Wiener Klangstil - Universität für Musik und darstellende Kunst Wien
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Definition: „<strong><strong>Wien</strong>er</strong> <strong>Klangstil</strong>“<br />
Der Begriff "<strong><strong>Wien</strong>er</strong> <strong>Klangstil</strong>" ist ein relativ neuer, noch nicht exakt definierter Begriff, der<br />
zur Umschreibung der Charakteristiken des Musizierstils im Bereich der Orchester- <strong>und</strong><br />
Kammermusik in <strong>Wien</strong>, benützt wird.<br />
Entstehung. Der Begriff "<strong><strong>Wien</strong>er</strong> <strong>Klangstil</strong>" findet sich erstmals 1966 in einem Schreiben des<br />
damaligen Präsidenten der Akademie <strong>für</strong> <strong>Musik</strong> <strong>und</strong> <strong>darstellende</strong> <strong>Kunst</strong> in <strong>Wien</strong>, Dr. Hans<br />
Sittner, an das B<strong>und</strong>esministerium, indem er die Neugründung von sechs wissenschaftlichen<br />
Instituten <strong>für</strong> das Studienjahr 1966/67 beantragt. Darunter ein "Institut <strong>für</strong> <strong><strong>Wien</strong>er</strong> <strong>Klangstil</strong>".<br />
Dieses Institut existierte bis 1980 unter dem Institutsleiter Prof. Dr. Hans Hadamovsky nur<br />
auf dem Papier <strong>und</strong> zeigte keinerlei Aktivitäten. 1971 wurde in einem Brief an das Rektorat<br />
vom Institutsleiter erstmals der Zweck des Institutes definiert: die Schaffung der stofflichen<br />
Gr<strong>und</strong>lagen des "<strong><strong>Wien</strong>er</strong> <strong>Klangstil</strong>s". 1973 erfolgte die Herausgabe eines dreibändigen,<br />
handschriftlich abgefassten Werkes "Der <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Bläserstil" durch Dr. Hadamovsky im<br />
Eigenverlag, in dem erstmals die Besonderheiten der <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Musiziertradition zum<br />
damaligen Zeitpunkt aus durchaus subjektiver <strong>und</strong> wissenschaftlich anfechtbarer Sicht,<br />
schriftlich festgelegt <strong>und</strong> definiert wurden.<br />
1980 wurde das Institut durch die Zuteilung einer Assistentenstelle zum Leben erweckt. Es<br />
folgten Untersuchungen auf naturwissenschaftlicher Basis zu den baulichen, akustischen<br />
<strong>und</strong> spieltechnischen Besonderheiten der <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Oboe, des <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Horns <strong>und</strong> der <strong><strong>Wien</strong>er</strong><br />
Pauke. Zahlreiche nationale, vor allem aber internationale Publikationen verankerten den<br />
Begriff "<strong><strong>Wien</strong>er</strong> <strong>Klangstil</strong>" im In- <strong>und</strong> Ausland ohne jedoch eine Definition, was darunter zu<br />
verstehen sei, bereitzustellen.<br />
Definition. Der Begriff "<strong><strong>Wien</strong>er</strong> <strong>Klangstil</strong>" bezeichnet eine sich bezüglich der stilistischen<br />
Ausführung <strong>und</strong> der klanglichen Präferenzen von internationalen Gepflogenheiten<br />
unterscheidende Interpretation von Werken der Orchester- <strong>und</strong> Kammermusikliteratur durch<br />
<strong><strong>Wien</strong>er</strong> (<strong>und</strong> zum Teil österreichische) Orchester.<br />
Merkmale bei Bläsern. Sparsamer <strong>und</strong> gezielter Einsatz des Vibratos als Ausdrucksmittel<br />
<strong>und</strong> nicht generell als Stilmittel. Präferenz <strong>für</strong> Instrumente, die eine starke<br />
Klangfarbenänderung in Abhängigkeit von der gespielten Dynamik ermöglichen. Bei Oboe,<br />
Horn, Posaune <strong>und</strong> Tuba aufgr<strong>und</strong> der engeren Mensur bzw. des leichteren Rohrblattes<br />
generell eine hellere (teiltonreichere) Klangfarbe. Bei Klarinette <strong>und</strong> Trompete ist jedoch eine<br />
gegenüber dem international üblichen Instrumentarium wesentlich dunklere (teiltonärmere)<br />
Klangfärbung charakteristisch.<br />
Merkmale beim Schlagwerk. Bei Pauken <strong>und</strong> Trommeln werden ausschließlich (<strong>und</strong> nur in<br />
<strong>Wien</strong>) Ziegenfelle eingesetzt. Durch die bei diesen Fellen stärker ausgeprägten radialen<br />
Schwingungsmoden ist der Anteil der tonalen Komponenten im Klang der <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Pauke<br />
wesentlich höher. Darüber hinaus ist eine den Felleigenschaften angepasste Wahl des<br />
Schlägelkopfmaterials <strong>und</strong> der Schlägelhaltung feststellbar.<br />
Merkmale bei Streichern. Es gibt keine Unterschiede zum Instrumentarium anderer<br />
internationaler Orchester, die Merkmale des "<strong><strong>Wien</strong>er</strong> Streicherklanges" beruhen<br />
ausschließlich auf der Komponente "Mensch". Bei den meisten Streichinstrumenten sind von<br />
der Zeit der <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Klassik bis heute durchgehend "Streicherschulen" nachweisbar, in denen<br />
die Lehrer selbst Konzertmeister der großen <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Orchester waren <strong>und</strong> nach dem Meister-<br />
Schüler-Prinzip die Musiziertradition kontinuierlich weitergaben. Davon unabhängig ist das<br />
Anwenden von kammermusikalischen Prinzipien im Orchesterspiel <strong>und</strong> der Einfluss<br />
böhmischer, tschechischer <strong>und</strong> russischer Streicherschulen ein wesentliches Kennzeichen<br />
des <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Streicherklanges.<br />
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Allgemeine Merkmale. Stilistisch liegen die Wurzeln des <strong><strong>Wien</strong>er</strong> <strong>Klangstil</strong>s in den<br />
Interpretationsregeln der <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Klassik, durchsetzt mit Einflüssen der Deutschen Romantik.<br />
Was die Klangfarbe betrifft, so liegt die Präferenz eindeutig bei Instrumenten, welche den<br />
<strong>Musik</strong>erInnen eine gezielte Gestaltung der Klangfarbe in Abhängigkeit vom musikalischen<br />
Kontext erlauben.<br />
So wie der Mensch selbst ist aber auch die stilistische <strong>und</strong> klangliche Charakteristik eines<br />
Orchesters einem kontinuierlichem Wandel unterworfen. Am Beispiel des Gebrauchs des<br />
Vibratos bei den Streichern der <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Philharmoniker im Laufe des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts kann<br />
dieser permanente Evolutionsprozess nachvollzogen werden. Der "<strong><strong>Wien</strong>er</strong> <strong>Klangstil</strong>" ist<br />
daher etwas sich durchaus Veränderndes. Unverändert bleibt jedoch das Festhalten an den<br />
klanglichen <strong>und</strong> stilistischen Gr<strong>und</strong>prinzipien. Dieses Festhalten an den klanglichen<br />
Gr<strong>und</strong>prinzipien ist der Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> das besondere, nur in <strong>Wien</strong> verwendete Instrumentarium<br />
bei den Blasinstrumenten.<br />
Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden alle Orchesterinstrumente einer<br />
Modifikation in Richtung größerer Lautstärke (Schalleistung) unterworfen. Bei den Holz- <strong>und</strong><br />
Blechblasinstrumenten erfolgte zusätzlich aufgr<strong>und</strong> der gestiegenen technischen<br />
Anforderungen überhaupt eine Neukonstruktion. Bei Trompeten setzte sich endgültig die<br />
Ventilversion, beim Horn das Doppelhorn (Erfindung durch E. Kruspe im Jahre 1900) durch.<br />
Auffallend ist, dass die <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Orchester alle Instrumente, bei welchen die komfortablere<br />
Spielbarkeit im Zuge der Neukonstruktion zu Lasten der klanglichen Differenzierbarkeit ging,<br />
ablehnten <strong>und</strong> auch heute noch ablehnen. Deutlich zeigt sich dies bei den<br />
Holzblasinstrumenten. Während weltweit die von Theobald Böhm in der zweiten Hälfte des<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>erts neu konstruierten Instrumente in Verwendung stehen, ist die moderne<br />
"<strong><strong>Wien</strong>er</strong> Oboe" nichts anderes als ein modifiziertes Instrument des Dresdner<br />
Instrumentenmachers Carl Golde (verstorben 1873). Bei Klarinette <strong>und</strong> Fagott werden leicht<br />
modifizierte deutsche Instrumente eingesetzt, nur im Falle der Querflöte entschied man sich<br />
nach langem Zögern erst ab zirka 1930 nach <strong>und</strong> nach zum Umstieg auf das weltweit<br />
verwendete Böhm-Modell. Gr<strong>und</strong> da<strong>für</strong> könnte sein, dass –wie neuere Untersuchungen<br />
zeigten- die mit der Querflöte produzierte Klangfarbe durchaus ähnlich der Situation bei den<br />
Streichinstrumenten nicht so sehr vom Instrument, sondern weitestgehend vom Spieler, bzw.<br />
der Spielerin abhängt.<br />
Beim Horn verzichten die <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Orchester auf die leichtere Spielbarkeit <strong>und</strong> höhere<br />
Sicherheit des Doppelhorns um den Vorteil der klanglichen Vielfalt nicht zu verlieren. Das<br />
<strong><strong>Wien</strong>er</strong> Horn ist ein Naturhorn der <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Klassik mit hinzugefügten Pumpenventilen des<br />
Instrumentenmachers Leopold Uhlmann (1806-1878). Bei den Trompeten wird im Gegensatz<br />
zu den weltweit eingesetzten Perinet-Ventil-Instrumenten das alte deutsche Modell mit<br />
Drehventilen verwendet, die <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Tuba in F ist ein eigenständiger Instrumententypus.<br />
Lediglich bei den Posaunen folgen die <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Orchester dem Mainstream, obwohl auch hier<br />
durch die Wahl engerer Mensuren eine klangliche Präferenz erkennbar ist.<br />
Bei den Streichinstrumenten hatten die im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert vorgenommenen Änderungen<br />
(größerer Bassbalken, steilerer Winkel des Griffbrettes <strong>und</strong> höherer Steg) keinen so großen<br />
Einfluss auf das klangliche Verhalten der Instrumente wir bei den Blasinstrumenten. Dies<br />
dürfte auch der Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Akzeptanz der neuen Instrumente durch die <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Orchester<br />
gewesen sein. Darüber hinaus hängt letzten Endes die mit Streichinstrumenten produzierte<br />
Klangfarbe weniger vom Instrument, sondern vielmehr von der eingesetzten Spieltechnik <strong>und</strong><br />
damit vom Menschen selbst ab.<br />
2
Der erste naturwissenschaftliche <strong>und</strong> durch die Teilnahme von weltweit über tausend<br />
Testpersonen auch statistisch ausreichend abgesicherte Beweis <strong>für</strong> die Existenz eines<br />
bisher nur behaupteten "<strong><strong>Wien</strong>er</strong> <strong>Klangstil</strong>s" erfolgte 2002 durch M. Bertsch. Anhand von<br />
käuflich erwerbbaren CD-Aufnahmen der <strong><strong>Wien</strong>er</strong>, Berliner <strong>und</strong> New Yorker Philharmoniker<br />
wurde mit Hilfe von r<strong>und</strong> 1200 Personen, darunter Laien, Amateur-<strong>Musik</strong>erInnen,<br />
professionelle OrchestermusikerInnen <strong>und</strong> SolistInnen, Tonmeister <strong>und</strong> Studierenden von<br />
<strong>Musik</strong>universitäten die Erkennbarkeit der <strong><strong>Wien</strong>er</strong> Philharmoniker im Blindtest untersucht.<br />
Mag. Gregor Widholm <strong>Wien</strong>, 24.05.2007<br />
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