Clancy, Tom - Jack Ryan 12 - Red Rabbit.pdf

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schulte.josefine23
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04.03.2013 Aufrufe

sie nur einen Spaziergang, um sich an die Umgebung, die Sehenswürdigkeiten und die Gerüche zu gewöhnen. Das war die Höhle des Löwen, und sie hatte sich darin eingenistet wie ein Virus – ein tödlicher, hoffte sie. Sie war als Mary Kaminski geboren worden, Enkelin eines Dieners des Hauses Romanow. Großvater Wanja war eine der zentralen Persönlichkeiten ihrer Jugend gewesen. Von ihm hatte sie von klein auf Russisch gelernt, nicht das gewöhnliche Russisch, das heute gesprochen wurde, sondern das gewählte, literarische Russisch einer längst vergangenen Zeit. Die Lyrik Puschkins konnte sie zum Weinen bringen, und in dieser Hinsicht war sie mehr Russin als Amerikanerin, denn die Russen hatten ihre Dichter seit Jahrhunderten verehrt, während sie in Amerika hauptsächlich dazu abgestellt wurden, Popsongs zu schreiben. Es gab an diesem Land viel zu bewundern und viel zu lieben. Aber nicht an seiner Regierung. Mary Pat war zwölf gewesen, fast schon ein Teenager, als Großvater Wanja ihr die Geschichte von Aleksei erzählt hatte, dem russischen Kronprinzen. Ein braver Junge, hatte ihr Großvater gesagt, aber nicht vom Glück begünstigt, da er an Hämophilie litt und daher ständig kränkelte. Oberst Wanja Borissowitsch Kaminski, von niederem Adel und Offizier der Berittenen Kaisergarde, hatte dem Jungen das Reiten beigebracht, denn das musste ein Prinz damals können. Der Oberst war bei der Ausbildung äußerst vorsichtig – damit der kleine Aleksei nicht hinfiel und sich blutig schlug, ging er oft an der Hand eines Matrosen der Kaiserlichen Flotte –, aber zur großen Freude Nikolaus’ II. und Zarin Alexandras wurden die Bemühungen schließlich von Erfolg gekrönt. Am Ende standen sich Lehrer und Schüler auch persönlich sehr nahe, nicht gerade wie Vater und Sohn, aber vielleicht wie Onkel und Neffe. Dann war Großvater Wanja an die Front gegangen und hatte gegen die Deutschen gekämpft, geriet aber schon sehr früh, nach der Schlacht von Tannenberg, in Kriegsgefangenschaft. In einem deutschen Kriegsgefangenenlager erfuhr er dann auch von der Revolution. Es gelang ihm, nach Russland zurückzukehren, wo er in der Weißen Armee an dem zum Scheitern verurteilten Kampf gegen die Revolution teilnahm. Dann erfuhr er, dass der Zar und seine ganze Familie von den Besetzern Jekaterinburgs ermordet worden waren. An diesem Punkt wurde Wanja klar, dass der Kampf verloren war, und es gelang ihm zu fliehen und nach Amerika zu 163

entkommen. Dort hatte er ein neues Leben begonnen, allerdings eines in untröstlicher Trauer um die Toten. Mary Pat konnte sich noch gut an die Tränen in den Augen ihres Großvaters erinnern, wenn er diese Geschichte erzählte, und diese Tränen hatten seinen tief sitzenden Hass auf die Bolschewiken auf sie übertragen. Inzwischen hatte dieser Hass etwas nachgelassen. Sie war keine Fanatikerin, aber wenn sie einen Russen in Uniform sah oder in einem vorbeirauschenden ZIL auf dem Weg zu einer Parteisitzung, sah sie das Gesicht des Feindes, eines Feindes, der unbedingt besiegt werden musste. Dass der Kommunismus der Feind ihres Landes war, war dabei schon fast von zweitrangiger Bedeutung. Sollte sie einen Knopf finden, der dieses verhasste politische System zu Fall brächte, würde sie ihn drücken, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Und deshalb war der Posten in Moskau der beste aller denkbaren Posten gewesen. Denn Wanja Borissowitsch Kaminski hatte ihr nicht nur seine alte, traurige Geschichte erzählt, sondern ihr auch eine Lebensaufgabe mit auf den Weg gegeben – und gleichzeitig die nötige Leidenschaft, sie zu erfüllen. Der Entschluss, für die CIA zu arbeiten, war etwas so Selbstverständliches gewesen wie das Ausbürsten ihrer honigblonden Haare. Und jetzt, als sie hier spazieren ging, verstand sie die tiefe Liebe ihres Großvaters für diese vergangene Welt zum ersten Mal wirklich. Alles war anders als das, was sie aus Amerika kannte, von der Neigung der Hausdächer über die Farbe des Asphalts bis hin zu den ausdruckslosen Gesichtern der Menschen. Sie starrten sie im Vorbeigehen an, denn in ihren amerikanischen Kleidern stach sie heraus wie ein Pfau unter Krähen. Einige rangen sich sogar ein Lächeln für den kleinen Eddie ab, denn so griesgrämig die Russen auch sein mochten, zu Kindern waren sie immer nett. Spaßeshalber fragte Mary Pat einen Milizbeamten – so hießen hier die Polizisten – nach dem Weg, und er war sehr zuvorkommend, half ihr bei der richtigen Aussprache des Russischen und erklärte, wie sie gehen musste. Das war schon mal gut gewesen. Sie hatte einen Schatten, stellte sie fest, einen KGB-Beamten, etwa fünfunddreißig, der ihr in zirka fünfzig Meter Abstand folgte und sein Bestes tat, unsichtbar zu bleiben. Sein Fehler war, dass er wegsah, wenn sie sich umdrehte. Wahrscheinlich hatte er das sogar bei der Ausbildung 164

entkommen. Dort hatte er ein neues Leben begonnen, allerdings<br />

eines in untröstlicher Trauer um die Toten.<br />

Mary Pat konnte sich noch gut an die Tränen in den Augen ihres<br />

Großvaters erinnern, wenn er diese Geschichte erzählte, und diese<br />

Tränen hatten seinen tief sitzenden Hass auf die Bolschewiken auf<br />

sie übertragen. Inzwischen hatte dieser Hass etwas nachgelassen.<br />

Sie war keine Fanatikerin, aber wenn sie einen Russen in Uniform<br />

sah oder in einem vorbeirauschenden ZIL auf dem Weg zu einer<br />

Parteisitzung, sah sie das Gesicht des Feindes, eines Feindes, der<br />

unbedingt besiegt werden musste. Dass der Kommunismus der<br />

Feind ihres Landes war, war dabei schon fast von zweitrangiger<br />

Bedeutung. Sollte sie einen Knopf finden, der dieses verhasste politische<br />

System zu Fall brächte, würde sie ihn drücken, ohne auch nur<br />

mit der Wimper zu zucken.<br />

Und deshalb war der Posten in Moskau der beste aller denkbaren<br />

Posten gewesen. Denn Wanja Borissowitsch Kaminski hatte ihr<br />

nicht nur seine alte, traurige Geschichte erzählt, sondern ihr auch<br />

eine Lebensaufgabe mit auf den Weg gegeben – und gleichzeitig die<br />

nötige Leidenschaft, sie zu erfüllen. Der Entschluss, für die CIA zu<br />

arbeiten, war etwas so Selbstverständliches gewesen wie das Ausbürsten<br />

ihrer honigblonden Haare.<br />

Und jetzt, als sie hier spazieren ging, verstand sie die tiefe Liebe<br />

ihres Großvaters für diese vergangene Welt zum ersten Mal wirklich.<br />

Alles war anders als das, was sie aus Amerika kannte, von der<br />

Neigung der Hausdächer über die Farbe des Asphalts bis hin zu<br />

den ausdruckslosen Gesichtern der Menschen. Sie starrten sie im<br />

Vorbeigehen an, denn in ihren amerikanischen Kleidern stach sie<br />

heraus wie ein Pfau unter Krähen. Einige rangen sich sogar ein<br />

Lächeln für den kleinen Eddie ab, denn so griesgrämig die Russen<br />

auch sein mochten, zu Kindern waren sie immer nett. Spaßeshalber<br />

fragte Mary Pat einen Milizbeamten – so hießen hier die Polizisten<br />

– nach dem Weg, und er war sehr zuvorkommend, half ihr bei der<br />

richtigen Aussprache des Russischen und erklärte, wie sie gehen<br />

musste. Das war schon mal gut gewesen. Sie hatte einen Schatten,<br />

stellte sie fest, einen KGB-Beamten, etwa fünfunddreißig, der ihr<br />

in zirka fünfzig Meter Abstand folgte und sein Bestes tat, unsichtbar<br />

zu bleiben. Sein Fehler war, dass er wegsah, wenn sie sich<br />

umdrehte. Wahrscheinlich hatte er das sogar bei der Ausbildung<br />

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