas Liebesdialogen mit ,Hatern', dem arabischen<br />
Pseudonym für Goethe selber, wurde Bagdad zum immer<br />
wieder beschworenen Sehnsuchtsort erhoffter Wieder<br />
begegnung, zur Stätte der Heilung <strong>von</strong> Liebesschmerz. Die<br />
Frage, warum gerade Bagdad den an Liebesschmerz Er<br />
krankten HeilÜng bringen soll, findet ihre Erklärung in der<br />
arabischen Redewendung: "Theriak aus Bagdad holen", der<br />
die Tatsache zugrunde lag, dass in Bagdad der beste Theri<br />
ak, die wirkungsvollste Medizin gegen Schlangenbiss, her<br />
gestellt wurde. Goethe wusste das: Ein Zettel in seinem<br />
Nachlass enthält den lakonischen Satz: "Eh man Theriak<br />
<strong>von</strong> Bagdad holt, ist der Kranke längst verschieden."<br />
29
In Weimar entzückte man sich nicht nur an arabischer<br />
Erzählkunst, man interessierte sich auch für arabische<br />
Sprichwörter, <strong>von</strong> denen der geniale, auch <strong>von</strong> Lessing<br />
hochgerülunte Arabist Johann Jakob Reiske (1716-1774)<br />
Proben in deutscher Sprache gegeben hatte. Inzwischen sind<br />
etwa fünfzehntausend arabische Sprichwörter <strong>von</strong> Orienta<br />
listen in europäische Sprachen übersetzt worden. Doch ihre<br />
Wirkung aufs Publikum kann sich nicht vergleichen mit<br />
dem Interesse, das Herder und Goethe solchen volkstümli<br />
chen Geistesprodukten der Araber entgegengebrachten. Die<br />
Existenz eines so überragenden Arabisten wie Reiske trug<br />
sicherlich sehr dazu bei, dass sich die Gebildeten in der 2.<br />
Hälfte des 18. Jahrhunderts für arabische Literatur interes<br />
sierten. Reiskes Kenntnisse des Arabischen waren so phä<br />
nomenal, dass der Arabienreisende Carsten Niebuhr (1733-<br />
1815) behauptete, Reiske könne Texte entziffern und erläu<br />
tern, die selbst den arabischen Gelehrten damaliger Zeit ver<br />
schlossen seien. Wie dem auch sei. Deutschland brachte<br />
damals und später ganz außergewöhnliche Orientalisten her<br />
vor, die sich mit Überzeugung für die arabische Literatur<br />
einsetzten. Man denke nur an den genialen Friedrich Rü-<br />
30<br />
rkcrt (1788- I 866) oder an die begnadete Orientalistin unse<br />
rer Tage Annemarie Schimmel (1922-2003).<br />
Was weiss und wusste man in Deutschland <strong>von</strong> arabi<br />
schen Dichtern? Welche arabischen Dichter kannte und<br />
kennt man? Als Goethe zum Studium nach Leipzig ging,<br />
war dort gerade Reiskes Übersetzung erotischer Gedichte<br />
des arabischen Dichters Mutanabbi (915-965) erschienen.<br />
I >Cr 16-jährige Goethe war da<strong>von</strong> so beeindruckt, dass sich<br />
eine Spur da<strong>von</strong> noch im Faust findet. Als er später den<br />
West-östlichen Divan schuf, beschäftigte er sich erneut mit<br />
Mutanabbis Gedichten und auch mit dessen faszinierender<br />
I,ebensgeschichte.<br />
Goethe war sich mit Herder einig über die spezielle Affi<br />
nität der Araber zur Dichtkunst.<br />
Iierder hatte schon 1778 erklärt:<br />
Von jeher waren die Araber Dichter, ihre Sprache<br />
und Sitten waren Imter und zu Gedichten gebildet.<br />
Sie lebten in Zelten, bei immerwährender Bewegung<br />
und Veränderung, unter Abentheuern und dabei<br />
in sehr einförmigen, aber mässigen Sitten, kurz,<br />
ganz in dichterischer Natur. Statt der Kronen rülunten<br />
sie sich der Turbane, statt der Mauern ihrer Zel-<br />
31
te, ihrer Schwerter statt der Schanzen und statt bürr<br />
gerlicher Gesetze ihrer Gedichte.<br />
Aus dem gleichen arabischen Sprichwort, das diesel<br />
Herderschen Verlautbarung zugrunde lag, schuf GoethCl<br />
später das Divan-Gedicht<br />
Vier Gnaden<br />
Daß Araber an ihrem Teil<br />
Die Weite froh durchziehen<br />
Hat Allah zu gemeinem Heil<br />
Der Gnaden vier verliehen.<br />
Den Turban erst, der besser schmückt<br />
Als alle Kaiserkronen,<br />
Ein Zelt, das man vom Orte rück1<br />
Um überall zu wohnen.<br />
Ein Schwert, das tüchtiger beschützt<br />
Als Fels und hohe Mauem,<br />
Ein Liedehen, das gefallt und nützt,<br />
Worauf die Mädchen lauem ...<br />
Bemerkenswerterweise war Herder der Auffassung, dassi<br />
,<br />
Gedichte <strong>von</strong> jeher mehr auf die Sitten der Araber gewirktl<br />
hätten als Gesetze vielleicht je auf Sitten wirken können.1<br />
Von den Gedichten der Araber erklärte er. sie seien:<br />
32<br />
ein Abdruck ihrer Denkart, ihres Lebens. Sie atmen<br />
Ununterwürfigkeit und Freiheit. sind voll des Abenteuergeistes,<br />
der Ehre zu Unternehmungen, des<br />
Muts, der so oft in unauslöschliche Rachsucht gegen<br />
die Feinde, als Treue gegen die Freunde und<br />
Bundesgenossen ausbrach. Ihr Ziehen und Entfernen<br />
hat den Abenteuergeist auch in der Liebe<br />
geboren, verliebte Klagen samt männlichem<br />
Mut.. . Lange vor Mohammed waren sie Dichter.<br />
In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der<br />
Mellschheit schrieb Herder um 1785:<br />
Den Arabern galt ihre Sprache als ihr edelstes Erbteil<br />
... Die Dichtkunst war ihr altes Erbteil, eine<br />
Tochter. .. der Freiheit. Lange vor Mohammed hatte<br />
sie geblühet: denn der Geist der Nation war poetisch,<br />
und tausend Dinge enveckten diesen Geist.<br />
Ihr Land, ihre Lebensweise, ihre Wallfahrten nach<br />
Mekka, die dichterischen Wettkämpfe zu Okhad,<br />
die Ehre, die ein neuaufstehender Dichter <strong>von</strong> seinem<br />
Stamme erhielt, der Stolz der Nation auf ihre<br />
Sprache, auf ihre Sagen, ihre Neigung zu Abentheuern,<br />
zur Liebe, zum Ruhm: selbst ihre Einsamkeit,<br />
ihre Rachsucht, ihr wanderndes Leben, alles<br />
dies munterte sie zur Poesie auf, und ihre Muse hat<br />
sich durch prächtige Bilder, durch stolze und große<br />
Empfindungen durch scharfsinnige Sprüche und<br />
etwas Unermeßliches im Lobe und Tadel ihrer besungenen<br />
Gegenstände ausgezeichnet.<br />
I" leidenschaftlichem Enthusiasmus fahrt Herder fort:<br />
33
Goethes KOTa11-Studien<br />
Das Poetische, das Goethe und andere Schriftsteller seiner<br />
Zeit in der arabischen Sprache gewahrten, begründete auch ihr<br />
Interesse am Koran. Herder sprach <strong>von</strong> dieser heiligen Schrift<br />
eies Islam als einem "MeIsterstück <strong>von</strong> Dichtkunst", mit dem<br />
der Prophet "alle Dichter zum Wettkampf vOITief' und be<br />
I'.cichnete den Islam als "Poetische Religion". Das erscheint<br />
weniger verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Herder -<br />
ehenso wie Goethe - <strong>von</strong> der Bibel als ältester Sammlung<br />
orientalischer Poesie sprach.<br />
Jedem Muslim ist es eine vertraute Vorstellung, dass der<br />
Koran vom Engel Gabriel als dem Sprecher Gottes zum Pro<br />
pheten Mohammed "herabgekommen" ist, und auch dass Mo<br />
hummed kein Dichter, kein professioneller Intellektueller war,<br />
Nondern vermutlich weder lesen noch schreiben konnte. Diese<br />
Reinheit <strong>von</strong> allem intellektuellem Wissen war die Vorausset<br />
/IIng, um zum unbefleckten Gefäß rur das ihm anvertraute<br />
Wort zu werden, das er in völliger Reinheit weiterzugeben<br />
hatte. Der syrisch-libanesische Dichter Adonis erinnerte noch<br />
IInlängst daran, dass der Koran bereits in seiner mündlichen<br />
hlrm <strong>von</strong> den Arabern "als sprachlicher Schock" empfunden<br />
39
arn nächsten, nur übersetzte er leider nicht· den gesamten<br />
Koran.<br />
In den Noten und Abhandlungen zum Divan <strong>von</strong> 1819<br />
pries Goethe den Stil des Korans als "streng, groß,<br />
furchtbar, stelfenweis' wahrhaft erhaben" . Doch schon als<br />
junger Mann warb er um Verständnis für die islamische<br />
Religion. Das zeigt nicht nur die bereits erwähnte Rezension<br />
<strong>von</strong> Megerlins Koran-Übersetzung. Es geht vor allem aus<br />
dem leider nur in Fragmenten überlieferten Mahomet<br />
Drama hervor, <strong>von</strong> dem weiter unten die Rede sein soll.<br />
Über vier Jahrzehnte später folgten die Dialoge des West-<br />
östlichen Divans, die Goethes jugendliche Auseinan-<br />
dersetzung mit dem Islam noch einmal auf breiterer Basis<br />
fortsetzten.<br />
Gekennzeichnet waren Goethes Bemühungen um einenl<br />
sinnvollen Dialog der westlichen Welt mit der großen Wel-·<br />
treligion des Islam zu allen Zeiten durch einen fundamen-,<br />
talen Respekt. Dass dieser Respekt ein ganz wesentliches<br />
Element seiner Beziehungen zur islamischen Welt war, soll<br />
hier nur an wenigen Beispielen verdeutlicht werden: Als<br />
Goethe mit 22 Jahren leidenschaftlich um Freisetzung seiner<br />
dichterischen Kräfte rang. bekannte er in einem Brief an<br />
42<br />
i<br />
I<br />
Herder:"Ich möchte beten wie Moses im Koran: Herr mache<br />
mir Raum in meiner engen Brust." Goethe zitiert hier die<br />
20. Sure des Korans. Was inhaltlich gemeint ist, wird ver<br />
ständlicher, wenn man die Fortsetzung jenes Spruches liest,<br />
wie Goethe sie damals etwa gleichzeitig in seinen Koran<br />
Auszügen notierte. Da heißt es: ,,0 mein Herr mache mir<br />
Raum in meiner engen Brust, mache mir auch mein<br />
Geschäft leicht. Löse auch das Band <strong>von</strong> meiner Zunge."<br />
Dass Goethe sich auf den Koran berief, als es ihm um etwas<br />
so Zentrales wie seine eigene poetische Sendung ging, wirft<br />
schlagartig ein Licht darauf, welchen persönlichen Welt das<br />
heilioe Buch des Islam schon damals rur ihn besass. Ein<br />
b<br />
halbes Jahrhundert später bekatmte der 70-jährige Dichter in<br />
ltller Öffentlichkeit, dass er sich mit dem Gedanken trage,<br />
"ehrfurchtsvoll jene heilige Nacht zu feiem, wo der Koran<br />
vollständig dem Propheten <strong>von</strong> obenher gebracht ward."<br />
Nicht <strong>von</strong> ungefähr erinnert seine Wortwahl - "ehr<br />
furchtsvoll", "heilige Nacht", "<strong>von</strong> obenher" -an die Worte,<br />
Illil denen die Christenheit zu Weihnachten die Geburt des<br />
I lei lands feiert.<br />
Ohne Zweifel unterscheidet sich Goethes Wortwahl<br />
vlllI1dlegend <strong>von</strong> der Sprache, in der die westliche Welt<br />
43
gemeinhin vom Islam spricht. Im Gegensatz zu Moham<br />
med und den Muslimen, die die heiligen Bücher der Juden<br />
und Christen respektieren, zeigt die westliche Welt nicht<br />
den gleichen Respekt gegenüber dem Koran. Goethe sah<br />
und verehrte in der Offenbarung des Korans an den Pro<br />
pheten Mohammed das Wirken göttlicher Vorsehung in<br />
der Menschheitsgeschichte, so wie er es im Alten und<br />
Neuen Testament und in anderen Religionen anerkannte.<br />
Ehrfurcht ist nicht denkbar ohne Wissen. Goethe hatte <strong>von</strong><br />
Jugend an den Koran studiert und damit ein christliches<br />
Beispiel gegeben, dem leider nur allzu wenige gefolgt<br />
sind.<br />
Goethes Koran-Auszüge <strong>von</strong> 1771172, <strong>von</strong> denen etwa<br />
zwei Dutzend Verse erhalten geblieben sind, zeigen ganz<br />
deutlich persönliche Wertschätzungen, die über das Tole<br />
ranzbestreben der Aufklärungsbewegung weit hinausgehen.<br />
Sie weisen auf Aspekte des Islam hin, die damals seine be·<br />
sondere Sympathie erregten durch ihm einleuchtende, sei<br />
nem eigenen Fühlen und Denken verwandte Gesinnungen.<br />
Goethes Aufzeichnungen, bestehend aus einer Anzahl <strong>von</strong>'<br />
Blättern mit eigenhändigen Auszügen aus der Megerlin-<br />
_ I<br />
schen Ubersetzung und aus dem lateinischen Koran des<br />
44<br />
Maraccius, gehen aus VOll der 2. Sure, die bis ins hohe Alter<br />
Goethes Lieblingssure blieb: Zunächst notiert er den in Vers<br />
106 ausgesprochenen schönen Gedanken: "Gewiss! Wer<br />
sein Angesicht zu Gott völlig wendet, und dabei Gutes tut,<br />
der wird seinen Lohn haben bei Gott seinem Herrn und über<br />
solche wird keine Furcht kommen noch werden sie betrübt<br />
werden." Gefolgt wird dies Zitat vom 109. Vers der 2. Su<br />
re, der die ganz Goethesche Grundüberzeugung zum Aus<br />
druck bringt, dass Gott sich in der Natur offenbart: "Gott<br />
gehört der Aufgang und der Niedergang der Sonne, und wo<br />
hin ihr euch wendet, ist Gottes Angesicht da."Nach Über<br />
springung <strong>von</strong> 50 Versen knüpft Goethe wieder an das<br />
Thema der Offenbarung Gottes in der Natur an mit dem<br />
Zitat (V. 159): "Er hat Zeichen genug da<strong>von</strong> gegeben, in der<br />
Schöpfung der Himmel und der Erden, in der Abwechslung<br />
der Nacht und des Tags, in diesem allem sind Zeichen ge<br />
nug seiner Einigkeit und Gütigkeit für die Völker, die sie<br />
mit Aufmerksamkeit betrachten wollen."<br />
Diese Verse, wie auch zahlreiche andere des Korans,<br />
führen die Unvergleichlichkeit Aliahs vor Augen - jenseits<br />
IIlIer anthropomorphen Gottesvorstellungen. In der Regel<br />
mäßigkeit und Periodizität der Naturerscheinungen sind<br />
45
"Weiter sagen einige Ungläubige <strong>von</strong> dir: Ist denn nicht<br />
ein Wunderzeichen <strong>von</strong> seinem Herrn über ihn herabge<br />
schickt worden? Doch du bist nur ein Prediger und ist<br />
einem jeden Volk sein Lehrer zur Unterweisung gegeben<br />
worden." Für diesen Gedanken, der sich auch in Sure 14<br />
(V. 4) findet, hat Goethe zeitlebens eine besondere Vor<br />
liebe gehabt. So wenn er noch 1819 in einem Brief an<br />
einen jungen Gelehrten zitiert: "Es ist wahr, was Gott im<br />
Koran sagt: Wir haben keinem Volk einen Propheten ge<br />
schickt, als in seiner Sprache." Oder in einem Brief an<br />
Thomas Carlyle vom Jahr 1827: "Der Koran sagt: Gott<br />
hat jedem Volke einen Propheten gegeben in seiner eignen<br />
Sprache."<br />
Die Koran-Verse m Goethes Exzerpten, die da<strong>von</strong><br />
sprechen, dass die Ungläubigen <strong>von</strong> Mohammed Wunder<br />
zeichen erwarteten, haben auf Goethe lange nachgewirkt.<br />
Noch in der Divan-Epoche spielte er darauf an, als er die<br />
Verse schrieb:<br />
48<br />
Wunder kann ich nicht tun sagt der Prophete,<br />
Das größte Wunder ist daß ich bin.<br />
Der Prophet<br />
Goethes Koran-Studien <strong>von</strong> 1771 und 1772 inspirierten<br />
ihn vor allem zur Konzeption eines Mahomet-Dramas,<br />
<strong>von</strong> dem jedoch leider nur noch einige Kempartien erhal<br />
ten geblieben sind. Mit diesem Drama stellte der junge<br />
Goethe sich in Opposition zu dem damals populären<br />
Bühnenwerk Le Fanatism ou Mahomet le Prophete <strong>von</strong><br />
Franyois Marie Arouet Voltaire (1694-1778). Schon als<br />
Leipziger Student hatte Goethe seiner Schwester Cornelia<br />
verboten, an einer Liebhaberaufführung des bereits 1742<br />
erschienenen Voltaireschen Stückes mitzuwirken, das<br />
gekennzeichnet ist durch eine verständnislos böse, ja ge<br />
hässige Darstellung des Propheten. (Mit der Namensbe<br />
zeichnung Mahomet übernahnl Goethe die auch <strong>von</strong> Vol<br />
taire gebrauchte französische Form.)<br />
Die Eingangsszene <strong>von</strong> Goethes Mahome/-Drama<br />
zeigt das Erweckungserlebnis des jugendlichen Helden,<br />
die 2. Szene sein Bemühen, andem Menschen seine eige<br />
ne Gottesvorstellung begreiflich zu machen. Damals schuf<br />
Goethe auch das wundervolle Preislied Mahomets Ge-<br />
49
52<br />
Und mit frühem Führertritt<br />
Reißt er seine Bruderquellen<br />
Mit sich fort.<br />
Drunten werden in dem Tal<br />
Unter seinem Fußtritt Blumen,<br />
Und die Wiese<br />
Lebt <strong>von</strong> seinem Hauch.<br />
Doch ihn hält kein Schattental ,<br />
Keine Blumen,<br />
Die ihm seine Knie' umschlingen,<br />
Ihm mit Liebes-Augen schmeicheln:<br />
Nach der Ebne dringt sein Lauf<br />
Schlangenwandelnd.<br />
Bäche schmiegen<br />
Sich gesellig an. Nun tritt er<br />
In die Ebne silberprangend,<br />
Und die Ebne prangt mit ihm,<br />
Und die Flüsse <strong>von</strong> der Ebne<br />
Und die Bäche <strong>von</strong> den Bergen<br />
Jauchzen ihm und rufen: Bruder!<br />
Bruder, nimm die Brüder mit,<br />
Mit zu deinem alten Vater,<br />
Zu dem ew'gen Ozean,<br />
Der mit ausgespannten Armen<br />
Unser wartet,<br />
Die sich ach! vergebens öffnen,<br />
Seine Sehnenden zu fassen;<br />
Denn uns frißt in öder Wüste<br />
Gier'ger Sand; die Sonne droben<br />
Saugt an unserm Blut; ein Hügel<br />
Hemmet uns zum Teiche! Bruder,<br />
Nimm die Brüder <strong>von</strong> der Ebne,·<br />
Nimm die Brüder <strong>von</strong> den Bergen<br />
Mit, zu deinem Vater mit!<br />
Kommt ihr alle! -<br />
Und nun schwillt er<br />
Herrlicher; ein ganz Geschlechte<br />
Trägt den Fürsten hoch empor!<br />
Und im rollenden Triumphe<br />
Gibt er Ländern Namen, Städte<br />
Werden unter seinem Fuß.<br />
Unaufhaltsam rauscht er weiter,<br />
Läßt der Türme Flammengipfel,<br />
Mannorhäuser, eine Schöpfung<br />
Seiner Fülle, hinter sich.<br />
Zedernhäuser trägt der Atlas<br />
Auf den Riesenschultem: sausend<br />
Wehen über seinem Haupt<br />
Tausend Flaggen durch die Lüfte,<br />
Zeugen seiner Herrlichkeit.<br />
Und so trägt er seine Brüder,<br />
Seine Schätze, seine Kinder,<br />
Dem erwartenden Erzeuger<br />
Freudebrausend an das Herz.<br />
53
Der Goetheschen Bildersprache liegt vor allem die<br />
Vorstellung zugrunde, dass der religiöse Genius die ande<br />
ren Menschen als seine Brüder mit sich fort reißt, wie der<br />
große Strom die kleineren Bäche und Flüsse auf seinem<br />
Wege zum Meer mit sich fiilut.<br />
Dieser Lobgesang ist die bedeutendste Huldigung, die<br />
jemals ein europäischer Dichter dem Begründer des Islam<br />
dargebracht hat.<br />
Die zitierten Verse deuten auch auf eine Identifizierung<br />
des jungen Dichters mit seinem Helden hin, denn so fasste<br />
Goethe selber seine Aufgabe, sein Amt als Dichter auf: Er<br />
wollte für die Menschen als Brüder wirken, sie mitreißen<br />
und mit sich hinan ziehen zu einem höheren Leben. Sein<br />
gesamtes Dichten erschien ihm letztlich unter einem reli<br />
giösen Aspekt. In ähnlichem Sinne trägt die Mahomet-<br />
Gestalt dieses Goetheschen Jugendwerks<br />
Züge ihres<br />
Dichters, Züge Goethescher Naturfrömmigkeit und Welt<br />
bejahung, die in einem gewissen Gegensatz zu christlicher<br />
Askese stehen ..<br />
Die Fragmente des Mahomet-Dramas bekunden sehr<br />
stark Goethes spezielles Interesse für die Lehre <strong>von</strong> der<br />
54<br />
Einheit Gottes, das schon an semen Koran-Auszügen<br />
deutlich wurde. In Dichtung und Wahrheit (Buch 14) be<br />
richtet er selber darüber:<br />
Das Stück fing mit einer Hymne an, welche Mahomet<br />
allein unter dem heiteren Nachthinm1el<br />
anstimmt. Erst verehrt er die unendlichen Gestirne<br />
als eben so viele Götter, dann steigt der<br />
freundliche Stern Gad (unser Jupiter) hervor. und<br />
nun wird diesem, als dem König der Gestirne,<br />
ausschließliche Verehrung gewidmet. Nicht lange,<br />
so bewegt sich der Mond herauf und gewinnt<br />
Aug' und Herz des Anbetenden, der sodann,<br />
durch die hervortretende Sonne herrlich erquickt<br />
und gestärkt, zu neuem Preise aufgerufen \vird.<br />
Aber dieser Wechsel, wie erfreulich er auch sein<br />
mag, ist dennoch beunruhigend, das Gemüt empfindet,<br />
daß es sich nochmals überbieten muß; es<br />
erhebt sich zu Gott, dem Einzigen. Ewigen. Unbegrenzten,<br />
dem alle diese begrenzten herrlichen<br />
Wesen ihr Dasein zu verdanken haben. Diese<br />
Hymne hatte ich mit viel Liebe gedichtet: sie ist<br />
verloren gegangen ...<br />
Erstaunlich ist, wie intensiv und genau der alternde<br />
Dichter sich an dieses Projekt noch zu einer Zeit erinnerte,<br />
als ihm das Manuskript längst abhanden gekommen war.<br />
Besonders in dieser erst nach Goethes Tod wieder aufge<br />
tauchten Hymne "Teilen kann ich euch nicht dieser Seele<br />
55
GefUhI ... ", die der Held zu Beginn des Stücks allein un<br />
ter dem gestirnten Himmel singt, kommt die Einheitslehnl<br />
des Koran zum Ausdruck:<br />
Teilen kann ich euch nicht dieser Seele Gefuhl.<br />
Fühlen kann ich euch nicht allen ganzes Gefühl.<br />
Wer, wer wendet dem Flehen sein Ohr?<br />
Dem bittenden Auge den Blick?<br />
Sieh, er blinket herauf, Gad der freundlichtl<br />
Stern.<br />
Sei mein Herr du! Mein Gott. Gnädig winkt eil<br />
mir zu!<br />
Bleib! Bleib! Wendest du dein Auge weg?<br />
Wie? Liebt' ich ihn, der sich verbirgt?<br />
Sei gesegnet, 0 Mond! Führer du des Gestirns,<br />
Sei mein Herr du, mein Gott! Du beleuchtest deIl)<br />
Weg.<br />
Laß! laß nicht in der Finsternis<br />
Mich! irren mit irrendem Volk.<br />
Sonn', dir glühenden weiht sich das glühende]<br />
Herz.<br />
Sei mein Herr, du mein Gott! Leit' allsehende,<br />
mich.<br />
Steigst auch du hinab, herrliche?<br />
Tief hüllet mich Finsternis ein.<br />
Hebe liebendes Herz, dem Erschaffenden dich!<br />
Sei mein Herr du! Mein Gott! Du alliebender du!<br />
Der die Sonne, den Mond und die Stem<br />
Schuf, Erde und Himmel und mich.<br />
Die Verse zeigen Goethes Naturfrömmigkeit im Zu-<br />
sammenklang mit islamischen Vorstellungen. Seine Über- ,<br />
56<br />
zeugung, dass der Mensch sich aus der Vielfalt der Natun<br />
erscheinungen zur Erkenntnis des Einen Gottes emporhe<br />
ben müsse, hatte er im Koran gleichnishaft vorgebilde"<br />
gefunden.<br />
Die Lehre <strong>von</strong> der Einheit Gottes war Goethe so wich·<br />
tig, dass er sie auch zum Thema einer Dialogszene zwi·<br />
schen dem jungen Mahomet und seiner Pflegemutter Ha<br />
lima machte. Sie findet ihn des Nachts im Freien und<br />
sorgt sich um ihn:<br />
HALIMA: Mahomet.<br />
MAH.: Halima! 0 daß sie mich in diesen glückseligen<br />
Empfindungen stören muß. Was willst du mit mir, Hali<br />
ma?<br />
HAL.: Ängstige mich nicht, lieber Sohn, ich suche dich<br />
vor Sonnen Untergang. Setze deine zarte Jugend nicht den<br />
Gefahren der Nacht aus.<br />
MAH.: Der Tag ist dem Gottlosen verflucht \\1e die<br />
- , .<br />
Nacht. Das Laster zieht das Unglück an sich wie die Krö-<br />
te das Gift, wenn Tugend unter eben dem Himmel gleich<br />
einem heilsamen Amulett die gesundeste Atmosphäre um<br />
uns erhält.<br />
57
HAL.: So allein auf dem Felde, das keine Nacht vor<br />
Räubern sicher ist.<br />
MAH.: Ich war nicht allein. Der Herr mein Gott hat<br />
sich freund liehst zu mir genaht.<br />
HAL.: Sahst du ihn?<br />
MAH: Siehst du ihn nicht? An jeder stillen Quelle, un<br />
ter jedem blühenden Baum begegnet er mir in der Wärme<br />
seiner Liebe. Wie dank ich ihm - er hat meine Bmst ge<br />
öffnet, die harte Hülle meines Herzens weggenommen,<br />
daß ich seinen Namen empfinden kann.<br />
HAL.: Du träumst! Könnte deine Bmst eröffnet worden<br />
sein und du leben?<br />
MAH: Ich will für dich zu meinem Herrn flehen, daß du<br />
mich verstehen lernst.<br />
HAL.: Wer ist dein Gott, Hobal oder Al Fatas?<br />
MAH.: Armes, unglückliches Volk, das zum Steine<br />
ruft: ich liebe dich, und zum Ton: sei du mein Beschützer!<br />
Haben sie ein Ohr fürs Gebet, haben sie einen Arm zur<br />
Hülfe?<br />
HAL.: Der in dem Stein wohnt, der um den Ton<br />
schwebt, vernimmt mich, seine Macht ist groß<br />
58<br />
MAH.: Wie groß kann sie sein? Es stehn dreihundert<br />
neben ihm, jedem raucht ein flehender Altar. Wenn ihr<br />
wider eure Nachbarn betet, und eure Nachbarn wider<br />
euch, müssen nicht eure Götter wie kleine Fürsten, deren<br />
Grenzen verwirrt sind, mit unauflöslicher Zwietracht sich<br />
wechselweise die Wege versperren?<br />
HAL.: Hat dein Gott denn keine Gesellen?<br />
MAlL Wenn er sie hätte, könnt er Gott sein?<br />
HAL.: Wo ist seine W olmung?<br />
MAH.: Überall<br />
HAL.: Das ist nirgends. Hast du Anne, den ausgebrei<br />
teten zu fassen?<br />
MAH .. : Stärkere brennendere als diese, die für deine<br />
Liebe dir danken. Noch nicht lange, daß mir ihr Gebrauch<br />
verstattet ist. Halima, mir war's wie dem Kinde, das ihr in<br />
enge \Vindeln schränkt, ich fühlte in dunkler Eim\icke<br />
lung Arme und Füße, doch es lag nicht an mir, mich zu<br />
befreien. Erlöse du, mein Herr, das Menschengeschlecht<br />
<strong>von</strong> seinen Banden, ihre innerste Empfindung sehnt sich<br />
nach dir.<br />
Die Szene bezeugt, wie eingehend Goethe sich mit den<br />
zur Kindheit aes Propheten überlieferten Erzählungen<br />
59
efasst und semer Vorstellungswelt anverwandelt hat.<br />
Übrigens war Goethe durchaus auch fasziniert durch sol<br />
che Züge der Gestalt des Propheten, die ihm bedenklich<br />
erschienen. Wiederum ist es die Autobiographie Dichtung<br />
und Wahrheit, die in ihrem Rückblick auf das Jugendwerk<br />
darüber ausführliche Auskunft gibt. Diesem Bericht zu<br />
folge hatte das geplante Stück auch Mahomet als Feld<br />
herrn zeigen sollen, der in seinen Kriegen vielfach<br />
schlimme Mittel zu seinem Zweck benutzen musste - wie<br />
jeder Feldherr und Eroberer. So kommt es im Laufe der<br />
Handlung dazu, dass "das Irdische wächst und sich aus<br />
breitet, das Göttliche zurücktritt und getrübt wird". Der<br />
Schluß der Tragödie hätte jedoch den Propheten wieder<br />
im hellsten Licht gezeigt. Hier wäre er - so Goethes Be<br />
richt - großgesinnt, der Bewunderung würdig, seine Lehre<br />
reinigend und sein Reich befestigend aus der Welt ge<br />
schieden.<br />
60<br />
Der Einfluss der Determinismuslehre Spinozas<br />
Die Lehre <strong>von</strong> der Einheit Gottes, eines höchsten We<br />
sens , das in den Phänomenen der Natur zu erblicken"ist,<br />
fand Goethe nicht allein im Islam vor. Seit der Zeit, aus<br />
der die Fragmente des Mahomet-Dramas stammen, war er<br />
treuer Anhänger des Philosophen Spinoza, dessen pan<br />
theistische Philosophie mit ihrer natura-sive-deus-sive<br />
substantia-Lehre ilm zu einer dem Islam verwandten Hal<br />
tung führte. Ein weiterer wichtiger Berührungspunkt zwi<br />
schen dem Islam und Spinozas Ethik ist die Überzeugung<br />
<strong>von</strong> der Determiniertheit allen Geschehens, die auch rur<br />
Goethe verbindlich wurde. Wie im Islam ist die Determi<br />
nationslehre in der Philosophie Spinozas <strong>von</strong> zentraler<br />
Bedeutung. Goethe stimmte also mit der Hauptlehre der<br />
muslimischen Religion überein: der Lehre vom "eigentli<br />
ehen Islam", der Ergebung in den Willen Gottes. Be<br />
kenntnisse zu dieser Deterrninationslehre finden sich in<br />
Goethes Werk überaus häufig.<br />
Bezeiclmend rur Goethe war es auch, dass er sich bei<br />
schweren Schicksalsschlägen an dieser Lehre aufrichtete,<br />
z.B. beim Tod ·seines fürstlichen Freundes earl August,<br />
61
als er zu Johann Peter Eckermann. seufzend und allen<br />
Trost ablehnend, sagte: "Gott fügt es, wie er es für gut<br />
findet, und uns armen Sterblichen bleibt weiter nichts, als<br />
zu tragen." Überhaupt glaubte Goethe an eine "spezielle<br />
Vorsehung", besonders bei Todesfällen. So sagte er 1827<br />
zum Kanzler Friedrich <strong>von</strong> Müller: .,Wir leben, so lange<br />
es Gott bestimmt hat." Im Hinblick auf den Vorsehungs<br />
glauben notierte sich der Dichter einmal aufgrund eines<br />
Ausspruchs <strong>von</strong> Albrecht Dürer: "Was ist Praedestinatio?<br />
Antwort: Gott ist mächtiger und weiser als wir; drum<br />
macht er es mit uns nach seinem Gefallen." (Maximen und<br />
Reflexionen). Eindrucksvoll klingt in diesem Sinn auch<br />
der Satz aus einem Brief der Italienischen Reise (Rom 11 .<br />
August 1787): "Niemand kann sich um prägen und<br />
niemand seinem Schicksal entgehen."<br />
Von seiner Schicksalsergebenheit sprach Goethe wie<br />
derholt unter Berufung auf den Islam. So berichtete er<br />
über sein Verhalten während gefahrvoller Situationen in<br />
der Campagne in Frankreich (1792): .,Mir stellte sich,<br />
sobald die Gefahr groß ward, der blindeste Fatalismus zur<br />
Hand, und ich habe bemerkt, daß Menschen, die ein<br />
durchaus gefährlich Metier treiben, sich durch denselben<br />
62<br />
Glauben gestählt und gestärkt fühlen. Die Mohammedani<br />
sche Religion gibt hie<strong>von</strong> den besten Beweis." Als im<br />
Jahre 1820 Goethes Schwiegertochter gefährlich erkrank-<br />
,te,<br />
schrieb Goethe an einen Freund aus der gleichen Hal-<br />
tung heraus: "Weiter kann ich nichts sagen, als daß ich<br />
auch hier mich im Islan1 zuhalten suche." Ähnlich äußerte<br />
sich Goethe, als im Jahre 1831 die Cholera um sich griff:<br />
"Hier kann niemand dem andern raten; beschließe was zu<br />
tun ist, jeder bei sich. Im Islam leben wir alle, unter wel<br />
cher Form wir uns auch Mut machen." Und noch vier<br />
Wochen vor seinem Tode schrieb der 82-jährige Dichter,<br />
als wiederum die Cholera die Menschen erschreckte:<br />
"Hier an1 Orte und im Lande ist man sehr gefaßt, indem<br />
man [das Übel] abzuwehren für UlID1öglich hält. Alle der<br />
gleichen Anstalten sind aufgehoben. Besieht man es ge<br />
nauer, so haben sich die Menschen , um sich <strong>von</strong> der<br />
furchtbaren Angst zu befreien, durch einen heilsamen<br />
Leichtsinn in den Islam geworfen und vertrauen Gottes<br />
unerforschlichen Ratschlüssen" Wir erkennen hier. dass<br />
Goethe bewusst nach einer Grundlehre des islamischen<br />
Glaubens wirklich gelebt hat und dass er seine Freunde<br />
ausdrücklich auf diese Lehre hinwies.<br />
63
Auch am Cal vinismus hat der Dichter übrigens gerade<br />
die Betonung der göttlichen Vorsehung besonders ge<br />
schätzt. In einem Gespräch mit dem Kanzler <strong>von</strong> Müller<br />
im Jahre 1819 äußerte sich Goethe einmal über die Ver<br />
wandtschaft, die er auf diesem Gebiet zwischen der Re<br />
formierten Religion und dem Islam erkannte, folgender<br />
maßen: "Zuversicht und Ergebung sind die echte Grund<br />
lage jeder besseren Religion. Unterordnung unter einen<br />
höheren, die Ereignisse ordnenden Willen, den wir nicht<br />
begreifen, eben weil er höher als unsre Vernunft und unser<br />
Verstand ist. Der Islam und die reformierte Religion sind<br />
sich hierin am ähnlichsten."<br />
In EckermaIms Gesprächssammlung begegnen wir<br />
wiederum einem besonders aufschlussreichen und aus<br />
fiihrlichen Lob des Islam, in dem Goethe abermals die<br />
Determinationslehre als das Bedeutsanlste herausstellt:<br />
64<br />
Ihr müßtet wie ich seit fünfzig Jahren die Kirchengeschichte<br />
studiert haben, um zu begreifen,<br />
wie das alles zusammenhängt. Es ist höchst<br />
merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohammedaner<br />
ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage<br />
der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst<br />
in der Überzeugung, daß dem Menschen nichts<br />
begegnen könne, als was ihm <strong>von</strong> einer alles lei-<br />
tenden Gottheit längst bestimmt worden; und<br />
somit sind sie denn rur ihr ganzes Leben ausgerüstet<br />
und beruhigt und bedürfen kaum eines<br />
Weiteren.<br />
Goethe fährt fort:<br />
Ich will nicht untersuchen, was an dieser Lehre<br />
Wahres oder Falsches, Nützliches oder Schädliches<br />
sein mag; aber im Grunde liegt <strong>von</strong> diesem<br />
Glauben doch etwas in uns Allen, auch olme daß<br />
es uns gelelu1 worden. Die Kugel, auf der mein<br />
Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht<br />
treffen, sagt der Soldat in der Schlacht, und wie<br />
sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten<br />
Gefahren Mut und Heiterkeit behalten! Die<br />
Lehre des christlichen Glaubens: kein Sperling<br />
fällt vom Dache olme den Willen eures Vaters,<br />
ist aus derselbigen Quelle hervorgegangen, und<br />
deutet auf eine Vorsehung, die das Kleinste im<br />
Auge hält und olme deren Willen und Zulassung<br />
nichts geschehen kann.<br />
Man hat Goethe öfter verargt, dass einige seiner Be<br />
kenntnisse zum Islam für westliche Ohren allzu provoka<br />
tiv klingen, so wenn es im Buch der Sprüche heißt:<br />
Närrisch, daß jeder in seinem Falle<br />
Seine besondere Meinung preist.<br />
Wenn Islam Gott ergeben heisst,<br />
Im Islam leben und sterben wir alle.<br />
65
Doch eigentlich brauchte sich niemand dadurch irritiert]<br />
zu fühlen, denn der Spruch besagt nichts anderes als 1)<br />
dass das Wort "Islam" nichts anderes als "Ergebenheit" in,<br />
Gottes Willen heißt; und 2) dass der Mensch sich einzig<br />
Gott als der allerhöchsten Instanz ergeben soll, kann, darf<br />
und muss. Und hat das nicht Gültigkeit für alle Menschen,<br />
unerachtet der Religion, die dem einzelnen durch Geburt<br />
und Lebensumstände eignet?<br />
Nichts wäre jedoch verfehlter, in Goethes Überzeugung<br />
<strong>von</strong> der göttlichen Vorsehung eine Absage an die mensch<br />
liche Freiheit und Souveränität zu erblicken. Ein Gedicht<br />
aus dem West-östlichen Divan zeigt uns, wie Determinati<br />
on und Freiheit in Goethes Weltanschauung miteinander<br />
verknüpft sind. Dieses Gedicht steht zwischen lauter Se<br />
genspfändern und frommen Talismanen, zu denen Goethe<br />
durch den Koran angeregt wurde; wir werden darauf zu<br />
fÜckkOJmnen.<br />
Im Buch des Sängers sprengt ein stolz verwegener Rei<br />
ter heran, der ganz für sich "in alle Feme" reitet. Sein<br />
Auftauchen ist so überraschend, dass man sich fragt, wer<br />
dieser Reiter sein kann. Ist es der "Sänger", der zu seiner<br />
Hegire in den "reinen Osten" aufbrach und sich unter Hir-<br />
66<br />
Il"n mischen wollte? Ist es Derselbe, der als Kaufmann mit<br />
Karawanen "<strong>von</strong> der Wüste zu den Städten" zieht, um mit<br />
"Shawl, Kaffee und Moschus" zu handeln? Wer ist dieser<br />
I{riter, der so hochgemut ausruft:.<br />
Lasst mich nur auf meinem Sattel gelten<br />
Bleibt in Euren Hütten, Euren Zelten<br />
Und ich reite froh in alle Ferne<br />
Über meiner Mütze nur die Sterne.<br />
Längst weiß man, dass Goethe zu diesen Versen durch<br />
rinen Reisebericht aus dem Kaukasus angeregt wurde, in<br />
drm die ungebundene, bedürfnislose, ursprüngliche Le<br />
hcnsform der freiheitlichen Inguschen - eines Zweigs der<br />
Ischetschenen - geschildert wird. Dort stieß Goethe auf<br />
drn charakteristischen Ausspruch eines Mannes, der einen<br />
Antrag zur Unterwürfigkeit mit der kurzen Antwort zu<br />
riickwies: "Über seiner Mütze sehe er nur den Himmel".<br />
Goethes Reiter ist also ein Tschetschene, für den Frei<br />
heitsliebe und Abneigung gegen jeden Zwang, Verweige<br />
rung <strong>von</strong> Unterwürfigkeit und Entschlossenheit sich kei<br />
nem anderen als Gott zu ergeben, charakteristisch ist. Die<br />
Verse zeigen Goethes tiefe Sympathie mit der Haltung<br />
rines solchen Kaukasusbewohners. Die Art, wie er sich<br />
67
durch dessen hochgemuten Ausspruch zu seinen eigenen<br />
. ., l' ß zeigt<br />
jugendlich-beschwingten Versen mspmeren le,<br />
seine Affinität zu dem stolzen, mit seinem Reittier ganz<br />
verschmolzenen freiheitlichen Menschen. Goethes Be<br />
wunderung gilt dabei auch der absolut einfachen, natürli<br />
chen Lebensweise des durch seine Bedürfnislosigkeit <strong>von</strong><br />
materiellen Gütern unabhängigen Mannes. Es scheint,<br />
dass der Divan-Dichter hier eigene Träume verwirklicht<br />
fand, die im Einklang waren mit den Impulsen, welche ihn<br />
zu seiner Hegire veranlasst hatten. Das große Einlei<br />
tungsgedicht Hegire zeigt ihn ja als einen aus Europa<br />
Flüchtenden, der zum "reinen Osten" aufbricht, um "in<br />
des Ursprungs Tiefe" zu dringen, d.h. zu den hun1aneren '<br />
Ursprüngen des Menschengeschlechts: "Wo sie noch <strong>von</strong><br />
Gott empfingen I Himmelslehr' in Erdesprachen". Deut<br />
lich klingt hier der Herdersehe Titel Über den Ursprung<br />
der Sprache an. Goethe will aber nicht ,Archäologie'<br />
betreiben, sondern den ,Ursprung' in der Gegenwart fin<br />
den, und zwar gerade in den einfacheren, <strong>von</strong> ihm als "lu-<br />
. . . h im<br />
gendschranke" gepriesenen Lebensfom1en, WIe SIe SlC<br />
Orient seit den patriarchalischen Zeiten noch erhalten hat<br />
ten. Eben weil der Orient durch die Zeiten hindurch in<br />
68<br />
vielem seine Ursprünglichkeit bewahrt hatte, sprach der<br />
Divan-Dichter vom "reinen Osten": "Dort im Reinen und<br />
im Rechten" will er ,jeden Pfad" betreten, und sich, wie<br />
es gerade kommt, mal "unter Hirten mischen" - schon die<br />
Patriarchen waren ja nomadisierende Hirten - und mal<br />
Kaufmann sein - wie Mohammed Kaufmann war, ehe er<br />
Prophet wurde. Die Suche des Divan-Dichters galt Men<br />
schen, welche "sich nicht den Kopf zerbrachen" und die<br />
,jeden fremden Dienst verwehrten." Ein solcher war in<br />
der Tat derjenige, der "über seiner Mütze" nur den Him<br />
mel sah. Mit diesem ungebundenen Kaukasusbewohner,<br />
dem der "Sattel" lieber ist als das gesichertere Behaustsein<br />
l'n Hütten" und Zelten" identifiziert sich der Dichter.<br />
" "<br />
Unmissverständlich zeigt sich die Identifikation in der<br />
<strong>von</strong> Goethe oewählten Ich-Form der direkten Rede: .. Laßt<br />
;:,<br />
mich ... ich reite ... Über meiner Mütze ... " Es ist äu<br />
ßerst selten im Divan, dass die Personalpronomina in der<br />
ersten Person (ich, mich) und das Possessivpronomen<br />
(meiner) zur Selbstbezeichnung ins Spiel gebracht wer<br />
den, hier aber in vier Versen gleich dreimal! Ein kräftige<br />
rer Ausdruck <strong>von</strong> Goethes Sympathie mit dem freiheitli<br />
chen Mann aus .dem Kaukasus ist kaum denkbar. Dass er<br />
69
lickt. Der Mensch soll sich daran ergötzen, daß die Ge<br />
stirne zu seinem Besten leuchten. Er darf, er soll sich als<br />
Zentrum des Alls fühlen und das Bewusstsein genießen,<br />
dass Gottes Gnade mit jedem Stern auf ihn hernieder<br />
blickt.<br />
Der tschetschenische Reiter im West-östlichen Divan<br />
erinnert an den grandiosen Winckelmann-Aufsatz <strong>von</strong><br />
1805 , Winckelmann und sein Jahrhundert, in dem Goethe<br />
schrieb:<br />
Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein<br />
Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem<br />
grossen, schönen, würdigen und werten<br />
Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen<br />
ihm ein reines, freies Entzücken gewährt, dann<br />
würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden<br />
könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und<br />
den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens<br />
bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand<br />
<strong>von</strong> SOlmen und Planeten und Monden, <strong>von</strong> Sternen<br />
und Milchstrassen, <strong>von</strong> Kometen und Nebelflecken,<br />
<strong>von</strong> gewordenen und werdenden Welten,<br />
wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch<br />
unbewusst seines Daseins erfreut?<br />
Mit der genialen Überschrift Freisinn - einer Goethe<br />
sehen Wortschöpfung - deutet der Dichter an, dass ihm<br />
der Ausspruch jenes Tschetschenen als eine menschheits-<br />
72<br />
gültige Definition der Freiheit erschien. Hier geht es um<br />
den Kern der menschlichen Freiheit. Freisinn -- he isst<br />
einmal "Sinn des Freiseins" und ein andermal "Sinn für<br />
die Freiheit", der Wortteil "Sinn" in "Freisinn" hat die<br />
mehrfache Bedeutung <strong>von</strong> "Geruhl für etwas" und "Organ<br />
für etwas". Goethes Gedicht Freisinn vermittelt dem Le<br />
ser ein wunderbares Gefuhl der Freiheit der Souveränität<br />
des Ivfenschen über sich selbst. Es gibt das unbe\\usste<br />
Glück des Menschen wieder, den das Gefühl durchströmt,<br />
unter dem Sternenhimmel des Allerbanl1enden und All<br />
mächtigen geborgen zu sein, woraus auch das Bevmsstsein<br />
seiner Freiheit entspringt, die ihn zur Abwehr jeder Un<br />
terwerfung zwingt. All das enthalten die wenigen Verse,<br />
die ein Beispiel <strong>von</strong> Goethes Sprachkunst geben: "den<br />
höchsten Sinn im engsten Raum" zu gestalten.<br />
Der Ausspruch des Tschetschenen, über seiner Mütze<br />
sehe er nur den Himmel, wurde auch <strong>von</strong> anderen Bericht<br />
erstattern als Ausdruck der besonderen Eigenart des tsche<br />
tschenischen Stammes empfunden. Dieses Volk wird heu<br />
te <strong>von</strong> den Russen und - wegen der Allianz gegen den<br />
, Tenorismus ' - t;roßentei ls auch <strong>von</strong> der übrigen Welt als<br />
ein Volk <strong>von</strong> ,Terroristen' betrachtet und, was noch sehr<br />
73
viel schlimmer ist, behandelt. Auch wenn einzelne Fana<br />
tiker grauenvolle Terrorakte begehen, so darf man nicht<br />
ein ganzes Volk mit diesen Terroristen gleichsetzen.<br />
Wenn das geschieht, so liegt der Verdacht nahe, dass hier<br />
nicht der Terrorismus, sondern, unter dem Vorwand des<br />
Terrorismus, die Freiheit selbst, der Gedanke der Freiheit,<br />
<strong>von</strong> dem dieses Volk ja offenbar eine ganze Menge ver<br />
standen und bis ins 21. Jahrhundert hinüber gerettet hat,<br />
unterdrückt werden soll. Sich fremden Regierungsfonnen<br />
verweigern, Unterwürfigkeit zurückweisen, die eigene<br />
Unabhängigkeit wahren wollen, ist nicht gleichbedeutend<br />
mit Terrorismus. Die heutige Welt steht in der Gefahr, die<br />
Äußerungen des Freiheitswillens der Völker als ,Terro<br />
rismus' zu diffamieren. Statt dessen könnte die Welt et<br />
was <strong>von</strong> diesen prachtvoll unmodernen Menschen lernen,<br />
in denen keine Sklavenmentalität angelegt ist, deren Spra<br />
che das Wort "Befehl" nicht kennt, die das Recht des<br />
Stärkeren nicht anerkelmen und lieber sterben als sich<br />
unterjochen lassen. Goethes Sympathie mit einer solchen<br />
Haltung sollte uns zum erneuten Nachdenken über die<br />
mutige Bevölkerung veranlassen, die in unserer Zeit völlig<br />
vertilgt zu werden droht, weil sie sich nicht versklaven<br />
74<br />
lassen, sondern sich einzig vor Gott beugen will. Goethes<br />
Freisinn-Gedicht sollte uns warnen, zuzulassen, dass ein<br />
ganzer stolzer Völkerstamm ausgerottet wird und damit<br />
auch etwas so Kostbares wie ihr traditionelles Freiheits<br />
bewusstsein, kurz all das, was Goethe mit der herrlichen<br />
Wortprägung "Freisinn" gepriesen hat, aus der Welt ver<br />
schwindet.<br />
75
Ominöse Ereignisse als Auftakt zum West-östlichen<br />
Divan.<br />
Als ominös empfand Goethe es, als Weimarische Sol<br />
daten ihm im Oktober 1813 aus dem Krieg in Spanien ein<br />
Blatt eines arabischen Kodex mitbrachten, das die 114.<br />
Sure des Korans enthielt. Wie sehr dies kalligraphische<br />
Blatt in arabischer und persischer Schrift ihn faszinierte,<br />
zeigen mehrere Versuche <strong>von</strong> seiner Hand, diese Kalligra<br />
phie nachzubilden. Inhaltlich enthielten diese Verse den<br />
Anruf einer höheren Stimme, die dem Propheten gebot,<br />
aufzubrechen, um vor dem Unheil heimtückischer<br />
Einflüsterungen "Zuflucht" bei Gott dem Herrn zu suchen.<br />
Dass Goethe zum Zeitpunkt, als ihm das Blatt unvermutet<br />
ins Haus kam, diesen Anruf als ein an sich selbst gerichte<br />
tes Zeichen Gottes ansah, beweist das große Hegire<br />
Gedicht am Eingang des West-östlichen Divans, das diese<br />
Aufforderung einer höheren Stimme, Zuflucht beim Herrn<br />
zu suchen, ausgestaltet.<br />
Weitere <strong>von</strong> Goethe als ominös empfundene Ereignis<br />
se folgten: So kamen im Dezember 1813 völlig unerwartet<br />
muslimische Baschkiren als Soldaten und Offiziere der<br />
77
verbündeten russischen Annee nach Weimar, d.h. als Alli<br />
ierte im gemeinsamen Befreiungskampf gegen Napoleon.<br />
Diese unvermutete Begegnung mit Muslimen nutzte Goe<br />
the zu persönlichen Kontakten und erfreute sich, wie er an<br />
seinen Freund Friedrich Wilhelm Heinrich <strong>von</strong> Trebra<br />
schrieb, ihrer "besonderen Gunst". Brieflich bezeichnete<br />
er die Baschkiren als "liebe Gäste". Wiederholt verzeich<br />
net sein Tagebuch, dass er sie in seinem Haus bewirtete.<br />
Geschenke wurden untereinander ausgetauscht, Goethe<br />
erhielt Bogen, Köcher und Pfeile, die er am Kamin auf<br />
hängte und lebenslänglich in Ehren hielt.<br />
Den Baschkiren wurde fur ihre Gebetsversammlungen<br />
ein großer Hörsaal des protestantischen Gymnasiums zur '<br />
Verfügung gestellt. Zufallig fiel ihr erstes Freitagsgebet in<br />
Weimar auf den 24. Dezember 1813, einen Heiligen A<br />
bend also, an dem die Christen in der benachbarten Peter<br />
und-Pauls-Kirche ihren Weihnachtsgottesdienst abhielten.<br />
Die Peter-und-Paul-Kirche war die Kirche, in der Herder<br />
bis zu seinem Tode im Jahr 1803 gepredigt hatte. Herder,<br />
Goethes ehemaliger Mentor in Straßburg, der den jünge<br />
ren Freund zum Studium des Korans aufgefordert und<br />
seine eigene liberale Gesinnung gegenüber dem Islam und<br />
78<br />
der arabischen Welt auf den jungen Dichter übertragen<br />
hatte, war zwar 1813 schon zehn Jahre tot, als die Musli<br />
me in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Kirche ihr Frei<br />
tags gebet abhielten. Goethe jedoch nahm an dieser 111US<br />
limischen Gebetsversammlung teil und berichtete darüber<br />
in einem Brief vom Januar 1814 an den bereits erwähnten,<br />
ihm befreundeten Bergbeamten F.W.H. v. Trebra Folgen<br />
des:<br />
Da ich <strong>von</strong> Weissagungen rede, so muß ich bemerken,<br />
daß zu unserer Zeit Dinge geschehen,<br />
welche man keinem Propheten auszusprechen erlaubt<br />
hätte. Wer durfte wohl vor einigen Jahren<br />
verkünden, daß in dem Hörsaale unseres protestantischen<br />
Gymnasiums mohammedanischer Gottesdienst<br />
werde gehalten und die Suren des Korans<br />
\vi.irden hergemul111elt werden, und doch ist<br />
es geschehen, wir haben der baschkirischen Andacht<br />
beigewolmt, ihren Mulla geschaut, und ihren<br />
Prinzen im Theater bewillkommt.<br />
Durch einen weiteren Brief Goethes an seinen Sohn<br />
August wissen wir auch, daß <strong>von</strong> der baschkirischen An<br />
dacht auf viele Menschen in Goethes Umgebung eine gro<br />
ße Wirkung ausging, denn Goethe erwähnt in besagtem<br />
Brief, dass sich mehrere religiöse Damen <strong>von</strong> der Biblio<br />
thek Übersetzungen des Korans erbeten hätten.<br />
79
mit dem Islam ganz erheblich, doch zweifellos hätte auch<br />
die Gedichtsammlung des persischen Dichters nicht so<br />
stark auf ihn gewirkt, wenn ihm nicht schon vorher leib<br />
haftige Muslimen begegnet und kostbare Koran<br />
Kalligraphien wie auch Diwane muslimischer Dichter vor<br />
Augen gekommen wären, durch die er sich zur erneuten<br />
Auseinandersetzung mit der islamischen Religion aufge<br />
fordert gefühlt hatte.<br />
82<br />
Der West-östliche Divan<br />
Im Mai 1814 entstanden die ersten Gedichte des West<br />
östlichen Divans, des Werks, das nun völlig hineingestellt<br />
ist in die Gedankenwelt und die Atmosphäre des Islam. Es<br />
hätte nicht entstehen können olme Goethes positives Ver<br />
hältnis zum Islam, das sich seit seiner Jugend auch in sei<br />
nen Dichtungen zeigte und das sich nun auf ein viel brei<br />
teres Fundament <strong>von</strong> Kelmtnissen gründete. Dieses Ver<br />
hältnis bekundet sich auch auf erstaunliche Weise in einer<br />
<strong>von</strong> Goethe verfassten Ankündigung des West-östlichen<br />
Divans aus dem Jahr 1816, in der er hochgemut schrieb,<br />
der Verfasser des Buches lehne "den Verdacht nicht ab,<br />
daß er selbst ein MuseIman sei." Für die meisten seiner<br />
Landsleute war das eine höchst provozierende Aussage.<br />
Schlagen wir den West-östlichen Divan auf, so kon<br />
frontiert er uns als erstes mit einer WeltUl1tergangsvision:<br />
Nord und West und Süd zersplittern,<br />
Throne bersten, Reiche zittern,<br />
Sind das Posaunentöne des Jüngsten Gerichts? Welche<br />
höhere Stimme ist es, die dem Dichter gebietet:<br />
Flüchte du, im reinen Osten<br />
Patriarchenluft zu kosten ...<br />
83
Ob der Koran <strong>von</strong> Ewigkeit sei?<br />
Darnach frag' ich nicht! .,.<br />
Daß er das Buch der Bücher sei<br />
Glaub' ich aus Mosleminen-Pflicht.<br />
Viele Verse des West-östlichen Divans basieren, wie<br />
schon erwähnt, auf dem heiligen Buch des Islam, einige<br />
Gedichte bestehen zur Hälfte aus Koran-Zitaten und zur<br />
anderen aus Goethes eigenen Versen, die er mit den Ko<br />
ran-Versen verschmilzt. Sie sind also buchstäblich ,west<br />
östlich'. Ein Beispiel bietet das Bittgebet der Gruppe Ta<br />
lismane aus dem Buch des Sängers, das einen Anklang an<br />
die 1. Sure des Korans ( al-fiitiha = die Eröffnung) und<br />
zwar an V. 6 f. enthält ("Sollst uns leiten auf graden Pfad.<br />
I Derer, denen Du nicht zürnend warst, Und die nicht ir-<br />
ren."):<br />
Mich verwirren will das Irren;<br />
Doch du weißt mich zu entwirren.<br />
Wenn ich handle, wenn ich dichte,<br />
Gib du meinem Weg die Richte.<br />
Mit dem Wort "die Richte" benennt Goethe, was die<br />
Muslimen <strong>von</strong> altersher als "Sharia" bezeichneten, d. h.<br />
den rechten Pfad, der zur Quelle ft.ilu1. Dies ist die ur<br />
sprüngliche Bedeutung <strong>von</strong> "Sharia", ein Wort, das erst in :<br />
88<br />
späteren Zeiten durch den Politislam völlig entstellt \\ur<br />
deo<br />
Beschwörenden Gebetscharakter besitzt auch der be<br />
sonders bekannte Vierzeiler aus der gleichen Gruppe der<br />
Talismane, dem ein Vers aus der 2. Sure des Korans<br />
zugrunde liegt:<br />
Gottes ist der Orient!<br />
Gottes ist der Okzident!<br />
Nord- und südliches Gelände<br />
Ruht im Frieden seiner Hände.<br />
Wiederum ein Vierzeiler, der zur Hälfte aus Koran<br />
Zitaten und zur andem aus Goethes eigenen Versen be<br />
steht, die der Dichter mit den Koran-Versen so \-er<br />
schmolz, dass sie im wahrsten Süme des Wortes ,west<br />
östlich' sind. Von diesem frommen Spruch fertigte Goethe<br />
zwei Kalligraphien an, die er nie veröffentlichte, deren<br />
schöne Schrift und Ausschmückung aber ahnen lassen,<br />
wie wert die Verse ihm gewesen sein müssen. Es lohnt<br />
sich, hier länger zu verweilen, um an einem guten Beispiel<br />
den Charakter der Divan-Dichtung näher zu betrachten.<br />
Man weiß heute, dass die Anregung zu diesen Versen<br />
<strong>von</strong> dem Koran-Zitat ausging, das Goethe als Motto der<br />
89
<strong>von</strong> Joseph <strong>von</strong> Hammer herausgegebenen Fundgruben<br />
des Orients entgegentrat. Dort hieß der Wortlaut:<br />
Sag: Gottes ist der Orient, und Gottes ist der Okzident;<br />
Er leitet wen er will den wahren Pfad.<br />
Cor. 11 . Sure<br />
Hammer, der Herausgeber jener frühen orientalisti- I<br />
sehen Zeitschrift <strong>von</strong> ausgesprochenen internationalem j<br />
Gepräge verwendete dies Koran-Zitat als signalisierende<br />
Losung, mit der er alle sechs <strong>von</strong> 1809 bis 1818 erschei<br />
nenden Fundgruben-Bände schmückte. Die programmati<br />
sche Bedeutung dieses Koran-Worts wurde noch betont<br />
durch die höchst auffällige Platzierung auf der Titelseite<br />
der Großfoliobände, was Goethe beim Aufschlagen sofort<br />
bemerkt haben muss. Sein Tagebuch erwähnt die Fund<br />
gruben des Orients erstmals am 12. Dezember 1814, so<br />
dass sich dadurch auch ein ungefährer Anhalt ftir die Da<br />
tierung des Vierzeilers ergibt. In seiner endgültigen Form<br />
existierte das Gedicht am 2. Januar 1815, wie einern Brief<br />
an Sulpiz Boisseree zu entnehmen ist, in dem Goethe über<br />
seine vielfältigen Lektüren in seiner zugleich ,heidni<br />
schen' und ,mahometanischen' Umgebung berichtet:<br />
90<br />
"Täglich wird eine Perikope aus dem Homer und dem<br />
Hafis gelesen, wie denn die persischen Dichter gegenwär<br />
tig an der Tagesordnung sind. Erscheint denn dazwischen<br />
der Moscowitische Bilder-Calender, so nimmt sich's frei<br />
lich bunt genug aus." Goethe schließt seine Schilderung<br />
mit jenem Vierzeiler ab, den er übrigens eine "fromme<br />
Betrachtung" nennt. Diese Bezeichnung ist schon allein<br />
deshalb interessant, weil sie den einzigen überlieferten<br />
Selbstkommentar darstellt. Geäußert gegenüber dem ka<br />
tholischen Freund Boisseree, dessen Glaubenseifer Goethe<br />
manchmal recht einseitig erschien, klingt sie zudem leise<br />
ironisch. Ähnlich hatte Goethe in früheren Zeiten gegen<br />
über dem eifernden Zürcher Theologen Lavater die Meri<br />
ten des Korans und speziell der 2. Sure herausgestrichen.<br />
In bei den Fällen war es ihm darum zu tun, dem Zelotis<br />
mus seiner Freunde mit Milde und Freundlichkeit entge<br />
genzuwirken. Der ganze Briefpassus läuft im Grunde dar<br />
auf hinaus, dass Goethe sich durch sein Beispiel liberaler,<br />
weltoffener Gesinnung einem orthodoxen Christen gegen<br />
über werbend rur eine kosmopolitische Haltung einsetzt,<br />
rur ein liberales Nebeneinander der verschiedenen Völker<br />
und Religionen unseres Erdkreises oder, wie man heute<br />
91
sagen würde, für Universalität, für den Gedanken der Ö<br />
kumene und das ,Multikulturelle'.<br />
Die Koran-Botschaft <strong>von</strong> Sure 2, Vers 142, die den<br />
Dichter zu den ersten beiden Versen inspirierte, hat ihn<br />
vermutlich auch ganz spontan und aperyuhaft zu deren<br />
persönlicher Ergänzung motiviert. Jedenfalls deutet schon<br />
ein früherer, handschriftlich überlieferter Entwurf zu den<br />
Versen 3 und 4 ("Auch den Norden wie den Süden / Hat<br />
sein Auge nie gemieden") darauf hin, dass er <strong>von</strong> vornher<br />
ein der Vorstellung vom Osten und Westen noch die des<br />
Nordens und Südens hinzufiigen wollte. Die Koran<br />
Vorlage erschien ihm offenbar zu 'eindimensional'.<br />
Goethes Drang, im "Gottes ist der Orient"-Spruch alle<br />
vier Himmelsrichtungen zu nennen und die durch den<br />
Koran-Text vor dem geistigen Auge gezogene, <strong>von</strong> Ost<br />
nach West verlaufende Horizontale durch eine in Nord<br />
Süd:'Richtung verlaufende Vertikale zu ergänzen, ent<br />
sprang dem Impuls, auf die Einheit der göttlichen Schöp<br />
fung hinzuweisen. Die Erweiterung des Koran-Textes<br />
bringt es auch mit sich, dass sich die beiden gedachten<br />
Linien <strong>von</strong> Ost nach West und <strong>von</strong> Nord nach Süd vor<br />
unserem iImeren Auge überkreuzen und so unversehens<br />
92<br />
das Zeichen des Kreuzes entsteht. Auf diese Weise er<br />
gänzt der Dichter die Aussage des östlichen Korans durch<br />
das für die Christenheit und den Westen bezeichnende<br />
Kreuz-Symbol.<br />
Darüber hinaus evoziel1 Goethe mit den Schlussversen<br />
die Vorstellung der in den Händen Gottes ruhenden Welt<br />
kugel, auch dies ein Symbol der christlichen Ikono!ITaphie<br />
b ,<br />
das sich tief in das Bildgedächtnis des abendländischen<br />
Menschen eingeprägt hat. Es gibt kein adäquateres Bild<br />
symbol der Einheit als die Kugel, die sich hier zudem<br />
durch die ihr eingeschriebene Kreuzstruktur und insbe<br />
sondere durch die Ost-West-Linie in einen Halbkreis teilt ,<br />
der wiederum das Zeichen der Mondsichel abbildet das<br />
Symbol des Islam. Christentum und Islam werden hier als<br />
untrennbare Einheit gesehen. Wie aus vielen mittelalterli<br />
chen Bildern hervorgeht, ist der Kreis mit einem Kreuz<br />
ein christliches Zeichen der Welt. Aus Goethes Spruch<br />
aber schimmel1 es durch als Symbol der Einheit.<br />
Dass dem Dichter dies alles bewusst war, als er ent<br />
deckte, dass der Koran-Vers seine Sprache enthielt, soll<br />
hier nicht behauptet werden. Das Erkennen des Fremden<br />
als des Eigenen ist ein geheimnisvoller Vorgang, in dem<br />
93
tausenderlei Elemente blitzartig zusammenschießen. Doch<br />
dürfte wohl kein Zweifel bestehen, dass Goethe in den<br />
Koran-Zeilen sich selbst und den Sinn seines Gedichtbu<br />
ches spontan wiedererkannte. Dieser Spruch war Symbol<br />
seines Werks.<br />
Wie stark der Dichter selber die in den Versen liegende<br />
Magie empfand, darauf weisen auch die Überschriften hin,<br />
die er ilmen gab. Gedichtüberschriften enthalten ja stets<br />
zusätzliche Winke für die Deutung der Verse selber. Bei<br />
der Erstveröffentlichung, als der Vierzeiler innerhalb des<br />
frühsten Vorabdrucks <strong>von</strong> Divan-Gedichten im Morgen<br />
blatt für die gebildeten Stände vom 22. März 1816 er<br />
schien, lautete die Überschrift Talismane. Diese Über<br />
schrift war das Resultat einer gründlichen Beschäftigung<br />
mit orientalischen ,Talismanen', über die Goethe im glei<br />
chen Zeitraum, als der "Gottes ist der Orient"-Spruch ent<br />
stand, aus den Illustrationen und Aufsätzen innerhalb der<br />
Fundgruben des Orients viele Informationen zog, u.a. den<br />
Hinweis: "Talisman, d.i. gewölmlich -ein mit einem from<br />
men Gebete beschriebenes Stückchen Papier." Er erfuhr,<br />
dass die Muslimen sie am Körper zu tragen pflegen (am<br />
Hals, Ann, Kopf usw.) auch gegen Schmerzen aller Art.<br />
94<br />
Ein heilkräftiges magisches Mittel also auf der Grundlage<br />
eines frommen Gebetes auf einem Stück Papier! Dass<br />
Goethe sich mit der "frommen Betrachtung" des "Gottes<br />
ist der Orient"-Spruches jener Tradition anschloss, be<br />
zeugt u.a. sein aus dem gleichen Zeitraum stammender<br />
Vorsatz:<br />
Talismane werd' ich in dem Buch zerstreuen.<br />
Das bewirkt ein Gleichgewicht.<br />
Wer mit gläubiger Nadel sticht<br />
Überall soll gutes Wort ihn freuen.<br />
Deutlich genug kommt hier des Dichters Glaube an die<br />
magischen Heilkräfte seiner eigenen "Talismane" zum<br />
Ausdruck, die Gewissheit, dass deren "gutes Wort" ein<br />
gläubiges Gemüt "freuen" und sein seelisches "Gleichge<br />
wicht" befördern kann.<br />
Zu erinnern ist hier wiederum an die beiden Kalligra<br />
phien, die Goethe aus dem "Gottes ist der Orient"-Spruch<br />
herstellte. Die besondere Sorgfalt der Ausführung sowohl<br />
der Schrift als auch der zeiclmerischen Ausschmückung<br />
zeigt deutlich: diese Verse sind gebetartig langsam und<br />
feierlich zu sprechen. Hier ist jedes Wort aus stärkster<br />
Intensität des Geistes geboren und daher auch mit höchster<br />
95
Bewusstheit zu sprechen. Die Knappheit, Gedrängtheit<br />
des Stils hängt mit der Bedeutungsschwere der Wörter<br />
zusammen. Ein solcher Talisman enthält wahrhaftig "den<br />
höchsten Sinn im engsten Raum" wie es in der Gedicht<br />
gruppe Segenspfänder - Goethes Eindeutschung <strong>von</strong> "Ta<br />
lismane" - heißt.<br />
Ob der Dichter dem Spruch in dieser kalligraphischen<br />
Form eine herausgehobene Stellung geben und ihn für<br />
eine besonders ausgestattete Ausgabe des West-östlichen<br />
Divan verwenden wollte, wissen wir nicht. So wie das<br />
Blatt vorliegt, hat er es nur für sich selbst geschaffen.<br />
Vielleicht liegt seine Bedeutung darin, dass Goethe mit<br />
der Anfertigung dieses Talismans einem Wendepunkt in<br />
seinem künstlerischen Schaffen Ausdruck verleihen woll<br />
te, die Schönschrift also auch als Symbol seines inneren<br />
Erlebens zur Zeit des Divan gelesen werden kann, in der<br />
er durch die geistige Vereinigung mit dem Orient den<br />
Frieden in Gott fand.<br />
Dabei ist zu bedenken, dass "Nord" ganz persönlich<br />
vom Dichter aus betrachtet, zunächst Deutschland heißt<br />
und "südliches Gelände" Italien. Wie in einer Nußschale<br />
gibt Goethe hier ein grandioses Bild seiner eigenen geisti-<br />
96<br />
gen Existenz und ilu·er Ausweitung ins Universale durch<br />
die Berührung mit dem Osten: und eben dies ist nun wie<br />
der auf einer höheren Ebene das typisch, Westliche' des<br />
Dichters. Orient und Occident sind so betrachtet Polaritä<br />
ten, die sich zum Universalen steigern. Steigerung aber ist<br />
Wandlung. Damals als Goethe den Frieden verkündenden<br />
"Gottes ist der Orient"-Spruch schuf, war er auf eine neue<br />
Dimension seines eigenen Wesens gestoßen. Als persönli<br />
che Konfession des Dichters genommen, sagt der Talis<br />
man aus, dass Goethe in dieser Zeit, trotz aller Schmerzen,<br />
ja Verzweiflungen, auf eine ihn überraschende, ja überfal<br />
lende Weise neuen Frieden gefunden hatte, einen Frieden<br />
in Gott, wie er dem Dichter als höchstes Ziel im ganzen<br />
West-östlichen Divan vorschwebt bis hin zum Buch des<br />
Paradieses.<br />
Ruhten "Nord und Südliches Gelände" in Goethes ei<br />
genem Innern wirklich "im Frieden" beieinander? Man<br />
spricht gern <strong>von</strong> Goethes ,organischer Entwicklung', ohne<br />
dabei der tiefen Brüche zu gedenken, die für dieses Leben<br />
doch nicht minder charakteristisch sind: In Straßburg er<br />
kennt der 'nordische' (= deutsche) Goethe das Straßburger<br />
Münster. In Assi'Si nimmt der 'klassische' (= südliche)<br />
97
Goethe nur den Minerva-Tempel wahr. Wie stark Goethe<br />
den Abstand zwischen seiner Jugend und seinem Mannes<br />
alter empfand, macht aufs eindrücklichste die Zueignung<br />
des Faust <strong>von</strong> 1797 deutlich, die auch zeigt, dass dieser<br />
Abstand nur durch tiefe Erschütterungen und Krisen zu<br />
überbrücken war. So "ruht" zunächst keineswegs in die<br />
sem Dichter "Nord- und Südliches Gelände" friedlich ne<br />
beneinander. Bis zum Divan schlossen sie sich praktisch<br />
gegenseitig aus, bekämpften einander in Goethes Brust.<br />
Die ,klassische Wendung' führte zur Verurteilung des<br />
,Nordens'. Erst nachdem Goethe den ,Osten' entdeckt<br />
hatte, glich sich dieser Widerstreit aus. Eine der direkten<br />
Folgen da<strong>von</strong> ist ja die überraschende Wendung zu den<br />
niederländischen Meistem der Malerei, wie Goethe sie auf<br />
der Reise in die Rhein-, Main- und Neckargegenden, mit<br />
dem Diwan des Hafis in der Tasche, in der Heidelberger<br />
Sammlung der Brüder Boisseree wahrnahm. Plötzlich<br />
setzen sich die Gegensätze in ein harmonisches Verhält<br />
nis: Goethe stellt nordische und südliche Kunst einander<br />
gleich. Der Dichter wandelt sich nach dem Gesetz <strong>von</strong><br />
Polarität und Steigerung. Darum dürfen wir die Talisman-<br />
98<br />
Kalligraphien auch verstehen als Symbole <strong>von</strong> Goethes<br />
Wandlung und Steigerung ins Universale.<br />
Aus dem ,Orient' -Erlebnis hat Goethe als Künstler bis<br />
zu seinem Lebensende die Konsequenzen gezogen. Im<br />
Grunde sind alle seine Alterswerke <strong>von</strong> einem ,klassi<br />
schen' Forrnideal weit entfernt: Faust, Wilhelm Meisters<br />
Wanderjahre, um nur die wichtigsten zu nennen. Insofern<br />
bezeichnet der V ierzeiler tatsächlich einen Wendepunkt<br />
im künstlerischen Schaffen Goethes. Bei der Formulie<br />
rung des Spruches muss ihm blitzartig klar geworden sein,<br />
dass sich, durch die Begegnung mit dem Koran-Wort, mit<br />
dem ,Orient', unaufgelöste Grundspannungen seines We<br />
sens befriedeten. Daher seine tiefe Begeisterung für Hafis,<br />
die auch Ausdruck einer großen Dankbarkeit für die eige<br />
ne Wesenserweiterung ist. In ihm waren Schranken nie<br />
dergerissen, an denen sich seine natürliche Tendenz zur<br />
Universalität stets gerieben hatte und reiben musste. Das<br />
muss Goethe als tiefes Glück erfahren haben.<br />
Doch diese Wandlung ins Universale enthält zugleich<br />
eine Lehre an die Welt: sich in Frieden (hier auch ganz<br />
politisch gemeint) zu einer gott- und geisterfüllten Univer<br />
salität zu wandein. Und liegt darin nicht der letzte Sinn<br />
99
des ganzen West-östlichen Divan? Nehmen wir die ersten<br />
zwei Verse als Koran-Text, als ,Prophetenwort " wäre das<br />
dann nicht auch eine Malmung an den ,Orient', sich sei<br />
nerseits dem ,Okzident' zu öffnen und in der Nachfolge<br />
des Propheten aus dieser Ost-West-SpaImung zu einer<br />
toleraIlten muslimischen Universalität zu finden, die West<br />
und Nord und Süd ,geIten läßt', was für Goethe ja immer<br />
die Mindestbedingung der Humanität war. Alles Lehren<br />
ist letztlich eine Aufforderung zur Wandluna alles Lernen<br />
t>'<br />
eine Wandlung zu Höherem. Goethes West-östlicher Di<br />
van enthält eine Fülle indirekter und doch unüberhörbarer<br />
Aufforderungen zur Wandlung - im Sinne des so be<br />
zeichnenden Gedichttitels Höheres und Höchstes im Buch<br />
des Paradieses - <strong>von</strong> der Grundform zum Komparativ,<br />
vom Komparativ zum Superlativ! Aus der Seh- und Erle<br />
bensweise Goethes drücken die Kalligraphien das gleiche<br />
aus wie die berühmten Faust- Verse: "Wer immer stre<br />
bend sich bemüht, I Den können wir erlösen" - erlösen<br />
zu sich selbst, zur Welt, zu Gott.<br />
Aus dem "Gottes ist der Orient"-Spruch wie aus vielen<br />
anderen Gedichten des West-östlichen Divans klingt mehr<br />
oder weniger offenkundig das Thema <strong>von</strong> der Leitung<br />
IOD<br />
unseres Schicksals durch den Willen Gottes heraus. das<br />
für Goethe seit langem tiefe Bedeutung hatte, wie wir sa<br />
hen. Immer wieder wird im West-östlichen Divan auf die<br />
se religiöse Überzeugung angespielt, so etwa in den Ver<br />
sen eines Gedichts aus dem Buch der Sprüche:<br />
... Der Herr der Schöpfung hat alles bedacht.<br />
Dein Los ist gefallen, verfolge die Weise,<br />
Der Weg ist begonnen, vollende die Reise.<br />
Oder älmlich in einem anderen Vers aus dem Buch der<br />
Betrachtungen:<br />
... Du reisest, ein Geschick bestimmt den Raum.<br />
Gottes Wille also bestimmt Weg und Weise unserer<br />
Existenz. Dies drückt sich auch aus, welm Goethe im<br />
Buch des Unmuts den Welteroberer Timur mit spötti<br />
schem Grimm ausrufen lässt:<br />
... Hätt' Allah mich bestimmt zum Wurm,<br />
So hätt' er mich als Wurm geschaffen.<br />
Hier mögen wir uns daran eriImem, wie die berühmten<br />
Orphischen Urworte - gleichfalls in der Divan-Epoche<br />
entstanden - in ganz älmlicher Weise <strong>von</strong> solcher Prae<br />
destinatio sprechen:<br />
101
· .. Bist alsobald und fort und fort gediehen<br />
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.<br />
So musst du sein, dir kannst du nichtentfliehen.<br />
Aber auch die folgende scheinbar scherzhafte, das Ver<br />
hältnis zwischen Hatem und Suleika kennzeichnende<br />
Wendung im Buch Suleika hat im Zusammenhang mit<br />
Goethes Schicksalsglauben sehr ernsten Hintersinn:<br />
... Denke nun wie <strong>von</strong> so langem<br />
Prophezeit Suleika war.<br />
Die Worte werden erst richtig verstanden, wenn man<br />
sich vergegenwärtigt, dass Goethe die Vorstellung eines<br />
"prädestinierten Paares" geläufig war. Hier<strong>von</strong> sprechen<br />
Die Wahlverwandtschaften (Buch 1, Kap. 10), aber auch<br />
Die ABtschuldigen (V. 879) und andeutungsweise auch<br />
Dichtung und Wahrheit (Buch 15, Schluss). Im West<br />
östlichen Divan weist natürlich auch die Vorbestimmtheit<br />
Suleikas hin auf den islamischen Glauben an die göttliche<br />
Lenkung. Hier ist das Motiv also zugleich ,orientalisie<br />
rend' gebraucht.<br />
Goethes Sympathie fLir die Gottesauffassung der Mus<br />
lime kommt im West-östlichen Divan vielfach zum Aus<br />
druck. So finden wir seine Hochschätzung der Lehre <strong>von</strong><br />
102<br />
der Einheit Gottes wieder in den folgenden Versen, die<br />
auf die 2. Sure des Korans Bezug nelmlen (aus dem Nach<br />
lass-Gedicht Süßes Kind, die Perlenreihen):<br />
... Abraham, den Herrn der Sterne<br />
Hat er sich zum Ahn erlesen;<br />
Moses ist, in wüster Ferne,<br />
Durch den Einen groß gewesen,<br />
David auch, durch viel Gebrechen,<br />
Ja, Verbrechen durch gewandelt,<br />
Wußte doch sich loszusprechen:<br />
Einem hab ich recht gehandelt.<br />
Jesus fühlte rein und dachte<br />
Nur den Einen Gott im Stillen;<br />
Wer ihn selbst zum Gotte machte<br />
Kränkte seinen heilgen Willen.<br />
Und so muß das Rechte scheinen<br />
Was auch Mahomet gelungen;<br />
Nur durch den Begriff des Einen<br />
Hat er alle Welt bezwungen ...<br />
Ebenfalls angeregt durch die 2. Sure sind folgende Ver<br />
se, die wiederum einen Lieblingsgedanken Goethes aus<br />
drücken: dass Gott sich in den Naturerscheinungen spiege<br />
le, dass er in ihnen erkennbar sei:<br />
103
Sollt' ich nicht ein Gleichnis brauchen<br />
Wie es mir beliebt?<br />
Da uns Gott des Lebens GleicImis<br />
In der Mücke gibt.<br />
Das wird wiederum abgewandelt in:<br />
Sollt' ich nicht ein Gleichnis brauchen<br />
\Vie es mir beliebt?<br />
Da mir Gott in Liebchens Augen<br />
Sich im Gleichnis gibt.<br />
In einem Vierzeiler aus dem Buch des Sängers wird<br />
Gott abennals als der Eine, Einzige sowie als der<br />
Schicksal bestimmende gepriesen . Dann aber erscheint<br />
hier noch ein weiterer, für Goethe gleichfalls bedeutsamer<br />
Aspekt:<br />
Er, der einzige Gerechte<br />
Will für jedermann das Rechte.<br />
Sei, <strong>von</strong> seinen hundert Namen,<br />
Dieser hochgelobet! Amen.<br />
Kenner des West-östlichen Divans werden sich enn<br />
nern, dass auch eins der großen Suleika-Gedichte mit ei<br />
ner Anspielung auf diese hundert Namen AlIahs schließt:<br />
104<br />
Und wenn ich AllaIls Namenhundert nenne,<br />
Mit jedem klingt ein Name nach für dich.<br />
Was für Goethe so anziehend war an der Vorstellung,<br />
dass Gott unzählige Eigenschaften und ,Namen' habe. das<br />
erklärt sich am besten aus einem Gespräch mit Ecker<br />
mann, wo der Dichter wiederum auf die hundert Namen<br />
Allahs zu sprechen kommt. Auch in diesem Falle sah er<br />
eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem Islam w1d<br />
seiner eigenen Religiosität. Am 8. März 1831, also ein<br />
Jahr <strong>von</strong> seinem Tode, sagte Goethe zu Eckermann:<br />
Liebes Kind, was wissen wir denn <strong>von</strong> der Idee<br />
des Göttlichen, und was wollen denn unsere engen<br />
Begriffe vom höchsten Wesen sagen! Wollte<br />
ich es, gleich einem Türken, mit hundert Namen<br />
nennen, so würde ich doch noch zu kurz kommen,<br />
und im Vergleich so grenzenloser Eigenschaften<br />
noch nichts gesagt haben.<br />
Es ist zu vernlUten - auch im Kontext des ganzen Ge<br />
sprächs -, dass die muslimische Vorstellung <strong>von</strong> den hun<br />
dert Namen AllaIls Goethe an den Gottesbegriff Spinozas<br />
erinnerte, den er sich weitgehend zu eigen gemacht hatte:<br />
der Eine, Gott, das Hen kai pan, hat unzählige Eigenschaf<br />
ten, Attribute, <strong>von</strong> denen sich der Mensch nur die aIlerbe<br />
grenzteste Kenntnis und Vorstellung erwerben kaIm. Jede<br />
einseitige FestIegung auf eine Eigenschaft oder einen Na-<br />
105
men wü d d h .<br />
r e a er eme unangemessene Eingrenzung be-<br />
deuten, im Sinne der Divan-Verse:<br />
Als wenn das auf Namen ruhte!<br />
Was sich schweigend nur entfaltet.<br />
Lieb' ich doch das schöne Gute<br />
Wie es sich aus Gott gestaltet.<br />
In den Gesprächen mit Eckermann stehen die Äuße<br />
rungen über die hundert Namen Allahs im Zusammenhang<br />
mit längeren, sich über mehrere Tage hinziehenden Erör<br />
terungen über Goethes Vorstellungen vom "Dämoni<br />
schen". Ausfiihrlich wird da gesprochen nicht nur vom<br />
Wesen Gottes, sondern auch <strong>von</strong> der "Idee des Fatums",<br />
<strong>von</strong> der "heimlich einwirkenden Gewalt" der Schicksals<br />
mächte, <strong>von</strong> den "ewigen Gesetzen", durch die uns die<br />
Gottheit Freude und Leid bestimmt. Da ist es natürlich<br />
kein Zufall, dass man hier, wo die Grundfragen <strong>von</strong> Goe<br />
thes Religiosität zur Sprache kommen, auch auf eines der<br />
nachdrücklichsten Bekenntnisse des greisen Dichters zu<br />
Spinoza trifft. Wieder tritt zur Erinnerung an Spinoza als<br />
bald auch die an den Islam. Wir sehen, wie der Islam für<br />
den alten Goethe durch gewisse Übereinstimmungen mit<br />
der Lehre seines Lieblingsphilosophen wirklich hervorra-<br />
106<br />
gende Bedeutung gewann. Nicht zuletzt deswegen mag es<br />
ihm so leicht geworden sein, sich auch als Dichter in den<br />
Bereichen der muslimischen Religion mit soviel Selbst<br />
verständlichkeit zu bewegen.<br />
Außer der Determinationslehre und der islamischen<br />
Gottesauffassung war es - so hatten wir festgestellt - die<br />
Persönlichkeit des Propheten Mohammed selbst, fiir die<br />
sich Goethe erwärmte. Auch dafür bietet der West-östliche<br />
Divan reichlich Zeugnisse. Hier wäre vor allem das ge<br />
samte Buch des Paradieses zu nennen , worin die Gestalt<br />
des Propheten ja in vielfältiger Weise beleuchtet wird.<br />
Sehr ausgiebig befasst sich Goethe aber auch in den<br />
Noten und Abhandlungen mit Mohammed. Ähnlich wie<br />
schon in seiner Jugend beschäftigt ilm wiederum das We<br />
sen des Religionsstifters, des Propheten als solchem. Ähn<br />
lich und doch ganz anders. Wenn der junge Goethe sein<br />
eigenes Amt als Dichter mit dem des Propheten verglich,<br />
wem1 er den Blick richtete auf das beiden Gemeinsame:<br />
die Führung der Seelen, das Mitreißen der Brüder - wobei<br />
der daim im Bilde des Stroms das Vergleichbare festhielt<br />
-, so weist er jetzt im Alter mit nüchterner, abwagender<br />
Kritik auf die fundamentalen Unterschiede hin, die zwi-<br />
107
sehen dem Wirken des Dichters und dem des Prophetet<br />
bestehen. Hier<strong>von</strong> handelt fast der gesamte mit dem Tite<br />
A1ahomet versehene Abschnitt der Noten und Abhand<br />
lungen. Das Beispiel des Stifters der islamischen Religior<br />
nimmt Goethe offenkundig gerade darum zum Anlass,<br />
Grundsätzliches über dieses wichtige Thema zu sagen.<br />
weil Mohammed als Verkünder des Korans ja durchaus in,<br />
einer Form wirkte, die an einen Dichter denken lassen. Bis<br />
heute gilt der Koran vielen Muslimen gleichsam als ein<br />
Summum der Poesie.<br />
Demgegenüber sah Goethe sich gedrängt, die Grenzen<br />
klar abzustecken. Zwar sind beide, Poet und Prophet, "<strong>von</strong><br />
Einem Gott ergriffen und befeuert", wie er sagt. Der Poet<br />
aber ist vor allem Künstler, sein Werk will zunächst Ge-<br />
"<br />
nuß hervorbringen" wie jede Kunst, im übrigen ist sein<br />
Wirken frei <strong>von</strong> Zwecken, er sucht mannigfaltig, in Ge<br />
sinnung und Darstellung "grenzenlos" zu sein. Im Gegen<br />
satz dazu sieht der Prophet durchaus auf "einen einzigen<br />
bestimmten Zweck". Er will eine Lehre verkünden , Glau-<br />
ben erwecken und bedient sich dazu der einfachsten Mit<br />
tel. Gerade die Einfachheit, ja Eintönigkeit ist nötig, um<br />
108<br />
Gläubige zu sammeln, denn - so sagt Goethe -: .. das<br />
Mannigfaltige glaubt man nicht, man erkennt es."<br />
In diesem Sinne charakterisiert Goethe - im Kapitel<br />
Mahomet - nun auch ausführlich den Koran, weist auf<br />
seine Unvergleichlichkeit hin, erklärt aber auch das, was<br />
ihm bedenklich erscheint, eben durch Hinweise auf jene<br />
andersartige Zielsetzung. Deutlicher als in der Jugend er<br />
kannte der Dichter im Alter den Unterschied in der Art<br />
des \Virkens: der Prophet lehrt Ulm1ittelbar, der Poet mit<br />
telbar. Er kleidet seine Lehre in das Gewand <strong>von</strong> Fabel<br />
und Gleichnis und kaIm so nur "durch einen Umschweif<br />
nützen", wie es im 15. Buch <strong>von</strong> Dichtung und Wahrheit<br />
heißt. Der alte Goethe zog es vor, gerade die höchsten<br />
Aufgaben der Dichtkunst eher zu verbergen als zu enthül<br />
len. Und so steht im Prosateil des West-östlichen Divans<br />
an beinahe versteckter Stelle (im Kapitel Neuere und<br />
neuste Reisende) der Satz, der als entscheidende Ergän<br />
zung zum Kapitel A1ahomet anzuflihren ist: in der Poesie<br />
bleibe "das Heil der Menschheit aufbewahrt"!<br />
Aus dem Kaptitel Mahomet lässt sich ersehen, mit<br />
welch unvermindertem, grundsätzlichem Respekt Goethe<br />
auch im Alter noch dem Begründer des Islam gegenüber<br />
109
stand. Was jene Hauptpunkte der islamischen Religion<br />
betrifft, mit denen der Dichter sympathisierte, so spricht<br />
der Prosateil des West-östlichen Divans gleichfalls <strong>von</strong>'<br />
ihnen.<br />
Auf die Lehre <strong>von</strong> der Ergebung in den Willen Gottes<br />
lenkt Goethe immer wieder die Aufmerksamkeit; z.B.<br />
wenn er im Kapitel Künftiger Divan andeutet, wie er sein<br />
ihm noch unvollkommen erscheinendes Werk zu erwei<br />
tern beabsichtigt, so charakterisiert er eine bestimmte ,<br />
noch zu schreibende Gattung <strong>von</strong> Parabeln wie folgt: Sie<br />
sollten darstellen "die wunderbaren Führungen und Fü<br />
gungen, die aus unerforschlichen, unbegreiflichen Rat<br />
schlüssen Gottes hervorgehen"; sie würden "lehren und<br />
bestätigen den eigentlichen Islam, die unbedingte Erge<br />
bWlg in den Willen Gottes, die Überzeugung, daß nie<br />
mand seinem einmal bestimmten Loose ausweichen kön<br />
ne." Wir sehen: der Dichter hatte das GefUhI, <strong>von</strong> diesem<br />
ihm so lieben Thema des "eigentlichen Islam" noch zu<br />
wenig gesagt zu haben. Auf diesem Gebiet konnte er sich<br />
offenbar nie genug tun.<br />
Ein Jahr nach dem Erscheinen des West-östlichen Di<br />
van schrieb Goethe an ZeIter, im Hinblick auf sich an-<br />
110<br />
sammelnde neue orientalisierende Gedichte, die einer spä<br />
teren Ausgabe beigefügt werden sollten: .,Diese moham<br />
medanische Religion, Mythologie, Sitte geben Raum einer<br />
Poesie wie sie meinen Jahren ziemt." Fortfahrend zählt<br />
der Dichter auf, was ihm an der muslimischen Gedanken<br />
welt das Wichtigste war, und hier nennt er wiederum an<br />
erster Stelle dies: "Unbedingtes Ergeben in den uner<br />
gründlichen Willen Gottes."<br />
Mit ungewölmlicher Emphase sprach schon das Kapitel<br />
Künftiger Divan der Noten und Abhandlungen über die<br />
sen Aspekt; alles im Orient sei, so heißt es dort, Betrach<br />
tung, Nachdenken. Dieses Nachdenken aber sei "besonde<br />
rer Art", denn es führe alsbald auf ,jene Punkte, wo die<br />
seltsamsten Probleme des Erde-Lebens strack und uner<br />
bittlich vor uns stehen und uns nötigen , dem Zufall , einer<br />
Vorsehung und ihren unerforschlichen Ratschlüssen die<br />
Kniee zu beugen und unbedingte Ergebung als höchstes poli<br />
tisch-sittlich-religiöses Gesetz auszusprechen."<br />
Im Kapitel Künftiger Divan kündigte Goethe an, dass<br />
er sich mit dem Gedanken trage, "ehrfurchtsvoll jene hei<br />
lige Nacht zu feiern, wo der Koran dem Propheten <strong>von</strong><br />
obenher gebracht ward." Leider hat Goethe diesen Vorsatz<br />
111
nicht mehr ausgeführt. Doch 88 Jahre später griff Rainer<br />
Maria Rilke (1875-1926) ihn einem Sonett auf, das 1907<br />
in Paris entstand, nachdem der ihm befreundete Orientalist<br />
Friedrich earl Andreas ihm nahegelegt hatte, sich mit<br />
Goethes West-östlichem Divan, dem Koran und dem Le<br />
ben des Propheten vertraut zu machen:<br />
112<br />
Mohammeds Berufung<br />
Da aber als in sein Versteck der Hohe,<br />
Sofort Erkennbare: der Engel, trat,<br />
Aufrecht, der lautere und lichterlohe:<br />
Da tat er allen Anspmch ab und bat<br />
Bleiben zu dürfen der <strong>von</strong> seinen Reisen<br />
Innen verwirrte Kaufmann, der er war;<br />
Er hatte nie gelesen - und nun gar<br />
Ein solches Wort, zu viel für einen Weisen.<br />
Der Engel aber, herrisch, wies und wies<br />
Ihm, was geschrieben stand auf seinem Blatte,<br />
Und gab nicht nach und wollte wieder: Lies.<br />
Da las er: so, daß sich der Engel bog.<br />
Und war schon einer, der gelesen hatte<br />
Und konnte und gehorchte und vollzog.<br />
Zukunftsausblicke<br />
Goethe, so sei abschließend noch einmal hervorgeho<br />
ben, war der erste große europäische Dichter, der sich dem<br />
Islam öffnete und mit seiner Offenheit gegenüber dem<br />
Koran und der gesamten arabischen Welt auch andere<br />
Europäer aus der Enge ihres Denkens befreite.<br />
Seine unvoreingenommenen Vorstellungen vom Islam<br />
sollte man nicht als ,romantisierend' abtun, denn Goethe<br />
war kein Romantiker. Als Realist sah er Gefahren herauf<br />
kommen, die der Welt durch die Polarisation <strong>von</strong> Ost und<br />
West drohen. Er kannte die christliche Kirchengeschichte<br />
sehr genau und bedauerte bei Erwähnung der Kreuzzüge<br />
in den Noten und Abhandlungen zum Divan "die Einsei<br />
tigkeit der christlich-feindlichen Ansicht", die uns "be<br />
schränkt durch ihre Beschränkung"; deshalb plädierte er<br />
auch dafiir, man solle ,jene Knegsereignisse durch orien<br />
talische Schriftsteller nach und nach keimen lernen."<br />
Ebenso wie <strong>von</strong> der christlichen Kirchengeschichte gab<br />
Goethe sich aber auch <strong>von</strong> der Geschichte des Islam Re<br />
chenschaft. Darüber berichten in den Noten und Abhand-<br />
113
lungen u.a. die Kapitel Mahomet und Kaliphen. Im Kapi<br />
tel Mahmud <strong>von</strong> Gasna skizziert Goethe "das Innere des<br />
Landes, vom Euphrat bis zum Indus" mit .,im weitesten<br />
Umfange unendlicher Zersplitterung und augenblicklicher<br />
Wiederherstell ung":<br />
Eine Masse wider einander streitender V ölkerschaften,<br />
vertriebene, vertreibende Herrscher,<br />
stellten überraschenden Wechsel <strong>von</strong> Sieg zur<br />
Knechtschaft, <strong>von</strong> Obergewalt zur Dienstbarkeit<br />
nur gar zu oft vor Augen, und ließen geistreiche<br />
Männer, über die traumartige Vergänglichkeit irdischer<br />
Dinge, die traurigsten Betrachtungen anstellen.<br />
Über die konfliktreiche religiöse Überlieferung be-<br />
merkt Goethe im Hajis-Kapitel:<br />
Nun ward, gar bald nach seinem Ursprwlge, der<br />
Koran ein Gegenstand der unendlichsten Auslegungen,<br />
gab Gelegenheit zu den spitzfindigsten<br />
Subtilitäten und, indem eT'die Sinnesweise eines<br />
jeden aufregte, entstanden grenzenlos abweichende<br />
Meinungen, verrückte Kombinationen, ja<br />
die unvernünftigsten Beziehungen aller Art wurden<br />
versucht.<br />
Zweifellos sah Goethe Parallelen zwischen der christli<br />
chen Kirchengeschichte und der Geschichte des Islam<br />
darin, "daß der eigentlich geistreiche verständige Mann<br />
114<br />
eifrig bemüht sein mußte, um nur wieder auf den Grund<br />
des reinen guten Textes zurück zu gelangen." Im Buch<br />
des Unmuts benutzte Goethe sogar gelegentlich den harten<br />
Ausruf: "Verfluchte Pfaffen!" Er wußte nur zu gut, wie<br />
weit sich u. U. das, was religiöse Fanatiker ihren Anhän<br />
gern predigen, <strong>von</strong> dem ,reinen guten Text' der ursprüng<br />
lichen Lehre Christi oder des Propheten Mohammed ent<br />
fernt. In unseren Tagen hätte er gewiss seine Stimme da<br />
gegen erhoben, wie geistliche Vertreter des Judentums,<br />
Christentums und des Islam ihre Anhänger scharenweise<br />
gegeneinander aufhetzen,statt zusammen auf den ihnen<br />
allen heiligen Tempelberg zu gehen, um dort miteinander<br />
zu dem gemeinsamen Gott ihres Stammvaters Abraham<br />
um Frieden zu beten.<br />
Wie sehr Goethe die Entfernung der Religionen <strong>von</strong><br />
der ursprünglichen Lehre ihrer Gründer im Laufe der<br />
Jahrhunderte beklagte, geht deutlich aus dem Buch des<br />
Unmuts hervor:<br />
Sonst welm man den heiligen Koran zitierte<br />
Nannte man die Sure den Vers dazu<br />
Und jeder Muslim, wie sichs gebürte,<br />
Fühlte sein Gewissen in Respekt und Ruh.<br />
Die neuen Derwische wissens nicht besser<br />
115
Si.e schwatzen das Alte, das Neue dazu<br />
DIe VerwilTung wird täglich grösser<br />
O! Heiliger Koran! O! ewige Ruh! '<br />
Bei dem was Goethe hier beklagt, hatte er nicht nur<br />
speziell die Prozesse der Koran-Überlieferung und die<br />
Aufspaltung der verschiedenen Glaubensrichtungen in<br />
nerhalb des Islam im Süm, sondern auch parallele Er<br />
scheinungen innerhalb der christlichen Kirchengeschichte<br />
vom U -Cl· .<br />
r mstentum bIS zu den machtpolitischen Exzes-<br />
sen in späteren Jahrhunderten .. Darüber gibt ein Gedicht<br />
Aufschluß, das er zum gleichen Zeitpunkt (Juli 1819)<br />
schrieb als Sonst d I ·1·<br />
, " wenn en leI Igen Koran zitierte" ent-<br />
stand. DOli heißt es mit Bezug auf Christus:<br />
Von deinem Liebesmahl<br />
\Vill man nichts wissen ,<br />
Für einen Christen ist' s<br />
Ein böser Bissen.<br />
Denn kaum verläßt der Herr<br />
Die Grabes-Tücher.<br />
Gleich schreibt ein Schelmenvolk<br />
Absurde Bücher ...<br />
Noch viel harschere Töne schlug Goethe in Versen an,<br />
die sich nach seinem Tode im Nachlass fandeI1.· "Es ist<br />
116<br />
die ganze Kirchengeschichte I Mischmasch <strong>von</strong> Irrtum lmd<br />
<strong>von</strong> Gewalt." und: "Mit Kirchengeschichte was hab ich zu<br />
schaffen? Ich sehe weiter nichts als Pfaffen ... "<br />
Die oben zitierten Verse aus dem Buch des Unmuts:<br />
Die VerwilTung wird täglich grösser,<br />
O! Heiliger Koran! O! ewige Ruh!<br />
klingen wie ein heute geschriebener Stoßseufzer. Doch es<br />
ist nicht das letzte Wort des Divan-Dichters Goethe. 1m<br />
Gegenteil, sein West-östlicher Divan insgesamt enthält<br />
eine ganz andere, unüberhörbar positive ,message'. Und<br />
darüber hinaus hinterließ Goethe der Nachwelt noch eine<br />
Vision, die gewiß im Zusammenhang stand mit dem ihn<br />
nachhaltig bewegenden Erlebnis der islamischen Gebets<br />
versammlung in Weimar. In einem 1816 geschriebenen<br />
Aufsatz über das bevorstehende 300. Jubiläum <strong>von</strong> Martin<br />
Luthers Refonnation wandte Goethe sich, obwohl er sel<br />
ber <strong>von</strong> Haus aus Lutheraner war, dagegen, dass die Pro<br />
testanten im Jahr 1817 das Reformationsfest mit großer<br />
Festlichkeit begehen wollten. Er argumentierte: an einem<br />
solchen separaten, nur <strong>von</strong> Lutheranern begangenen Kir<br />
chenfest kölme ein reines Gemüt keine vollkommene<br />
Freude haben, weil man "an Zwiespalt und Unfrieden, ein<br />
117
ungeheures Unglück einiger Jahrhunderte eriImert" werde.<br />
Vor allem - und das sei noch schlimmer - müsse man sich<br />
sagen, dass man sich bei einem solchem Fest <strong>von</strong> den an<br />
deren trenne, mit denen man noch 14 Tage zuvor - am 18.<br />
Oktober, dem Gedenktag der Välkerschlacht bei Leipzig<br />
den gemeinsamen Sieg gefeiert habe. Dieselben Men<br />
schen, mit denen man sich gerade eben aufs innigste und<br />
kräftigste verbunden gefühlt habe, kränke man nun durch<br />
diese Trennung.<br />
Was Goethe dagegen in Vorschlag bringt, ist eine Fei<br />
er, die alle Konfessionen vereinigen soll, ein "Fest der<br />
reinsten Humanität", wie er es nennt. An diesem Fest solle<br />
niemand fragen, <strong>von</strong> welcher Konfession der andere sei:<br />
Alle ziehen vereiniget zur Kirche und werden<br />
<strong>von</strong> demselben Gottesdienst erbaut; alle bilden<br />
Einen Kreis um's Feuer und werden <strong>von</strong> Einer<br />
Flamme erleuchtet. Alle erheben den Geist, an<br />
jenen Tag gedenkend, der seine Glorie nicht etwa<br />
nur Christen, sondern auch Juden, Mahometanern<br />
und Heiden zu danken hat.<br />
Goethes Gedanken blieben ein Wunschtraum, der zu<br />
seinen Lebzeiten nicht verwirklicht wurde, ja im 21. J ahr<br />
hundert scheinen wir weiter da<strong>von</strong> entfernt zu sein denn<br />
118<br />
Je. Dennoch wäre Goethes Vision durchaus realisierbar,<br />
wenn mehr und mehr Menschen in Ost und West es sich<br />
zur Aufgabe machten, auf ihre Verwirklichung hin zu<br />
wirken. Mit seiner offenen Sehweise war Goethe seiner<br />
eigenen Zeit voraus, und doch hat er in den nachfolgenden<br />
Geschlechtern mehr und mehr Menschen den Blick gewei<br />
tet und geholfen, Vorurteile abzubauen. Unter seinen ei<br />
genen Landsleuten waren es die nobelsten Geister, die<br />
seinem Beispiel folgten. Seine Stimme aber tönte auch<br />
nach Osteuropa herüber, wo sie die bedeutendsten slawi<br />
schen Dichter erreichte: Alexander Puschkin (1799-<br />
1837), den großen russischen und Adam Mickiewicz<br />
(1798-1855), den großen polnischen Dichter. Sie folgten<br />
Goethes Beispiel im West-östlichen Divan, indem sie Ge<br />
dichte schufen, in denen sie sich ernsthaft, intensiv und<br />
voller Sympathie mit der islamischen Welt und ihren Le<br />
bensformen auseinander setzten. Doch auch in den ,Ori<br />
ent' drang Goethes Stimme herüber: der muslimische,<br />
indo-pakistanische Dichter-Philosoph Muhammad Igbal<br />
(1877-1938) schuf in Lahor seine wunderbare Borschaft<br />
des Ostens (Payam-i Afashriq). Ein reines Echo auf Goe-<br />
119
thes West-östlichen Divan - aus der Feder des geistigen<br />
Vaters <strong>von</strong> Pakistan!<br />
Wenn die Menschen in Ost und West, statt alte Vorur<br />
teile zu konservieren, auf die Stinm1cn dieser edelsten<br />
Geister hörten und sie als Lehrer und Vorbilder betrachte<br />
ten, so stünde es besser um die heutige Welt.<br />
120