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DIE NEUE ORDNUNG - Tuomi

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<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong><br />

<strong>ORDNUNG</strong><br />

begründet von Laurentius Siemer OP<br />

und Eberhard Welty OP<br />

Nr. 6/2007 Dezember 61. Jahrgang<br />

Für Edgar Nawroth (95)<br />

Editorial<br />

Wolfgang Ockenfels,<br />

Ordnung muß sein<br />

Reinhard Marx, Für P. Edgar Nawroth OP<br />

zum 95. Geburtstag<br />

Bodo Gemper, Die rheinischen Wegbereiter<br />

der Sozialen Marktwirtschaft<br />

Hans Jürgen und Maria Helene Schlösser,<br />

Das Menschenbild von Wilhelm Röpke<br />

Hans Braun, „Kultursensible“ soziale<br />

Dienstleistungen<br />

Hans Joachim Türk, Die politische Philosophie<br />

von John Rawls und die katholische<br />

Soziallehre<br />

Bericht und Gespräch<br />

Rainer Kreuzhof, Ethikrichtlinien<br />

im Unternehmen<br />

Hans-Peter Raddatz,<br />

Christentum und Islam<br />

Besprechungen<br />

402<br />

404<br />

407<br />

422<br />

431<br />

441<br />

454<br />

462<br />

476<br />

Herausgeber:<br />

Institut für<br />

Gesellschaftswissenschaften<br />

Walberberg e.V.<br />

Redaktion:<br />

Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />

Heinrich Basilius Streithofen OP †<br />

Bernd Kettern<br />

Redaktionsbeirat:<br />

Stefan Heid<br />

Martin Lohmann<br />

Edgar Nawroth OP<br />

Herbert B. Schmidt<br />

Manfred Spieker<br />

Rüdiger von Voss<br />

Redaktionsassistenz:<br />

Andrea und Hildegard Schramm<br />

Druck und Vertrieb:<br />

Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />

53708 Siegburg<br />

Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />

Die Neue Ordnung erscheint alle<br />

2 Monate<br />

Bezug direkt vom Institut<br />

oder durch alle Buchhandlungen<br />

Jahresabonnement: 25,- €<br />

Einzelheft 5,- €<br />

zzgl. Versandkosten<br />

ISSN 09 32 – 76 65<br />

Bankverbindungen:<br />

Sparkasse KölnBonn<br />

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(BLZ 370 501 98)<br />

Postbank Köln<br />

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(BLZ 370 100 50)<br />

Anschrift der<br />

Redaktion und des Instituts:<br />

Simrockstr. 19<br />

D-53113 Bonn<br />

Tel.: 0228/21 68 52<br />

Fax: 0228/22 02 44<br />

Unverlangt eingesandte Manuskripte und<br />

Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />

Verlag und Redaktion übernehmen keine<br />

Haftung<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />

geben nicht unbedingt<br />

die Meinung der Redaktion wieder.<br />

Nachdruck, elektronische oder photomechanische<br />

Vervielfältigung nur mit<br />

Genehmigung der Redaktion<br />

http://www.die-neue-ordnung.de<br />

401


Editorial<br />

402<br />

Ordnung muß sein<br />

Wer Banknoten nachmacht oder verfälscht, sollte mit einigen Jahren Gefängnis<br />

rechnen. Wer Begriffe unter der Hand verfälscht, gilt als kreativ oder wenigstens<br />

originell. Er geht straffrei aus, obwohl er Wortblüten in Umlauf bringt, die den<br />

Austausch von Gedanken, das Gelingen der Kommunikation, von dem das<br />

Schicksal freiheitlicher Ordnungen abhängt, erheblich behindern. Das führt zur<br />

zeitraubenden Übung, vor jeder Diskussion zunächst einmal die Begriffe inhaltlich<br />

zu klären, um nicht gezielt aneinander vorbeizureden. Viele Debatten in<br />

Politik, Wirtschaft und Religion könnte man sich ersparen, wenn alle Teilnehmer<br />

damit rechnen müßten, einander mit gleicher Wortwährung heimzuzahlen.<br />

Wie sehr das nominalistische Begriffschaos inzwischen um sich greift, zeigt die<br />

Diskussion um den sogenannten „Neoliberalismus“. Dieser traditionell feststehende,<br />

sozialökonomisch eingeführte Begriff ist in den letzten Jahren völlig<br />

kontaminiert und fast in sein Gegenteil verkehrt worden. Die Weite dieses Sammelbegriffs,<br />

der verschiedene weltanschauliche, ethische und wirtschaftspolitische<br />

Implikationen umfaßt, wurde von Edgar Nawroth Anfang der sechziger<br />

Jahre differenziert erfaßt und ziemlich kritisch - nach den Gemeinwohlkriterien<br />

thomistischer Sozialphilosophie - analysiert. Natürlich sind die „neoliberalen“<br />

Positionen bis heute kritisierbar, sie bedürfen immer wieder der sozialethischen<br />

„Sinnerfüllung“. Darauf bestanden schon Sozialethiker wie Nawroth, Oswald<br />

von Nell-Breuning, Joseph Höffner und Arthur F. Utz. Diese wären aber nie auf<br />

die Idee gekommen, diesen Begriff dadurch zu entwerten, daß sie ihn, wie es<br />

heute geschieht, mit „Raubtierkapitalismus“, „Monopolkapitalismus“, „neue<br />

Armut“ und „Prekariat“ in Verbindung gebracht hätten. Denn sie wußten genau,<br />

wie stark sich der Neoliberalismus vom Paläoliberalismus unterschied.<br />

Wesentlich geprägt wurde der Begriff des Neoliberalismus von „Ordoliberalen“<br />

wie Wilhelm Röpke und Walter Eucken, und politisch-praktisch eingeführt vor<br />

allem durch Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard - im „Stilgedanken“ der<br />

Sozialen Marktwirtschaft. Wer diesen jetzt auf den uralten, schrankenlos ungeordneten<br />

Wirtschaftsliberalismus zurückschraubt, begeht eine semantische Manipulation<br />

und verzerrt die Wahrnehmung der Wirklichkeit. An dieser Begriffsverwirrung<br />

sind vor allem neosozialistische Falschmünzer in Politik und Medien<br />

interessiert. Ihnen geht es um die Ermächtigung des Staates, in einzelne Abläufe<br />

des Marktes zu intervenieren.<br />

Gerade die schlimmen Erfahrungen mit staatlich gelenkten Zentralverwaltungswirtschaften<br />

einerseits und mit dem ungezügelten Kapitalismus andererseits<br />

bewegten die Neoliberalen, über die Rolle des freiheitlichen Staates neu nachzudenken:<br />

Der Staat ist durchaus verantwortlich für die institutionelle Sicherung<br />

wirtschaftlicher Freiheit. Und der überaus produktive Wettbewerb auf dem<br />

Markt bedarf der Eingliederung in eine kulturelle, gesellschaftliche und staatli-


che Ordnung. Diese Intention ist in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit<br />

Sozialer Marktwirtschaft bisher ganz gut aufgegangen, wenn es auch immer<br />

Spannungen zwischen den Rechtsansprüchen des Sozialen und den Freiheitsforderungen<br />

des Marktes gegeben hat und geben wird.<br />

Auf nationalökonomischer Ebene hat die neoliberale Ordnungspolitik jedenfalls<br />

die Bildung von staatlichen und privaten Monopolen weitgehend verhindern<br />

können. Mit der „Globalisierung“ ziehen aber dunkle Wolken einer neuen Wirklichkeit<br />

herauf. Nun ist es die ungenügend geordnete Weltwirtschaft, der man<br />

jene früh- und liberalkapitalistischen Auswüchse vorher- oder bereits nachsagen<br />

kann, vor denen uns die neoliberalen Ordnungspolitiker gewarnt haben. Denn<br />

leider gilt die Soziale Marktwirtschaft nur auf nationaler Ebene, eingeschränkt<br />

auch auf europäischer. Und es steht zu befürchten, daß sie sich dort nur halten<br />

kann, wenn sie sich zugleich auf die Weltwirtschaft ausdehnt. Kann aber die<br />

Soziale Marktwirtschaft, wie sie sich bei uns bewährt hat, auch auf Weltebene<br />

Geltung erlangen? Ohne den kolonialen Anspruch zu erheben, die Welt möge<br />

doch nach deutschem Wesen genesen?<br />

Im Weltmaßstab scheint der Neoliberalismus deutscher Prägung eher an einem<br />

Mangel als an einem Überfluß zu leiden. Lassen sich die neoliberalen Grundeinsichten<br />

universalisieren? Können sie geschichts- und kulturübergreifende Geltung<br />

beanspruchen? Über eine „internationale Ordnung“ der Marktwirtschaft<br />

hatte sich Wilhelm Röpke bereits 1945 Gedanken gemacht. Heute hätte er es<br />

unter den Bedingungen der „Globalisierung“ mit weltweiten Ordnungsdefiziten<br />

zu tun, mit neuen sozialen und ökologischen Fragen. Von einer globalen Ordnung<br />

erwarten wir das Kunststück, „Wohlstand für alle“ durch fairen Wettbewerb<br />

zu schaffen, ohne den Umwelt-, Natur- und Klimaschutz zu vernachlässigen.<br />

Was sagen uns die Signale der Verlierer und Gegner der Globalisierung?<br />

Wie kann die neue Völkerwanderung, wie sollen die Probleme der Emigration<br />

und Immigration geregelt werden? Armutsbekämpfung und Entwicklungszusammenarbeit<br />

machen neue Initiativen der Staaten, Unternehmen und Religionsgemeinschaften<br />

erforderlich. Neue Formen von Terror und Krieg bedrohen die<br />

Weltwirtschaft als Verkehrswirtschaft. Wir suchen nach einer vernünftigen,<br />

gerechten, solidarischen Friedensordnung, die einen „Kampf der Kulturen“ verhindert.<br />

Wohin entwickelt sich das Völkerrecht und das Verständnis der Menschenrechte?<br />

Gibt es noch gerechte Gründe für einen Krieg? Die Ordnung der<br />

Weltwirtschaft wirft überdies eine Reihe von Rechtsproblemen auf (Eigentumsrechte,<br />

Wettbewerbs- und Kartellrecht, Arbeitsrecht, terms of trade). Und es sind<br />

gewiß nicht die Ökonomen allein, die uns diese Fragen beantworten können.<br />

Wer entscheidet? Auf die Willensbildung einer Weltgesellschaft können wir<br />

noch lange warten. Und so wünschenswert die Demokratie als globale politische<br />

Form wäre: Auf einen zentralen Weltstaat würden wir gerne verzichten. Vielleicht<br />

findet die katholische Weltkirche einige Antworten auf die globalen Überlebens-<br />

und Ordnungsfragen. Ihr Naturrechtsdenken bietet sich als Grundlage für<br />

ein „Weltethos“ an. Man wird - mit diesem Papst - ja noch hoffen dürfen.<br />

Wolfgang Ockenfels<br />

403


404<br />

Reinhard Marx<br />

Für P. Edgar Nawroth OP zum 95. Geburtstag<br />

Lieber Pater Nawroth,<br />

wie gerne erinnere ich mich an unsere Begegnungen in der Kommende in Dortmund,<br />

dem Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn. Knapp zwei Jahre nach<br />

meiner Priesterweihe – ich war kaum 28 Jahre alt – schickte Erzbischof Degenhardt<br />

mich an dieses Institut und beauftragte mich, intensiv die Katholische<br />

Soziallehre zu studieren und auch eine Promotion zu beginnen. Ich muß<br />

zugeben, daß ich während meines Studiums kein besonderes Interesse für die<br />

Christliche Gesellschaftslehre entwickelt habe, wenn auch mein Sinn für das<br />

Politische immer sehr stark entwickelt war. Das lag sicher auch an meinem Elternhaus,<br />

insbesondere an meinem Vater, der auf einem Zementwerk als Schlossermeister<br />

arbeitete und gewerkschaftlich engagiert war. Insofern ergab es sich<br />

von selbst, daß er eher „links“ orientiert war und manche kirchliche Position<br />

kritisch beurteilte. Im Alter von zehn/elf Jahren hörte ich von ihm zum ersten<br />

Mal den Namen Oswald von Nell-Breuning. Er meinte, das sei einer der wenigen<br />

in der Kirche, der überhaupt etwas von der Arbeiterfrage verstanden habe.<br />

Aber als ich nach Dortmund kam, war doch vieles neu und die Soziallehre der<br />

Kirche, die mir in groben Zügen bekannt war, mußte nun in die aktuellen konkreten<br />

politischen Auseinandersetzungen hineingestellt werden. Die großen<br />

Prinzipien mußten sich bewähren. Ich fand mich also im politischgesellschaftlichen<br />

„Handgemenge“ wieder, das mir aber durchaus große Freude<br />

machte.<br />

Wie dankbar war und bin ich deshalb für die Menschen, die wie Sie, lieber Pater<br />

Nawroth, die gesamte Tradition der Katholischen Soziallehre im Blick hatten<br />

und sich nicht scheuten, immer wieder in die Tagesdiskussion einzusteigen. Ihre<br />

Vorträge und Diskussionsbeiträge waren geprägt durch ein klares Denken, eine<br />

scharfe Analyse im Horizont der Prinzipien der Soziallehre und ein nachvollziehbares<br />

sozialethisches Urteil. Ich habe Sie in der Diskussion mit Unternehmern<br />

und Gewerkschaftern erlebt: Sie machten immer auf alle Beteiligten einen<br />

großen überzeugenden Eindruck. Das gilt auch für Ihre Referate in unserem<br />

Arbeitskreis hoch angesehener Sozialwissenschaftler, der sich einmal im Jahr<br />

traf.<br />

Lieber Pater Nawroth, Sie stehen auch als Zeitzeuge einer großen und wichtigen<br />

Epoche der Katholischen Soziallehre in unserem Land vor mir. Nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg – und zum Teil auch schon während des Krieges – waren es Jesuiten<br />

und Dominikaner, die mitarbeiteten an Konzepten für ein zukunftsfähiges<br />

Deutschland. Vielen war klar: Nach einer solchen Katastrophe durfte es keinen<br />

Neuanfang ohne Umkehr geben. Es sollte ein Gemeinwesen aufgebaut werden,<br />

das die Freiheit des Menschen respektiert. Ein Staat sollte entstehen, der sich am


Gemeinwohl orientiert und der die soziale Gerechtigkeit im Blick behält. Wie<br />

das im einzelnen aussehen könnte, darüber gab es natürlich durchaus Streit. Sie,<br />

Pater Nawroth, konnten immer wieder spannend von den vierziger und fünfziger<br />

Jahren erzählen, von der Diskussion über den Ordoliberalismus und seine Beurteilung<br />

durch die Katholische Soziallehre und auch von der Vorbereitung des<br />

Godesberger Programms der SPD, das schließlich ein Ja zur sozialen Marktwirtschaft<br />

ausgesprochen hat. Immer wieder habe ich gespürt, daß Sie die formulierte<br />

Idee, nach dem Zweiten Weltkrieg einen „Dritten Weg“ zwischen Kommunismus<br />

und Kapitalismus zu finden, nie ganz aufgegeben haben. So war bei<br />

Ihnen der Antikommunismus eine selbstverständliche Überzeugung, aber auch<br />

die Reserve gegenüber dem Liberalismus war spürbar, wenn auch in anderer<br />

Weise. Inwiefern der Ordoliberalismus wirklich ein Qualitätssprung war und ist<br />

oder doch nur ein „verkappter alter Liberalismus“, darum gingen die Debatten,<br />

und es waren keine fruchtlosen Debatten, denn sie gehen im Grunde bis heute<br />

weiter.<br />

Auch ein so dem Ordoliberalismus positiv zugewandter Denker wie Joseph<br />

Höffner hat die Grenzen dieses Konzepts in den fünfziger und sechziger Jahren<br />

sehr deutlich markiert. Er hat einmal festgehalten: „Soziale Marktwirtschaft und<br />

Ordoliberalismus sind nicht einfach dasselbe.“ 1 Dem würden Sie, lieber Pater<br />

Nawroth, sicher auch heute noch zustimmen. Wenn heute sogar manche meinen,<br />

die soziale Marktwirtschaft sei ein „Nachkriegsprodukt“, das sich durch die<br />

Globalisierung überholt habe, spürt man: Die Debatten sind nicht zu Ende, sie<br />

müssen im Gegenteil neu geführt werden. Und selbst die Vertreter des Ordoliberalismus<br />

der Freiburger Schule, von denen her immer noch am ehesten eine Brücke<br />

zur Katholischen Soziallehre zu bauen wäre, sind in den Wirtschaftswissenschaften<br />

heute in der Minderheit. Das beunruhigt mich sehr. Denn die Wirtschaftswissenschaft<br />

ist schließlich eine Geisteswissenschaft. Da geht es nicht nur<br />

ums Rechnen, Bilanzieren, um Mathematik und Kybernetik, sondern um das<br />

„Handeln von Menschen unter Knappheitsbedingungen“.<br />

Lieber Pater Nawroth, so sage ich Ihnen Dank für Ihre große Lebensleistung, für<br />

Ihr Zeugnis und Ihr Wirken. Ihre Themen werden uns in neuer Weise weiter<br />

begleiten. Dazu gehört die Diskussion um das Verhältnis von Staat und Markt im<br />

Rahmen einer globalen Weltwirtschaft. Wir werden weiter sprechen müssen über<br />

das Verhältnis von Arbeit und Kapital. Mit Sorge sehen wir, daß sich die Marktwirtschaften<br />

stärker zum Kapitalismus hin entwickeln und damit die Mitte jedes<br />

Wirtschafts- und Gesellschaftssystems aus dem Blick verlieren: den Menschen.<br />

Kurz vor seinem Tod veröffentliche Papst Johannes Paul II. den Interviewband<br />

„Erinnerung und Identität“. In diesem Buch fragt er sich, was denn der zentrale<br />

Konstruktionspunkt der Soziallehre der Kirche und damit auch seiner großen<br />

Sozialenzykliken „Laborem exercens“ (1981), „Sollicitudo rei socialis“ (1987)<br />

und „Centesimus annus“ (1991) sei. Und er antwortet: „Man kann sagen, daß an<br />

der Wurzel all dieser Dokumente des Lehramts das Thema der Freiheit des Menschen<br />

steht. Die Freiheit wird dem Menschen vom Schöpfer gegeben als Gabe<br />

und Aufgabe zugleich. Der Mensch ist nämlich dazu berufen, mit seiner Freiheit<br />

die Wahrheit über das Gute anzunehmen und zu verwirklichen. Indem er einen<br />

405


wahren Wert in seinem persönlichen Leben, in der Familie, im wirtschaftlichen<br />

und politischen Bereich, auf nationaler und internationaler Ebene wählt und in<br />

die Tat umsetzt, verwirklicht er seine eigene Freiheit in der Wahrheit.“ 2<br />

Johannes Paul II. hat noch einmal klargestellt: Dreh- und Angelpunkt der Katholischen<br />

Soziallehre ist das Prinzip der Personalität. Freiheit und Personalität<br />

gehören eng zusammen. Nur Personen können und sollen frei sein! Und deshalb<br />

muß die Soziallehre der Kirche immer orientiert sein am Menschen und seinen<br />

konkreten Lebensbedingungen. Im Zentrum von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft<br />

muß stets der Mensch stehen. Dafür tritt die Soziallehre der Kirche ein<br />

und dafür sind Sie, lieber Pater Nawroth, über viele, viele Jahrzehnte eingetreten.<br />

Danke!<br />

In großer und herzlicher Verbundenheit<br />

Dr. Reinhard Marx,<br />

Bischof von Trier<br />

Anmerkungen<br />

1) Vgl. Joseph Höffner, Neoliberalismus und Christliche Soziallehre (1959). In: Karl<br />

Gabriel/Hermann Josef Große-Kracht (Hg.), Joseph Höffner (1906-1987). Soziallehre und<br />

Sozialpolitik. „Der personale Faktor …“, Paderborn 2006, 187-195.<br />

2) Johannes Paul II., Erinnerung und Identität. Gespräche an der Schwelle zwischen den<br />

Jahrtausenden, Augsburg 2005, 61 f.<br />

406


Bodo Gemper<br />

Die rheinischen Wegbereiter<br />

der Sozialen Marktwirtschaft<br />

Zur Inkulturation einer neuen Ordnung*<br />

Im Rheinland trafen nach der Zeitenwende Völker aufeinander, wie Germanen,<br />

Kelten, Römer und Ubier. Sie brachten ihre Kulturen ein, die die Bewohner einander<br />

näher brachten. Sie assimilierten sich und wuchsen zu einer ethnisch kreativen<br />

Einheit zusammen. Neue kulturelle Leistungen und politische Strukturen entstanden,<br />

zunächst auf der Macht des Imperium Romanum basierend.<br />

Das Oppidum Ubiorum, das zur Colonia Claudia Ara Agrippinensium avancierte,<br />

wurde zur Hauptstadt der römischen Provinz Germania inferior und bald zum<br />

Kristallisationspunkt christlich-abendländischer Kultur, – Köln: Der Hohe Dom zu<br />

Köln ist ein wahrhaft aufstrebendes, die Lebensäußerungen übergreifendes Symbol<br />

deutscher Hochkultur. Allein sein Anblick flößt Ehrfurcht ein als Stätte der Andacht<br />

und des Gottesdienstes. Meister Gerard hat diesen größten Kirchenbau der<br />

deutschen Hochgotik entworfen und 1248 begonnen. Als Gesamtwerk wurde es<br />

1880 vollendet und geweiht. Papst Urban VI. verlieh dem Rat der freien Stadt Köln<br />

am 21. Mai 1388 das Recht zur Gründung einer Universität. Die „Kölner Universität<br />

(war) nicht nur die erste, die im damaligen Reich von einer Bürgerschaft ins<br />

Leben gerufen wurde, sondern sie entsprach zugleich mit ihrem umfassenden<br />

Lehrangebot ... dem Bild, das die schon ... älteren west- und südeuropäischen Universitäten<br />

boten“ (Meuthen 1998: 5). Diese Universität hatte „ihre Blütezeit im 15.<br />

Jahrhundert ... unter Führung der Theologen“ (Meincke 1998: 3). Konrad Adenauer,<br />

Oberbürgermeister der Stadt Köln, eröffnete die Universität, die unter napoleonischer<br />

Besatzung geschlossen worden war, 1919 wieder und verlieh der „Universitati<br />

studii sanctae civitatis coloniensis“ eine „europäische Brückenfunktion, im<br />

besonderen zwischen Deutschland und Frankreich“ (Meuthen 1998: 31). Unter<br />

Preußens Hoheit wurde die Rheinprovinz industrialisiert und verkehrstechnisch<br />

erschlossen. In Köln wurde von N. A. Otto der nach ihm benannte, 1876 patentierte<br />

Motor erfunden, – von hier verkehrten Ende des 19. Jahrhunderts die ersten<br />

D(urchgangs)-Zug-Wagen. Diese Modernität wurde in das noch ländliche Preußen<br />

übertragen. Kein Geringerer als Konrad Adenauer war 1918 als Vertreter der preußischen<br />

Rheinprovinz in das preußische Herrenhaus berufen und 1921 bis 1933<br />

sogar zum Präsidenten des Preußischen Staatsrates gewählt worden.<br />

Die Menschen entlang des Rheins haben diese Gestaltungskraft durch symbiotische<br />

Vielfalt weiterentwickelt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg fanden sich<br />

Menschen ein, die sich mit Mut den Herausforderungen stellten, um das Leben zu<br />

ordnen, es wieder in zivilisierte Bahnen zu lenken und einen Weg in eine hoff-<br />

407


nungsvolle, friedliche Zukunft zu ebnen. Zwei Namen ragen heraus: Konrad Adenauer<br />

und Ludwig Erhard.<br />

Was lehrt ein Blick in die erfolgreiche „Ära Adenauer-Erhard“ (Hellwig 1997:<br />

36), um von den „Gründungsvätern unserer heutigen Bundesrepublik Deutschland“<br />

(Hellwig 1997: 21), mithin aus dem Vergangenen für die Zukunft zu lernen? Ohne<br />

Adenauer und das katholische Rheinland hätte sich Westdeutschland niemals zu<br />

dem bewunderten Rechts- und Sozialstaat, ja selbst Erhard nicht der Vater des<br />

deutschen Wirtschaftswunders werden können. Zur Neugestaltung Deutschlands<br />

nach der NS-Diktatur haben beide entscheidend beigetragen, zielstrebig auf eine<br />

freiheitlich-demokratische Grundordnung hinzuarbeiteten.<br />

408<br />

Politik auf dem Fundament stabiler Tradition<br />

In der Voraussicht, daß ein neues Werk nur gelingen kann, wenn es auf soliden<br />

Fundamenten freiheitlicher politischer Architektur aufbaut, wandten sich deutsche<br />

Theologen, Gelehrte der Rechtswissenschaft, der wirtschaftlichen Staatswissenschaften<br />

und Philosophen in zum Teil gemeinsamer Anstrengung konstruktiv einer<br />

neuen Ordnung zu.<br />

Schon vor, dann während des Zweiten Weltkrieges, ausgeprägt in Jena (Gemper<br />

1983), in Freiburg im Breisgau (Rübsam / Schadek 1990; Schlecht 1986: Vorwort),<br />

und im Rheinland (Noethen 1994), machten sich verantwortungsbewußte<br />

Persönlichkeiten daran, das „Nachkriegs-Deutschland“ (Erhard 1943/44) konzeptionell<br />

neu zu ordnen. Otto Schlecht, bedeutendster Staatssekretär im Bundesministerium<br />

für Wirtschaft vor der Einheit Deutschlands, nennt die Persönlichkeiten, die<br />

den intellektuellen Rahmen für unsere freiheitliche Wirtschaftsordnung ausfüllen:<br />

„Neben Walter Eucken und Ludwig Erhard sind als geistige Väter einer sozial<br />

gestalteten Marktwirtschaft vor allem zu nennen: Alexander Rüstow, Wilhelm<br />

Röpke, Franz Böhm, Friedrich A. Lutz, Leonhard Miksch, Fritz W. Meyer u. K. F.<br />

Maier. Besonders zu nennen ist Alfred Müller-Armack“ (Schlecht 1990: 12), dessen<br />

entscheidende Jahre seiner akademischen Ausbildung, aber auch als Ordnungstheoretiker<br />

sich mit Köln verbinden: Bereits 1947 hat Müller-Armack an „die große<br />

Aufbauleistung der Marktwirtschaft des 19. Jahrhunderts ... (und) auch die Schnelligkeit<br />

(erinnert, B.G.), mit der diese Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg die<br />

Narben des Krieges ausheilte“ (Müller-Armack 1981: 19), und später nahegelegt,<br />

„die Soziale Marktwirtschaft mit neuen Ideen in die Zukunft hinüber(zu)führen“<br />

(Müller-Armack 1973: 22).<br />

Es war eine Stunde des Aufbruchs und ordnungspolitischer Neuorientierung, die<br />

im besetzten Deutschland zu Experimenten in der politischen Ökonomie führte: In<br />

den westlichen Besatzungszonen begann 1948 das Experiment mit der Sozialen<br />

Marktwirtschaft und für eine formierte Gesellschaft nach dem Leitbild Ludwig<br />

Erhards, und in der Sowjetzone begann im Jahre 1949 das des Aufbaus des Sozialismus<br />

und für einen Arbeiter- und Bauernstaat unter Führung der Sozialistischen<br />

Einheitspartei Deutschlands. Als mit dem Ost-West-Konflikt die DDR die Demarkationslinie<br />

zu den Westzonen zu einem „Eisernen Vorhang“ mitten durch


Deutschland verminte, etablierte sich mit dem Wettkampf der Systeme eine „experimentelle<br />

Nationalökonomie“.<br />

Rheinische Wegbereiter einer neuen Ordnung<br />

Vom Rheinland, insbesondere Königswinter, Köln und Walberberg, gingen nachhaltige<br />

Signale katholischer Soziallehre aus: neue ordnungspolitische Akzente<br />

wurden gesetzt und personelle Weichen für einen Neubeginn gestellt, die nicht nur<br />

das Schicksal Westdeutschlands als freiheitliche Gesellschaft und ihre Orientierung<br />

an den Grundsätzen christlich-abendländischer Kultur bestimmen, sondern<br />

auch das Modell für ein wieder geeintes Deutschland prägen sollten.<br />

Wird die Bedeutung Konrad Adenauers für die freiheitliche Lebensordnung in<br />

Deutschland bewundert, so bleibt seine ordnungspolitische Weitsicht verborgen<br />

hinter der in späteren Jahren der Regierungsarbeit nicht immer konsonanten Beziehung<br />

zwischen ihm, bekannt für seine „Eigenwilligkeit und sein Durchsetzungsvermögen“<br />

(Morsey 1972: 14), und Erhard: einem Spannungsverhältnis, „was bei<br />

den unterschiedlichen Temperamenten, Charakteren und beruflichen Erfahrungen<br />

nicht anders zu erwarten war“ (Hellwig 1997: 44). Allein ihr Altersunterschied von<br />

zwei Jahrzehnten ließ den Blickwinkel beider auf Geschichte und Gegenwart unterschiedlich<br />

ausfallen.<br />

Adenauer, „seit 1946 mächtigster Mann“ in der Christlich Demokratischen Union<br />

(Noethen 1994: 80), hat – neben den im Parlamentarischen Rat laufenden Beratungen<br />

– auf der Sitzung des Zonenausschusses der CDU der britischen Zone in<br />

Königswinter am 24. und 25. Februar 1949 erfolgreich um Erhard geworben.<br />

Ohne Adenauers Personalentscheidung, Erhard für sich zu gewinnen, hätte keine<br />

Bonner Republik entstehen können: Denn ohne Erhard als Wahllokomotive hätte<br />

die CDU 1949 weder mit Adenauer allein die Wahl zum ersten Deutschen Bundestag<br />

gewinnen, noch Adenauer zum Bundeskanzler gewählt und damit auch Bonn<br />

nicht Bundeshauptstadt werden können. Dann hätte es auch keine „Politik der<br />

Sozialen Marktwirtschaft“ (Erhard 1962) gegeben. Mit anderen Worten: ohne<br />

Erhards „Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft“ (Adenauer 1949; Erhard 1962)<br />

hätten die optimistischen Befürworter seiner konzeptionell vorausbedachten sozial<br />

verpflichteten Wirtschaftspolitik nicht die Vielen von den Vorzügen der Marktwirtschaft<br />

überzeugen können, die sich nach verlorenem Krieg und den Zerstörungen,<br />

nach bedingungsloser Kapitulation, der Gewöhnung an Mangelwirtschaft und<br />

totale NS-Diktatur, eine freiheitliche Ordnung überhaupt nicht vorstellen konnten.<br />

Adenauer hatte ein ordnungspolitisches Gespür für das Notwendige: Dank seines<br />

Weitblicks besaß die CDU „1945/46 das mit Abstand ‚fortschrittlichste’ Programm:<br />

mit ihrer Forderung nach einer Einigung Europas, nach Preisgabe nationaler<br />

Souveränität, mit ihrer Betonung der Menschenwürde, der christlichen Einigungsparole<br />

und der sozialen Bindung des Eigentums.“ (Morsey 1972: 56). Bereits<br />

auf der „Rhöndorfer Konferenz“ hatte Adenauer vor führenden Unionspolitikern<br />

mit Blick auf die Bildung der ersten Bundesregierung erklärt, „daß die Wahlen<br />

nicht nur ein eindrucksvolles Bekenntnis zu den Grundideen der christlichdemokratische<br />

Gesellschaftsauffassung, sondern auch eine eindeutige Bejahung<br />

409


der sozialen Marktwirtschaft im Gegensatz zur sozialistische Planwirtschaft erbracht<br />

haben“ (Adenauer 1949). Und in seiner ersten Regierungserklärung mahnte<br />

er am 20. September 1949, sich „bei der Durchführung des Prinzips der sozialen<br />

Marktwirtschaft ... davor (zu) hüten ... , einem starren Doktrinarismus zu verfallen“<br />

(Adenauer 1949), sondern „durch Mittel des Wettbewerbs und durch die immer<br />

stärkere Einordnung der deutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft systematisch<br />

die durch ... Zwangswirtschaft und Kriegswirtschaft entstandenen Strukturfehler<br />

der deutschen Wirtschaft (zu) beseitigen“ (Adenauer 1949). Seine These, „die<br />

beste Sozialpolitik (ist) eine gesunde Wirtschaftspolitik“ (Adenauer 1949), bezeugt<br />

seine ordnungspolitische Nähe zu Erhard, der auch das soziale Anliegen der rheinischen<br />

CDU begriffen und mit Blick auf die Grundstoffindustrie u. a. im Jahre<br />

1951 „das Fehlen klarer Eigentumsbegriffe, klarer Zuständigkeiten und Verantwortungen“<br />

(Erhard 1972), beklagte, als er „die Frage der Einkommensbildung als<br />

wirtschaftspolitisches Problem“ (Erhard 1972) stellend, sagte: „Wenn ich schon ...<br />

Eigentumskonzentration, Konzentration der Produktionsmittel ... nicht unterbinden<br />

kann, will ich wenigstens eine Dekonzentration der Eigentumstitel an diesem Produktivkapital<br />

schaffen“ (Erhard 1972). Erhard wollte, „ganz bewußt der Vermögensbildung<br />

in den Mittelschichten dienen“ (Erhard 1972). Seine „soziale Gesinnung“<br />

und Nähe zum linken Flügel der CDU war in der ihm geistig anverwandten<br />

Sichtweise seines Doktorvaters Franz Oppenheimer angelegt, einem liberalsozialistisch<br />

denkenden Gelehrten: Erhard zählte Oppenheimer, einen promovierten<br />

Arzt und Philosophen, als Soziologen und Sozialökonomen neben dem „Liberalen<br />

Wilhelm Rieger“ zu den bedeutenden Hochschullehrern, „die mein Denken<br />

und damit mein Leben wesentlich prägten“ (Erhard 1943/44). Wie bei Erhard<br />

sollten nach Adenauers Wunsch „Kosten- und Preissenkungen auch in vollem<br />

Umfang dem Verbraucher zugute kommen“, worin sich „der soziale Charakter der<br />

Marktwirtschaft“ erweise (Adenauer 1953).<br />

Wenngleich „die CDU der britischen Zone“, die bis Dezember 1945 CDP hieß,<br />

sich im Ahlener Programm (AP) „für die Sozialisierung von Betrieben mit Monopolstellung<br />

sowie für die Vergesellschaftung der Bergwerke“ aussprach (Hüttenberger<br />

1998:1402), steuerte Adenauer einen anderen Kurs. Ruderte er nicht nur in<br />

seiner Partei gegen eine starke sozialistische Strömung. Zu den Verstaatlichungsambitionen,<br />

wie im AP gehegt, kam der ordnungspolitische Widerstand der Linken<br />

– prononciert durch Erik Nölting von den Sozialdemokraten und Viktor Agartz von<br />

den Gewerkschaften – hinzu: „Eine Mehrheit für die Idee der Sozialen Marktwirtschaft<br />

hat es, als er (Erhard) sein Werk umzusetzen begann, in der deutschen Bevölkerung<br />

nicht gegeben – nicht einmal in seiner eigenen Partei“ (Vogel 2007: 10).<br />

410<br />

Neue Chance gegen den Zeitgeist<br />

Adenauer verstand es, sich der Vorwürfe eines Delegierten, des Kölner Gewerkschaftlers<br />

Johannes Albers, zu erwehren, der in Erhard „einen verkappten Liberalen,<br />

einen Fremdkörper im Gefüge der Union“ vermutete, „dem es lediglich darum<br />

gehe, das Ahlener Programm“ (Koerfer 1987: 54) auszuhebeln. Adenauer verhinderte<br />

eine Grundsatzdebatte – mit zudem ungewissem Ausgang – und „verkündete<br />

... außerdem, den Text von Erhards Vortrag (den dieser gerade gehalten hatte,


B.G.) für den Wahlkampf drucken lassen zu wollen“ (Koerfer 1987: 55). Adenauer<br />

mußte sich politisch noch etablieren, rangierte er doch noch „in der öffentlichen<br />

Popularität weit hinter Kurt Schumacher und Ernst Reuter“ (Morsey 1972: 13),<br />

zwei führenden Sozialdemokraten. „In dieser Situation mußte Adenauer – um das<br />

Widerstandpotential gegen sich nicht zu stark werden zu lassen – Zugeständnisse<br />

machen, und sich geschickt verhalten: er zitierte in Reden während des Frühjahrs<br />

(1946 B.G.) sogar aus der ersten Fassung der (von der CDU in Walberberg gefaßten,<br />

B.G.) Kölner Leitsätze und veranlaßte die Gründung eines Wirtschafts- und<br />

Sozialausschusses der rheinischen CDU, der den christlichen Sozialisten als Ventil<br />

dienen sollte“ (Noethen 1994: 118-119).<br />

Königswinter<br />

Die Entscheidung für Erhard hatte Adenauer auf der „Sitzung des Zonenausschusses<br />

der CDU der britischen Zone am 24. und 25. Februar 1949 ... in Königswinter“<br />

(Koerfer 1987: 52) herbeigeführt. Das war auf dem „Höhe- und Schlußpunkt der<br />

Adenauerschen Werbung um Erhard“ (Koerfer 1987: 52) keineswegs eine ausgemachte<br />

Sache, waren doch CDU/CSU verunsichert: „Die von der SPD im Wirtschaftsrat<br />

am 17. August und 10. November 1949 gegen Erhard eingebrachten<br />

Mißtrauensanträge“ waren zwar abgelehnt worden, „aber es war doch ganz unübersehbar,<br />

daß sich auch in der Union die Gegner des neuen Kurses regten“<br />

(Koerfer 1987: 52). Darunter waren gewichtige Spitzenpolitiker aus Nordrhein-<br />

Westfalen, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern (Koerfer 1987: 52): „Da war<br />

die Rückendeckung, die Erhard durch Adenauer erhielt, von hohem Wert“ (Koerfer<br />

1987: 52). Welch zentrale Rolle Erhard im Kalkül Adenauers spielte, bezeugt,<br />

daß er Erhard 1948 wohl kalkuliert den nötigen Raum eröffnete, seine Idee der<br />

Sozialen Marktwirtschaft vorzustellen, dabei das Mißtrauen des sich früh formierenden<br />

Arbeitnehmerflügels der CDU zu neutralisieren und die Öffentlichkeit für<br />

eine freiheitliche Ordnung einzustimmen. Konrad Adenauer, führender Kopf der<br />

CDU, dürfte sich als arrivierter Kommunalpolitiker (Oberbürgermeister von Köln)<br />

und Parlamentarier (Präsident des preußischen Staatsrates), angesichts der Mangelwirtschaft<br />

und notwendiger „Regeneration Deutschlands“ (Allemann 1956: 45)<br />

bewußt gewesen sein: Um auch auf nationaler Ebene erfolgreich zu sein, mußte er<br />

als Jurist sich auch fundierten ökonomischen Sachverstandes versichern. Erhard<br />

war eine ordnungspolitisch denkende und erfahrene Persönlichkeit, die zudem<br />

bereits dabei war, ihre Vorstellungen seit Vollzug der Währungsreform mit Tolerierung<br />

der Westalliierten Erfolg versprechend umzusetzen, – hing doch „die staatliche<br />

Regeneration Westdeutschlands ... mindestens im selben Maße wie die seines<br />

Wirtschaftslebens und seiner vom Zerfall bedrohten Gesellschaftsstruktur am Erfolg<br />

oder Mißerfolg einer einzelnen Maßnahme: der Währungsreform“ (Allemann<br />

1956: 53). Erhards geniales Meisterstück, den Motor der Marktwirtschaft pari<br />

passu mit der – federführend von den U.S.A. vorbereiteten – Währungsreform<br />

bereits am 20./21. Juni 1948 im vorkonstitutionellen Raume angeworfen und das<br />

Räderwerk der Sozialen Marktwirtschaft durch Eigenmächtigkeit und sogar Kompetenzüberschreitung<br />

in Gang gesetzt zu haben (Gemper 1998: 6), war bahnbrechend<br />

und Adenauer nicht verborgen geblieben. Dieses Gedankengut, einen „sozi-<br />

411


alwirtschaftlich gerechten“ Ausgleich (Erhard 1943/44) im Volke marktwirtschaftlich<br />

anzustreben, beeinflußte die Programmatik nicht nur der CDU, sondern auch<br />

der Christlich Sozialen Union, – ging es doch in Königswinter „im Februar 1949 ...<br />

gerade darum, ein Wahlprogramm von CDU und CSU zu entwickeln“ (Koerfer<br />

1987: 52).<br />

Während das Weltbild Karl Marx´ verblaßte, schob Adenauer die Ideen vom<br />

Glauben an einen „gemäßigten Sozialismus“ (Welty 1946a: 402) beiseite und bot<br />

Erhard die Chance, sein neues Leitbild politisch zu propagieren. „Adenauers Augenmerk“<br />

– wie auch Erhards, eine „sozialwirtschaftlich befriedigende Ordnung“<br />

(Erhard 1943/44) anzustreben – galt „von Anfang an ... der Herstellung einer ‚gerechten<br />

sozialen Ordnung’“ (Buchstab 2006: 68). In Königswinter legten beide mit<br />

unnachgiebiger Entschlossenheit den Grundstein für die Inkulturation einer Wirtschaftsordnung<br />

mit konzeptionell prästabilierter, d. h. eingebauter Sozialpflichtigkeit:<br />

einem ordnungspolitischen Built-in Social Balancing, das zu einem auf marktimmanentem<br />

Weg sich ständig vollziehenden sozialen Ausgleich (Gemper 2007:<br />

13) „zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung“ (Erhard 1962) verpflichtet. Eine<br />

„enge Koordinierung der Sozialpolitik mit der Wirtschaftspolitik und darüber hinaus<br />

mit der Gesamtpolitik … und dabei von der ‚klassischen’, ‚neutralen’ und<br />

‚autonomen’ Sozialpolitik abgehoben“ (Mühle 1967: 322). Als „sozial verpflichtete<br />

Marktwirtschaft, die das einzelne Individuum wieder zur Geltung kommen läßt“<br />

(Erhard 1962) um „der Wohlfahrt der deutschen arbeitenden Menschen zu dienen“<br />

(Erhard 1962). Ganz im Sinne Adenauers, der 1946, aus dem „Fundamentalsatz<br />

der CDU“, dem „Kerngedanken der christlichen Ethik“ abgeleitet, ausführte: „die<br />

menschliche Person hat eine einzigartige Würde, und der Wert jedes einzelnen<br />

Menschen ist unersetzlich. Aus diesem Satz ergibt sich eine Staats-, Wirtschafts-<br />

und Kulturauffassung, die neu ist gegenüber der in Deutschland seit langem üblichen“<br />

(Adenauer 1946). Sein Credo, politisch „bei den zu treffenden Maßnahmen<br />

die wirtschaftlichen und sozialen Folgewirkungen zu einem gerechten organischen<br />

Ausgleich zu bringen“ (Adenauer 1949), korrespondierte mit Erhards frühen „Erwägungen<br />

sittlicher oder sozialer Art“ (Erhard 1943/44) „für die deutsche Nachkriegswirtschaft“<br />

(Erhard 1943/44) als „neu zu organisierende Friedenswirtschaft“<br />

(Erhard 1943/44) und „zur Gewährleistung einer sozialen Ordnung“ (Erhard<br />

1943/44).<br />

Nun war es an Erhard, gegen den „Zeitgeist“ argumentierend, mit zielstrebiger<br />

Leidenschaft die Bürger für sein qualitativ „neues gesellschaftliches Leitbild“<br />

(Erhard 1962) zu gewinnen, das auf „gesellschaftliche Harmonie“ in Freiheit setzte<br />

(Erhard 1939), sozial gerecht war. Denn „Freiheit und Glück des deutschen Menschen<br />

stehen und fallen mit der Freiheit der Marktwirtschaft, und nur in der von<br />

Machtpositionen freien Wirtschaft verwirklicht sich die Forderung nach deren<br />

sozialer Fundierung und Ausrichtung“ (Erhard 1962). Eine schwierige Mission!<br />

Franz Etzel, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der CDU Nordrhein,<br />

Vorsitzender des Wirtschaftspolitischen Ausschusses des Zonenausschusses für die<br />

britische Zone, späterer Bundesminister der Finanzen (1957-1961), bekannte freimütig:<br />

„Wir haben, wenn ich es glatt heraussagen darf, ja gar keine Wirtschaftspolitik<br />

der CDU, sondern die Wirtschaftspolitik von Prof. Erhard gemacht, und von<br />

412


der CDU her haben wir sie sanktioniert.“ (Koerfer 1987: 55). Das verdeutlicht,<br />

weshalb Adenauer „alle Register“ zog „und ... seinen ganzen Einfallsreichtum<br />

darauf (verwendete), Erhard zu sich herüberzuziehen“, (Koerfer 1987: 51). Doch<br />

Erhard war gleichermaßen daran interessiert, „Gegnern und Kritikern seiner Wirtschaftspolitik<br />

in den Reihen der CDU zu antworten, ... überhaupt größere Kreise<br />

der Christlichen Demokraten mit seinen Gedanken vertraut zu machen“ (Koerfer<br />

1987: 50). Fand Adenauer seine politische Stärke im rheinischen Katholizismus,<br />

schöpfte er sein Vertrauen in Erhard aus dessen mutigem Beginn seiner Politik<br />

Sozialer Marktwirtschaft mit der Währungsreform. Beide wurden einander sich<br />

alternativlos ergänzende Partner (Gemper 2007: 15f.), deren Leistungen in den<br />

Jahren 1953 und 1957 nicht nur zu glänzenden Wahlergebnissen, – im Jahre 1957<br />

zusammen mit der CSU sogar zur absoluten Mehrheit(!) – führte, sondern die<br />

Gesellschaft Westdeutschlands der 50er und 60er Jahre auch nachhaltig prägte:<br />

„Die starke Persönlichkeit Adenauers ... nicht nur als Staatsmann, sondern auch als<br />

Parteichef ...“ auf der Woge, die „der schnelle, ja stürmische ökonomische Wiederaufstieg<br />

der Bundesrepublik, für den die Wirtschaftspolitik Professor Erhards<br />

verantwortlich gemacht wurde, wirkte ... als starker ‚integrierender’ Faktor“ (Allemann<br />

1956: 267).<br />

Adenauer wie Erhard hatten auch erkannt, daß, nur derjenige aus einer Niederlage,<br />

die Deutschland erlittenen hatte, gelernt haben konnte, der eingesehen hatte, daß<br />

die latente Gefahr, erneut in ein gesellschaftliches Fiasko gestürzt zu werden, nur<br />

durch eine freiheitliche Gesellschaftsordnung abgewendet werden konnte. Und,<br />

„die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf … der Ordnung<br />

(Erhard 1962), aber einer Ordnung, in der „weder der Staat, noch die Wirtschaft,<br />

noch die Kultur Selbstzweck“ ist: selbige mithin „eine dienende Funktion gegenüber<br />

der Person“ haben (Adenauer 1946), und „die durch freiwillige Einordnung,<br />

durch Verantwortungsbewußtsein in einer sinnvoll organisierten Weise zum Ganzen<br />

strebt“ (Erhard 1948).<br />

Die deutsche Gesellschaft mußte – um sie wieder auf den Weg zu einem freiheitlich-demokratischen<br />

Rechts- und Sozialstaat und eine „freie, auf echtem Leistungswettbewerb<br />

beruhende Marktwirtschaft“ (Erhard 1997) zu führen – sich neu<br />

formieren. Dazu entwickelte Erhard „Gedanken zur politischen Ordnung Deutschlands“<br />

– die er als „formierte Gesellschaft“ konzipierte (Erhard 1966) „zur Heilung<br />

der ‚deformierten Gesellschaft’“ (Hellwig 1997: 39) durch „konsequente Entideologisierung<br />

der pluralistischen Gesellschaft“ (Nawroth 1965: 261).<br />

Geboten war, rasch auf positive Veränderung zu dringen, den Rhythmus der Geschichte<br />

zu erahnen, um zu versuchen, die Volksseele zum Mitschwingen zu bringen<br />

und sich konstruktiv in den freiheitlichen Entwicklungsprozeß einzuklinken.<br />

Das dazu unerlässliche Resonanzpotential zu schaffen lag im Erfolg begründet, die<br />

darbenden Bundesbürger von den Vorzügen einer freiheitlichen Ordnung zu überzeugen<br />

und auf einen neuen Kurs einzuschwören, der ihnen eine erkennbare Verbesserung<br />

der Lebensbedingungen bringen würde.<br />

Sicherlich waren Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Joseph Kardinal Frings<br />

im Rheinland, über allen US-General Lucius D. Clay auf dem Petersberg als Leitfigur<br />

der Westalliierten, in der Besatzungszeit in den Westzonen überragende Per-<br />

413


sönlichkeiten, die an die Spitze politischer Führung getreten waren, Glücksfälle.<br />

Wie auch Ernst Reuter, der am 9. September 1948 in Berlin eindruckvoll für die<br />

Freiheit, mithin gegen die Blockade Westberlins durch die Sowjets protestierend,<br />

die Westalliierten zur Hilfe und damit zur Errichtung der Luftbrücke motiviert<br />

hatte.<br />

Als prägend erwies sich die intellektuelle Symbiose zwischen Repräsentanten der<br />

Katholischen Kirche und der sich herausbildenden neuen Staatsordnung in den<br />

Jahren des Wiederaufbaus Westdeutschlands. Sie läßt sich zurückverfolgen zu den<br />

Anfängen, als „sich die CDU als betont christliche Partei formierte“ (Allemann<br />

1956: 262), aber doch schließlich als „überkonfessionelle Unionspartei ... die ganze<br />

Entwicklung des deutschen Parteiensystems bestimmt“ (Allemann 1956: 262).<br />

„Union“ meinte, „alle diejenigen, die auf diesem Boden (christlich-abendländischer<br />

Kultur, B.G.) stehen, zu politischer Arbeit“ in ökumenischer Vernunft<br />

zusammenzuführen, „gleichgültig welchem Bekenntnis sie angehören“ (Adenauer<br />

1946): Indizien deuteten darauf hin, daß zu jener Zeit „selbst in protestantischen<br />

oder konfessionell gemischten Gebieten die Katholiken meist einen unverhältnismäßig<br />

großen Anteil an der Parteimitgliedschaft stellen“ (Allemann 1956: 264).<br />

„Jenseits von Aktivitäten der Kirchenführung suchten viele Menschen im Jahre<br />

1945 Halt im Glauben“ (Noethen 1994: 61), gab es besonders im Katholizismus<br />

„eine starke spirituelle Bewegung mit ‚radikaler’ Rückbesinnung auf christliche<br />

Werte“ (Noethen 1994: 61).<br />

414<br />

Die konstruktive Rolle der Katholischen Kirche<br />

„Als bekennende Christen diskutierten viele der Neoliberalen schon während der<br />

NS-Diktatur Konzepte für die Zeit nach dem Weltkrieg, so auch Ludwig Erhard in<br />

seiner ‚Denkschrift 1943/44’“ (Schlecht 1998: 34). Die Katholische Kirche,<br />

glaubwürdige Vertreterin der Christen, verdingte sich als kraftvolle Starthilfe für<br />

den westdeutschen Staat, auch im Bewußtsein, ein zweites sozialistisches Experiment<br />

zu verhindern, das zu beginnen sich die sowjetische Besatzungszone anschickte.<br />

In der Besorgnis des Ausbreitens des Kommunismus war der „Antikommunismus<br />

... in der frühen Nachkriegszeit ... kein Topos allein im Katholizismus,<br />

sondern zum Beispiel auch in der Sozialdemokratie“ (Noethen 1994: 76). Diese<br />

Furcht mündete in die Vorstellung, wie der 1937 in die USA emigrierte Sozialdemokrat<br />

Wilhelm Sollmann schrieb, „daß ‚demokratische Regierung auf lange Zeit<br />

nur durch die christlich-sozialistische Koalition’ möglich sei“ (Noethen 1994: 49),<br />

– sah er doch hierin „‚die beiden einzigen Partner, die dem Bolschewismus oder<br />

einer anderen Diktatur begegnen können’“ (Noethen 1994: 49).<br />

In den Gründerjahren der Bundesrepublik konnte die Katholische Kirche sich<br />

politisch sehr stark engagieren, weil sie eine starke Gemeinde der Gläubigen im<br />

Rücken hatte, – ganz besonders in den Regionen des späteren Freistaates Bayern<br />

und der sich formierenden Bundesländer Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz<br />

und Nordrhein-Westfalen, wo mehr als die Hälfte der Bürger der römischkatholischen<br />

Kirche angehörten. Das Wort der Kirchenmänner erreichte aufnahmebereite<br />

Ohren. Ja selbst „ein numerisches Gleichgewicht der Konfessionen


edeutet(e) faktisch ein katholisches Übergewicht“, weil „die Mehrheit der protestantischen<br />

Deutschen ... nun einmal kirchlichem Denken und kirchlichen Problemen<br />

wesentlich gleichgültiger gegenüber (stand) als die der Katholiken“ (Allemann<br />

1956: 266).<br />

Mitglieder der Römisch-katholischen Kirche<br />

Land Katholiken in Prozent der Bevölkerung 1950<br />

Bayern 71.8<br />

Baden-Württemberg 59.0<br />

Rheinland-Pfalz 57.7<br />

Baden 69.9<br />

Nordrhein-Westfalen 54.8<br />

Westdeutschland 45.2<br />

Quelle: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1952: 28.<br />

Köln<br />

In einer Grundsatzrede in der Universität Köln verlieh Adenauer 1946 seiner „tiefen<br />

Überzeugung“ Ausdruck, „daß nur eine Demokratie, die in der christlichabendländischen<br />

Weltanschauung ... wurzelt, die große erzieherische Aufgabe am<br />

deutschen Volke erfüllen und seinen Wiederaufstieg herbeiführen kann“ (Adenauer<br />

1946). Er bekundete daselbst 1947 die Überzeugung, daß „das deutsche Volk …<br />

wieder in den Kreis der Nationen eintreten“ wird und setzte dabei auf das amerikanische<br />

Volk, in dessen Adern doch sehr viel deutsches Blut fließt, (und) von wirklichem<br />

Idealismus erfüllt ist“ (Adenauer 1947).<br />

Die Katholische Kirche nutzte ihre Chance, den Gläubigen in den Jahren unerläßlicher<br />

Erneuerung politisch beizustehen. Der Hirtenbrief vom 25. Juli 1949 für den<br />

Wahlsonntag am 14. August 1949, von Joseph Kardinal Frings, dem Erzbischof<br />

von Köln unterzeichnet, dokumentiert diese Orientierungshilfe:<br />

„... In der ernsten Situation, in der unser Volk steht, müssen auch wir erklären:<br />

Das Wahlrecht wird zur Wahlpflicht! Der christliche Wähler, der sich jetzt der<br />

Stimme enthält, entzieht sich zudem nicht seiner Verantwortung; er unterstützt<br />

letzten Endes diejenigen Kräfte, die seine christlichen Grundsätze ablehnen. ...<br />

„Wir müssen leider feststellen, daß Abgeordnete der sozialistischen und liberalistischen<br />

Weltanschauungen für wesentliche christliche Forderungen kein Verständnis<br />

gehabt haben.“...<br />

„Wir müssen noch auf einen Angriff hinweisen, der von sozialistischer Seite gegen<br />

die Kirche und gegen die Bischöfe erfolgt ist. Man hat sich nicht gescheut, die<br />

Tatsache, daß die Bischöfe pflichtgemäß zu wesentlichen Fragen des öffentlichen<br />

Lebens vom Standpunkt unseres Glaubens aus Stellung genommen haben, zum<br />

Anlaß zu nehmen, die Kirche mit einer fünften Besatzungsmacht zu vergleichen.<br />

Mit Recht haben die Katholiken hiergegen in großen Kundgebungen schärfsten<br />

Protest eingelegt.“<br />

415


„Jetzt muß jeder christliche Wähler in seinem eigenen Gewissen die Entscheidung<br />

treffen“. ... „Vergesset nicht, daß ihr eure Entscheidung vor Gott, vor euren Kindern<br />

und vor der Zukunft unseres Volkes verantworten müßt.“ (Josef Kardinal<br />

Frings 1949: 295-299)<br />

Den Ernst der Lage beschwörend, fand dieses Hirtenwort am Wahlsonntag durch<br />

das Erzbischöfliche Generalvikariat eine Ergänzung:<br />

„... Wir erinnern alle Gläubigen an die ernsten Worte, die unsere Hochwürdigsten<br />

Herren Bischöfe vor zwei Wochen an uns gerichtet haben. ...<br />

Sie mahnen uns, in unserem eigenen Gewissen die rechte Entscheidung zu treffen.<br />

Sie fragen uns: Kann ein gläubiger Christ es mit seinem Gewissen vereinbaren,<br />

einem Kandidaten seine Stimme zu geben, der in entscheidenden Bildungs- und<br />

Erziehungsfragen die Macht des Staates über die Freiheit des Gewissens stellt?<br />

Sie erklären: Die Abgeordneten, denen wir glauben unsere Stimme geben zu dürfen,<br />

müssen vor allem die Gewähr bieten, daß sie das Naturgesetz als Grundlage<br />

für das staatliche Gemeinschaftsleben anerkennen und mit allem Nachdruck dem<br />

natürlichen Recht wie den christlichen Grundsätzen im gesamten Leben unseres<br />

Volkes Geltung verschaffen wollen. ...<br />

Es geht um das Wohl unsres Volkes. Wir wollen am Wahltag unsere Pflicht so<br />

erfüllen, daß wir vor dem Urteil des eigenen Gewissens, vor dem Urteil der Nachwelt,<br />

besonders aber im unbestechlichen Gerichte Gottes bestehen können.“ (Erzbischöfliches<br />

Generalvikariat 1949: 299 f.)<br />

Überzeugungskraft aus Glaubwürdigkeit, vermittels derer er „als erster der Kölner<br />

Erzbischöfe zum ‚Bischof der Weltkirche’ werden“ sollte (Trippen 1988: 19),<br />

verlieh Joseph Kardinal Frings’ Wirken begründende Hoffnung, verhießen seine<br />

ethischen Vorgaben doch Zukunftsfähigkeit. Kardinal Höffner als Erzbischof von<br />

Köln (1969-1987) hat, wie ich betonen möchte, diese ordnungspolitisch freiheitliche<br />

Lebensperspektive fortgeschrieben (Schmidt 2007: 74). Als habilitierter Theologe<br />

konnte Höffner sich bei seinem Wirken auf eine sehr gediegene Bildung stützen:<br />

er hatte neben zwei theologischen Doktoraten noch ein philosophisches und<br />

ein staatswissenschaftliches erworben. Letzteres bei Walter Eucken an der Universität<br />

Freiburg i. Br. Profunde Sachlichkeit und liebenswürdige Ehrlichkeit zeichnen<br />

die Erinnerung an Wirken und Werk Kardinal Höffners aus. Seine Beiträge lassen<br />

– im Lichte der katholischen Soziallehre – einen ordnungspolitischen Duktus und<br />

ein Denken erkennen, das katholisch im weiteren Sinne: weltumspannend, also<br />

ganzheitlich war. Das erklärt Joseph Höffners Nähe zum „Denken in Ordnungen“<br />

(Eucken 1968: 19-25) Euckens, dem Spiritus Rector der Freiburger Schule des<br />

„Ordo-Liberalismus“. Hierin dürfte die sehr kritische Distanz Kardinal Höffners<br />

gegenüber dem Sowjetkommunismus wurzeln, auch seine realistische Befürchtung<br />

weiteren Ausbreitens nach Westen. Hatte er doch zwei Weltkriege mit den folgenschweren<br />

Umbrüchen erlebt: der „Kalte Krieg“ war in vollem Gange. Ein aufrechter<br />

Kardinal, der es als „erlaubt und durchaus berechtigt“ hielt, „von einem Einwirken<br />

des priesterlichen Dienstes auf die irdischen Ordnungen zu sprechen, wenn<br />

nur die eschatologische Sicht gewahrt bleibt und die Mahnung des Neuen Testaments<br />

beachtet wird: ‚Werdet nicht zu Konformisten mit der Weltzeit, sondern<br />

416


wandelt euch durch die Erneuerung eures Geistes, indem ihr prüft, was der Wille<br />

Gottes ist: das Gute, das Wohlgefällige und das Vollkommene’ (Röm. 12, 2)“<br />

(Joseph Kardinal Höffner 1979: 28). Gedanken in der unmittelbaren geistigen<br />

Folge seines Vorgängers: schon Joseph Kardinal Frings hatte in dem Hirtenwort<br />

am 14. August 1949 gemahnt: „Der christliche Wähler hat aber auch die Pflicht,<br />

vor seinem Gewissen zu prüfen, welchem Kandidaten er seine Stimme geben<br />

kann“ (A.a.O.: 295). Und es wird „der Hoffnung Ausdruck (gegeben, daß christlich<br />

gesinnte B.G.) Abgeordnete ... sich ... ihrer großen Verantwortung bewußt sein<br />

werden, ... im kommenden Bundestag vertrauensvoll zusammen(zu)arbeiten und<br />

dem gemeinsamen Ziel in gemeinsamer Arbeit dienen: nämlich mitzuschaffen an<br />

einer neuen Ordnung, die aus christlichem Geist geboren ist, die das, was unsere<br />

abendländische Kultur an überzeitlichen Werten enthält, hinüberretten kann in die<br />

neue Zeit zum Segen unseres Volkes und für den Frieden unter allen Völkern der<br />

Erde.“ (A.a.O.: 298). Diese firme geistliche Perspektive im Ordensgefüge der<br />

katholischen Kirche verhalf Konrad Adenauer zur Wahl zum ersten Bundeskanzler<br />

der Bundesrepublik Deutschland im ersten Deutschen Bundestag, die ihm mit<br />

gerade einer Stimme Mehrheit einen neuen Weg in die Politik eröffnete.<br />

Walberberg<br />

Auch das Wirken der Dominikaner in ihrem Studienhaus St. Albert zu Walberberg<br />

südlich von Köln vermittelte nachhaltig wirkende Denkanstöße für eine „‚christliche<br />

Gesamtlebensordnung’“ (Welty 1945: 4) als „kerngesunde Staats- und Gemeinschaftsordnung“<br />

(Welty 1945: 3), „zur Neuordnung im deutschen Lebensraum“<br />

und für den „Neuaufbau der Staatsgemeinschaft“ auf der Grundlage „der<br />

christlichen Gesellschaftsethik“ (Welty 1945: 4).<br />

„(M)it der Tagung der Programmkommission der späteren CDU begründete Walberberg<br />

seinen Ruf als ‚Kloster der offenen Tür’, als Ort für öffentliche Tagungen<br />

und geheime Gespräche verschiedener Art“ (Noethen 1994: 63), – ließ – in der<br />

Formulierung von Pater Laurentius M. Siemer OP - , „den Konvent zum geistigen<br />

Mittelpunkt Westdeutschlands und für eine gewisse Zeit sogar zu einem politischen<br />

Mittelpunkt der Rheinlande“ (Siemer, zitiert nach Noethen 1994: 63) werden.<br />

Hier wurden „schon 1945 die Grundsätze der künftigen CDU diskutiert, ...<br />

auch die ersten Vorbereitungen für das Ahlener Programm und für den Bochumer<br />

Katholikentag begonnen, auf welchem Kardinal Frings im Namen der Kirche die<br />

Mitbestimmung forderte“ (Jäger 1978: 13).<br />

Zur Erinnerung: „Walberberg mußte im Juni 1945 jedem, der aus der zertrümmerten<br />

Stadt Köln kam, wie eine Oase im Grünen erscheinen“ (Noethen 1994: 105).<br />

Es war der Dominikanerpater Welty, „der die spezifische wirtschafts- und sozialpolitische<br />

Ausrichtung des dann in Walberberg und Köln erarbeiteten Programms<br />

(der CDU, B.G.) geprägt hatte“ (Noethen 1994: 107). Auch haben „die Nachkriegsschriften<br />

Eberhard Weltys und seine Rolle bei der Entstehung der Kölner<br />

Leitsätze (der CDU, B.G.) ihn zu einem der wichtigsten katholischen Geisteswissenschaftler<br />

der frühen Nachkriegszeit werden lassen“ (Noethen 1994: 122). Pater<br />

Welty stand „der ganzen Frage nach Sinn und Wert, Norm und Pflicht der mensch-<br />

417


lichen Arbeit“ im Sinne der Lehre des heiligen Thomas „vorab als ethischer und<br />

christlich-religiöser Denker gegenüber“ (Welty 1946b: 121), gemäß dem „obersten<br />

Grundsatz: Menschliche Arbeit ist niemals Selbstzweck“ (Welty 1946b: 122). Der<br />

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Welty pflegte das holistische Denken: er<br />

war davon überzeugt, „daß keine Reform, die nicht das Ganze der Gesinnung und<br />

der Verhältnisse betrifft, zu jenem durchgreifenden Erfolge führen wird, der für die<br />

irregegangene Menschheit wirklich den erhofften und sehnsuchtsvoll erwarteten<br />

Segen bringen soll.“ (Welty 1946b: 124). Daher: „Es ist Aufgabe und Pflicht der<br />

Gemeinschaft, sich selbst als Ganzes auf eine möglichst allseitige geistig-kulturelle<br />

Höhe zu bringen, in sich selbst Tiefstand und Mittelmaß zu überwinden, die verfügbaren<br />

Kräfte auszuschöpfen“ (Welty 1946a: 387).<br />

Pater Edgar Nawroth OP hat „eng mit Eberhard Welty zusammengearbeitet, einem<br />

der einflußreichsten Sozialethiker nach dem Kriege, der mit seiner ‚Walberberger<br />

Bewegung’ erheblich auf die CDU-Programmatik einwirkte“ (Ockenfels 2003: 2).<br />

Später hat er die von den Patres Siemer OP und Welty OP im Jahre1946 in Walberberg<br />

begründete <strong>NEUE</strong> <strong>ORDNUNG</strong> bis 1985 als Schriftleiter geführt. Nawroth<br />

bemühte sich, „vom Standpunkt der seinsrealistischen Philosophie her im Sinne<br />

einer Grundsatzdebatte die klärenden Voraussetzungen für ein vertieft zu führendes<br />

Gespräch zu schaffen“ (Nawroth 1962: V). Dazu zählten auch die „Walberberger<br />

Systemsymposien Gesellschaft und Wirtschaft“ (1975-2002). In seinem<br />

Hauptwerk würdigt er im Lichte der „Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus“<br />

„das Wesen der ‚sozialen Marktwirtschaft’“ (Nawroth 1962: S. 374)<br />

und analysiert, worin sich u. a. Franz Böhm, Ludwig Erhard, Walter Eucken oder<br />

Alfred Müller-Armack ordnungspolitisch unterscheiden. Nawroth empfiehlt dem<br />

„gemeinsamen sozialen Anliegen“ zu dienen durch „die bewußte Verpflichtung<br />

aller sozial- und wirtschaftspolitischen Bestrebungen auf die Anerkennung und<br />

Realisierung des situationsgerecht interpretierten Gemeinwohls“ (Nawroth 1962:<br />

VI) und betont als Sozialethiker, „daß von einer sozialen Marktwirtschaft, zu der<br />

sich das Lehramt mit kritischen Einschränkungen bekennt, nur dann die Rede sein<br />

kann, wenn die soziale Verantwortung für den wirtschaftenden Menschen als<br />

durchgehendes Strukturprinzip des gesamten Wirtschaftsablaufs gewertet wird“<br />

(Nawroth 1993: 174).<br />

418<br />

Erinnerung als Auftrag<br />

„Jeder Mensch kennt Orte, zu denen es ihn immer wieder hinzieht, weil er sich<br />

dort zu Hause fühlt. Das kann der Heimatort oder ein Wallfahrtsort sein, jedenfalls<br />

eine Stätte im Leben des Menschen, die er zu seiner Identität braucht“ (Joseph<br />

Kardinal Meisner 2001: 21). So eine Stätte, die „seit 1945 im Aktionsbereich der<br />

‚Walberberger Bewegung’“ (Nawroth 1976: 19) geistige, insbesondere auch sozialethische<br />

und ordnungspolitische Orientierung bot, war nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

das Dominikanerkloster Walberberg.<br />

Adenauer dachte höchst weitsichtig: Bereits 1953 hatte er „die wachsende – andauernd<br />

steigende – Überalterung des deutschen Volkes“ gesehen, „weil die Langlebigkeit<br />

wächst und die Geburtenzahl abnimmt“ (Adenauer 1953). Adenauer hat in


politischer Symbiose mit Erhard entschlossen einen freiheitlich-demokratischen<br />

Rechtsstaat errichtet, der auf den Fundamenten einer sozial ausbalancierten Wirtschaftsordnung<br />

nicht nur Westdeutschland durch einen „gerechten organischen<br />

Ausgleich“ (Adenauer 1949) inneren Frieden beschert hat. „Eine ‚menschliche’<br />

Wirtschaft“, die dem Ideal Nawroths vorschwebt: die „eine produktive und<br />

zugleich sozialgerechte Wirtschaft und als solche die umfassendste Kulturleistung<br />

eines Volkes“ ist (Nawroth 1989: 72). Zugleich wurde damit die Vertrauensbasis<br />

für eine wehrhafte „europäische Integration“ (Adenauer 1949) gelegt, d. h. „den<br />

Frieden zu sichern, um Europa wieder zu einem Faktor in Politik und Wirtschaft zu<br />

machen“ (Adenauer 1953). Adenauer erkannte, welche „Bedeutung ... das Wirken<br />

der christlichen Kirchen und aller Religionsgesellschaften für das deutsche Volk<br />

hat“ und es „die Pflicht des Staates ist, sie zu schützen“ (Adenauer 1946).<br />

In der Tat erwiesen sich CDU des Rheinlandes und Katholische Kirche als normbildende<br />

Kräfte: „Wir müssen die religiösen und geistigen Kräfte der abendländischen<br />

Welt mobilisieren. Denn nur, wenn wir stark sind im Geist, werden wir<br />

unsere Lebensform behaupten.“ (Adenauer 1955). Sollte nicht dieses Gebot Adenauers<br />

uns auch heute zu denken geben?<br />

Somit schließt sich der Kreis zu Ludwig Erhard: „Lassen Sie mich zusammenfassend<br />

sagen, daß wir uns in unserer Politik bewußt bleiben wollen, woher wir<br />

kommen und daß unser Tun im letzten in christlicher Gesinnung und Gesittung<br />

wurzelt: Mögen die anderen Programme verkünden, wir wollen durch Taten zeugen.“<br />

(Erhard 1962). Die in der Präambel des Grundgesetzes verankerte Nominatio<br />

Die steht für diesen christlichen Humanismus.<br />

Diese Leistungen, die Adenauer und Erhard als authentische Persönlichkeiten zu<br />

einander komplementären Partnern werden ließ, politisch kontrapunktisch alternativlos<br />

hervorgebracht haben, können – aus selbst- und miterlebtem Rückblick – nur<br />

als vorbildlich gelten.<br />

Die rheinischen Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft haben in Westdeutschland<br />

eine „Gesellschaft des dynamischen Ausgleichs“ (Erhard 1965) formiert und<br />

damit Maßstäbe für eine neue Ordnung gesetzt, die von Zeitgeschichtlern hochachtungsvoll<br />

Bonner Republik und ordnungspolitisch als „Rheinischer Kapitalismus“<br />

(Castelluci 2001) bezeichnet wird.<br />

Gemessen am Wirken von Welty und Nawroth, Adenauer und Erhard und anderen<br />

im Ordensgefüge der Rheinischen Kirche erscheint die Wirtschafts- und Sozialordnung<br />

Deutschlands zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus den Fugen und die<br />

Politik aus dem Tritt geraten zu sein, wovon allein die gravierende Verschlechterung<br />

des sozialen Klimas und die überkritische Unterdeckung des Anforderungsprofils<br />

geistig-konzeptionellen Denkens zeugen. Eine Rückkehr zum „Denken in<br />

Ordnungen“ (Eucken 1968: 19ff.) sowie der Revitalisierung der Fähigkeit zur<br />

Reduktion des Komplexen in das Verständliche, tut Not, das heißt, wieder mit „gesundem<br />

Menschenverstand“ (Erhard 1962) „für das Ganze Verantwortung“ zu<br />

tragen (Erhard 1962), wie es die rheinischen Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft<br />

überaus erfolgreich vorlebten. Denn, da sich die Deutschen erneut als eine<br />

„durcheinandergeschobene“ und geistig „heimatlose“ „atomisierte Masse, als die<br />

419


sich unser Volk darstellt“ präsentieren, „muß jedes Einzelwesen (wieder, B.G.)<br />

angesprochen und zu Selbstbewußtsein und Verantwortungsgefühl geführt werden“<br />

(Adenauer 1946)!<br />

Anmerkung<br />

*Dieser Beitrag ist Herrn Prof. Dr. phil. Edgar Nawroth OP, meinem freundschaftlichkollegialen<br />

Partner der Walberberger System Symposien - Gesellschaft und Wirtschaft -,<br />

anläßlich der Vollendung seines 95. Lebensjahres gewidmet.<br />

Literatur<br />

Die Zitate von K. Adenauer und L. Erhard, sämtlich belegt, werden aus dem Grunde der<br />

Platzersparnis nur mit dem Erscheinungsjahr indiziert.<br />

F. R. Allemann 1956. Bonn ist nicht Weimar, Köln & Berlin.<br />

G. Buchstab 2006. Wege der Adenauer-Forschung: Politik und Persönlichkeit Konrad Adenauers<br />

im Urteil neuerer Literatur in Auswahl. In: Ulrich Schlie (Hrsg.). Horst Osterheld und<br />

seine Zeit (1919-1998), Wien/Köln/Weimar, S. 63-79.<br />

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als Beginn einer schöpferischen Symbiose vor 50 Jahren. In: Aus Politik und Zeitgeschichte,<br />

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Erhard 1897-1997. 100. Geburtstag des Bundeswirtschaftsministers und Bundeskanzlers,<br />

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Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte, Daten, Fakten, Zusammenhänge, Freiburg im<br />

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420


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W. Ockenfels 2003. Edgar Nawroth, neunzigjährig. In: Die Neue Ordnung, 57. Jg., Heft<br />

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Soziales Institut der Erzdiözese Köln (Hrsg.). Abschlußbericht 34, Bad Honnef.<br />

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Prof. Dr. et lic. rer. pol., DCom. Bodo Gemper war 1987-2001 Lehrstuhlinhaber für<br />

Volkswirtschaftslehre an der Universität Siegen.<br />

421


422<br />

Hans Jürgen Schlösser / Maria Helene Schlösser<br />

Das Menschenbild von Wilhelm Röpke<br />

Wilhelm Röpke war ein aufklärerischer Geist, ein Patriot mit weltbürgerlicher Gesinnung,<br />

ein engagierter Wissenschaftler, einer, der sich einmischte, weil er trotz aller<br />

bitteren Erfahrungen immer auf die Einsichtsfähigkeit des Menschen setzte. 1 Die<br />

Civitas Humana war sein Leitbild, und Nationalsozialismus und Kommunismus<br />

stellten für ihn Produkte desselben verheerenden totalitären Denkens 2 dar. In seiner<br />

bemerkenswerten Röpke-Biografie, der auch unser Beitrag viel Erhellendes zu verdanken<br />

hat, fragt Hans Jörg Hennecke am Ende: „Was bleibt von Wilhelm Röpke?“<br />

Hennecke arbeitet drei Botschaften Röpkes heraus 3 , die auf die Sinnkrisen der modernen<br />

Volkswirtschaftslehre verweisen:<br />

- Wissenschaft muß den Blick für das Ganze und die Fähigkeit zur Synthese bewahren.<br />

- Wissenschaft muß ihre öffentliche Verantwortung als Beraterin der Politik und<br />

Aufklärerin der Öffentlichkeit annehmen.<br />

- Volkswirtschaftslehre ist eine moralische Wissenschaft, und Röpke hat sie als Treuhänder<br />

einer moralisch verwurzelten Gesellschaft und als Ethik im aristotelischen<br />

Sinne betrieben.<br />

Die dritte Botschaft ist gewiß die wichtigste für unser Thema. Der moralische Neutralismus<br />

positivistischer Wissenschaftler war Röpke zuwider, und er forderte auch<br />

vom Wissenschaftler den Respekt vor moralischen, geistigen und religiösen Traditionen.<br />

Röpke machte seine „Rechnung mit dem Menschen“ 4 , und sein movens war<br />

eine Synthese von liberaler volkswirtschaftlicher Ordnungstheorie und christlichem<br />

Glauben. 5<br />

Grundlagen, Rechte und Pflichten<br />

Wilhelm Röpke gründet seine wirtschaftswissenschaftlichen Aussagen auf ein fest<br />

gefügtes Menschenbild. Der einzelne wirtschaftliche Akteur ist frei und weitgehend<br />

autonom. Allerdings beeinflussen andere wirtschaftlichen Akteure, die er auf dem<br />

freien Markt antrifft, seine wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten – Unternehmen,<br />

Staat, Mitbewerber, Konsumenten. Der liberale Denker Röpke will den einzelnen<br />

Wirtschaftsakteur von Zwängen befreien. Er sieht in den kleinen funktionierenden<br />

Einheiten von Gesellschaft, Staat und Gemeinwesen, im Handwerk und in kleinen<br />

Unternehmen die Schlüsselstellen für ein freiheitlich agierendes wirtschaftliches<br />

Subjekt.<br />

Röpke ist geprägt durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts: die Nachklänge des<br />

19. Jahrhunderts bis 1914, der erste Weltkrieg, der Zerfall der internationalen Ordnung,<br />

Aufbau und Scheitern der Weimarer Republik, Inflation und Weltwirtschaftskrise,<br />

Nationalsozialismus und zweiter Weltkrieg, schließlich Gründung der Bundes-


epublik Deutschland und Kalter Krieg. Für ihn sind die Verirrungen der Menschen<br />

in Massengesellschaften und Ideologien Fehlschritte, die den einzelnen nachhaltig<br />

verletzt haben. Die Bevormundung der Individuen durch Staaten, Parteien oder Unternehmen<br />

engen den Menschen in seiner Entscheidungsfreiheit ein und berauben ihn<br />

der möglichen Alternative. Der agierende Mensch ist ein mündiger Bürger, der um<br />

seine Rechte und Pflichten weiß und diese selbstverständlich und freudig wahrnimmt.<br />

Freiwilligkeit und Einsatz für das Gemeinwohl spielen die zentrale Rolle.<br />

Der Beispiele sind viele: Gemälde, Kirchen, profane Bauten wären ohne Mäzenatentum<br />

nicht entstanden. Der Kölner Dom ohne die Unterstützung protestantischer und<br />

jüdischer Gläubiger ebenso wenig wie Tintorettos Deckengemälde der Bruderschaft<br />

zum Heiligen Rochus in Venedig; beide aus freien Stücken geschaffen. 6<br />

Die freie Entscheidungsmöglichkeit des Individuums ermöglicht es ihm, sein persönliches<br />

Lebensglück zu verfolgen. Das mag für den mittelständischen Handwerker<br />

etwas anderes sein als für den großbürgerlichen Mäzen, aber beiden ist gemeinsam,<br />

daß sie etwas freiwillig für die Gesellschaft bereitstellen, etwas, das es ohne ihr persönliches<br />

Engagement nicht gegeben hätte. Die Vorsorge für die Familie, die Nachbarschaft,<br />

die Gemeinschaft gehört selbstverständlich zu den Aufgaben des einzelnen.<br />

Miteinander und unterstützend wirken die Menschen in der Gesellschaft und<br />

Wirtschaft, die Röpke entwirft. Angelehnt an die Weisheit des Talmuds betont Röpke,<br />

daß „die edelste Mildtätigkeit diejenige ist, sie einem anderen zu ersparen und das<br />

beste Almosen dasjenige ist, das einem anderen dazu verhilft, es nicht nötig zu haben.“<br />

7 Der selbstverantwortliche Mensch, der für sich und die seinen zu sorgen weiß,<br />

steht im Zentrum der Ordnung Röpkes. Tief verwurzelt ist er in der Tradition des<br />

Christen- und Judentums mit der Befolgung der Zehn Gebote. Die Wertordnung<br />

hinter der Gesellschaft, der gemeinsame Konsens über einen Verhaltenskodex sind<br />

dabei die zentralen Anliegen. Ohne diese Werteordnung kann der Mensch sein Glück<br />

nicht verwirklichen, funktionsfähige freie Wirtschaft nicht entstehen und eine politische<br />

Gesellschaft keinen freiheitlichen Rechtsstaat entwickeln.<br />

Der Industriearbeiter soll ebenso wie der Bauer in der Lage sein, sich und seine Familie<br />

zu versorgen. Röpke entwickelt ein Gesellschaftsbild, das vor dem Hintergrund<br />

der Zerrüttungen der industriellen Revolution und zweier Weltkriege verständlich ist.<br />

Daß Vorstellungen von kleingliedrigen Gemeinschaftsformen im Denken der Menschen<br />

aber auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihren Platz haben, zeigen die unterschiedlichen<br />

Regionalwährungen ebenso wie der in Städten florierende Tauschhandel<br />

von Dienstleistungen.<br />

Arbeitsteilung und Wohlstand<br />

Röpke ist weit entfernt davon, die Vorteile der Arbeitsteilung zu verkennen und betont<br />

ausdrücklich, daß viele Millionen Menschen ohne sie im Leeren enden würden. 8<br />

Nur die Arbeitsteilung der modernen Industriegesellschaft ermöglicht es, einen höheren<br />

Wohlstand für alle zu erreichen, als dies sonst möglich wäre. Auch hier ist Röpke<br />

der klare Analytiker und nicht ein verträumter Romantiker.<br />

So sieht Röpke das Streben der Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft als Interaktion,<br />

Vernetzung und Durchdringung. Es agieren immer beide Seiten miteinander,<br />

423


zueinander, bei aller Konkurrenz gegeneinander. Denn wenn der Produzent nicht<br />

erkennt, was der Konsument wünscht, läuft er fehl, und so sieht Röpke den Konkurs<br />

als das eigentliche Korrektiv der Marktwirtschaft. Der Erzeuger von Waren oder<br />

Dienstleistungen ist daran interessiert, die Wünsche und Bedürfnisse seines Kunden<br />

bestmöglicht zu erfüllen. Er wird daher sein Augenmerk immer auch auf die Interessen<br />

des Gegenübers richten, seine Produktion dessen Wünsche anpassen und neue<br />

Möglichkeiten ersinnen, den Nutzen des Marktpartners zu steigern. In diesem Zusammenhang<br />

kann die Werbung das adäquate Mittel sein, neue Produkte zu kommunizieren,<br />

erweiterte Möglichkeiten zu demonstrieren oder Interesse für neue Produkte<br />

zu wecken. 9 Bei der Wahl des Wirtschaftssystems haben die Menschen nur eine<br />

Option, wenn sie die maximale Entfaltung ihrer Möglichkeiten erstreben: Dann gibt<br />

es nur die Marktwirtschaft und keine kollektiven Lösungen. 10 Im freien Spiel der<br />

Kräfte müssen die Menschen am Markt immer wieder aufs Neue ein Gleichgewicht<br />

ihrer Interessen finden, da diese Interessen einem stetigen Wandel unterliegen. Dabei<br />

werden Produktionsabläufe rationalisiert und Produkte, die nicht mehr nachgefragt<br />

werden, nicht mehr erzeugt. Dies gehört ebenso natürlich zur Weiterentwicklung der<br />

Marktwirtschaft wie neue Arbeitsplätze für die neu entstehenden Produktionen. Je<br />

flexibler eine Wirtschaft ist, desto schneller wird dieser Prozeß ablaufen. 11<br />

Im Mittelpunkt von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik steht der Mensch als handelndes<br />

Wesen. An ihm haben sich die Gestaltungsräume zu orientieren und nicht<br />

umgekehrt. Röpke geht es um die „Standfestigkeit der Einzelexistenz“ 12 , die in Zeiten<br />

der Arbeitsteilung nur durch Teilhabe am Produktions- bzw. Wohnungseigentum 13<br />

gegründet werden kann. Diese Standfestigkeit und Unabhängigkeit erdet das einzelne<br />

Individuum und ist ihm Spielraum für die Gestaltung der eigenen Lebensumgebung.<br />

Großzügigkeit im Handeln ist nur dann möglich, wenn das Individuum den Spielraum<br />

dazu hat. Dann wird es großmütig und freigiebig die Gesellschaft mitgestalten<br />

und aktiv an ihr Anteil nehmen. Nur wenn der Staat und seine Gliederungen sich den<br />

Bedürfnissen der Menschen anpassen und diese nicht erdrücken oder belasten, kann<br />

sich ein geordnetes und stufig gegliedertes funktionierendes Gemeinwesen entwickeln,<br />

an dem jedes Mitglied der Gemeinschaft nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten<br />

Anteil nimmt. 14 Demgegenüber wird der Mensch in der Massengesellschaft<br />

immer mehr isoliert und von traditionellen Werten und Beziehungen getrennt:<br />

Familie und Nachbarschaft, Beruf, Gemeinschaft und Natur sind dann nicht länger<br />

Grundkonstanten seines Daseins. 15<br />

Die Familie ist für Röpke das zentrale Element der Gesellschaft, mit ihrem Eigentum<br />

an Obdach und Garten, gegliedert in Generationen, die vertikal wie horizontal miteinander<br />

verwoben sind. Wie Pestalozzi, Kerschensteiner und andere Reformpädagogen<br />

sieht er in der Kleineinheit das gesellschaftliche Zentrum. In ihr leben die<br />

älteren Generationen ihr Wissen und ihre gesellschaftliche Fertigkeit und geben sie<br />

als „Wohnstubenkraft“ und „Gartenkraft“ an die jüngere Generation weiter. 16 Es geht<br />

um das menschliche Maß der Dinge, um die Freiheit und Rückzugsmöglichkeiten<br />

des Einzelnen in der Gesellschaft. Die Kraft kommt aus den alltäglichen Dingen und<br />

Anordnungen, die, menschlich gestaltet, genau den Rahmen bilden, im dem sich der<br />

Einzelne in seiner Familie, Gemeinschaft, Gemeinde, im Staat zu Hause fühlen<br />

kann. 17<br />

424


Die Gestaltung der Gesellschaft kann nur nach liberalen Kriterien erfolgen, da sie<br />

nicht-autoritär, persönlich, universalistisch und rational sein muß. 18 Dem Staat ist nur<br />

so viel zuzugestehen, wie ihm gebührt, und die Freiheiten des Individuums gegenüber<br />

ihm sind zu respektieren. Nationalismus, Imperialismus und Macchiavelismus<br />

sind Überhöhungen des Staates und werden kategorisch abgelehnt. Stattdessen tritt<br />

Röpke für Föderalismus, dezentrale Einheiten und kleinteilige Organisationsstrukturen<br />

ein, die Garanten eines nach menschlichem Maß geformten Gemeinwesens<br />

sind. 29<br />

Subsidiarität<br />

Subsidiäre Ordnungen, die stets der unteren Ebene soviel Gestaltungsraum wie möglich<br />

lassen, übergeben an die höheren Ebene nur die Aufgaben, die andere Ebenen<br />

nicht bewältigen können. Gegenüber der Freiheit und der Eigenverantwortung des<br />

Einzelnen tritt der Staat zurück und reduziert seinen Einflußbereich auf die ihm nach<br />

dieser Regel übertragenen Aufgaben. 20 „Ordnung und Ansporn“ sind die zentralen<br />

Herausforderungen einer Wirtschaftsordnung. 21 Der Mensch kann aus unterschiedlichsten<br />

Bewegungen seinen Ansporn finden 22 , deshalb muß das Wirtschaftssystem<br />

so geordnet sein, daß es ihn nicht behindert oder einengt, sondern ihm Spielräume<br />

zur Entfaltung läßt. In der funktionierenden Marktwirtschaft hat der Unternehmer<br />

ebenso seinen Platz wie der Arbeitnehmer.<br />

Der Unternehmer investiert, analysiert die Märkte und versucht neue Produktionsmöglichkeiten<br />

zu erschließen, immer im unerbittlichen Konkurrenzkampf mit anderen<br />

Unternehmern, aber in der Freiheit der Entscheidung. Gewerkschaften sind kontraproduktiv,<br />

wenn sie den Unternehmer oder die Aktionäre in ihren Aufgaben behindern<br />

oder einschränken. 23 Gleichfalls sind Monopole und Kartellbildungen abzulehnen,<br />

da sie einen Mißbrauch des Systems darstellen und der Unternehmer sich selbst<br />

ad absurdum führt. 24 Die verwerflichste Form des Monopols ist die des Staatsmonopols,<br />

da der Staat damit seinem ureigensten Terrain ein weiteres hinzufügt. Dies führt<br />

notwendigerweise zu einer Verschlechterung der Lage aller. 25 Die Verstaatlichung<br />

einer Unternehmung ist für Röpke der sichere Weg ins Defizit. 26<br />

Die Rollen von Unternehmern und Arbeitnehmern<br />

Die Rolle des Unternehmers ist für Röpke vielschichtig: erster Diener des Marktes,<br />

Treuhänder der Produktionsmittel, Sozialfunktionär, Führer, Analyst und Koordinator,<br />

Wettbewerber sowie Navigator im Marktgeschehen. 27 Diese unterschiedlichen<br />

spezialisierten und dennoch parallelen Aufgaben und Verantwortlichkeiten sind für<br />

den Unternehmer erdrückend genug. Deshalb plädiert Röpke für eine weitgehende<br />

Entlastung des Unternehmers von Bürokratie und staatlicher Bevormundung. Die<br />

„vielgerühmte Elastizität der Marktwirtschaft“ ist tatsächlich die Elastizität der einzelnen<br />

Menschen, welche tagtäglich die Doppelbelastung durch Markt und Staat<br />

aushalten müssen. 28<br />

Der Unternehmer muß sich seiner Verantwortung für das eingesetzte Kapital ebenso<br />

bewußt sein wie für die nicht ausbeutende Nutzung des Faktors Arbeit. 29 Innovative<br />

Planung dient dazu, diese Faktoren zu erhalten und zu vermehren, indem die Produk-<br />

425


tion erhöht oder verbreitert wird und so der Vorsprung auf Wettbewerber vergrößert<br />

wird. Darüber hinaus ist der Unternehmer Familienvorstand, Eigentümer mit Weitsicht<br />

und Verantwortung - und Mäzen. Aus innerem Antrieb wird der Unternehmer<br />

seine Umgebung so gestalten, daß für alle der maximale Nutzen und Vorteil entsteht.<br />

Heute mag uns Röpkes Unternehmerbild recht heroisch erscheinen; diese scheinbare<br />

Heroisierung des Unternehmers muß aus seiner Zeit heraus verstanden werden.<br />

Deutlich ist auf jeden Fall, daß Röpkes Leitbild des Unternehmertums der Eigentümer-Unternehmer<br />

war, also letztlich der Mittelständler und nicht der Manager im<br />

Großkonzern.<br />

Der Arbeitnehmer auf der anderen Seite ist verläßlicher Anbieter für den Unternehmer,<br />

weitsichtig planender Familienvorstand, Haus- oder Wohnungs- oder Landbesitzer,<br />

sozial agierender und engagierter Mitbürger und Nachbar und kulturell interessierter<br />

Laie. In der Zusammenarbeit im Unternehmen ist ihm ebenso wie dem<br />

Unternehmer und den Aktionären am Fortkommen und Erfolg der gemeinsamen<br />

Sache gelegen. Für sich und seine Familie plant er umsichtig Gesundheits- und Daseinsvorsorge,<br />

die den individuellen Vorstellungen und Wünschen entsprechen. Sein<br />

maßvolles, aber angemessenes Entgelt sichert ihm die Beschäftigung und ermöglicht<br />

ihm, sich in der Nachbarschaft, Gemeinschaft, Gesellschaft zu engagieren. Auch hier<br />

tritt Röpke für eine zurückhaltende Besteuerung durch den Staat ein, da die Bürger<br />

besser wissen, wo und wie sie helfen können und die Hilfe ohne bürokratische Zwischenstationen<br />

geleistet wird. 30<br />

Die Marktwirtschaft ist ein Mittel, um den Zweck des größtmöglichen Wohlstands<br />

für alle zu erreichen. Sie ist durch Staatsinterventionen zur Durchsetzung von Gruppeninteressen<br />

und durch den Imperialismus eingeschränkt worden. 31 Durch staatliche<br />

Eingriffe ist die Wohlfahrt einiger auf Kosten der Wohlfahrt aller erhöht worden.<br />

Die Marktwirtschaft ist kein Wert an sich, sondern eingebunden in das gesellschaftliche,<br />

philosophische, soziologische, kulturelle und historische Umfeld der Individuen.<br />

Die Marktwirtschaft allein macht nicht glücklich, aber sie kann so gestaltet werden,<br />

daß sie den Menschen ihren Weg zum Glück nicht verbaut. Alle Menschen müssen,<br />

wenn sie in der Gesellschaft agieren, bereits über ein fest gefügtes, stabiles Wertesystem<br />

verfügen, einen ungeschriebenen Kanon, der durch Familie, Gemeinschaft und<br />

Kirche tradiert wird. 32<br />

Gefahren für den Menschen sieht Röpke darin, daß Werte zurückgedrängt werden,<br />

sowie in der Überhöhung der Wirtschaft, welche Mobilität 33 , Spezialisierung 34 und<br />

Aufgabe von Gewohntem verlangt. Andererseits kann eine Hochspezialisierung<br />

Standesbewußtsein erzeugen, das dem Individuum wieder Halt gibt. 35 Wenn Tradition<br />

und Werte hinter die Erfordernisse der Wirtschaft zurücktreten müssen, wird dies<br />

für Röpke langfristig zu einer Verarmung der Gesellschaft führen, da familiäre, gemeinschaftliche,<br />

soziale Verbindungen zerschnitten werden. Diese Verbindungen<br />

können mit anderen Mitteln als Tradition und Werten nicht bereitgestellt werden.<br />

426<br />

Warnung vor dem Leviathan und Kritik des Wohlfahrtsstaates<br />

In die Lücke, welche die verlorenen Traditionen und Werte hinterlassen, wird nach<br />

Röpkes düsteren Prognosen der Staat treten, der immer mehr Daseinsvorsorge an sich


eißt und die Menschen immer unmündiger, unfreier und unglücklicher werden<br />

läßt. 36 Den damit verbundenen Forderungen einzelner nach staatlicher Unterstützung<br />

oder Alimentierung hält Röpke entgegen: „Es wäre ungeheuer viel gewonnen, wenn<br />

man sich, statt immer vom Staate zu fordern, angewöhnte zu sagen: Meine Lage<br />

rechtfertigt es, daß andere für mich zahlen.“ 37 Röpke sieht in der Unterdrückung<br />

dieser Frage einen Verstoß gegen das Zehnte Gebot. 38<br />

Nur im Notfall soll der Staat einspringen und das Individuum dort unterstützen, wo<br />

es selbst dazu nicht in der Lage ist. Diese Unterstützung soll aber zeitlich und sachlich<br />

begrenzt sein, und das Individuum ist sofort in die eigenverantwortliche Sorge zu<br />

entlassen, wenn dies wieder möglich ist. Röpke wendet sich vehement und dezidiert<br />

gegen den alles umsorgenden Wohlfahrtsstaat, der das Individuum an einen Tropf<br />

hängt und es so abhängig macht, so daß es nur mehr ein Taschengeld 39 zur eigenen<br />

freien Verfügung hat. Er beklagt die Schwerpunktverlagerung nach oben an den<br />

Staat, die „Ökonomokratie“ 40 , und fordert, den Schwerpunkt wieder nach unten zu<br />

den kleinen Einheiten der Familie und kleinen Gruppen zu verschieben.<br />

Der Wohlfahrtsstaat endet in seinem Bestreben, das Leben der Bürger rundum zu<br />

sichern, in einer Neidgesellschaft, in der diejenigen, die alimentiert werden, immer<br />

mehr von denen fordern, die den Wohlstand erarbeiten und Eigentum besitzen. 41<br />

Zudem führt die unnatürliche Aufblähung des Wohlfahrtsstaates zu Reibungsverlusten,<br />

da das erwirtschaftete Volkseinkommen durch die Mühlen der staatlichen Bürokratie<br />

geschleust wird. 42 Es entsteht eine Situation, in der jeder die Hand in der Tasche<br />

des anderen hat und der Staat sich als Konsumvogt aufspielen kann, indem er<br />

die Wertigkeit der einzelnen Güter für alle festlegt. 43 Damit leistet der Staat einer<br />

Nationalisierung des Menschen Vorschub und unterminiert die freie internationale<br />

Gemeinschaft der Völker und ihre Solidarität. 44 Es entsteht ein nationaler Versicherungsverein,<br />

der bestrebt ist, alle von außen zustrebenden Menschen abzuhalten. 45<br />

Zudem eröffnet diese Politik den Hang zur Kapital- und Arbeitsflucht, da diejenigen,<br />

welche die Werte erwirtschaften, von denen, die alimentiert werden, sich um die<br />

Ernte betrogen sehen. 46 Wirklicher und nachhaltiger Fortschritt ist aber nur durch<br />

Eigenverantwortung zu erreichen. Dies bedeutet, die eigene Vorsorge und die Sorge<br />

für das Gemeinwesen zu sichern und dabei jeden nach seinen Wünschen handeln zu<br />

lassen. 47 Das Credo lautet entschieden: Wirtschaftsfreiheit durch breite Eigentumsverteilung<br />

an Gebäuden, Unternehmen und Boden. 48 Genauer definiert Röpke es als<br />

weit verbreitete Nebenerwerbslandwirtschaft, Schrebergartengesellschaft, die auch<br />

dem Industriearbeiter Mußestunden in der Natur ermöglicht. 49<br />

Globalisierung<br />

Das 21. Jahrhundert führt die Menschen immer näher zusammen, Unterschiede werden<br />

nivelliert, Distanzen scheinen zu schwinden. Die globalisierte Arbeitswelt pulsiert<br />

rund um die Uhr, ohne Unterbrechung. Was bleibt vom Maß des Menschlichen<br />

in dieser Umgebung übrig?<br />

Auch wenn der internationale Handel immer ausgefeilter und vernetzter wird, gilt<br />

nach wie vor, daß der meiste Handel regional stattfindet und lokalen Bezug hat. In<br />

Handwerk, Kleinbetrieben und Unternehmen erleben die wirtschaftlichen Akteure<br />

427


nach wie vor die Einheit der Wirtschaft, gleichzeitig ermöglicht ihnen die fortschreitende<br />

internationale Verflechtung die Teilhabe an den Vorteilen der Arbeitsteilung.<br />

Dies ist eine Win-Win-Situation für beide Seiten, da die entwickelten Ländern von<br />

der Massenproduktion profitieren, die Schwellenländer durch die Auslagerung der<br />

Produktion erstmals einen Fuß in die Tür der Weltwirtschaft bekommen und in die<br />

Lage versetzt werden, ihre Bevölkerungen mit den grundständigen Lebensmitteln zu<br />

versorgen, die hygienischen Verhältnisse zu verbessern und die Bildung breiter Teile<br />

der Bevölkerung auszubauen.<br />

Das Maß des Menschlichen wird in der Globalisierung realisiert, wenn die Menschen<br />

in den Schwellenländern der Armutsfalle entkommen können und langsam, aber<br />

stetig in die Lage versetzt werden, eine eigene Existenz aufzubauen und diese zu<br />

sichern. Projekte wie die des Nobelpreisträgers Mohammed Junus und seiner Grameen<br />

Bank tragen dazu ebenso bei wie eine weitsichtige Bildungspolitik in Singapur<br />

und Thailand. Die vernetzten Projekte haben den Menschen und seine lokalen und<br />

regionale Gemeinschaften wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt,<br />

durch die Rückversicherungen und Kontrollen zusätzliche Sicherheiten geschaffen<br />

und ein genossenschaftliches System wiederbelebt, welches in den entwickelten<br />

Ländern als überholt gilt.<br />

Die Konzentration auf überschaubare Projekte, die frühe Einbindung der Gemeinschaft<br />

und die Verknüpfung der Projekte mit dem Ziel, der Armutsfalle zu entrinnen,<br />

die Bildung zu erhöhen, die hygienischen Verhältnisse zu verbessern und den Lebensstandard<br />

zu sichern, schafft Anreize und ist Ansporn für den Einzelnen, seine<br />

Familie, die Gemeinschaft und setzt die Forderung nach Hilfe zur Selbsthilfe konkret<br />

um. Es ist auf der anderen Seite eine Abkehr von Versorgungsmentalität und Anspruchsdenken.<br />

Die Menschen werden zu mündigen Subjekten, die nicht nur ihr<br />

wirtschaftliches, sondern auch ihr politisches Leben in die Hand nehmen und aktiv<br />

gestalten wollen.<br />

Anmerkungen<br />

1) Dabei nahm Röpke auch hohe Risiken und persönliche Kosten in Kauf. Es ist bezeichnend,<br />

daß Röpke der erste Ökonom war, der vom nationalsozialistischen Regime seiner Professur<br />

enthoben wurde.<br />

2) Röpke, Wilhelm: Umgang mit dem Bolschewismus, Ludwigsburg 1959, S. 9.<br />

3) Hennecke, Hans Jörg: Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung, Stuttgart 2005, S. 247<br />

ff.<br />

4) Röpke, Wilhelm: Rechnung ohne den Menschen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,<br />

31.12.1954, zitiert nach Hennecke, Hans Jörg: Wilhelm Röpke, a.a.O. S. 2.<br />

5) Vgl. grundsätzlich zum damit implizierten Spannungsverhältnis Nawroth, Edgar: Zur Sinnerfüllung<br />

der Marktwirtschaft, Köln 1965 und ders.: Die wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen<br />

des Neoliberalismus, Köln u. a. 1962 sowie Marx, Reinhard: Wirtschaftsliberalismus<br />

und Katholische Soziallehre, Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik 06/3,<br />

Freiburg 2006.<br />

6) Wilhelm Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Auflage, Erlenbach, Zürich, Stuttgart<br />

1979, S. 261.<br />

7) ebenda, S. 182.<br />

8) Röpke, Wilhelm: Die Lehre von der Wirtschaft, 12. Auflage, Bern, Stuttgart 1979, S. 80.<br />

428


9) Röpke, Wilhelm: Maß und Mitte, 2. Auflage, Bern, Stuttgart 1979, S. 210-211.<br />

10) Röpke, Wilhelm: Die Gesellschaftskrise der Gegenwart, 6. Auflage, Bern, Stuttgart 1979,<br />

S. 147; Röpke, Wilhelm: Wirrnis und Wahrheit. Ausgewählte Aufsätze., Erlenbach, Zürich,<br />

Stuttgart 1962, S. 313.<br />

11) Röpke, Wilhelm: Gegen die Brandung. Aufsatzsammlung, Hsrg. Arnold Hunold, Erlenbach,<br />

Zürich, Stuttgart 1959, S. 52, zitiert nach: Habermann, Gerd: Das Maß des Menschlichen.<br />

Ein Wilhelm-Röpke-Brevier, 2. Auflage, Bern 2005, S. 60.<br />

12) Röpke, Wilhelm: Maß und Mitte, a.a.O., S. 157.<br />

13) Röpke, Wilhelm: Civitas Humana: Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform,<br />

4. .Auflage, Bern, Stuttgart 1979, S. 283.<br />

14) ebenda, S. 179.<br />

15) ebenda, S, 245-6.<br />

16) ebenda, 284-5.<br />

17) Röpke, Wilhelm: Torheiten der Zeit. Stellungsnahmen zur Gegenwart, Nürnberg 1966, S,<br />

46. zitiert nach: Habermann, Gerd, Das Maß des Menschlichen, a.a.O., S. 28. Röpke sieht in<br />

Goethes Hermann und Dorothea das Idealbild dieser Gesellschaft.<br />

18) Röpke, Wilhelm: Maß und Mitte, a.a.O., S. 19-20.<br />

19) Ebenda, S. 22.<br />

20) Röpke, Wilhelm: Internationale Ordnung – heute, 3 Auflage, Bern, Stuttgart 1979, S. 69.<br />

21) Röpke: Wilhelm: Maß und Mitte, a.a.O., S. 91.<br />

22) Röpke, Wilhelm; Hünermann, Josef; Müller, Eberhard: Wirtschaftsethik heute, Hamburg<br />

1956, S. 20.<br />

23) Röpke, Wilhelm: An einen holländischen Journalisten, 16. Januar 1951, in: Briefe 1934-<br />

1966, hgg. von Eva Röpke, Erlenbach, Zürich 1976, zitiert nach: Habermann, Gerd, Das Maß<br />

des Menschlichen, a.a.O, S. 68-69.<br />

24) Röpke, Wilhelm: Wort und Wirkung, 16 Reden aus den Jahren 1947 bis 1964 mit einem<br />

Lebensbild von Albert Hunold, hgg. von Walter Hoch, Ludwigsburg 1964, S. 225; zitiert nach:<br />

Habermann, Gerd: Das Maß des Menschlichen, S. 73; Jenseits von Angebot und Nachfrage,<br />

a.a.O. S. 380.<br />

25) Röpke, Wilhelm: Maß und Mitte, a.a.O., S. 109; Wirrnis und Wahrheit, a.a.O., S. 273.<br />

26) Röpke, Wilhelm: Maß und Mitte, a.a.O., S. 108.<br />

27) Habermann, Gerd: Das Maß des Menschlichen, a.a.O., S. 69-73.<br />

28) Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, a.a.O., S. 384.<br />

29) Röpke, Wilhelm: Die Verantwortung des Unternehmers in der Marktwirtschaft, Schriftenreihe<br />

der Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main 17, Frankfurt am Main 1961.<br />

30) Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, a.a.O., S. 154-155.<br />

31) Röpke, Wilhelm: Internationale Ordnung – heute, a.a.O., S.123.<br />

32) Röpke, Wilhelm, Hünermann, Josef, Müller, Eberhard: Wirtschaftsethik heute, a.a.O., S.<br />

24.<br />

33) Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, a.a.O., S. 349.<br />

34) Röpke, Wilhelm: Die Lehre von der Wirtschaft, a.a.O., S. 94-95.<br />

35) ebenda, S. 96.<br />

36) Röpke, Wilhelm: Wirrnis und Wahrheit, a.a.O., S. 120-121.<br />

37) Röpke, Wilhelm: Wort und Wirkung, S. 37. zitiert nach: Habermann, Gerd, Das Maß des<br />

Menschlichen, a.a.O., S. 96.<br />

38) Röpke, Wilhelm: Wirrnis und Wahrheit, a.a.O., S. 294.<br />

39) Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, a.a.O., S. 234.<br />

429


40) Röpke, Wilhelm: Wort und Wirkung, S. 146, zitiert nach: Habermann, Gerd, Das Maß des<br />

Menschlichen, a.a.O., S. 17.<br />

41) Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, a.a.O., S. 38.<br />

42) Ebenda S. 233-234.<br />

43) Röpke, Wilhelm: Gegen die Brandung, a.a.O., S. 202, 249.<br />

44) Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, a.a.O., S. 244-245.<br />

45) Röpke, Wilhelm: Maß und Mitte, a.a.O., S. 250.<br />

46) Röpke, Wilhelm: Internationale Ordnung- heute. a.a.O., S. 207.<br />

47) Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, a.a.O., S. 231.<br />

48) Röpke, Wilhelm: Maß und Mitte, a.a.O., S.154.<br />

49) Röpke, Wilhelm: Civitas Humana, a.a.O., S. 284.<br />

Literatur<br />

Habermann, Gerd: Das Maß des Menschlichen. Ein Wilhelm-Röpke-Brevier, 2. Auflage, Bern<br />

2005.<br />

Hennecke, Hans Jörg: Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung, Stuttgart 2005.<br />

Marx, Reinhard: Wirtschaftsliberalismus und Katholische Soziallehre, Freiburger Diskussionspapiere<br />

zur Ordnungsökonomik 06/3, Freiburg 2006.<br />

Nawroth, Edgar: Zur Sinnerfüllung der Marktwirtschaft, Köln 1965.<br />

Nawroth, Edgar: Die wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen des Neoliberalismus, Köln<br />

u. a. 1962.<br />

Röpke, Wilhelm: Wort und Wirkung, 16 Reden aus den Jahren 1947 bis 1964 mit einem Lebensbild<br />

von Albert Hunold, hgg. von Walter Hoch, Ludwigsburg 1964.<br />

Röpke, Wilhelm, Hünermann, Josef, Müller, Eberhard: Wirtschaftsethik heute, Hamburg 1956.<br />

Röpke, Wilhelm: Gegen die Brandung. Aufsatzsammlung, Hsrg. Arnold Hunold, Erlenbach,<br />

Zürich, Stuttgart 1959.<br />

Röpke, Wilhelm: Umgang mit dem Bolschewismus, Ludwigsburg 1959.<br />

Röpke, Wilhelm: Die Verantwortung des Unternehmers in der Marktwirtschaft, Schriftenreihe<br />

der Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main 17, Frankfurt am Main 1961.<br />

Röpke, Wilhelm: Wirrnis und Wahrheit. Ausgewählte Aufsätze, Erlenbach, Zürich, Stuttgart.<br />

1962.<br />

Röpke, Wilhelm: Torheiten der Zeit. Stellungsnahmen zur Gegenwart, Nürnberg 1966.<br />

Röpke, Wilhelm: An einen holländischen Journalisten, 16. Januar 1951, in: Briefe 1934-1966,<br />

hgg. von Eva Röpke, Erlenbach, Zürich 1976.<br />

Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Auflage, Erlenbach, Zürich, Stuttgart<br />

1979.<br />

Röpke, Wilhelm: Die Lehre von der Wirtschaft, 12. Auflage, Bern, Stuttgart 1979.<br />

Röpke, Wilhelm: Maß und Mitte, 2. Auflage, Bern, Stuttgart 1979.<br />

Röpke, Wilhelm: Die Gesellschaftskrise der Gegenwart, 6. Auflage, Bern, Stuttgart 1979.<br />

Röpke Wilhelm: Civitas Humana: Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, 4.<br />

Auflage, Bern, Stuttgart 1979.<br />

Röpke, Wilhelm: Internationale Ordnung – heute, 3. Auflage, Bern, Stuttgart 1979.<br />

Prof. Dr. Hans Jürgen Schlösser ist Leiter des Zentrums für ökonomische Bildung<br />

Siegen (ZöBiS), Siegen und Landau in der Pfalz.<br />

Maria Helene Schlösser arbeitet als freie Autorin in Landau in der Pfalz.<br />

430


Hans Braun<br />

„Kultursensible“ soziale Dienstleistungen<br />

I. Die wachsende Bedeutung sozialer Dienstleistungen<br />

In der Diskussion um die bedarfsgerechte Ausgestaltung sozialer Dienstleistungen<br />

spielt zunehmend die Forderung eine Rolle, solche Leistungen seien „kultursensibel“<br />

zu erbringen. Damit ist gemeint, daß der kulturelle Hintergrund der<br />

Adressaten sowohl von den Trägereinrichtungen als auch von den in Beratung,<br />

Betreuung und Pflege tätigen Fachkräften berücksichtigt werden müsse. 1 Dies ist<br />

ein neuer Aspekt in einer sozialpolitischen Entwicklung, die sich schon in der<br />

ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts abzeichnete, deren ganze Tragweite<br />

aber erst in den 60er Jahren in Fachkreisen wahrgenommen wurde: die Ausweitung<br />

sozialstaatlicher Programme auf den Bereich der personenbezogenen<br />

Dienstleistungen.<br />

In die Auseinandersetzung mit diesem Thema mündete im übrigen auch der erste<br />

Kontakt des Verfassers dieses Beitrags mit Edgar Nawroth. Anfang 1973 schrieb<br />

er an den damaligen Schriftleiter der Neuen Ordnung wegen der Abdrucksrechte<br />

an einem in dieser Zeitschrift erschienen Aufsatz. Die Abrucksrechte wurden<br />

gewährt, allerdings verbunden mit der Bitte, der Zeitschrift einmal einen Beitrag<br />

aus dem Arbeitsgebiet des Anfragenden zur Verfügung zu stellen. Das Ergebnis<br />

war ein Aufsatz zu den Entwicklungstendenzen des Wohlfahrtsstaates. 2 In diesem<br />

Aufsatz ging es, bezogen auf den Bereich der Beratung, auch um das, was<br />

Bernhard Badura und Peter Gross drei Jahre später in ihrer grundlegenden Analyse<br />

als Ergänzung der sozialstaatlichen Einkommensstrategie um die Dienstleistungsstrategie<br />

bezeichneten. 3<br />

Nach wie vor ist in Ländern mit sozialstaatlichem Charakter die Einkommensstrategie<br />

dominant. So machen in Deutschland Transferzahlungen drei Viertel<br />

der Sozialausgaben aus. Unverkennbar ist aber die Zunahme an personenbezogenen<br />

Leistungen. Dabei spielt insbesondere der Gesundheitsbereich eine Rolle.<br />

Hier geht es indessen nicht nur um präventive, kurative und rehabilitative Leistungen,<br />

sondern auch um pflegerische Maßnahmen. Sie gewinnen vor allem<br />

aufgrund der wachsenden Zahl alter und insbesondere hochbetagter Menschen an<br />

Bedeutung. 4 Zur Zunahme der gesundheitsbezogenen Leistungen kommt nun<br />

noch die Ausweitung von Dienstleistungen im Bereich der Betreuung, der Beratung<br />

und der Befähigung zur Teilnahme am Arbeitsleben.<br />

Viele dieser Dienstleistungen stellen gleichsam funktionale Äquivalente dessen<br />

dar, was in der Vergangenheit von Angehörigen, Nachbarn oder Vertretern<br />

kirchlicher Einrichtungen geleistet wurde. Zweifellos sind aber in einer Gesellschaft<br />

wie der unseren mit ihrer Vielfalt an Weltanschauungen, Rollenmodellen<br />

und Lebensstilen viele Menschen überfordert, wenn es darum geht, ihren persönlichen<br />

Weg zu finden. Als Folge davon wächst die Nachfrage nach Unterstüt-<br />

431


zung durch Sozialarbeiter, Psychologen, Erziehungsexperten und Eheberatern.<br />

Gewiß ist die Ausweitung sozialer Dienstleistungen zunächst einmal durch die<br />

von den Menschen empfundenen Problemlagen und die dadurch entstehende<br />

Nachfrage bestimmt. Allerdings ist bei einem bestimmten Grad des Ausbaus von<br />

sozialen Diensten auch davon auszugehen, daß die vorhandenen Angebote wiederum<br />

ihre eigene Nachfrage erzeugen.<br />

432<br />

II. Charakteristika sozialer Dienstleistungen<br />

Soziale Dienstleistungen stellen eine Untergruppe personenbezogener Dienstleistungen<br />

dar. Von personenbezogenen Dienstleistungen sprechen wir, wenn Leistungen<br />

an einem konkreten Menschen vorgenommen werden. In diesem Sinne<br />

umfassen personenbezogene Dienstleistungen vergleichsweise einfache Handlungen<br />

wie ein Haarschnitt und so komplexe Phänomene wie die Versorgung<br />

eines Menschen, der einen Schlaganfall erlitten hat. Wird eine personenbezogene<br />

Leistung im Rahmen eines sozialstaatlichen Programms erbracht, was in der<br />

Regel bedeutet, daß damit eine beim Adressaten vorhandene Problemlage behoben<br />

oder zumindest abgemildert werden soll, handelt es sich im üblichen Verständnis<br />

um eine soziale Dienstleistung.<br />

Soziale Dienstleistungen sind wie personenbezogene Dienstleistungen generell<br />

vor allem durch drei Merkmale gekennzeichnet. Zunächst einmal gilt das unoactu-Prinzip.<br />

Das heißt, daß die Erbringung („Produktion“) der Leistung und<br />

deren Inanspruchnahme („Konsumtion“) zeitlich und gewöhnlich auch räumlich<br />

zusammenfallen. Hiervon gibt es nur wenige Ausnahmen. Zu denken ist etwa an<br />

Beratungsleistungen per E-Mail – eine gewiß recht beschränkte Form angesichts<br />

der Problemlagen, um die es im Rahmen von Beratung im allgemeinen geht.<br />

Weiterhin ist die erfolgreiche Erbringung der Dienstleistung von der Fähigkeit<br />

und Bereitschaft des Adressaten zur Mitwirkung abhängig. Wer an einer<br />

schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung leidet, muß die Anweisungen<br />

des Pflegepersonals befolgen, und wer beraten werden möchte, muß auch für<br />

ihn unangenehme Fragen zu seiner Situation beantworten. In der Sprache der<br />

Dienstleistungsökonomie ist in diesem Zusammenhang von der Integration des<br />

externen Faktors die Rede oder davon, daß der „Konsument“ einer Leistung bis<br />

zu einem gewissen Grad immer auch „Koproduzent“ sein muß. Hier können, wie<br />

noch zu zeigen sein wird, Probleme entstehen, wenn Adressaten der deutschen<br />

Sprache nicht mächtig sind oder wenn sie aus einem Kulturkreis kommen, in<br />

dem andere Vorstellungen vom Verhältnis zwischen öffentlich und privat oder<br />

von der gesellschaftlichen Stellung der Geschlechter herrschen.<br />

Schließlich gehört es zur Eigenart der meisten Dienstleistungen, daß ihre Qualität,<br />

anders als bei materiellen Gütern, nicht im vorhinein beurteilt werden kann. 5<br />

Ob die physischen, psychischen oder sozialen Probleme und Defizite des Adressaten<br />

tatsächlich verringert oder seine Perspektiven sogar nachhaltig verbessert<br />

wurden, läßt sich erst feststellen, nachdem die Leistung erbracht worden ist.<br />

Oftmals ist es auch nicht einmal dann möglich, und es bleibt dem Adressaten<br />

und seinen Angehörigen nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, daß nach


estem Wissen und Gewissen in seinem Interesse gehandelt wurde. Aus diesem<br />

Grunde handelt es sich bei vielen sozialen Dienstleistungen im Lichte der Informationsökonomie<br />

um „Vertrauensgüter“. Dazu kommt, daß die Qualität einer<br />

Dienstleistung ja nicht nur vom fachlichen Können, dem sozialen Geschick und<br />

dem Einfühlungsvermögen des „Produzenten“ abhängt, sondern auch von der<br />

Kooperationsfähigkeit und der Kooperationsbereitschaft des Adressaten. Deshalb<br />

kann die Unzufriedenheit mit einer Leistung auch in der unzureichenden Mitwirkung<br />

des Klienten begründet sein.<br />

III. Eine zusätzliche Herausforderung<br />

Die Erbringer sozialer Dienstleistungen sehen sich heute konfrontiert mit den<br />

Folgen, die sich ergeben aus den steigenden Zahlen von Menschen mit andauernden<br />

gesundheitlichen Beeinträchtigungen, von Alleinerziehenden, von, gemessen<br />

an den Anforderungen des Arbeitslebens, Leistungsgeminderten und von<br />

Menschen, die überfordert sind angesichts der Entscheidungen, die ihnen das<br />

Leben in einer sich rasch verändernden Welt abverlangt. Dies macht es notwendig,<br />

daß die Ausgestaltung der Leistungen immer wieder den sich verändernden<br />

Bedingungen angepaßt werden muß, was sich insbesondere auf der Ebene der<br />

kommunalen Sozialpolitik auswirkt. 6 Darüber hinaus sehen sich die Einrichtungen<br />

und Fachkräfte noch einer zusätzlichen Herausforderung gegenüber: Ihre<br />

Leistungen müssen in einem mehr und mehr kulturell heterogenen Umfeld erbracht<br />

werden. 7 Nun war natürlich die deutsche Gesellschaft wie alle entwickelten<br />

Gesellschaften in einem gewissen Sinne immer schon „multikulturell“. 8 So<br />

gab es und gibt es eine Differenzierung der Gesellschaft nach sozialen Schichten<br />

bzw. sozialen Milieus. Und es gab und gibt eine regionale Differenzierung. Die<br />

Lebensweise in Bayern ist nun einmal eine andere als die in Schleswig-Holstein.<br />

Dies gilt für den alltäglichen Umgang der Menschen untereinander ebenso wie<br />

für die Art und Weise, Feste zu feiern. Solche Unterschiede tragen ja gerade zum<br />

nicht-materiellen Reichtum eines Landes bei.<br />

Warum ist dann aber kulturelle Vielfalt zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion<br />

und politischer Kontroversen geworden? Der Grund liegt darin, daß zu<br />

der vorhandenen kulturellen Vielfalt der Faktor der Ethnizität getreten ist. In<br />

einem Land wie Deutschland konnte dies im wesentlichen nur die Folge von<br />

Zuwanderung sein. Solche Zuwanderung ist nun kein völlig neues Phänomen.<br />

Die westlichen Teile Deutschlands erlebten etwa im 19. Jahrhundert die Zuwanderung<br />

von Polen. Und zwischen 1945 und 1950 kamen mehr als neun Millionen<br />

Vertriebene und Flüchtlinge nach Westdeutschland. 9 Angesichts eines akuten<br />

Mangels an Arbeitskräften wanderten seit den 60er Jahren „Gastarbeiter“ aus<br />

Italien, Spanien und Griechenland zu. Später wurden Arbeitskräfte aus dem<br />

damaligen Jugoslawien, aus Nordafrika und der Türkei rekrutiert. 10 Viele „Gastarbeiter“<br />

verließen, wie es das ursprüngliche Anwerbekonzept vorsah, Deutschland<br />

wieder, andere entschlossen sich zu bleiben und ließen ihre Familien nachkommen.<br />

Aus diesem Grunde gibt es mittlerweile eine große Zahl von Italienern<br />

oder Türken der zweiten oder sogar schon dritten Generation. Dies findet seinen<br />

Ausdruck in der öffentlichen Rhetorik, in welcher der Ausdruck „Gastarbeiter“<br />

433


durch „ausländische Mitbürger“ ersetzt wurde. Indessen kommen auch heute<br />

noch – nicht zuletzt aufgrund der Freizügigkeitsregelungen in der Europäischen<br />

Union – Menschen als Arbeitsmigranten nach Deutschland.<br />

Vor allem in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielten<br />

zwei weitere Gruppen von Zuwanderern eine Rolle: Spätaussiedler und Asylsuchende.<br />

Zwar werden Spätaussiedler als „Deutsche“ eingebürgert, da aber vor<br />

allem die jüngeren unter ihnen die deutsche Sprache nicht beherrschen, werden<br />

sie von der einheimischen Bevölkerung häufig als „Russen“ wahrgenommen.<br />

Schließlich kamen die meisten von ihnen ja auch aus Kasachstan und aus der<br />

Russischen Föderation. Und im Bestreben, in einer ihnen fremden und unter<br />

Umständen sogar als bedrohlich erfahrenen Umwelt ihre Identität zu bewahren,<br />

verstehen sich diese Menschen nicht selten auch selbst als „Russen“. Zwar ist die<br />

Zahl der jährlich aufgenommen Spätaussiedler deutlich zurückgegangen, von<br />

rund 218.000 im Jahre 1995 auf 35.000 im Jahre 2005 11 , doch stellen diejenigen,<br />

die von der Erfahrung der Zuwanderung als Spätaussiedler geprägt sind, eine in<br />

ihrem Umfang nicht zu unterschätzende Bevölkerungsgruppe dar. Was die Asylsuchenden<br />

anbelangt, so erreichte deren Zahl im Jahre 1992 mit rund 440.000<br />

einen Spitzenwert. 12 Inzwischen sind auch die Zahlen der Asylsuchenden rückläufig,<br />

allein im Zeitraum von 1998 bis 2005 von nicht ganz 99.000 13 auf knapp<br />

29.000. Gestiegen ist in diesem Zeitraum aber der Anteil von Asylsuchenden aus<br />

Afrika und Asien. Damit haben wir es mit Menschen zu tun, deren Herkunftskultur<br />

sich stärker von der Kultur des Aufnahmelandes unterscheidet, als dies bei<br />

Zuwanderern aus süd-osteuropäischen Ländern der Fall ist.<br />

Dem Mikrozensus des Jahres 2005 zufolge leben in Deutschland mehr als 15<br />

Millionen Menschen, bei denen es sich entweder um Deutsche mit „Einwanderungshintergrund“<br />

oder um Ausländer handelt. 14 Was die Ausländer anbelangt,<br />

so betrug deren Zahl Ende 2005 etwas mehr als 6,7 Millionen. 15 Sie machten gut<br />

acht Prozent der Bevölkerung aus. Im Vergleich zu den 60er und 70er Jahren des<br />

zwanzigsten Jahrhunderts ist der Anteil der Ausländer hoch, im Vergleich zu<br />

anderen europäischen Ländern, etwa der Schweiz, niedrig. Ein knappes Drittel<br />

der in Deutschland lebenden Ausländer kommt aus den Mitgliedsländern der<br />

Europäischen Union. Aus der Türkei kommen 26 Prozent. Dies sind fast 1,8<br />

Millionen Menschen. Einwohner mit der Staatsangehörigkeit eines afrikanischen<br />

Landes machen vier Prozent und eines asiatischen Landes zwölf Prozent aus. 16<br />

Nimmt man die Menschen aus der Türkei, aus Afrika und aus Asien zusammen,<br />

dann kann man sagen, daß knapp 2,9 Millionen Menschen unter uns leben, die<br />

von Kulturen geprägt sind, die außerhalb des europäischen Kulturkreises liegen.<br />

In rund 70 Prozent der Fälle dürfte es sich dabei um Kulturen handeln, in denen<br />

der Islam bestimmend ist.<br />

Die große Mehrheit der Deutschen hat akzeptiert oder sich zumindest damit<br />

abgefunden, daß die Gesellschaft der Zukunft eine Gesellschaft mit größerer<br />

ethnischer Vielfalt sein wird. In Deutschland wie in anderen europäischen Ländern<br />

wird die Zuwanderung anhalten. Menschen in anderen Regionen werden<br />

sich auf den Weg nach Europa machen, weil sie extremer Armut entfliehen wollen<br />

oder weil sie von der Aussicht eines höheren Lebensstandards angezogen<br />

434


werden. Und immer wieder hören die Deutschen ja auch, daß ihr Land angesichts<br />

der demographischen Lage Zuwanderung brauche. Tatsächlich stellt die Zunahme<br />

ethnischer Vielfalt an sich noch kein Problem dar. Problematisch ist die Geschwindigkeit,<br />

in der dies geschieht, und die Art und Weise, wie die kulturellen<br />

Orientierungen der Zuwanderer mit den in unserem Land geltenden Prinzipien<br />

von Toleranz, Selbstbestimmung und Menschenwürde in Einklang gebracht<br />

werden können. Ethnische Vielfalt zu akzeptieren bedeutet nun aber auch, daß<br />

Zuwanderer Zugang zu den sozialen Dienstleistungen erhalten, die sie benötigen<br />

– und dies über die von den speziellen Migrationsdiensten angebotenen Leistungen<br />

hinaus. Die Rolle der Migrationsdienste darf indessen nicht unterschätzt<br />

werden, können diese doch in gewisser Weise als „Türöffner“ für andere Dienste<br />

fungieren. 17 Allerdings bestehen Monika Treber zufolge bei Zuwanderern gewöhnlich<br />

große Vorbehalte „gegenüber den Regeldiensten der sozialen Arbeit<br />

und des Gesundheitswesens, in denen differenzierte Hilfeangebote bereitgehalten<br />

werden“. 18<br />

IV. Kulturelle Faktoren<br />

Sieht man einmal von Fällen ab, in denen eine bestimmte Maßnahme, etwa die<br />

psychotherapeutische Behandlung eines Straftäters, diesem gleichsam von Amts<br />

wegen auferlegt wird, geht die Inanspruchnahme einer sozialen Dienstleistung<br />

von der Erfahrung eines Menschen oder seiner Angehörigen aus, nicht mehr in<br />

der Lage zu sein, eine Situation mit eigenen Ressourcen zu bewältigen. Dies<br />

können Aufmerksamkeitsstörungen eines Schulkindes, schwerwiegende Disharmonie<br />

zwischen Ehepartnern, Medikamentenabhängigkeit, dementive Veränderungen<br />

oder Pflegebedürftigkeit sein. Nicht immer, wenn die eigenen Ressourcen<br />

nicht ausreichen, wird indessen professionelle Hilfe in Anspruch genommen.<br />

Dies ist in der einheimischen Bevölkerung nicht der Fall und erst recht nicht bei<br />

Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund. Ethnische Gruppen unterscheiden<br />

sich nämlich teilweise erheblich in ihren Vorstellungen von dem, was<br />

nach außen getragen werden kann und was im Kreis der Familie bzw. Großfamilie<br />

zu bewältigen ist.<br />

Eine große Rolle spielt hierbei die Reichweite von Vertrauen. In Kulturen, in<br />

denen Vertrauen auf den Familien- und Verwandtenkreis beschränkt bleibt, ist<br />

die Wahrscheinlichkeit geringer, daß Menschen externe Hilfe in Anspruch nehmen<br />

als in einer Kultur, in der man auch Vertrauen in die Kompetenz von<br />

„Fremden“ hat. Probleme entstehen für die Betroffenen, aber auch für die Leistungserbringer,<br />

wenn etwa die in Deutschland aufgewachsene Frau, die einer<br />

Einwandererfamilie entstammt, für ihren Sohn die Erziehungsberatung in Anspruch<br />

nehmen möchte, ihr zugewanderter Mann dies aber strikt ablehnt, weil<br />

man Erziehungsschwierigkeiten „auf traditionelle Weise“ regelt.<br />

Was die Kooperationsfähigkeit des „Klienten“ anbelangt, so hängt diese, wie<br />

bereits angesprochen, wesentlich vom Beherrschen der Landessprache ab. Hier<br />

zeigte etwa das Sozio-ökonomische Panel 2003, daß für 81 Prozent der Aussiedler<br />

und für jeweils 38 Prozent der Zuwanderer aus Südwesteuropa und dem ehe-<br />

435


maligen Jugoslawien die Umgangssprache Deutsch war, aber nur für 21 Prozent<br />

der Zuwanderer aus der Türkei. 19 Zwar vermögen erfahrene Fachkräfte die Befindlichkeit<br />

eines Menschen bis zu einem gewissen Grad auch aus nicht-verbalen<br />

Äußerungen zu erschließen, doch sind einem solchen Vorgehen bei komplexen<br />

Problemlagen rasch Grenzen gesetzt. Weiterhin hängt die Kooperationsfähigkeit<br />

von Klienten davon ab, in welchem Maße sie eine Vorstellung haben vom Zustandekommen<br />

grundlegender physischer, psychischer und sozialer Zustände<br />

und Abläufe. Solche Vorstellungen sind aber häufig wiederum durch die Kultur<br />

geprägt. Dies gilt etwa für die Funktion, die bestimmten Organen zugeschrieben<br />

wird und für die Lokalisierung und Beschreibung von Schmerzen. Ein „kultursensibles“<br />

Vorgehen bedeutet hier, die Äußerungen des Klienten zunächst einmal<br />

ernst zu nehmen und durch entsprechendes Nachfragen Informationen zu<br />

erhalten, die auch in einem westlich orientierten Wahrnehmungs- und Handlungsrepertoire<br />

relevant sind. An dieser Stelle wird indessen deutlich, daß „kultursensibles“<br />

Handeln recht zeitaufwendig sein kann. Und dies in einer Situation,<br />

in der Zeit bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen eine besonders knappe<br />

Ressource darstellt!<br />

Die Kooperationsbereitschaft von Klienten wird zunächst einmal – unabhängig<br />

von deren kulturellem Hintergrund – von persönlichen Eigenschaften sowie von<br />

situativen Bedingungen bestimmt. Allerdings spielt der kulturelle Hintergrund da<br />

eine Rolle, wo es um die Beachtung kulturspezifischer Tabus geht, insbesondere<br />

solcher, die sich auf das Verhältnis der Geschlechter beziehen. Derartige Tabus<br />

gelten nicht nur für das Verhalten im Alltag, sondern auch für die Akzeptanz<br />

professionellen Handelns. So kann das, was an Betreuungs- und Pflegeleistungen<br />

gegenüber Angehörigen des anderen Geschlechts gestattet ist, sehr beschränkt<br />

sein. Manche Leistungen können oftmals auch nur erbracht werden, wenn der<br />

Ehepartner des Adressaten oder ein anderes Familienmitglied anwesend ist. Aus<br />

diesem Grunde kann ein Verhalten, das aus der Sicht des Leistungserbringers auf<br />

Passivität, Desinteresse oder Sturheit zurückzuführen ist, Ausdruck kulturell<br />

geprägter Vorstellungen von Intimität und von der Stellung der Geschlechter<br />

sein.<br />

Eine große Rolle bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen für Menschen aus<br />

anderen Kulturkreisen spielt das Verhältnis von einzelnem und Kollektiv. Das<br />

westliche Menschenbild ist individualistisch. Das Individuum ist Träger von<br />

Rechten, und es ist, sieht man von Familienleistungen ab, das Individuum, das<br />

gewöhnlich im Zentrum sozialstaatlicher Programme steht. Demgegenüber stellen<br />

Dienstleister, die es mit einem Adressaten aus anderen Kulturkreisen zu tun<br />

haben, oftmals fest, daß es die Familie oder sogar die erweiterte Familie ist, die<br />

sich als von einem Problem betroffen betrachtet. Um zielgerichtet beraten,<br />

betreuen oder pflegen zu können, muß dann die Aufmerksamkeit vom einzelnen<br />

auf die Gruppe gelenkt werden. Dies kann in manchen Fällen durchaus ein „modernes“<br />

Vorgehen darstellen. So setzen ja viele Theoretiker sozialer Dienstleistungen<br />

auf einen „systemischen“ Ansatz. Gleichwohl stoßen Fachkräfte unter<br />

solchen Umständen nicht selten an die Grenzen ihres professionellen Handelns.<br />

436


Eine Grenze besonderer Art stellen die kulturell unterschiedlichen Antworten auf<br />

die Frage dar: „Wer spricht?“ Ist es diejenige Person, die primär von einem<br />

Problem betroffen ist, oder ist es jemand anderes, der im Namen dieser Person<br />

spricht? Handelt es sich um ein Kind oder einen dementiv veränderten Menschen,<br />

dann ist es auch in unserer westlichen Kultur selbstverständlich, daß die<br />

Eltern, der Ehepartner oder die erwachsenen Kinder die notwendigen Informationen<br />

geben. Oftmals werden Fachkräfte im Umgang mit Menschen aus anderen<br />

Kulturkreisen aber mit der Tatsache konfrontiert, daß der Ehemann für seine<br />

Frau oder der Vater für eines seiner erwachsenen Kinder spricht – und dies auch<br />

dann, wenn die Ehefrau und die erwachsenen Kinder durchaus über ausreichende<br />

Sprachkenntnisse verfügen. Besteht ein Dienstleister dann darauf, Informationen<br />

„aus erster Hand“ zu erhalten, kann Mißbilligung auf seiten dessen die Folge<br />

sein, dem traditionell das Recht zusteht, im Namen des anderen zu sprechen.<br />

Dies kann bis hin zum Abbruch einer helfenden Beziehung führen.<br />

V. Möglichkeiten „kultursensibler“ sozialer Dienstleistungen<br />

Angesichts der Schwierigkeiten, die daraus resultieren, daß kulturelle Besonderheiten<br />

gerade bei personenbezogenen Leistungen eine so große Rolle spielen,<br />

läge der Gedanke nahe, spezielle Programme für einzelne ethnische Gruppen zu<br />

entwickeln. Dies wäre, realistisch betrachtet, indessen nur in den – in der Regel<br />

städtischen – Regionen umsetzbar, in denen die Angehörigen einer bestimmten<br />

ethnischen Gruppe besonders zahlreich sind, etwa für Türken in Berlin oder<br />

Köln. Und selbst hier wäre es wohl nicht möglich, die ganze Bandbreite an<br />

Dienstleistungen anzubieten, die der einheimischen Bevölkerung zur Verfügung<br />

stehen. Der wichtigste Grund, der gegen soziale Dienste spricht, die auf ethnische<br />

Gruppen spezialisiert sind, ist allerdings nicht logistischer Art. Es geht um<br />

Grundsätzliches. Es ist nämlich davon auszugehen, daß so konzipierte Dienste in<br />

den Städten, die sich ja gerade als „Orte der Integration“ verstehen 20 , soziale<br />

Segregation verstärken. Natürlich zeigen die Erfahrungen in multiethnischen<br />

Gesellschaften wie den USA, Kanada oder Australien, daß es immer ein gewisses<br />

Maß an ethnischer Segregation gibt. Schließlich wird diese von bestimmten<br />

Gruppen sogar angestrebt, um die kulturelle Identität zu bewahren.<br />

Was Deutschland anbelangt, so nimmt hier die kulturelle Vielfalt zweifellos zu,<br />

doch gibt es immer noch so etwas wie eine dominante Kultur. Sich von dieser<br />

Kultur dadurch auszuschließen, daß man sich in einer Parallelgesellschaft einrichtet,<br />

würde aber unter Umständen auch die Erreichung der Ziele verhindern,<br />

deretwegen die Zuwanderer in unser Land gekommen sind. Zum anderen würde<br />

dadurch die Gefahr von Spannungen und Konflikten wachsen, und dies nicht nur<br />

zwischen Zuwanderern und Einheimischen, sondern auch, was bislang noch<br />

kaum bedacht wurde, zwischen kulturell unterschiedlich geprägten Gruppen von<br />

Zuwanderern. Aus diesem Grunde sollte der Sozialstaat, der die Rahmenbedingungen<br />

für die Tätigkeit sozialer Dienste setzt, soziale Segregation nicht dadurch<br />

fördern, daß er spezifische soziale Dienstleistungen für ethnische Gruppen vorsieht.<br />

Zumindest sollten solche Dienstleistungen nicht die Regel sein. Anders<br />

sieht es aus bei Einrichtungen der Altenhilfe. Hier können kulturspezifisch aus-<br />

437


gerichtete Angebote insbesondere den Bedürfnissen der Zuwanderer der ersten<br />

Generation entgegenkommen. Ausnahmen könnten auch soziale Dienste für<br />

Menschen aus Kriegsgebieten oder Opfer von Naturkatastrophen sein, die in<br />

unserem Land Aufnahme finden und die oftmals durch schwere Traumatisierungen<br />

belastet sind.<br />

Die Alternative zu sozialen Dienstleistungen für spezifische ethnische Gruppen<br />

ist nun die Sensibilisierung der Leistungserbringer für kulturelle Besonderheiten<br />

der Adressaten und für die „Überschneidung von kulturellen Orientierungsmustern“.<br />

21 Dies bringt in die Diskussion um die Qualität sozialer Dienstleistungen<br />

einen zusätzlichen Aspekt ein: „Die Sensibilität für das Aufeinandertreffen unterschiedlicher<br />

kultureller Deutungsmuster und die Fähigkeit, klientenorientiert<br />

befriedigende Lösungen zu erzielen, kann so als neues Qualitätsmerkmal für<br />

beraterisches, pädagogisches und pflegerisches Handeln bestimmt werden.“ 22<br />

Aufgrund der – gewöhnlich unter dem Schlagwort der „Globalisierung“ diskutierten<br />

– Zunahme weltweiter Wirtschaftsbeziehungen, durch die ja Menschen<br />

mit ganz unterschiedlichem kulturellem Hintergrund miteinander in Kontakt<br />

geraten, gibt es mittlerweile zahlreiche Programme zur Vermittlung von Kompetenzen<br />

zum Umgang mit Situationen, in denen kulturelle Besonderheiten zum<br />

Tragen kommen. Solche Programme umfassen dabei gewöhnlich zumindest die<br />

folgenden Elemente: (1) Wahrnehmung und Analyse der eigenen kulturellen<br />

Standards; (2) Konfrontation mit anderen kulturellen Standards; (3) Befähigung<br />

zur Wahrnehmung kultureller Unterschiede; (4) Entwicklung kultursensibler<br />

Handlungskompetenzen in Rollenspielen und Fallstudien. Natürlich müssen<br />

solche Programme ausgerichtet werden auf die Probleme, mit denen sich die<br />

Erbringer sozialer Dienstleistungen konfrontiert sehen sowie auf die Art der<br />

Interaktion, die dabei im Vordergrund steht.<br />

Es versteht sich von selbst, daß nicht alle Fachkräfte, die mit der Erbringung<br />

sozialer Dienstleistungen befaßt sind, über die Kompetenzen verfügen können,<br />

die beim Umgang mit Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund<br />

hilfreich sind. Dies würde die jeweiligen personellen und finanziellen Möglichkeiten<br />

weit überschreiten. In Einrichtungen und ambulanten Diensten, die in<br />

Regionen oder Stadtteilen mit einer nennenswerten Zahl von Angehörigen einer<br />

spezifischen ethnischen Gruppe tätig sind, könnte aber darauf geachtet werden,<br />

daß es Fachkräfte gibt, die über die Voraussetzungen verfügen, unter Berücksichtigung<br />

kultureller Besonderheiten angemessen mit Menschen aus dieser<br />

Gruppe umgehen zu können. Dazu gehören etwa so elementare Sachverhalte wie<br />

Gestaltung des Blickkontakts beim Sprechen, das Verhältnis von physischer<br />

Nähe und Distanz bei sozialen Interaktionen oder die Art und Weise, wie Zustimmung<br />

und Freude einerseits und Ablehnung und Trauer andererseits zum<br />

Ausdruck gebracht werden.<br />

Soweit dürfte der Gedanke, angesichts zunehmender sozialer und ethnischer<br />

Vielfalt bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen nach Möglichkeit auch den<br />

kulturellen Hintergrund der Adressaten zu beachten, weitgehend konsensfähig<br />

sein. Problematisch wird es da, wo die Kultur der Adressaten Elemente enthält,<br />

die mit den professionellen Standards der Leistungserbringer oder mit der in<br />

438


unserem Land dominanten Wertordnung nicht vereinbar sind. Im ersteren Fall<br />

geht es etwa um kulturspezifische Vorstellungen von körperlichen oder psychischen<br />

Zusammenhängen, die nach dem Erkenntnisstand der modernen Wissenschaft,<br />

an dem sich die professionellen Standards ja in starkem Maße orientieren,<br />

unangemessen oder gar falsch sind. Sich auf solche Vorstellungen einzulassen,<br />

kann die Leistungserbringer in Konflikte führen, die zentrale Aspekte ihrer beruflichen<br />

Identität berühren. Im zweiten Fall sehen sich die Leistungserbringer<br />

mit Einstellungen und Verhaltensweisen konfrontiert, die grundlegenden Überzeugungen<br />

in unserer Gesellschaft widersprechen.<br />

Eine solche Situation besteht etwa da, wo die Familie oder der Clan darüber<br />

bestimmen, welche Hilfe für ein Mitglied angemessen ist und welche nicht, obwohl<br />

die oder der Betroffene aufgrund des Lebensalters und der intellektuellen<br />

Fähigkeiten durchaus über die Voraussetzungen zu einer eigenen Entscheidung<br />

verfügt. Eine andere Konfliktsituation tut sich auf, wenn Fachkräfte erleben, daß<br />

der Mann für seine Frau spricht und dabei Positionen vertritt, die aus der Sicht<br />

eines Außenstehenden gar nicht im Interesse der Frau sind. Schließlich ist zu<br />

denken an Fälle, wie sie etwa in der Erziehungsberatung auftreten, in denen der<br />

Vater erklärt, den zur Sprache gekommenen Problemen unter Rückgriff auf sein<br />

in der Herkunftskultur verankertes Recht der körperlichen Züchtigung „zu Leibe“<br />

rücken zu wollen. Dies alles sind Konstellationen, in denen es für die Fachkräfte<br />

um die Wahrung ihrer professionellen Standards und um die Respektierung<br />

ihrer eigenen, für unseren Kulturkreis charakteristischen Überzeugungen<br />

geht. Unter einem „kultursensiblen“ Handeln das Abgehen von professionellen<br />

Standards und die Aufgabe eigener kulturspezifischer Überzeugungen verstehen<br />

zu wollen, ginge mit Sicherheit nicht nur am Selbstverständnis der Leistungserbringer<br />

vorbei, sondern läge, was das entscheidende ist, letztlich wohl auch nicht<br />

im Interesse der Adressaten. Diese werden sich nämlich nur dann mit der sie<br />

umgebenden Gesellschaft auseinandersetzen können, was ja eine Voraussetzung<br />

für eine selbstbestimmte Integration ist, wenn auch die Konturen dieser Gesellschaft<br />

sichtbar sind.<br />

Anmerkungen<br />

1) So Monika Treber: Interkulturelle Öffnung: ein Gebot der Zuwanderungsgesellschaft.<br />

In: Deutscher Caritasverband (Hrsg.): Caritas 2005. Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes.<br />

Freiburg 2004, S. 122f.<br />

2) Hans Braun: Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates. In: Die Neue Ordnung, 4/1973, S.<br />

241-252.<br />

3) Bernhard Badura, Peter Gross: Sozialpolitische Perspektiven. Eine Einführung in<br />

Grundlage und Probleme sozialer Dienstleistungen. München 1977.<br />

4) Siehe hierzu Hans Braun: „Lebensqualität“ im Alter. Vorgaben und Aufgaben. In: Die<br />

Neue Ordnung, 4/2003, S. 251 f.<br />

5) Zu den Dimensionen der Qualität sozialer Dienstleistungen siehe Hans Braun: Wirtschaftlichkeit<br />

und Qualitätsorientierung in sozialen Diensten. In: Franz Peterander, Otto<br />

Speck (Hrsg.): Qualitätsmanagement in sozialen Einrichtungen. München, Basel, 2. völlig<br />

neu bearbeitete Auflage, 2004, S. 37-41.<br />

439


6) Siehe hierzu Hubertus Schröer: Fit für die Zukunft – Kommunale Sozialpolitik im<br />

Wandel. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge,<br />

3/2005, S. 97- 102.<br />

7) Zum Kulturbegriff siehe Christoph Antweiler: Kulturelle Vielfalt. Ein ethnologischer<br />

Forschungsüberblick zu inter- und intrakultureller Diversität. In: Hartmut Wächter, Günther<br />

Vedder, Meik Führing (Hrsg.): Personelle Vielfalt in Organisationen. München,<br />

Mering 2003, S. 50-52.<br />

8) Siehe hierzu Hans Braun: „Multikulturalismus“ als Normalfall? In: die Neue Ordnung,<br />

3/1997, S. 178 f.<br />

9) Siehe Hans Braun: Das Streben nach „Sicherheit“ in den 50er Jahren. Soziale und<br />

politische Ursachen und Erscheinungsweisen. In: Archiv für Sozialgeschichte, XVIII,<br />

1978, S. 283f.<br />

10) Siehe hierzu Annette Treibel: Migration. In: Bernhard Schäfers, Wolfgang Zapf<br />

(Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Opladen 2 2001, S. 475f.<br />

11) Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik<br />

Deutschland. Wiesbaden 2006, S. 62.<br />

12) Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch 1993 für die Bundesrepublik<br />

Deutschland. Stuttgart 1993, S. 73.<br />

13) Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik<br />

Deutschland. Wiesbaden 2006, S. 49.<br />

14) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Mai 2007, Nr. 104, S. 4.<br />

15) Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik<br />

Deutschland. Wiesbaden 2006, S. 48.<br />

16) Ebd., S. 48.<br />

17) Theresia Wunderlich, Antonella Serio: Solidarität mit den Migranten ist ein Versprechen.<br />

In: Deutscher Caritasverband (Hrsg.): Caritas 2007. Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes.<br />

Freiburg 2006, S. 150.<br />

18) Monika Treber, a.a.O., S. 121.<br />

19) Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Datenreport 2006. Bonn 2006, S. 571.<br />

20) Stephan Articus: Städte sind Orte der Integration. In: der städtetag, 4/2007, S. 14-18.<br />

21) Monika Treber, a.a.O, S. 123.<br />

22) Ebd., S. 123.<br />

Prof. em. Dr. Hans Braun lehrt Soziologie an der Universität Trier.<br />

440


Hans Joachim Türk<br />

Die politische Philosophie von John Rawls<br />

und die Katholische Soziallehre<br />

In einer Einführung von einem der besten Interpreten des Werkes von John Rawls<br />

(1921-2002) ist 1993 zu lesen: „Wohl kein philosophisches Werk hat in diesem<br />

Jahrhundert so schnell so große Aufmerksamkeit erregt und eine so intensive und<br />

weitgespannte Diskussion ausgelöst wie dieses schwergewichtige Buch des Havard-Professors<br />

für Philosophie. Ohne das kleinste Zugeständnis an den philosophischen<br />

Laien trägt es mit größter systematischer Konzentration auf sechshundert<br />

Seiten die argumentativ dichteste und elaborierteste Theorie der politischen und<br />

sozialökonomischen Gerechtigkeit vor, die in der Geschichte der praktischen Philosophie<br />

bis heute entwickelt worden ist.“ 1<br />

Wolfgang Kersting stellt das Werk „A Theory of Justice“ 2 von 1971 in die Tradition<br />

von Platon, Aristoteles, Hobbes, Locke, Rousseau und Kant. Rawls hat sein<br />

ursprüngliches Werk mehrmals in Aufsätzen 3 und in einer veränderten Neuausgabe<br />

4 revidiert, weil er auf unterschiedliche Einwände aus der in Amerika eingesetzten<br />

Diskussion eingehen und einige Schwächen seiner bisherigen Argumentation<br />

beseitigen wollte. Es fällt auf, daß im Unterschied zur Rezeption und Diskussion<br />

der Theorien von Rawls in den USA und bald schon auch in Europa, zumal in<br />

Deutschland, die katholische Soziallehre sich nicht ausgiebig damit befaßt hat.<br />

Einer der wenigen, die dem Thema sich in eigenen Arbeiten widmen, ist Franz-<br />

Josef Bormann (auf einige andere wird später eingegangen): „Es ist ein ebenso<br />

erstaunliches wie bezeichnendes Faktum, daß innerhalb der seit nunmehr über drei<br />

Jahrzehnten äußerst intensiv und interdisziplinär geführten Debatte um Rawls'<br />

Fairneßkonzept nur wenige Beiträge aufzufinden sind, die aus dem Bereich der<br />

katholischen Soziallehre stammen. Die Situation scheint sich erst in jüngster Zeit<br />

dadurch zu verändern, daß sich eine wachsende Zahl von Theologen verstärkt für<br />

Rawls' Spätwerk, insbesondere für seine Überlegungen zur ‚öffentlichen Vernunft’<br />

und die Rolle religiöser Argumentationsmuster im Kontext der politischen Willensbildung<br />

pluralistischer Gesellschaften zu interessieren beginnt.<br />

Diese eigentümliche Zurückhaltung gegenüber einem kritischen Dialog mit der<br />

zweifellos einflußreichsten Gerechtigkeitstheorie des 20. Jahrhunderts erscheint<br />

sogar noch überraschender, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Thema der<br />

sozialen Gerechtigkeit einen prominenten Platz innerhalb der katholischen Soziallehre<br />

einnimmt, seitdem dieser Begriff im Jahre 1931 erstmalig in den offiziellen<br />

lehramtlichen Sprachgebrauch aufgenommen worden ist (in der Enzyklika<br />

„Quadragesimo anno“. Der Verf.).“ 5 Neben Bormann hat sich auch neuerdings der<br />

Theologe und Sozialwissenschaftler Elmar Nass ausführlicher als andere katholischen<br />

Sozialethiker mit den Beziehungen zwischen Rawls' Theorien und der katholischen<br />

Soziallehre beschäftigt. 6 Beide genannten Autoren sehen eher die Distanz<br />

441


als die Vereinbarkeit zwischen beiden Polen. Hier soll ein anderer Versuch zur<br />

Verhältnisbestimmung gewagt werden. Allerdings wird hier eine Kenntnis der<br />

Grundzüge der Philosophie und Gerechtigkeitslehre von Rawls vorausgesetzt, da<br />

diese mittlerweile zur sozialethischen Allgemeinbildung zählen und an Einführungen<br />

und Darstellungen kein Mangel mehr herrscht. Lediglich auf einen Aspekt soll<br />

hier noch hingewiesen werden.<br />

Rawls hat seine Theorie nach dem Erscheinen seines Hauptwerkes einer Revision<br />

unterzogen, die für eine Auseinandersetzung mit ihm nunmehr wichtig ist. In der<br />

„Theorie der Gerechtigkeit“ ist offengelassen, „ob die Theorie der Gerechtigkeit<br />

als Fairneß eine umfassende moralische Lehre oder eine politische Konzeption von<br />

Gerechtigkeit darstellt.“ 7 In der Neufassung ist die Entscheidung gefallen: „Die<br />

Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß wird jetzt als eine politische Konzeption<br />

der Gerechtigkeit präsentiert.“ 8 Sie ist also nicht ein „Teil einer moralischen Globallehre“,<br />

die in einer Welt des moralischen, religiösen und philosophischen Pluralismus<br />

nicht mehr möglich sei. Hiermit ist eine Trennung von Moral und Politik<br />

vollzogen, die kennzeichnend für sozialliberale Denkweisen ist. Das Gute, d.h. die<br />

Moral, ist Sache der freien Individuen, das Gerechte Sache der Gesellschaft und<br />

damit der Politik. 9 Wir finden diese Zweiteilung besonders bei dem einflußreichsten<br />

Philosophen in Deutschland, bei Jürgen Habermas. In politischen und<br />

sozialen Problemen soll ein „overlapping consensus“ 10 , eine Schnittmenge in der<br />

pluralistischen Gesellschaft gefunden werden, während die religiösen und moralischen<br />

Überzeugungen Privatsache der Individuen bleiben. Die fundamentale Idee<br />

der Gerechtigkeit ist „die Vorstellung von der Gesellschaft als einem fairen und<br />

langfristig von einer Generation zur nächsten fortwirkenden System der sozialen<br />

Kooperation“. 11 Diese Zweiteilung ist schon ein erster Stolperstein für eine mögliche<br />

Versöhnung von katholischer Soziallehre und Rawls, sollte aber den Versuch<br />

einer Annäherung nicht blockieren.<br />

442<br />

Der Begriff der Person<br />

Rawls selbst zitiert die kontinentale katholische Soziallehre und ihre Autoren in<br />

seinen hier erwähnten Schriften überhaupt nicht. Er erwähnt lediglich im Rahmen<br />

seiner Pluralismusbeschreibungen die Rolle von Moral und Religion, auf die er<br />

aber seine Gerechtigkeitsphilosophie gerade nicht abstützen, sondern neutral bleiben<br />

will. 12 Anscheinend besitzt er keine Kenntnis der klassischen katholischen<br />

Soziallehre, auch nicht von deren Fortentwicklung. Die zentralen Inhalte der katholischen<br />

Soziallehre: Gemeinwohl, Solidarität, Subsidiarität, soziale Gerechtigkeit<br />

kommen in den ausführlichen Registern seiner Hauptwerke überhaupt nicht<br />

vor. Er bewegt sich nur in der angelsächsischen Fachliteratur, in der Catholica auch<br />

nicht erscheinen. Lediglich der Begriff der Person, der wie die obigen zu den Zentralbegriffen<br />

der katholischen Lehre zählt, spielt eine wichtige Rolle. „Diese Konzeption<br />

der Person darf nicht mit der Konzeption des Menschen (eines Angehörigen<br />

der Spezies Homo sapiens) verwechselt werden, als der die Person in Biologie<br />

oder Psychologie bestimmt werden könnte, ohne irgendwelche normative Begriffe<br />

zu verwenden, zu denen beispielsweise auch die Begriffe der menschlichen Vermögen<br />

und der moralischen wie der politischen Tugenden gehören. Außerdem


müssen wir, um die Person zu kennzeichnen, diesen Begriffen auch noch diejenigen<br />

hinzufügen, die zur Formulierung der Kräfte der Vernunft, des Schließens und<br />

des Urteils gebraucht werden. Dabei handelt es sich um wesentliche Kräfte, die mit<br />

den beiden moralischen Vermögen einhergehen und für deren Ausübung ebenso<br />

erforderlich sind wie für den praktischen Einsatz der Tugenden.“ 13<br />

Diese Definition, die sich schon dem griechischen Bürger der Polis verdankt, ist<br />

eine Absage an den Behaviorismus, Biologismus, Marxismus, deckt sich mit dem<br />

der katholischen Lehre zugrunde liegenden Menschenbild, würde aber ethische<br />

Probleme aufwerfen, wenn man beim Fehlen dieser Essentials Föten, Behinderten,<br />

Demenzkranken, Apallikern den Schutz der Personenwürde aberkennt. Diese Frage<br />

erörtert Rawls aber nicht in seinen hier erwähnten Schriften. In der Anwendung<br />

an seine Urzustands- und Vertragstheorie und das Zielbild der wohlgeordneten<br />

Gesellschaft ist keine solche ethisch negative Wertung enthalten.<br />

Das Naturrecht<br />

Die Basis der obengenannten katholischen Grundsätze ist die Lehre vom Naturrecht.<br />

Rawls erwähnt dieses, auch im Plural benutzt, nur wenige Male. Es taucht<br />

auf, wo er seine nachmetaphysische Vertragstheorie als notwendig ansieht, da<br />

Gott, Religion, Philosophie und das, was „einige“ Naturrecht nennen, nicht mehr<br />

den gesellschaftlichen Konsens stiften können. 14 Immerhin schließt er sich an den<br />

englischen Rechtsphilosophen Herbert Lionel Adolphus Hart 15 an, der von einem<br />

„Mindestgehalt des Naturrechts“ spricht, und er meint, daß dieser Gehalt in seiner<br />

eigenen Konzeption enthalten sei. Es geht ihm dabei um die politischen Werte,<br />

welche die Loyalität der Bürger begründen. 16 Auch stellt er einmal seine Vertragstheorie<br />

und das Naturrecht gemeinsam der utilitaristischen Nutzentheorie gegenüber<br />

und spricht von der „Unverletzlichkeit der Person“, die manche als Naturrecht<br />

bezeichnen. 17 Ein wenig ausführlicher äußert sich dazu Rawls nur in einer Anmerkung<br />

in der „Theorie der Gerechtigkeit“. 18 „Aus einem quasi metaphysischen Gerechtigkeitsbegriff<br />

ist die Würde des Menschen abgeleitet“, aus der sich die Fähigkeit<br />

zu Vernunft und Kooperation ergibt. Obwohl Rawls alles aus einem „agreement“<br />

ableiten will, entspricht „diese vorvertragliche Logik (...) einer naturrechtlichen<br />

Legitimation: Gerechtigkeit als unverrückbares Naturgesetz rahmt die dynamischen<br />

Gestaltungsprozesse (Naturrecht).“ 19<br />

Es liegen hier also metaempirisch vorgegebene Ideale von Mensch und Gesellschaft<br />

vor, nichts anderes, als was in der Tradition Naturrecht meint. Eine größere<br />

Nähe als vermutet ergibt sich aus der Tatsache, daß die katholische Weiterentwicklung<br />

des Naturrechtsgedankens sich von der früheren neuscholastischen Form<br />

entfernt hat. „Eine allzu enge Bindung der Soziallehre der Kirche an das neuscholastische<br />

Naturrechtsverständnis ist damit obsolet geworden. Denn diese philosophische<br />

Richtung ist ‚unter Ideologieverdacht geraten’ aufgrund ihrer metaphysischen<br />

Überfrachtung, der starren Festlegung dessen, ‚was semper et pro semper<br />

rechtlich zu geschehen habe’ und aufgrund ihres fundamentalen Fehlers, nämlich<br />

‚der unmittelbaren und undifferenzierten Verkopplung des von Gott an den Menschen<br />

gestellten Anspruchs mit einer inhaltlich vorgegebenen Ordnung’.“ 20 Man<br />

443


muß ergänzen: die unmittelbare Gleichsetzung von Moral und Recht, dem Guten<br />

und der Gerechtigkeit. Die Autorin fährt aber an derselben Stelle fort: „Dies bedeutet<br />

aber nicht das Ende der Metaphysik und des Naturrechts insgesamt, denn ‚jene<br />

Fragen, auf die es Antwort zu geben beansprucht hat, sind noch geblieben’. Ohne<br />

Metaphysik im Sinne der Lehre von den transzendenten Dingen und Dimensionen<br />

der Wirklichkeit und insbesondere des Menschen ist keine Ethik möglich, die sich<br />

nicht der Beliebigkeit aussetzen, sondern an Grundwerten orientieren will. Das<br />

eigentliche, auch stets gleichbleibende und heute auch noch berechtigte Grundanliegen<br />

des Naturrechts und der Metaphysik bleibt die ‚objektive Begründung einer<br />

sozialen Ordnung’, ihrer notwendigen Werte und Rechtsgüter (Institutionen).“<br />

Wenn man noch ein Weiteres bedenkt, wird die Nähe zu Rawls noch deutlicher.<br />

„Natur“ ist nicht einfach die vorgefundene Faktizität, weder die biologische noch<br />

die kulturelle, sondern es sind Unbeliebigkeitsstrukturen im Menschsein, die erst<br />

mit der praktischen Vernunft ausgelegt, gedeutet und als bindend erfaßt werden<br />

müssen. Die Vernunft ist nicht ein reines Ableseinstrument eines naturgegebenen<br />

Normenbestandes. „Sittliche Normen sind keine Eigenschaften der Natur ‚an sich’,<br />

sondern Resultate empirischer Erkenntnis, rationaler Urteilsbildung und diskursiv<br />

erzielter Willensübereinkunft. Nicht Normen sind in die Natur eingelassen, sondern<br />

die ethische Vernunft des Menschen, die über jene Normen zu befinden hat,<br />

die menschliches Leben in der Anerkennung seiner naturalen Regulative gelingen<br />

lassen. Es ist undelegierbare Aufgabe der Vernunft, jene Hinsichten zu bestimmen,<br />

unter denen es rational ist, das Naturale als normativ auszuzeichnen.“ 21<br />

Dieses Naturale ist nach dem Münchener Sozialethiker Wilhelm Korff sowohl das<br />

naturhaft Unbeliebige als auch das geschichtlich-kulturell „Unbeliebige“ 22 des<br />

Menschen, der immer zugleich Aggressor, Fürsorger und Bedürftiger ist; Johannes<br />

Messner würde es die Wirkweise der menschlichen Natur oder die „existentiellen<br />

Zwecke“ nennen. Die durch die Betonung der normativen Vernunft, der Person<br />

und der Geschichtlichkeit veränderte Naturrechtsauffassung ist auch in dem Gespräch<br />

mit Jürgen Habermas von dem damaligen Kardinal Josef Ratzinger, jetzt<br />

Papst Benedikt XVI., vertreten worden: „Die Idee des Naturrechts setzte einen<br />

Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur<br />

selbst vernünftig ist. Diese Sicht von Natur ist mit dem Sieg der Evolutionstheorie<br />

zu Bruche gegangen. Die Natur als solche sei nicht vernünftig, auch wenn es in ihr<br />

vernünftiges Verhalten gibt: Das ist die Diagnose, die uns von dort gestellt wird<br />

und die heute weithin unwidersprechlich scheint. (...) Als letztes Element des Naturrechts,<br />

das im Tiefsten Vernunftrecht sein wollte, jedenfalls in der Neuzeit, sind<br />

die Menschenrechte stehengeblieben. Sie sind nicht verständlich ohne die Voraussetzung,<br />

daß der Mensch als Mensch, einfach durch seine Zugehörigkeit zur Spezies<br />

Mensch, Subjekt von Rechten ist, daß sein Sein selbst Werte und Normen in<br />

sich trägt, die zu finden, nicht zu erfinden sind. Vielleicht müßte heute die Lehre<br />

von den Menschenrechten um eine Lehre von den Menschenpflichten und den<br />

Grenzen des Menschen ergänzt werden, und das könnte nun doch die Frage erneuern<br />

helfen, ob es nicht eine Vernunft der Natur und so ein Vernunftrecht für den<br />

Menschen und sein Stehen in der Welt geben könnte. Ein solches Gespräch müßte<br />

heute interkulturell ausgelegt und angeleitet werden.“ 23<br />

444


Man muß hier beachten, daß die Begriffe Natur und Vernunft in dem obsoleten<br />

Verständnis von Naturrecht eine krude biologische Faktizität und deren gegenständliche<br />

Vernunftordnung meinen, am Ende des Zitats aber die normative Funktion<br />

einer praktischen Vernunft auf Seiten des Menschen beschrieben wird, welche<br />

die Gegebenheiten der Menschennatur auslegen kann und muß. In diesem Sinne<br />

hat sich Benedikt XVI. später deutlicher erklärt: „Dieses Wort (i.e. das natürliche<br />

Sittengesetz. Der Verf.) ist heute für viele beinahe unverständlich; der Grund dafür<br />

liegt in einem Naturbegriff, der nicht mehr metaphysisch, sondern rein empirisch<br />

ist. Die Tatsache, daß die Natur, das Sein selbst nicht mehr transparent für eine<br />

moralische Botschaft ist, erzeugt ein Gefühl von Orientierungslosigkeit, das die<br />

Entscheidungen des täglichen Lebens prekär und unsicher macht. (...) Im Lichte<br />

dieser Feststellungen wird mit aller Dringlichkeit die Notwendigkeit sichtbar, über<br />

das Naturrecht nachzudenken und seine Wahrheit, die allen Menschen gemeinsam<br />

ist, wiederzuentdecken.“ 24<br />

Katholische Sozialethiker<br />

Wohl wegen der scheinbaren Unverträglichkeit mit der katholischen Soziallehre,<br />

wird aber Rawls Theorie auch in ihren kompatiblen Aspekten nur wenig von katholischen<br />

Sozialethikern rezipiert. Im „Staatslexikon – Recht, Wirtschaft, Gesellschaft“<br />

der katholischen Görres-Gesellschaft von 1988 und 1995 wird Rawls in<br />

mehreren Artikeln der sieben Bände kurz als bedeutend erwähnt und mit einigen<br />

Strichen skizziert, es findet sich aber keine gründliche Darstellung und auch keine<br />

Auseinandersetzung. Eine Ausnahme ist der Beitrag des Philosophen Otfried Höffe<br />

über „Praktische Philosophie“. Obwohl dieser den Beitrag Rawls' zur Rehabilitierung<br />

der praktischen Philosophie hoch einschätzt, erhebt er Bedenken gegen eine<br />

ethikfreie Begründung politischer Philosophie: „Es fragt sich nur, ob man den<br />

Moralbegriff vollständig aufgeben kann, ohne unverzichtbare Verbindlichkeiten<br />

menschlicher Praxis zu unterschlagen.“ 25 Es fehlt nach ihm eine eingehende Semantik<br />

des Begriffs „gut“ bei Rawls. In dem dreibändigen ökumenischen „Handbuch<br />

der christlichen Ethik“ von 1978 und 1982 wird Rawls nur wenige Male,<br />

meist unkommentiert und nur in den Anmerkungen, erwähnt, obwohl dort auch<br />

vermerkt wird, daß es sich bei der „Theorie der Gerechtigkeit“ um die bedeutendste<br />

immanente, d.h. nichttranszendente Ethik der jüngsten Zeit handelt. 26 Dies hat<br />

sich nur wenig geändert.<br />

In den Schriften des Leiters der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle<br />

in Mönchengladbach Professor Anton Rauscher finden sich seit 1988 keine<br />

Auseinandersetzungen mit Rawls. Einige andere der maßgebenden Autoren der<br />

katholischen Soziallehre seien hier aber noch erwähnt: Einer der deutschen Altmeister<br />

der katholischen Soziallehre, der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning,<br />

hat sich anscheinend in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr mit Rawls beschäftigt,<br />

während ein anderer, der Dominikaner Arthur F. Utz, ihn immerhin einige<br />

Male referiert. Er vergleicht dessen Beschreibung des Urzustandes und die Anlage<br />

im Menschen zur wechselseitigen Nützlichkeit mit dem theologischen Urzustand<br />

vor der Sünde, aber ihm reicht diese rudimentäre Wesensaussage über den Menschen<br />

nicht. Er setzt die Lehre vom Gemeinwohl gegen das nicht ausreichende<br />

445


Gleichheits- und Differenzprinzip von Rawls. 27 Ausführlicher stellte der Münsteraner<br />

Sozialethiker Franz Furger die Grundzüge der beiden Gerechtigkeitsprinzipien<br />

dar und bewertete sie: „Zwar scheint Rawls mit diesen Grundsätzen noch sehr nahe<br />

beim Utilitarismus zu stehen. Immerhin ist hier aber nicht das Glück der größten<br />

Zahl das ethische Kriterium, sondern das gleiche Recht jedes Menschen, das dem<br />

meist materiell verstandenen Glück vorangeht. Die vom Utilitarismus geforderte<br />

Nutzenmaximierung kann daher ethisch nur im Rahmen dieses Rechtes sittlich<br />

sein, wobei dieser Rahmen nicht im Belieben der Mehrheit (allenfalls zuungunsten<br />

einer Minderheit) steht, sondern an sich gilt. Um diese den Utilitarismus entscheidend<br />

übersteigende Bedingung aber begründen zu können, muß Rawls dessen<br />

Voraussetzungen verlassen und die unbedingte und gleiche Würde eines jeden<br />

Menschen (sogar des noch nicht geborenen) annehmen und deren uneingeschränkte<br />

Achtung grundsätzlich fordern.<br />

Hinsichtlich ihrer Inhalte werden sich zwar die Regeln dieser Gerechtigkeitstheorie<br />

von denen des Utilitarismus nicht sehr unterscheiden. Der Unterschied liegt allein<br />

in der letzten Begründung, welche die empirisch-pragmatische Ebene übersteigt<br />

und einen ideellen Grund, nämlich die Würde des Menschen, fordert. Damit bewegt<br />

sich Rawls in der philosophischen Konzeption von Kant, den er auch ausdrücklich<br />

zitiert. Unbedingte Menschenrechte und deren Gerechtigkeit gelten nämlich<br />

– das sieht Rawls mit voller Klarheit – nur unter dieser Annahme einer Letztbegründung,<br />

die freilich selbst in der UNO-Menschenrechtscharta von 1948 nicht<br />

ausdrücklich festgehalten ist.“ 28 Man kann sich weiter fragen, ob hier nicht nur<br />

eine Fortführung Kants, sondern auch der Naturrechtslehre der katholischen Tradition<br />

vorliegt. Furger sagt selbst: „Kant wie Rawls, der sich in seiner Utilitarismuskritik<br />

auf diesen beruft, stehen daher, ohne es wohl selber zu wissen und ohne<br />

explizit die gleiche Begrifflichkeit zu verwenden, in einer langen christlichethischen<br />

Tradition.“ 29 Ohne daß der Begriff Natur vorkommt, werden hier die<br />

Gedanken von Thomas von Aquin erneut thematisiert. Die nur scheinbaren Unterschiede<br />

sind zum großen Teil darin begründet, daß Rawls keine philosophische,<br />

sondern eine politische Theorie entwirft und sich um die Begriffe und Ideen der<br />

kontinentalen Naturrechtstradition nicht kümmert.<br />

Auch der Eichstätter Sozialethiker und Politologe Bernhard Sutor zitiert die bekannten<br />

beiden Prinzipien, scheint sie unausgesprochen sogar zu akzeptieren, erhebt<br />

aber Einwendungen, die allerdings nicht grundsätzlicher Art sind: „Eine<br />

Schwierigkeit in der Anwendung dieser Grundsätze liegt darin, daß sie keine sicheren<br />

Voraussagen erlauben. Selbst im Wirtschaftlichen kann man immer nur Vermutungen<br />

anstellen, ob Maßnahmen mehr Vor- oder Nachteile für bestimmte<br />

Gruppen bringen werden. Eine weitaus größere Schwierigkeit liegt in der Mehrdeutigkeit<br />

der Kriterien: Was heißt ‚Vorteil’, wenn man über das Materielle hinaus<br />

an das Verhältnis von Freiheitschancen der Menschen und Steuerungsbefugnis des<br />

Staates denkt? Was heißt Chancengleichheit, wenn man darunter mehr versteht als<br />

den rechtlich gleichen Zugang für alle zu höheren Positionen?“ 30 Diese Kritik<br />

scheint nicht speziell Rawls zu treffen. Man kann sie ebenso auf die üblichen Lehren<br />

von der sozialen Gerechtigkeit auch innerhalb der katholischen Ethik anwenden.<br />

Man kann wohl schreiende Ungerechtigkeiten genau feststellen, aber was<br />

446


soziale Gerechtigkeit im konkreten Einzelfall verlangt, läßt sich auch innerhalb<br />

sonst unterschiedlicher Soziallehren nicht definieren, falls man nicht den Extrempositionen<br />

des Individualismus (z.B. Robert Nozick) oder des egalitären Kollektivismus<br />

huldigt. Sutor resümiert aber mit Recht, daß bei den schwierigen bis unmöglichen<br />

Bestimmungen von Vor- und Nachteilen und Gerechtigkeit die Rawlssche<br />

Lehre im Zweifelsfall der Wahrung von Gleichheit den Vorrang einräumt, da<br />

das erste Prinzip dem zweiten, der Differenz, überlegen sein soll. Besteht aber auch<br />

in der katholischen Soziallehre nicht die Tendenz, im Zweifel die Subsidiarität und<br />

damit Freiheit und Ungleichheit der Solidarität und Gleichheit zu opfern? Alles<br />

dies dürfte kein substantieller Einwand gegen Rawls sein. Wo findet sich ein einleuchtenderes<br />

Kriterium für die in jeder freien Gesellschaft sich ergebende Ungleichheit,<br />

die ethisch gerechtfertigt werden muß, als die von Rawls?<br />

Man könnte auch dem kritisierten Utilitarismus Gerechtigkeit widerfahren lassen,<br />

da er trotz mangelnder Letztverbindlichkeit und -begründung für konkrete Entscheidungen<br />

durchaus Argumentationshilfen bietet, solange nicht eine Minderheit<br />

dem größeren Nutzen der Mehrheit geopfert wird. Daher urteilt der Münsteraner<br />

Sozialethiker Hermann-Josef Große Kracht: „In ihrer normativen Stoßrichtung<br />

zielt sie (Rawls' Theorie. Der Verf.) aber unübersehbar auf eine Stärkung des Sozialstaates<br />

und die Etablierung einer gesellschaftlichen Grundordnung, die den Zukurzgekommenen<br />

eine möglichst gute Mindestausstattung sichert. Insofern ist<br />

Rawls' Theorie der Gerechtigkeit unmittelbar anschlußfähig für eine christliche<br />

Gesellschaftsethik, die sich der biblischen ‚Option für die Armen’ verpflichtet<br />

weiß und von diesem starting point aus im Rahmen ausdifferenzierter Gegenwartsgesellschaften<br />

nach realisierbaren Reformperspektiven Ausschau hält.“ 31<br />

Interessant ist, daß der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe in den USA „Wirtschaftliche<br />

Gerechtigkeit für alle“ von 1986 ohne ausdrückliche Benennung<br />

Grundgedanken von Rawls in den Text eingearbeitet hat. Der deutsche Kommentator<br />

des Hirtenschreibens, der Jesuit Friedhelm Hengsbach beschreibt das so: „Mir<br />

scheint, daß die Berührungspunkte zwischen dem wirtschaftsethischen Kernabschnitt<br />

des Hirtenbriefs und John Rawls, der versucht hat, eine bei den subjektiven<br />

Bedürfnissen und Interessen anknüpfende Ethik mit der an der Gerechtigkeit orientierten<br />

Vernunftethik zu kombinieren, nicht von der Hand zu weisen sind.“ 32<br />

Hengsbach zählt die Übereinstimmungen auf, vor allem den Gebrauch der Rawlsschen<br />

Verteilungskriterien und den Einsatz für eine Beteiligungsgerechtigkeit, wie<br />

sie diese unter anderem Namen auch Rawls verlangt.<br />

Noch deutlicher sieht der Erfurter Sozialethiker Michael Schramm die Möglichkeit<br />

und Notwendigkeit, die Verteilungsprinzipien von Rawls in die katholische Lehre<br />

einzubeziehen: „Als Paradigma einer sozialphilosophischen Rekonstruktion der<br />

biblischen Heuristik (d.h. die Option für die Armen. Der Verf.) kann das ‚Differenzprinzip’<br />

in der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls dienen.“ 33 Schramm<br />

beschreibt sehr genau die Anwendung des Differenzprinzips und bemißt danach<br />

die Vermögensverhältnisse in Deutschland, die zunächst damit in Einklang zu<br />

stehen scheinen. Aber man muß noch genauer hinsehen: „Welcher Anteil der empirisch<br />

zugelassenen Ungleichheiten hat tatsächlich Leistungsanreize freigesetzt,<br />

die zur Vergrößerung des wirtschaftlichen ‚Kuchens’ so beigetragen haben, daß<br />

447


dadurch auch für die ärmsten Gesellschaftsmitglieder ein ‚größtmöglicher’ Vermögenszuwachs<br />

abgefallen ist. Fragen dieser Art können nur durch eine sorgfältige<br />

Einzelanalyse institutioneller Arrangements geklärt werden. Auf jeden Fall dürfte<br />

sich das – die biblische Heuristik angemessen rekonstruierende – ‚Differenzprinzip’<br />

aber als unvereinbar mit einem liberalistischen ‚laissez-fair’-Kapitalismus,<br />

einem sozialistischen Egalitarismus (im ökonomischen Sinn) oder jedwedem Feudalsystem<br />

erweisen. Allgemein wird das Konzept einer ‚Sozialen Marktwirtschaft’<br />

dem Differenzprinzip noch am ehesten entsprechen.“ 34 Übrigens fragt im Kontext<br />

Schramm auch noch, ob nicht eine größere Ungleichheit, als sie in Deutschland<br />

besteht, nicht noch zu größeren Vorteilen für die Schwächeren geführt hätte. Einen<br />

besonderen Vorzug erkennt er auch bei Rawls, daß hier Allokation, d.h. die Investition<br />

von Ressourcen und die Distribution an die Nutznießer in den Gerechtigkeitsprinzipien<br />

zusammen und zugleich berücksichtigt werden.<br />

Auf der Sozialethikertagung 2001 an der Katholischen Sozialwissenschaftlichen<br />

Zentralstelle der Deutschen Bischofskonferenz stellte Schramm in einem Referat<br />

die Theorie Rawls dar und auch ihre partielle Nähe zu katholischen Lehren. 35 Er<br />

übernimmt die Zweiteilung in unterschiedliche Ebenen des Guten und des Gerechten.<br />

Ausgehend vom Kontingenzbewußtsein Rawls', der zwar die religiösen oder<br />

philosophischen Bemühungen um eine komprehensive Definition des Guten, die<br />

die Kontingenz überwindet und damit schließt, würdigt, aber sie nicht für eine<br />

politische Einigung auf das Gerechte für alle benutzen kann, hält auch Schramm<br />

einen „overlapping consensus“ im Bereich des Gerechten für notwendig und richtig.<br />

Er unterscheidet zwei Ebenen: „Auf der religiösen Ebene kann und soll selbstverständlich<br />

ein religiöser Diskurs über Fragen der Metaphysik, also über die<br />

Wahrheit der verschiedenen Konzeptionen des ‚Guten’ geführt werden. Auf der<br />

politischen Ebene jedoch müssen die Kirchen differenziert operieren. (...) Man<br />

vertritt die eigene religiöse Lehre des ‚Guten’, erkennt aber gleichzeitig in der<br />

politischen Toleranz des ‚politischen Liberalismus’ einen eigenständigen moralischen<br />

Wert für den Bereich des Politischen. (...) Diese Differenzierung zwischen<br />

der eignen Lehre des ‚Guten’ und den politischen Fragen des ‚Gerechten’ bedeutet,<br />

daß nicht die eigene umfassende (komprehensive) Vorstellung des religiös ‚Guten’<br />

zum politischen Maßstab erhoben werden kann – andernfalls würden die Kirchen<br />

gerade den übergreifenden gesellschaftlichen Grundkonsens einer pluralistischen<br />

Gesellschaft unterhöhlen.“ 36<br />

Auch der Bochumer Sozialethiker Joachim Wiemeyer stellt in einem Aufsatz die<br />

Vereinbarkeit beider Denksysteme fest: „Die christliche Sozialethik kann sich<br />

dieser Konzeption bedienen, weil sie mit dem Gesichtspunkt der Unparteilichkeit<br />

und einer besonderen Rücksichtnahme auf Benachteiligte mit christlichen Vorstellungen<br />

konform geht.“ 37<br />

Eine weitere bejahende Stimme aus den Reihen der jüngeren katholischen Ethiker<br />

ist die Bamberger Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins. Nach einer Würdigung<br />

der beiden Prinzipien heißt es: „Im Kontext christlicher Sozialethik liest sich<br />

die Reformulierung der Gerechtigkeitsforderung als Konsequenz der Option für<br />

die Armen, insofern sie die Perspektive der am schlechtesten Gestellten geltend<br />

macht und darauf insistiert, daß Chancen der Entfaltung der Person in Gesellschaft<br />

448


für alle erstrebt werden. Im Sinne der Option für die Armen muß also seitens der<br />

christlichen Sozialethik als Prüfkriterium der ethischen Vertretbarkeit konkreter<br />

politischer Entscheidungen die Frage gestellt werden, wie diese sich auf die Lebensmöglichkeiten<br />

und Teilnahmechancen der am schlechtesten Gestellten auswirkt.“<br />

38 Bei dieser Abschätzung müssen sowohl nationalstaatliche als auch Generationsschranken<br />

überschritten werden. Der neuerdings in der deutschen katholischen<br />

Sozialethik 39 in den Mittelpunkt gerückte Begriff (statt Verteilungsgerechtigkeit,<br />

iustitia distributiva) der „Beteiligungsgerechtigkeit“ deckt sich weitgehend<br />

mit der politischen Forderung von Rawls nach einer die Kooperation ermöglichenden<br />

Gesellschafts- und Staatsordnung.<br />

Friedhelm Hengsbach hat in einer neueren „Christlichen Gesellschaftsethik“ die<br />

Theorie Rawls' im Zusammenhang mit seiner eigenen Betonung der Rolle von<br />

Vertrags- und Spieltheorien in der Sozialethik auf zwei Seiten zusammengefaßt<br />

beschrieben, ohne Rawls ausdrücklich christlich zu vereinnahmen. Trotz einiger<br />

erwähnter Einwände (z.B. in dem Mangel an einer voraussetzungslosen Begründung,<br />

so daß diese tautologisch erscheint) scheint er Rawls in seiner Praxisbezogenheit<br />

in wesentlichen Aspekten für vereinbar zu halten mit einer christlichen<br />

Konzeption, vor allem mit deren Forderung auf Beteiligungsgerechtigkeit. 40 Im<br />

übrigen stellen viele Vorträge, Lehrveranstaltungen und Zeitschriftenbeiträge verschiedener<br />

katholischer Autoren in der politischen Ethik und in der Sozialethik<br />

einige Grundzüge der Theorie von Rawls dar, schätzen ihn hoch, adaptieren oder –<br />

seltener – kritisieren das eine oder andere, aber grundsätzliche und ausführliche<br />

Auseinandersetzungen mit der katholischen Soziallehre sind die Ausnahme.<br />

Eine solche ist der oben erwähnte Beitrag von Franz-Joseph Bormann. 41 Er nennt<br />

trotz wesentlicher Vorbehalte einige Gemeinsamkeiten von Rawls und der katholischen<br />

Soziallehre. Zunächst ist es der moralphilosophische Kognitivismus, der sich<br />

auf die praktische Vernunft stützt, die zu universalen moralischen Grundsätzen<br />

führt. Ferner der unumstößliche Ansatz bei der Unverletzlichkeit des Menschen,<br />

seiner Würde und Rechte besonders in der Abweisung eines kruden Utilitarismus.<br />

Auch Bormann sieht eine Gemeinsamkeit in der Unterscheidung des Guten in<br />

einem starken Sinn und des Gerechten in einer pluralistischen Gesellschaft.<br />

Schließlich meint er, daß die gesellschaftliche Grundstruktur bei Rawls nichts<br />

anderes bedeutet als das Gemeinwohl der katholischen Lehre. 42<br />

Elmar Nass sieht bei aller Kritik mehr Möglichkeiten einer Integration von Rawls'<br />

Theorien in die katholische Soziallehre. 43 So stellt der Autor fest: „Aus einem<br />

quasi metaphysischen Gerechtigkeitsbegriff ist die Würde des Menschen abgeleitet.“<br />

Und: „Moral fordert Gerechtigkeit, Gerechtigkeit fordert Würde, Würde fordert<br />

die ökonomische Verteilung der Grundgüter entsprechend der Gerechtigkeitsgrundsätze.<br />

Damit ist eine eigene moralische Ratio als Grundlage der Gerechtigkeit<br />

unterstellt, die nicht z.B. allein über Eigennutzmaximierung ersetzt werden kann.<br />

(...) Aus dem, was Rawls unter den Derivaten Würde und Verteilung versteht, läßt<br />

sich seine nicht entfaltete Moraltheorie und damit seine Begründung von Gerechtigkeit<br />

ansatzweise rekonstruieren.“ Damit argumentiert Rawls vorempirisch, ja<br />

metaphysisch. Auch der Urzustand besteht aus vorempirischen, metaempirischen<br />

Idealen; die vorvertraglichen Postulate sind nicht frei von naturrechtlichen Be-<br />

449


gründungen. 44 Es „wird hier doch, wenn auch auf Umwegen und ohne weitere<br />

metaphysische Folgen, der Begriff einer verbindlichen menschlichen Natur wieder<br />

eingeführt.“ 45<br />

450<br />

Kritik an Rawls und Unterschiede zur katholischen Soziallehre<br />

Auch die politische Bestimmung des Gerechten hat eine Schnittmenge mit dem<br />

moralisch Guten. Was angeblich nur durch den Vertrag vernünftig denkender<br />

Personen als das Gerechte bestimmt wird, ist das, wie schon oben gezeigt wurde,<br />

in der Natur des Menschen begründete Gute. Wie schon gezeigt wurde, muß auch<br />

Rawls letztlich, wenn auch nicht von ihm zugegeben, eine Verankerung im moralisch<br />

Guten voraussetzen. Hier haben sowohl die Intuitionisten als auch die Kommunitaristen<br />

und die Naturrechtsanhänger recht, die sich auf eine moralische<br />

Grundlage beziehen, die nicht erst durch Vertragsabschluß errichtet wird. Die<br />

genauen Grenzen auszumachen, die zwischen dieser nicht hintergehbaren moralischen<br />

Grundlage und dem erst durch Erfahrungen, Überlegungen, Umstände und<br />

Vereinbarungen jeweils genau zu findenden Gerechten liegen, bleibt hier wie auch<br />

in vielen Konzepten der katholischen Lehre noch offen. Allerdings nimmt die<br />

katholische Soziallehre viel mehr die konkreten Gerechtigkeitsfragen in der Gesellschaft<br />

in den Blick als Rawls, dessen Interesse vor allem einer konsistenten<br />

Theorie gilt, wie Bormann richtig bemerkt. 46<br />

Hier ist noch eine wesentliche Kritik an Rawls von außerhalb der kirchlichen Lehren<br />

zu erwähnen. Rawls immunisiert sich gegen die Kontingenz der Individuen; er<br />

verlangt „eine die Individuen enteignende Gerechtigkeit, die die kontingenten<br />

Gegebenheiten individueller Lebensführung egalitaristisch vermißt und kompensatorischen<br />

Ausgleichsprogrammen nach Maßgabe des Differenzprinzips unterwirft.“<br />

47 Der Sozialphilosoph Kersting wirft allen Egalitaristen vor, Gefangene<br />

eines analytisch-szientistischen Paradigmas zu sein: „Die Idee ist illusionär, einen<br />

selbstverantwortlichen abstrakten Persönlichkeitskern aus der Hülle seiner natürlichen<br />

und sozialen Vorgegebenheiten herauszuschälen.“ 48<br />

Die Kritik an der zu abstrakten, ungeschichtlichen und zu theoretischen Denkweise<br />

bei Rawls trifft aber nicht nur ihn, sondern auch eine herrschende Richtung innerhalb<br />

der katholischen Soziallehre, die sich nur hinter den bekannten Prinzipien der<br />

Solidarität, der Subsidiarität, der Personalität und des Gemeinwohls verschanzt, so<br />

daß hier eher eine Schnittmenge in der Kritik beider Positionen gegeben ist als ein<br />

Gegensatz. Allerdings ist die katholische Sozialethik im allgemeinen näher an den<br />

konkreten und praktischen Gerechtigkeitsfragen als die Anhänger Rawls'. Kersting<br />

kritisiert auch den Vorrang des Gleichheitsprinzips, das letztlich zur Egalität, zum<br />

„Egalitarismus“ und damit zur Zerstörung der individuellen Person führt. „Mit dem<br />

verhängnisvollen Argument von der moralischen Willkürlichkeit von Begabung,<br />

Charakter und Sozialisationsschicksal, der sich darauf stützenden Zurückweisung<br />

aller Verdienstlichkeit und dem überaus bedenklichen, totalitaristischen Assoziationen<br />

heraufbeschwörenden vom common asset, von der Allgemeinheit als dem<br />

idealen Gesamtbesitzer aller natürlichen und durch Erziehung erworbenen Fähigkeiten<br />

und Fertigkeiten der Individuen, hat Rawls selbst die Büchse der egalitaristi-


schen Pandora geöffnet. (...) Daher enteignet er die Individuen, verwandelt die<br />

ihnen innewohnenden Talente und Begabungen in Gemeineigentum, in gesellschaftliche<br />

Produktivkräfte, deren wirtschaftlicher Ertrag nach Maßgabe der Gerechtigkeitsregeln<br />

zu verteilen ist.“ 49<br />

Von der entgegengesetzten Seite aus erhebt der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich<br />

aus St. Gallen seine Einwände. Nach ihm hält Rawls seinen politischen Liberalismus<br />

gegenüber dem ökonomischen Neoliberalismus nicht durch. „Das wird überall<br />

deutlich, wo er sich mit der Rolle von Märkten und der ‚Wettbewerbswirtschaft’<br />

im Rahmen der wohlgeordneten Gesellschaft befaßt. Seine diesbezügliche Sicht ist<br />

überraschend harmonistisch und erinnert (...) manchmal geradezu an Adam Smiths<br />

Vertrauen in die invisible hand.“ 50 Weil die Verteilung der Grundgüter dem Markt<br />

überlassen bleibt, höhlt das Differenzprinzip das Gleichheitsprinzip aus; daran<br />

ändert auch das „naturrechtliche Restmoment“ von Rawls nichts mehr.<br />

Bei so gegensätzlichen Einschätzungen bringt es der katholischen Soziallehre<br />

keine Vorteile, auf Gedeih und Verderb sich an Rawls anzuschließen. Auch gegen<br />

die überlieferte und auch modernisierte katholische Soziallehre werden ebenfalls<br />

ähnlich gegensätzlich Einwendungen erhoben. Das Problem für beide Theorien<br />

scheint tiefer zu liegen: Außer einigen wesentlichen Grundorientierungen und<br />

Optionen läßt sich nicht aus einer Theorie der Gerechtigkeit ableiten, was unter<br />

konkreten gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen soziale Gerechtigkeit<br />

ist. „Der Realität dynamischer Entwicklungen entsprechend kann es keinen<br />

befriedigenden Gesamtzustand sozialer Gerechtigkeit geben. Ein Anstoß zur Frage<br />

nach sozialer Gerechtigkeit ist regelmäßig ein bestehender oder befürchteter sozialer<br />

Status quo, der eine gerechtere Lösung wünschenswert erscheinen läßt.“ 51 Ungerechtigkeiten<br />

lassen sich oft unschwer erkennen und auch abstellen, aber eine<br />

höhere Gerechtigkeit entzieht sich einer genauen Bestimmung. Zu konkreten und<br />

praktischen Maßnahmen kommt man ohne sozialökonomische Kenntnisse nicht<br />

aus, die wiederum selten zu unbedingt gültigen Erkenntnissen führen. An ihnen<br />

führen weder Rawls noch die katholische Lehre vorbei.<br />

Anmerkungen<br />

1) Wolfgang Kersting, John Rawls zur Einführung, Hamburg 1993, S. 7.<br />

2) John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge (Massachusetts) 1971, deutsch: Eine Theorie<br />

der Gerechtigkeit, hg. v. Hermann Vetter, Frankfurt am Main 1975, neu hg. v. Otfried<br />

Höffe, Berlin 1998.<br />

3) Die in den USA an verschiedenen Orten veröffentlichten Aufsätze sind in deutsch gesammelt:<br />

John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, hg. v.<br />

Wilfried Hinsch, Frankfurt am Main 1994.<br />

4) John Rawls, Justice as Fairness. A Restatement, Cambridge (Massachusetts) 2001,<br />

deutsch: ders., Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, hg. v. Erin Kelly, Frankfurt am<br />

Main 2003.<br />

5) Franz-Josef Bormann, Was von der Fairneß übrig blieb. Zur Bedeutung von John Rawls'<br />

Theorie der Gerechtigkeit für die katholische Soziallehre, in: Theologie und Philosophie, 78.<br />

Jg. (2003), S. 384-405, hier 401. Bei den neueren Theologen, die Bormann erwähnt, handelt<br />

es sich vorwiegend um einige Amerikaner, die aber hier außer Betracht bleiben, da wir uns<br />

hier auf den deutschsprachigen Raum beschränken.<br />

451


6) Elmar Nass, Naturrecht und Urzustand. Die verdeckte Legitimationsstrategie bei John<br />

Rawls. In dieser Zeitschrift 2/2005, S. 93-108. Ders., Der humangerechte Sozialstaat. Ein<br />

sozialethischer Entwurf zur Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit,<br />

Tübingen 2006, S. 154-174; 188-191.<br />

7) Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 16.<br />

8) ebd.<br />

9) Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, S. 364-397. Rawls beruft sich dabei auf<br />

Kant, in: John Rawls, Geschichte der Moralphilosophie, hg. v. Barbara Herman, Frankfurt<br />

am Main 2002, S. 305-308 (Originalausgabe: Lectures on the History of Moral Philosophy,<br />

Cambridge (Massachusetts) 2000.<br />

10) a.a.O., S. 63-72.<br />

11) a.a.O. S. 25.<br />

12) Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 48ff.<br />

13) a.a.O. S. 52; ebenso ders., Die Idee des politischen Liberalismus, S. 267ff.<br />

14) a.a.O. S. 270; ders. Gerechtigkeit als Fairneß, S. 38.<br />

15) Herbert Lionel Adolphus Hart, The Concept of Law, Oxford 1961, S. 189-195; deutsch:<br />

ders., der Begriff des Rechts, Frankfurt am Main 1973.<br />

16) Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 97 u. 295f.<br />

17) Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 51 u. 46.<br />

18) a.a.O. S. 549, Anmerkung 30: „Die Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß hat also die<br />

kennzeichnenden Eigenschaften einer Naturrechtstheorie.“ Rawls spricht nicht nur von<br />

„natürlichen Eigenschaften“ gegenüber „gesellschaftlichen Normen“, sondern er schreibt<br />

den Menschen Rechte nach gleicher Gerechtigkeit zu.<br />

19) Nass, Naturrecht statt Urzustand, S. 97 u. 99.<br />

20) Ursula Nothelle-Wildfeuer, Vom Naturrecht zum Evangelium? Ein Beitrag zur neueren<br />

Diskussion um die Erkenntnistheorie der Katholischen Soziallehre im Ausgang von Johannes<br />

Paul II, in: Perspektiven christlicher Sozialethik. Hundert Jahre nach Rerum Novarum,<br />

hg. v. Franz Furger u. Marianne Heimbach-Steins, Münster o.J. (1991), S. 72. Dort auch die<br />

Quellen der hier sekundären Zitate.<br />

21) Hans-Joachim Höhn, Zwischen Naturrecht und Diskursethik. Überlegungen zur Begründungsproblematik<br />

der Christlichen Sozialethik, in: Anton Rauscher (Hg.), Christliche<br />

Soziallehre heute. Probleme, Aufgaben, Perspektiven, Köln 1999, S. 90.<br />

22) Wilhelm Korff, Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft,<br />

Mainz 1973, S. 62ff. u. 76ff.<br />

23) Josef Ratzinger Benedikt XVI, Grundsatzreden aus fünf Jahrzehnten, hg. v. Florian<br />

Schuller, Regensburg2005, S. 165.<br />

24) Ansprache beim Kongreß über das natürliche Sittengesetz der Päpstlichen Lateranuniversität<br />

in Rom am 12.02.2007.<br />

25) Staatslexikon, 7. Auflage, Bd. 4, Sp.530.<br />

26) Bd. 1, S. 210.<br />

27) Arthur F. Utz, Ethik des Gemeinwohls. Gesammelte Aufsätze 1983-1997, hg. v. Wolfgang<br />

Ockenfels, Paderborn-München-Wien-Zürich 1998, S. 156f., 85 u. 389. Das Gleichheitsprinzip<br />

bedeutet den unbedingten Anspruch jeder Person auf gleiche Grundfreiheiten<br />

und auf Chancengleichheit; das Differenzprinzip legitimiert Ungleichheit, wenn diese den<br />

weniger Begünstigten auch größeren Vorteil bringt ähnlich wie beim Paretoprinzip.<br />

28) Franz Furger, Christliche Sozialethik. Grundlagen und Zielsetzung, Stuttgart-Berlin-<br />

Köln 1991, S. 70ff.<br />

29) a.a.O. S. 73.<br />

452


30) Bernhard Sutor, Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der christlichen Gesellschaftslehre,<br />

Paderborn-München-Wien-Zürich 1991, S.106<br />

31) Hermann-Josef Große Kracht, Kritik an der radikalliberalen Marktideologie. John<br />

Rawls, James Buchanan und das Theorieprogramm der ‚Neuen Interaktionsökonomik’ bei<br />

Karl Homann (1.Teil), in: Orientierung, 65.Jg. (2001), Nr. 17, S. 180. Trotz des Untertitels<br />

findet hier aber keine ausführliche Auseinandersetzung mit Rawls statt.<br />

32) Gegen Unmenschlichkeit in der Wirtschaft. Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe<br />

der USA „Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle“, Aus deutscher Sicht kommentiert von<br />

Friedhelm Hengsbach SJ, Freiburg-Basel-Wien 1987, S. 267.<br />

33) Michael Schramm, Gerechtigkeit der Vermögensverteilung, in: Peter Fonk/Udo Zelinka<br />

(Hg.), Orientierung in pluraler Gesellschaft. Ethische Perspektiven an der Zeitenschwelle<br />

(Festschrift Bernhard Fraling), Freiburg (Schweiz) u. Freiburg i.Br. 1999, S. 175.<br />

34) a.a.O. S. 177.<br />

35) ders., Sozialethisches Kontingenzmanagement. Das Gerechte in John Rawls' politischem<br />

Liberalismus, in: Anton Rauscher (Hg.), Soziale Gerechtigkeit, Köln 2002, S. 111-138.<br />

36) a.a.O. S. 133f.<br />

37) a.a.O. zitiert S. 175.<br />

38) Marianne Heimbach-Steins, Kompromiß: die Not ethischer Verständigung in der pluralen<br />

Gesellschaft, in: a.a.O., S. 144.<br />

39) Mehr Beteiligungsgerechtigkeit. Memorandum einer Expertengruppe berufen durch die<br />

Kommission VI für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz,<br />

Bonn 1998. Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen,<br />

Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik, Bonn 2003, bes. 3.2 u.<br />

4.1.<br />

40) Friedhelm Hengsbach, Die andern im Blick. Christliche Gesellschaftsethik in den Zeiten<br />

der Globalisierung, Darmstadt 2001, S. 86f.<br />

41) s.ob. Anm. 5.<br />

42) a.a.O. S. 402f.<br />

43) Nass, Naturrecht statt Urzustand, S. 93-108.<br />

44) a.a.O. S. 97ff.<br />

45) Wolfgang Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Abhandlungen zur<br />

praktischen Philosophie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1997, S. 223.<br />

46) Bormann, Was von der Fairmeß übrig blieb, S. 403.<br />

47) Wolfgang Kersting, Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der<br />

Moral, Weilerswist 2002, S. 69.<br />

48) a.a.O. S. 77.<br />

49) a.a.O. S. 63f.<br />

50) Peter Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie,<br />

Bern-Stuttgart-Wien 1997, S. 256.<br />

51) Wolfgang Schmitz, Soziale Gerechtigkeit als Gerechtigkeit nicht durch Tugendhaftigkeit,<br />

sondern durch Institutionen, in: Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung, hg. v. Rudolf<br />

Weiler und Akira Mizunami, Berlin1999, S. 32f.<br />

Prof. Dr. Hans Joachim Türk lehrte Philosophie und Sozialethik an der Georg-<br />

Ohm Fachhochschule in Nürnberg.<br />

453


Bericht und Gespräch<br />

454<br />

Rainer Kreuzhof<br />

Ethikrichtlinien im Unternehmen<br />

Vor allem international tätige Unternehmen stellen in zunehmendem Maße Ethikrichtlinien<br />

für ihre Belegschaft auf. Zur gleichen Zeit erleben wir Zeitungsmeldungen<br />

über Bilanzmanipulationen, firmenfinanzierte Lustreisen von Betriebsratsmitgliedern,<br />

überhöhte Abfindungszahlungen für Vorstandsmitglieder<br />

im Zusammenhang mit Firmenübernahmen und Bestechungsvorwürfe gegenüber<br />

Managern. Zunächst einmal scheinen diese Meldungen die Notwendigkeit solcher<br />

Richtlinien zu bestätigen. Darüber hinaus bewegen sich international tätige<br />

Unternehmen in unterschiedlichen Kulturen, so daß ein erhöhtes Bedürfnis besteht,<br />

die Handlungsweisen der Mitarbeiter zu normieren. Angesichts ständig<br />

wiederkehrender Skandale gerade in dieser Art von Unternehmen erscheint aber<br />

die Frage nach der Wirksamkeit solcher Richtlinien nicht nur erlaubt, sondern<br />

geradezu geboten zu sein.<br />

Ethikrichtlinien sind bei genauerer Betrachtung aber lediglich eine unternehmensspezifische<br />

Ausprägung der allgemeinen Wertediskussion in der Gesellschaft.<br />

Diese Wertediskussion spielt sich vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen<br />

Problemen ab, die von Gewalt in Familie und Schule über Wirtschaftskriminalität<br />

bis hin zu skandalösem Politikerverhalten reichen. Während in der<br />

Vergangenheit häufig einseitig von einem Wertewandel gesprochen und ein<br />

Loblied auf die uneingeschränkte Förderung der Individualität und Selbstverwirklichung<br />

angestimmt wurde, beklagen viele Zeitgenossen, daß bei all den<br />

wünschenswerten Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentfaltung auch ein Werteverfall<br />

stattgefunden habe. Angesichts dieser Situation fordern vor allem Politiker<br />

verstärkt eine Wertevermittlung in der Erziehung. Parallel dazu scheinen so<br />

genannte Ethikrichtlinien einer solchen Wertevermittlung im Unternehmen zu<br />

dienen.<br />

Können Ethikrichtlinien aber den zuvor genannten Anspruch erfüllen - oder<br />

dienen sie möglicherweise, wenn auch ungewollt, der Verschleierung des Problems?<br />

Hat das Problem vielleicht mit der Säkularisierung der Gesellschaft zu tun,<br />

und kann der christliche Glaube hier einen Beitrag zur Problemlösung leisten?<br />

Der Zusammenhang von wirtschaftlichem Erfolg und moralischem Handeln ist<br />

zwar seit langem Gegenstand der Wirtschafts- bzw. Unternehmensethik. Die<br />

Verbindung mit der christlichen Lebenspraxis wird demgegenüber allerdings<br />

bisher eher selten hergestellt. 1 Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas spricht<br />

angesichts dieser Situation von der „postsäkularen Gesellschaft“, die das moralische<br />

Potential der Religionen angesichts einer sinnentleerten Wirtschaftsgesellschaft<br />

verstärkt nutzen solle. 2


Bevor auf die Grenzen der Beeinflußbarkeit moralischen Handelns eingegangen<br />

werden kann, ist zunächst zu klären, worum es bei Ethikrichtlinien eigentlich<br />

genau geht. Ein Blick in die Geschichte zeigt uns, daß dieses Instrument so neu<br />

gar nicht ist, wie es scheint. So findet sich beispielsweise ein fliegendes Blatt aus<br />

der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit „Wohlgemeinten Erinnerungsregeln<br />

für einen jungen Kauf- und Handelsmann / darnach er sich zu richten / wann er<br />

nicht verderben will.“ 3 Während diese Erinnerungsregeln den Anspruch auf<br />

Allgemeingültigkeit erheben, ist dies bei Ethikregeln von Unternehmen nicht so<br />

ganz klar. So fordert eine Ethikrichtlinie beispielsweise unter dem Titel Loyalität,<br />

daß „(d)ie Interessen (der Firma) ... im Vordergrund gegenüber persönlichen<br />

Zielen und denen des Lieferanten (stehen)“ 4 sollen. Wenn von Firmeninteressen<br />

und persönlichen Zielen etc. gesprochen wird, dann stellt sich doch die Frage, ob<br />

es wirklich um moralisches Handeln geht. Moralität bedeutet doch gerade, daß<br />

wir unser eigenes Wollen, also unsere Interessen, in Frage stellen. 5 Diese Unklarheit<br />

im Ethikverständnis hat leider seit längerem weite Teile der modernen<br />

Gesellschaft beeinflußt und führt zu einem Relativismus, der eine Einigung über<br />

moralische Normen nahezu ausschließt. 6 In diesem Zusammenhang wird fast<br />

schon in ritualistischer Weise die Herleitung von Normen aus dem Sein – wie<br />

dies im Naturrecht geschieht – mit dem Argument des „naturalistischen Fehlschlusses“<br />

abgewehrt, 7 obwohl inzwischen bekannt sein müßte, daß es sich bei<br />

Seinsaussagen nicht um Tatsachen, sondern um erfahrungsunabhängige Grundbestimmungen<br />

im Sinne einer Schöpfungsordnung handelt. Es besteht eben eine<br />

ontologische Differenz z.B. zwischen dem Sinn von Organisation als Seinsaussage<br />

und der tatsächlich empirisch erfaßten Organisation, so daß gefragt werden<br />

kann, ob die vorgefundene Organisation den Sinn von Organisation erfüllt. 8<br />

Daß Unternehmen nicht selten aus Tatsachenaussagen Normen ableiten, bleibt<br />

davon allerdings unberührt. Die aus dem naturrechtlichen Denken stammende<br />

Erkenntnis, daß das moralisch Gebotene mit dem Sachgerechten zusammenfällt 9 ,<br />

in den Verdacht einer rein nutzenorientierten Argumentation und damit Scheinethik<br />

zu stellen, wie dies teilweise geschieht, 10 treibt das Verwirrspiel gänzlich<br />

auf die Spitze. Auch hier ist zwar richtig, daß viele Unternehmen nutzenorientiert<br />

argumentieren, durch das zuvor genannte Verwirrspiel wird jedoch jede<br />

Möglichkeit einer allgemein gültigen Begründung moralischer Normen beabsichtigt<br />

oder unbeabsichtigt diskreditiert. Der Vergleich der kaufmännischen<br />

Regeln aus dem 17. Jahrhundert mit den aktuellen Ethikrichtlinien zeigt, daß<br />

Ethikrichtlinien nur dann als solche bezeichnet werden können, wenn sie in ihrer<br />

Begründung und Werteorientierung eben nicht unternehmensspezifisch, sondern<br />

allgemeingültig sind. Unternehmensbezogene Ethikrichtlinien haben also nur<br />

insoweit einen Sinn, als sie allgemeine moralische Normen und Werte für ein<br />

Unternehmen als verbindlich erklären. Dabei können jedoch unternehmensspezifische<br />

Problemlagen, wie Branchenzugehörigkeit (Informationstechnologie,<br />

Chemie), Unternehmensform (Manager- / Eigentümerunternehmen) und Standort<br />

(national / international), zu spezifischen Ausprägungen führen.<br />

Ähnlich wie schon bei Führungsgrundsätzen, so setzt sich auch bei Ethikrichtlinien<br />

inzwischen die Erkenntnis durch, daß die Kodifizierung solcher erwünsch-<br />

455


ten Handlungsweisen nicht automatisch zu ihrer Realisierung führt. Vielmehr<br />

spielen der gesamte Prozeß des Wertemanagements bzw. der Code-of-Conduct-<br />

Politik eine entscheidende Rolle. 11 Da Ethikrichtlinien Einstellungen bzw. soziale<br />

Normen der Handelnden zum Gegenstand haben und als Ergebnis eines umfassenden<br />

Sozialisationsprozesses betrachtet werden müssen, ist allerdings zu<br />

berücksichtigen, daß diese in der Regel nur außerordentlich schwierig zu verändern<br />

sind. 12 Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, daß sich<br />

insbesondere die Arbeitsrechtssprechung mit diesem Thema befaßt. Dabei geht<br />

es sowohl darum, inwieweit betriebliches oder gar privates Verhalten geregelt<br />

werden darf, als auch um mögliche Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei der<br />

Einführung von Ethikrichtlinien. 13 Wenn aber letztlich doch nur wieder das<br />

Recht mit seinen Sanktionen gewünschte Verhaltensweisen erzeugen kann, dann<br />

bleibt von dem Wunsch nach moralischem Handeln im Unternehmen nicht viel<br />

übrig. Vor diesem Hintergrund ist es notwendiger denn je, danach zu fragen, wie<br />

moralisches Handeln eigentlich zustande kommt.<br />

456<br />

Vom moralischen Urteil zum moralischen Handeln<br />

Wenngleich nicht unumstritten, so stellt die Stufentheorie der Entwicklung moralischer<br />

Urteilskompetenz des Psychologen Lawrence Kohlberg derzeit das<br />

umfangreichste Konzept in Hinblick auf die zuvor genannte Fragestellung dar. 14<br />

Nach diesem Ansatz vollzieht sich die Moralentwicklung des Menschen kulturunabhängig<br />

auf verschiedenen Niveaus und Stufen. 15 Die Entwicklung der moralischen<br />

Urteilskompetenz erfolgt dabei im Wege der primären (Familie), sekundären<br />

(Schule, Gleichaltrige etc.) und tertiären Sozialisation (Beruf, Unternehmung<br />

etc.). Das Steckenbleiben auf einer niedrigen Entwicklungsstufe wird<br />

hierbei durch defizitäre Sozialisationsbedingungen erklärt. Betriebswirte oder<br />

betriebswirtschaftsnahe Autoren befassen sich aus verständlichen Gründen vorzugsweise<br />

mit dem Einfluß und der Gestaltung der tertiären Sozialisation in<br />

Beruf und Unternehmung. 16 Es ist jedoch leicht nachvollziehbar, daß vor Beginn<br />

des Berufslebens bereits ein wesentlicher Teil der Sozialisation erfolgt ist, so daß<br />

der unmittelbare Einfluß vor allem im Unternehmen wohl eher begrenzt ist. 17<br />

In Hinblick auf das Konzept der Ethikrichtlinien ist zudem zu berücksichtigen,<br />

daß das Zustandekommen von moralischen Handlungen aus moralischen Urteilen<br />

nicht so unmittelbar und deterministisch aufeinander folgt, wie dies bei Ethikrichtlinien<br />

zumindest implizit vorausgesetzt wird. So hängen moralische<br />

Urteile unter anderem von der Interpretation der Situation ab, die ihrerseits Einfluß<br />

auf das moralische Urteil hat. Und moralische Urteile können schließlich<br />

nur dann in moralisches Handeln umgesetzt werden, wenn spezifische außermoralische,<br />

z.B. fachliche, Fähigkeiten und Fertigkeiten vorhanden sind. In diesem<br />

Zusammenhang wirken sich auch die bereits genannten moralischen Entwicklungsstufen<br />

aus und können so zu unterschiedlichen Handlungsvollzügen führen.<br />

18<br />

Interessant ist, daß in der Theorie von Kohlberg auf der höchsten moralischen<br />

Entwicklungsstufe „(d)er Glaube einer rationalen Person an die Gültigkeit uni-


versaler moralischer Prinzipien und ein Gefühl persönlicher Verpflichtung ihnen<br />

gegenüber“ als Gründe dafür angegeben werden, das Rechte zu tun. 19 Vor diesem<br />

Hintergrund bedarf die Kritik des Sozialphilosophen Jürgen Habermas an<br />

Lawrence Kohlberg der Erwähnung. Habermas als Protagonist der Diskursethik<br />

– bei der moralisches Handeln durch den Konsens der Betroffenen in einem<br />

herrschaftsfreien Diskurs begründet wird – wendet gegenüber dieser obersten<br />

Stufe der moralischen Urteilskraft ein, daß moralische Normen monologisch<br />

anhand des Gewissens geprüft würden, und fordert auch deshalb hier den Diskurs.<br />

20 Problematisch an dieser Kritik ist die Gegenüberstellung von Gewissen<br />

und Diskurs. Zwar ist es richtig, daß der Mensch der Gewissensbildung bedarf,<br />

und dafür ist der Diskurs unerläßlich, aber gleichzeitig ist es zur moralischen<br />

Urteilsbildung notwendig, daß er sich am Gewissen als Stimme Gottes orientiert,<br />

wie dies die pastorale Konstitution „Gaudium et spes“ ausdrückt. 21 Ein tragfähiges<br />

moralisches Urteil kann eben nicht dadurch gefällt werden, daß wir uns an<br />

unseren Lust- und Unlustgefühlen und damit am eigenen Nutzen bzw. an den<br />

eigenen Interessen orientieren. Ebenso können die Erwartungen anderer bzw. der<br />

Zeitgeist kein Maßstab sein. Gerade die Zeit des Nationalsozialismus hat in aller<br />

Deutlichkeit gezeigt, daß Gewissensurteile im oben genannten Sinne unerläßlich<br />

sind. Die Diskursethik krankt ja gerade daran, daß sich unterschiedliche Interessen<br />

gegenüberstehen, ohne daß nach einer allgemeinen Sittenordnung im Sinne<br />

des Naturrechts gefragt wird. 22 Angesichts dieser Überlegungen zur Bedeutung<br />

des Gewisses stellt sich aber die Frage nach dem spezifisch christlichen Ethos.<br />

Kann der christliche Glaube uns also Erkenntnisse und Hilfestellungen bieten,<br />

die über das hinausgehen, was die humanistisch geprägte Philosophie und Sozialwissenschaft<br />

bereits leisten?<br />

Der Beitrag des spezifisch christlichen Ethos<br />

Mit der hier gestellten Frage ist ein hoch sensibles Thema angesprochen, denn<br />

gerade in der heutigen, durch den Relativismus geprägten Zeit werden religiöse<br />

Geltungsansprüche schnell mit einem Fundamentalismusvorwurf belegt, so daß<br />

eine rationale Argumentation kaum noch möglich erscheint. Darüber hinaus<br />

besteht, wenn auch heute nur noch selten, die Gefahr, daß Christen mit allzu<br />

menschlichem Stolz über Nicht-Christen sprechen. 23 Es geht im folgenden vielmehr<br />

darum, aufzuzeigen, worin das moralische Potential des Christentums besteht,<br />

das es im Sinne von Habermas zu nutzen gilt.<br />

Wenn wir in dieser Weise nach dem spezifisch christlichen Ethos fragen, dann<br />

fragen wir umgekehrt auch danach, weshalb ein rein menschliches Ethos scheitert<br />

bzw. scheitern muß. Im Kern ist hier auf die Konkupiszenz – also das sündige<br />

Begehren – und damit auf die Erbsündenlehre hinzuweisen. Das Bemühen des<br />

Menschen um moralisches Handeln bricht an jener Stelle zusammen, wo es zutiefst<br />

an die Wurzeln des menschlichen Lebens rühren sollte, in unserer Hinwendung<br />

zu Gott, wie der Sozialethiker Arthur F. Utz schon frühzeitig verdeutlichte.<br />

Denn die Beziehung Mensch-Gott hat einen vom Menschen her unheilbaren<br />

Bruch erlitten. 24 Daß dies auch weniger bzw. unreligiöse Menschen ahnen, veranschaulichen<br />

Befragungsergebnisse des Verfassers bei Studierenden. Die Be-<br />

457


deutung der Religion war für die meisten dieser Befragten insgesamt gering. In<br />

Zusammenhang mit den praktischen Konsequenzen der Religionsausübung gebracht<br />

wurde jedoch deutlich, daß der überwiegende Teil gerade dieser wenig<br />

religiösen bzw. unreligiösen Studierenden die Religion durchaus als wirksame<br />

Einflußgröße für den Lebensvollzug ansehen. 25<br />

Die Erbsündenlehre ist aber – wie es der Philosoph Robert Spaemann erst kürzlich<br />

wieder aufzeigte – eine „Provokation für das moderne Bewußtsein“ 26 .<br />

Spaemann argumentiert in Anschluß an Thomas von Aquin, daß der paradiesische<br />

Mensch das Rechte will und tut, weil es das Natürliche und so ihm selbst<br />

natürlich ist. Gott will ihn aber durch das Verbot, vom Paradiesbaum zu essen,<br />

zu einer übernatürlichen Freundschaft mit ihm, Gott, aus dem bloß Natürlichen<br />

herausrufen. Durch den Akt freien Gehorsams hätte sich der Mensch wirklich<br />

vom Zwang der Natur emanzipiert. Indem er in seiner Selbstbezogenheit aber der<br />

Versuchung erliegt, bleibt er in diesem Zwang, ist aber nun nicht mehr unschuldig,<br />

denn er hätte auch anders gekonnt. Das freiwillige Verweilen in natürlicher<br />

Selbstbezogenheit wird zum schuldhaften Egoismus. Nun bedarf der Mensch der<br />

Erlösung. 27 Daß dieser Gedankengang von höchster Relevanz gerade für das<br />

moralische Handeln in der Wirtschaft ist, zeigt der Hinweis auf die dort vorherrschende<br />

Nutzenorientierung. Mit der ausschließlichen Orientierung an den eigenen<br />

Bedürfnissen und Naturtrieben kann nicht mehr klar zwischen Tugenden und<br />

Lastern unterschieden werden. Wenn dies aber für das Konsumverhalten gilt,<br />

warum dann nicht auch für das Arbeitsverhalten? 28<br />

Wie kann nun aber die Erlösung aus dem Egoismus für den Menschen erfahrbar<br />

werden, so daß moralisches Handeln auch im Unternehmen möglich wird? Im<br />

Kern ist mit dieser Frage das Verhältnis von vita activa und vita contemplativa<br />

bzw. Moralität und Spiritualität angesprochen. 29 Solange wir also versuchen, aus<br />

eigener Kraft das Gute (und damit gleichzeitig das Sachgerechte) zu tun (anstatt<br />

das Nützliche), werden wir scheitern, weil es uns an Kraft und Orientierung<br />

fehlt, und wir werden immer wieder in die natürliche Selbstbezogenheit zurückfallen.<br />

Wir brauchen also eine Spiritualität der Wirtschaft oder speziell für unseren<br />

Kontext eine Spiritualität der Arbeit. Bei dieser Spiritualität wird deutlich,<br />

daß Arbeit Teilhabe am Schöpfungswerk Gottes ist, wie es Papst Johannes Paul<br />

II. in der Enzyklika „Laborem exercens“ aufzeigt. 30 Am besten verdeutlicht diesen<br />

Sachverhalt die Liturgie der Gabenbereitung, bei der Brot und Wein als<br />

Früchte der Erde bzw. des Weinstocks und der menschlichen Arbeit dargebracht<br />

werden und uns so auf die wechselseitige Durchdringung von göttlicher Allmacht<br />

und freiem menschlichen Tun verweisen. 31 Gerade die Erfahrungen der<br />

Globalisierung zeigen, daß nicht nur der einzelne Mensch, sondern ganze Staaten<br />

diesem Phänomen mit einer gewissen Hilflosigkeit gegenüberstehen. Wir sind<br />

eben auch hier auf die Gnade Gottes angewiesen, die uns zu einem schöpferischen<br />

und verantwortungsbewußten Handeln befähigt und motiviert. 32 Wenn wir<br />

uns also vor Augen führen, daß wir Christen – soweit es uns gelingt, moralisch<br />

zu handeln – hierzu nicht aus eigener Vollkommenheit in der Lage sind, sondern<br />

nur, weil wir Zugang zu einem „übernatürlichen Kräftekosmos“ 33 haben, dann<br />

458


wird auch deutlich, daß es nicht den geringsten Grund für Überheblichkeiten<br />

gibt.<br />

Schlußfolgerungen für das Personalmanagement<br />

Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus den bisherigen Überlegungen für<br />

das Personalmanagement im Unternehmen herleiten? Daß Ethikrichtlinien bestenfalls<br />

die Geltung allgemein gültiger moralischer Normen und Werte für das<br />

Unternehmen deklarieren, aber nicht deren Umsetzung in moralisches Handeln<br />

bewirken können, dürfte inzwischen hinreichend klar geworden sein. In Beantwortung<br />

dieser Frage lassen sich zwei Teilbereiche unterscheiden: Zunächst<br />

einmal kann versucht werden, personalwirtschaftliche Instrumente zu entwickeln,<br />

die unmittelbar dazu führen, daß Mitarbeiter im Unternehmen verantwortungsbewußt<br />

handeln. Hierzu zählen vor allem Instrumente der Personalauswahl<br />

und Personalentwicklung. 34 Diese Instrumente setzen aber erst zu einem Zeitpunkt<br />

(als Erwachsene) und in einer Umgebung (im Unternehmen) an, wo nur<br />

noch sehr begrenzt Einfluß genommen werden kann. Aus diesem Grund darf das<br />

Unternehmen durch sein wirtschaftliches Handeln vor allem keine negativen<br />

externen Effekte erzeugen, die eine Entwicklung der moralischen Kompetenz<br />

von Mitarbeiter einschränkt. Damit ist allerdings nicht gemeint, daß Unternehmen<br />

die Sozialisationsbedingungen der Gesellschaft aktiv gestalten sollen. Dies<br />

würde nur zu einer weiteren Ökonomisierung aller Lebensbereiche und Nutzenorientierung<br />

führen.<br />

Da die primäre Sozialisation in der Familie stattfindet, ist es also – erstens –<br />

sinnvoll, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, daß ein Familienleben ermöglicht<br />

wird, in dem gemeinwohlorientierte Werte erlebt und eingeübt werden<br />

können. 35 Dazu ist gemeinsame Zeit für Eltern und Kinder notwendig. Angesichts<br />

der heutigen Arbeitsbedingungen mit ihren Flexibilitätsanforderungen ist<br />

es in vielen Familien aber kaum noch möglich, auch nur gemeinsame Essenszeiten<br />

zu realisieren. Hier sind Arbeitszeitmodelle notwendig, die auf familiäre<br />

Erfordernisse Rücksicht nehmen. Die ständige Ausweitung der Schichtarbeit<br />

verhindert demgegenüber gemeinsame Zeiten in der Familie. Die weitgehende<br />

Übertragung des Familienlebens auf Tagesmütter, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen<br />

ist kein adäquater Ersatz. Es besteht eben ein Unterschied zwischen<br />

der dauerhaften und personalen Beziehung zwischen Eltern und Kindern einerseits<br />

und der berufsbezogenen, zeitlich befristeten Beziehung in entsprechenden<br />

Institutionen.<br />

Wie bereits deutlich wurde, ist eine transzendente Rückbindung für eine umfassende<br />

Moralentwicklung förderlich, wenn nicht gar notwendig. Aus diesem<br />

Grund ist es auch aus Sicht des Unternehmens – zweitens – sinnvoll, religiöses<br />

Leben nicht unnötig zu belasten. Hier geht es ebenfalls nicht darum, aktiv<br />

Einfluß zu nehmen, sondern lediglich negative externe Effekte zu vermeiden.<br />

Belastungen des religiösen Lebens werden besonders sichtbar bei der permanenten<br />

Ausweitung der Sonn- und Feiertagsarbeit und entsprechender Ladenöffnungszeiten.<br />

Gerade der Erfahrungswert der 3500 Jahre alten Sabbat- und Sonn-<br />

459


tagskultur kann uns durch seine Unverfügbarkeit vermitteln, daß wir Menschen<br />

eine Personenwürde unabhängig von unserem Nutzen haben. Der Sonntag befreit<br />

uns dabei aus den Zwängen von Arbeit und Konsum und bietet uns geistliche<br />

Impulse. Woher sollen wir denn Visionen und Innovationen bekommen, wenn<br />

wir kein geistliches Leben führen? Interessant ist in diesem Zusammenhang<br />

übrigens, daß die Bundesländer mit den meisten Feiertagen wirtschaftlich am<br />

erfolgreichsten sind. 36<br />

Wenn wir uns das bisher Gesagte vor Augen führen, dann stellt sich die Frage,<br />

wie diese Sichtweise mit den Anforderungen einer pluralistischen Gesellschaft<br />

und einer globalisierten Wirtschaft vereinbar sind? Zunächst einmal ist hier darauf<br />

hinzuweisen, daß moralisches Handeln eben nicht zum „Null-Tarif“ zu bekommen<br />

ist. Genau so, wie Unternehmen ihre natürliche Umwelt zerstören können<br />

und sich damit ihrer natürlichen Ressourcen berauben, so können sie auch<br />

ihre kulturelle Umwelt und religiöse Basis zerstören und sich damit ihrer kulturellen<br />

Ressourcen bzw. transzendenten Rückbindung berauben. 37 Darüber hinaus<br />

bieten die pluralistische Gesellschaft und die globalisierte Wirtschaft aber auch<br />

neue Chancen. So können gerade unterschiedlich religiöse Anforderungen z.B.<br />

von Christen (Sonntag) und Muslimen (Freitag) – bei entsprechendem Personaleinsatz<br />

– erhöhte Flexibilitäten ermöglichen. Dies führt zwar vermutlich zu einem<br />

erhöhten Managementaufwand, aber es ist eben eine Frage der Klugheit als<br />

Tugend, ob kurzfristig nach dem momentanen Nutzen gefragt wird oder ob danach<br />

gesucht wir, was langfristig sinnvoll ist. Abschließend sei aber noch darauf<br />

hingewiesen, daß die Unternehmen nur ein Teil von Kultur und Gesellschaft<br />

sind. Damit die eingangs aufgezeigten Probleme moralischen Handelns im Unternehmen<br />

umfassend bearbeitet werden können, müssen natürlich auch andere<br />

Institutionen wie Politik, Medien, Kirchen etc. aktiv werden. 38<br />

Anmerkungen<br />

1) Kreuzhof, R.: Wirtschaft, Moral und christliche Lebenspraxis. Eine Herausforderung<br />

der postsäkularen Gesellschaft, Paderborn 2007.<br />

2) Vgl. Habermas, J.: Glaube und Wissen. Friedenspreis des Buchhandels 2001, Frankfurt<br />

a.M. 2002, 20 ff.<br />

3) Steinhausen, G.: Der Kaufmann in der deutschen Vergangenheit, Leipzig 1912, Beilage<br />

11.<br />

4) BASF IT Service – Ethikrichtlinie (Internetausdruck 12/2006).<br />

5) Vgl. Kreuzhof, R., a.a.O., 44.<br />

6) Vgl. MacIntyre, A.: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart,<br />

Frankfurt a.M. 1987, 75 ff.<br />

7) Vgl. Mündemann, T.: Unternehmensethik und Unternehmenskommunikation. Thesen,<br />

Anmerkungen und Empfehlungen für die unternehmerische Praxis, in: bku Grüne Seiten,<br />

Nr. 66 (2006), 2.<br />

8) Vgl. Kreuzhof, R., a.a.O., 63.<br />

9) Vgl. ebenda, 48.<br />

10) Vgl. Mündemann, T., a.a.O.<br />

460


11) Vgl. Wunderer, R.; Grunwald, W.: Führungslehre, Bd. 1: Grundlagen der Führung,<br />

Berlin / New York 1980, 433 ff.; vgl. Mündemann, T., a.a.O., 3 ff.<br />

12) Vgl. Wiswede, G.: Soziologie. Ein Lehrbuch für den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen<br />

Bereich, Landsberg am Lech 1985, 120 ff.<br />

13) Vgl. Meyer, U.: Ethikrichtlinien internationaler Unternehmen und deutsches Arbeitsrecht,<br />

in: NJW 50 / 2006, 3605 ff.; Kock, M.: Einführung einer Ethikrichtlinie im Unternehmen,<br />

in: MDR 12 / 2006, 673 ff.<br />

14) Kohlberg, L.: Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a.M. 1996. Vgl. Löhr, A.:<br />

Die moralische Urteilskraft von Wirtschaftsstudenten – Bemerkungen zum empirischen<br />

Forschungsstand, in: Ethik in Organisationen, hrsg. von Gerhard Blickle, Göttingen 1998,<br />

S. 185 ff.<br />

15) Vgl. Kohlberg, L., a.a.O., 128 ff.<br />

16) Vgl. Löhr, A., a.a.O. Vgl. Oser, F.: Das Schaffen moralischer Zustände als Maß für<br />

Berufsmoral. Lemper versus Oser?, in: Verantwortung im Arbeitsleben, hrsg. von Ernst-<br />

H. Hoff; Lothar Lappe, Heidelberg 1995, 212 ff.<br />

17) Kreuzhof, R., a.a.O., 113 ff.<br />

18) Vgl. Kohlberg, L., a.a.O., 429 ff.<br />

19) Vgl. ebenda, 132.<br />

20) Vgl. Löhr, A., a.a.O., 185 ff.<br />

21) Vgl. Gaudium et spes, (1965) Nr. 16.<br />

22) Vgl. Kreuzhof, R., a.a.O., 115 f.<br />

23) Vgl. Utz, A. F.: Wesen und Sinn des christlichen Ethos. Analyse und Synthese der<br />

christlichen Lebensform, München / Heidelberg 1941, 8.<br />

24) Vgl. ebenda, 56.<br />

25) Vgl. Kreuzhof, R., a.a.O., 79. Befragt wurden N = 121 Studierende der Fachhochschule<br />

Flensburg, Fachbereich Technik und Wirtschaft, 1. und 4. Sommersemester 1999.<br />

26) Spaemann, R.: Provokation für das moderne Bewußtsein. Warum kaum eine christliche<br />

Lehre plausibler erscheint als die von der Erbsünde, in: Die Tagespost 07.12.2006<br />

(Internetversion).<br />

27) Vgl. ebenda.<br />

28) Vgl. Kreuzhof, R., a.a.O., 30 ff., 198.<br />

29) Vgl. ebenda, 126 ff.<br />

30) Vgl. Johannes Paul II., Laborem exercens, (1981) Nr.25.<br />

31) Vgl. Puhl, St.: Zur Spiritualität der Arbeit, in: Die Neue Ordnung, Heft 6 1998, (Internet-Dokument)<br />

3 f.<br />

32) Vgl. Kreuzhof, R., a.a.O., 198 f.<br />

33) Vgl. Utz, A. F., a.a.O., 137 ff.<br />

34) Vgl. hierzu im Einzelnen Kreuzhof, R., a.a.O., 118 ff.<br />

35) Vgl. Etzioni, A.: Die Entdeckung des Gemeinwesens. Das Programm des Kommunitarismus,<br />

Frankfurt a.M. 1998, 63 ff.<br />

36) Vgl. Kreuzhof, R., a.a.O., 116 f.<br />

37) Vgl. ebenda, 115.<br />

38) Vgl. ebenda, 122.<br />

Prof. Dr. Dr. Rainer Kreuzhof lehrt Human Resource Management und Wirtschaftsethik<br />

an der Fachhochschule Flensburg<br />

461


462<br />

Hans-Peter Raddatz<br />

Christentum und Islam<br />

Der vermeintlich „Eine Gott“<br />

Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil lautet die offizielle Lesart in der Kirche,<br />

daß „wir mit den Muslimen den einen Gott anbeten“ (Nostra Aetate). Damit ist<br />

eine auf zwei völlig verschiedenen Vorstellungen beruhende Gottheit gemeint, die<br />

von nun an aber doch so viele wichtige Gemeinsamkeiten aufweisen sollten, daß<br />

die Verfasser der Declaratio von dem „einen Gott“ sprechen zu können glaubten.<br />

Die Aktion geschah allerdings nicht ganz freiwillig, sondern unter erheblichem<br />

Druck seitens einiger arabischer Staaten. Sie hatten der Kirche für den Fall mit<br />

Repressionen gedroht, daß man den Islam nicht in die ursprünglich auf die Juden<br />

beschränkte Erklärung aufnähme.<br />

Trotzdem wurde die Wunschidee von dem einen Gott zum Fundament des „Dialogs<br />

mit dem Islam“, der sich nunmehr über vier Jahrzehnte hinzieht. Da die<br />

grundsätzliche Basis als geklärt galt, beschäftigte man sich kaum noch mit dem<br />

Gottesbild selbst, sondern bemühte sich in unzähligen Veranstaltungen, eher die<br />

großen Reizthemen wie Koran, Tradition, Scharia, Frauen etc. in den Blick zu<br />

nehmen. Erst Papst Benedikt XVI. brachte es vor einiger Zeit wieder ausdrücklich<br />

mit der Forderung auf die Tagesordnung, „daß der Name Gottes nicht mit Gewalt<br />

verbunden werden darf“.<br />

Im nachfolgenden Beitrag wollen wie der Frage nachgehen, ob und warum der<br />

christliche und islamische Gottesbegriff tatsächlich so ähnlich ist, wie vom Konzil<br />

angenommen, so daß einige vielleicht zu Voreilige bereits vom „Chrislam“ zu<br />

sprechen begannen. Da Gott ohne den Menschen nicht denkbar ist, gibt er in der<br />

Regel das Verständnis und die Entwicklung der jeweiligen Zeit und Kultur wieder.<br />

In ihm spiegeln sich nicht zuletzt auch Herrschaftssysteme, die das kollektive<br />

Leben und Zusammenwirken von Eliten und Massen regeln.<br />

Zwar wissen wir heute immer noch nicht allzu viel über die Entstehung der Welt,<br />

ganz zu schweigen von den archaischen Gesellschaften der Frühzeit und den nachfolgenden<br />

Kulturstufen. Doch hatten ihre Gottesideen immer etwas mit dem jeweiligen<br />

Stand der Kosmologie und des elitären Herrschaftswissens zu tun. Es verhält<br />

sich also nicht ganz so, wie Kurt Hübner meint, „daß wir nichts über Gottes Wege<br />

wissen können, nichts nämlich darüber, warum er die Welt so geschaffen hat wie<br />

sie ist und folgerichtig auch nichts darüber, daß er die Menschen so geschaffen hat,<br />

wie sie sind“ (Das Christentum im Wettstreit der Weltreligionen, 116).<br />

Denn gerade wenn es so wäre, gerade wenn wir über die Bedingungen göttlichen<br />

Schaffens nichts wüßten, wenn keinerlei Ähnlichkeit zwischen Gottes und der<br />

Menschen Denken bestünde, wäre jeder Versuch, die Religion zur Grundlage<br />

menschlichen Zusammenlebens zu machen, eine völlig abwegige Maßnahme ge-


wesen. Es käme dem Wahnsinn gleich, ein System, das keinen Bezug zum<br />

Menschlichen hat, zur Schicksalsbasis desselben zu machen. Denn die Frage nach<br />

dem Sinn seiner Existenz ist dem Menschen so eingeschrieben, daß wir von einer<br />

„anthropologischen Konstante“ sprechen. So verwundert nicht, daß der „unerforschliche<br />

Ratschluß Gottes“ Priestern und Imamen schon oft dabei behilflich<br />

war, unbeliebte Entscheidungen der Eliten beim Volk durchzusetzen.<br />

Zumindest wußten die Menschen aller Zeiten, daß dem Wachstum der Natur, dem<br />

Wechsel des Wetters, dem Lauf der Gestirne etc. eine unerklärliche Kraft innewohnte,<br />

die man durch Zauber, Riten und Opfer zu beeinflussen suchte. Dabei<br />

erwies es sich für die Verwaltung des Kultes und die Steuerung der Menschen als<br />

hilfreich, die Vielzahl der Götter auf schließlich einen einzigen zu reduzieren.<br />

Indem Zarathustra als erstem um 600 v. Chr. im Iran dieser Durchbruch gelang,<br />

wurde er zum Impuls und Gründungsmuster der großen Monotheismen Judentum,<br />

Christentum, Islam.<br />

Die unsterbliche Seele, die Idee vom Lebensbaum, der Gut und Böse hervorbringt,<br />

vom heiligen Geist, der den Teufel abwehrt, von der jungfräulichen Empfängnis<br />

etc. sind – mit Ausnahme der Person Jesu – Vorstellungen, die Eingang in die drei<br />

Religionen gefunden und sie erheblich mitgeprägt haben. Während die Juden und<br />

Muslime die radikale Vereinfachung der iranischen Götterwelt durchaus nachvollzogen<br />

und einen Monotheismus mit strengen Rechts- und Kultregeln entwickelten,<br />

nimmt sich das christlich-trinitarische Prinzip eher wie eine Lockerung aus, die<br />

nicht zuletzt auch Muhammad den Vorwand an Hand gab, den Christen die „Beigesellung“<br />

(arab.: shirk), eine Art polytheistischen Rückfall, anzulasten.<br />

Das Zeichen, das die Mehrdeutigkeit der Religionen regelt, ist das Symbol. Es<br />

beruht auf der Analogie zwischen Form und Inhalt, die allerdings rasch in eine<br />

Schieflage geraten kann: Die Überbetonung der Form führt zur „materiellen Versteinerung“,<br />

die des geistigen Inhalts zur „spirituellen Auflösung“ (Kulte und Riten,<br />

92). Das Symbol verbindet Gegensätze und schafft Harmonien dort, wo die<br />

Logik keine erkennt. Der Symboliker wandelt auf einem schmalen Grat zwischen<br />

Formalismus und Leichtsinn, zwischen Magie und Mystik.<br />

So war es auch das Symbol des „einen Gottes“, das die im modernen Strukturwandel<br />

eher auseinander strebenden, schwankenden Welten verbinden sollte. Über<br />

längere Verhandlungen hinweg hatten sich die Teilnehmer des Konzils auf diese<br />

neue Perspektive geeinigt. Was über Jahrhunderte als trennend gegolten hatte,<br />

sollte nun als eher verbindend gesehen werden. Die Zeit, so schien es, war reif für<br />

eine fundamentale Umkehr des Verhältnisses zwischen Christentum und Islam.<br />

Selten hat es eine Situation gegeben, in der Eliten das Gottesbild so eindeutig bestimmt,<br />

aber auch so zweideutig „begründet“ haben. Jahrhundertelang war es<br />

durch den historischen Konflikt geprägt und sollte nun endlich – sozusagen durch<br />

Akklamation – durch die moderne Harmonie abgelöst werden. Wer bis dahin noch<br />

daran gezweifelt hatte, daß Gottesbilder etwas mit dem menschlichen, vor allem<br />

elitären Willen zu tun haben, konnte sich entweder durch diesen Vorgang oder<br />

Konzilsberater Schillebeexcks überzeugen lassen: „Wir haben auf dem Konzil<br />

463


doppelsinnige Ausdrücke verwendet, und wir wissen, was wir nachher daraus<br />

machen werden.“<br />

Papst Benedikt spricht in diesem Kontext von einer Art chemo-physikalischen<br />

Experiments, das den neuen Gott offenbar als gehorsamen Devunculus, im technischen<br />

Zeitalter eher als sakralen Roboter hervorbringen soll: „Der Hochmut, der<br />

Gott zum Objekt machen und ihm unsere Lebensbedingungen auflegen will, kann<br />

Gott nicht finden. Denn er setzt bereits voraus, daß wir Gott als Gott leugnen, weil<br />

wir uns über ihn stellen. Weil wir die ganze Dimension der Liebe, des inneren<br />

Hörens und nur noch das Experimentierbare, das in unsere Hand gegeben ist, als<br />

wirklich anerkennen. Wer so denkt, macht sich selbst zu Gott und erniedrigt dabei<br />

nicht nur Gott, sondern die Welt und sich selber“ (Ratzinger, Jesus, 66).<br />

Um diesen Vorgang besser verstehen zu können, brauchen wir eine Vorstellung<br />

davon, ob und wie dieser Experimentierwille auf den Gott der einen und/oder der<br />

anderen Religion eingewirkt hatte. Zu diesem Zweck verschaffen wir uns einen<br />

Überblick über die wesentlichen Glaubensgrundlagen des Christentums und des<br />

Islam und versuchen herauszufinden, welche von ihnen so verändert wurden, daß<br />

der chrislamische Mischgott – wenn überhaupt – entstehen konnte.<br />

464<br />

Gott in Gestalt Jesu<br />

Von der christlichen Botschaft wissen wir, daß jeder Christ zwar sündig ist, aber<br />

jeder auch in einzelner Verantwortung für sich selbst vor Gott steht und erlöst<br />

werden kann, wenn er denn glaubt – wenn er an Jesus Christus als Gottes Sohn<br />

glaubt, der sich am Kreuz opferte, um alle Menschen von ihrer Schuld zu befreien<br />

und am dritten Tag wieder aufzuerstehen. Für die Juden umstürzend neu an diesem<br />

Glauben ist die Überschreitung des jüdischen Gesetzes, das zu erfüllen dem Menschen<br />

unmöglich ist, weil er sich im Zustand der Erbsünde, der ständigen Gottesferne<br />

befindet. „Denn das Gute, das ich will“, sagt Paulus, „das tue ich nicht, sondern<br />

das Böse, das ich nicht will“ (Röm. 7, 19).<br />

Das Gesetz ist so formalisiert, daß der eigentliche Sinn seiner Vorschriften verschwindet.<br />

Indem ihre Einhaltung Eigengerechtigkeit und Selbstgefälligkeit, im<br />

Grunde also neue Sünde und damit das Gegenteil des ersehnten Heils erzeugt, wird<br />

der menschliche Buchstabe zur Pflicht, die den Geist Gottes erstickt. So sagt Jesus<br />

denn auch: „Wie fein hebt ihr Gottes Gebot auf, damit ihr eure Satzungen aufrichtet?“<br />

(Mk 7,9).<br />

Kurt Hübner weist auf diesen Sachverhalt betont hin: „Die christliche Wende<br />

vollzieht sich in jenem historischen Augenblick, in dem den Juden das Verhältnis<br />

zum Gesetz ... fundamental fragwürdig geworden war. Sei es, daß sie die Unmöglichkeit<br />

einer Rechtfertigung durch das Gesetz erkannten ..., sei es, daß sie unter<br />

den erstarrten Buchstaben-Geboten der Schriftgelehrten zu leiden hatten. So entstand<br />

das Bewußtsein einer historisch konkreten Wiederholung der Arché vom<br />

Sündenfall, und zwar nunmehr als ein epochales, nicht nur einzelne Vorkommnisse<br />

betreffendes Ereignis.“<br />

Die Erstarrung des Buchstabens und der Mißbrauch des Gesetzes durch die politreligiöse<br />

Macht lösen das singuläre Ereignis des Jesus Christus aus, der zum gott-


menschlichen Mittler des persönlichen Gottes und der Erlösung von der bedrückenden<br />

Geistlosigkeit wird. Das Medium, in dem sich solches vollzieht, ist die<br />

göttliche Gnade, die den Menschen in den Stand des Glaubens versetzt, der mithin<br />

immer auch ein freiwilliger Akt ist. Der Übergang vom Juden- zum Christentum<br />

erfolgt über die Verbindung des Gesetzesbuchstabens mit der Beschneidung, die<br />

nun überflüssig wird:<br />

„Wenn nun ein Unbeschnittener hält, was nach dem Gesetz recht ist, meinst du<br />

nicht, daß dann der Unbeschnittene vor Gott als Beschnittener gilt? ... Denn nicht<br />

der ist ein Jude, der es äußerlich ist, und das ist die Beschneidung des Herzens, die<br />

im Geist und nicht im Buchstaben geschieht. Das Lob eines solchen ist nicht von<br />

Menschen, sondern von Gott ... Haben wir Juden einen Vorzug? Gar keinen. Denn<br />

wir haben soeben bewiesen, daß alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind,<br />

wie geschrieben steht: Da ist keiner der gerecht ist, auch nicht einer. Da ist keiner<br />

der verständig ist; da ist keiner, der nach Gott fragt“ (Röm. 2, 26ff - 3, 9ff.).<br />

So mußte wenigstens einer gefragt haben, nämlich Jesus, und das auf so epochale,<br />

die Macht herausfordernde Weise, daß sich die Zeit wendete und eine neue Religion<br />

entstand. Gott in Gestalt Jesu entsühnte die Menschheit von der Erbsünde, einer<br />

universalen Verfassung, die nur der Schöpfer der Menschen, also Gott selbst, aufheben<br />

kann. Vom Sündenfall Adams bis zum Opfertod Christi spannt sich der<br />

christliche Heilsbogen: „Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die<br />

Vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen<br />

die Vielen zu Gerechten“ (Röm. 5, 19).<br />

Die Liebe Gottes, die sich im Opfer des Sohnes ausdrückt, setzt sich in der Auferstehung<br />

fort. Sie überwindet die Angst vor dem Tode und bringt das Leben im<br />

Ewigen Leben zur Vollendung. Indem Christus in allen Entsühnten fortlebt, tritt<br />

der verborgene Gott unverhüllt hervor: „Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von<br />

den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten<br />

auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist,<br />

der in euch wohnt“ (Röm. 8,11).<br />

Der Gott der Muslime<br />

In diesem Kontext kommt klar und unmißverständlich das Gegenteil dessen zum<br />

Ausdruck, was man im Islam die „Beigesellung“ nennt. In der Trinität sind Gott,<br />

Christus und Geist eben keine getrennten Wesenheiten, sondern Ausdrucksformen<br />

ein und derselben christlichen Gottheit. Sie lebt in dem, der glaubt, über den Tod<br />

hinaus: „Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Er wird<br />

gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Armseligkeit<br />

und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird<br />

auferstehen ein geistlicher Leib“ (1. Kor. 15, 42f.). Und für den, der da staunt, fügt<br />

Paulus noch Erstaunlicheres hinzu: „Denn das Verwesliche muß anziehen die<br />

Unverweslichkeit, und das Sterbliche muß anziehen die Unsterblichkeit.“<br />

Im Gegensatz zum jüdisch-christlichen Gott, der eine Entwicklung über mehrere<br />

Jahrtausende durchlaufen hat, war Allah im vorislamischen Götterkreis eine Gottheit<br />

unter vielen, bevor ihn Muhammad zum Schöpfergott machte und im Koran<br />

465


ein Denkmal setzte. Wenngleich es sich hier um eine ungewöhnliche Leistung mit<br />

weltgeschichtlichen Folgen handelt, so läßt sich kaum übersehen, daß der Islam<br />

und Allah in einer Art Schnellversion zustande kamen, in der dem Gott der Muslime<br />

schlichtweg nicht die theologische Reife seiner jüdisch-christlichen Konkurrenten<br />

zuwachsen konnte. Hinzu kam, daß die Araber der Spätantike mit einer allzu<br />

abstrakten Gottheit wenig anfangen konnten, zumal wenn sie nicht die für die<br />

Region und die Zeit üblichen Verhaltensmuster unterstützte. Es erschien daher ein<br />

Gottesbild logisch, das sich im Koran für die Menschen leicht faßbar präsentierte,<br />

von den Juden, Christen und sonstigen Ungläubigen distanzierte und die kleptokratischen<br />

Traditionen der Gesellschaft – Gewalt und Raub – unterstützte.<br />

Muhammad exerzierte ein Erfolgsrezept vor, das von Anbeginn die politische<br />

Priorität des Islam vor der religiösen festlegte. Indem er sich den alten Kult in<br />

Mekka und dessen Einnahmequellen aneignete, zum Kampf und Tribut für Allah<br />

aufrief und persönliche Widersacher durch Auftragsmörder beseitigen ließ, setzte<br />

er Zeichen, die ihr vitales Charisma bis heute erhalten haben.<br />

Bei dieser Art Charisma geht es um jene Heilswirkung, welche die Anhänger einer<br />

Droh- und Gewaltlehre auf sich zu ziehen glauben, wenn sie sich in besonderer<br />

Weise für ihre Ziele einsetzen. Die spontane, wenngleich teilweise inszenierte<br />

Reaktion der Muslime auf die Karikaturen von 2006, das „Verständnis“ westlicher<br />

Intellektueller für muslimische Gewaltreaktionen auf westliche „Provokationen“<br />

sind Beispiele für die charismatische Konkurrenz, deren kombinierte Kraft derzeit<br />

die Installation des Islam in Europa vorantreibt. In diesem Ablauf spielt Allah eine<br />

wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle. Wie im jüdisch-christlichen Bereich der<br />

„göttliche Ratschluß“ soll auch die im Koran äußerst vermenschlichte Gestalt<br />

Allahs das Fassungsvermögen des menschlichen Verstandes übersteigen. Als geeignetes<br />

Muster für diese Herrschaftsstruktur hatte Muhammad den jüdischen<br />

Jahwe erkannt, dessen z. T. sehr sachliche und pragmatische Distanz zu den Menschen<br />

auf die Bedingungen seiner Zeit bestens zu passen schien.<br />

Allerdings wurde dabei ein entscheidender Unterschied wirksam. Während die<br />

Juden die persönlichen Eigenschaften ihres Gottes sublimierten, und ein persönliches<br />

Verhältnis auf transzendenter Basis entwickelten, präsentierte Muhammad<br />

den neuen Allah als eine Gottheit mit sehr persönlichen Eigenschaften, die ihn zu<br />

ebenso konkreten Maßnahmen befähigten. So hat Allah die Macht, zu erschaffen<br />

und zu zerstören, zu belohnen und zu strafen. Wie ein Mensch spricht, befiehlt und<br />

flucht er, versklavt, terrorisiert und tötet er. Da er allmächtig und allweise ist, läßt<br />

er auch das Gegenteil zu – Liebe, Versöhnung, Vergebung – obschon in weit geringerem<br />

Ausmaß. Trotz dieser erratischen Züge gilt Allah den Muslimen als der<br />

Allerbarmer, als der Gott des Guten, weil sich seine bedrohlichen Eigenschaften<br />

auf das Andere und Abweichende, vor allem den Unglauben und die ungehorsamen<br />

Frauen, projizieren lassen.<br />

Thomas Mooren hat den interessanten Vorgang dargestellt, wie sich das göttliche<br />

Eine zu einem nomadischen Monotheismus entwickelt, der sich selbst zu einem<br />

stetigen Antagonismus verurteilt. Indem er sich vom jüdischen Volksgott auf den<br />

islamischen Einheitsgott ausweitet und dabei auch Abraham vereinnahmt, ohne<br />

dessen Epochenschritt zur Seßhaftigkeit zu übernehmen, erscheint Muhammad als<br />

466


islamischer Abraham, der die Religion von ihren jüdisch-christlichen „Verfälschungen“<br />

auf ihre Urform zurückführt und die „beste aller Gemeinschaften“<br />

(3/111) in die Weltgeschichte führt.<br />

Ausgehend von einer Protestgemeinde, die strukturelle Ähnlichkeit mit modernen<br />

Cargo-Kulten und Erlösungs-Sekten hat (Mooren), entsteht eine Vollreligion mit<br />

Absolutheitsanspruch, deren antagonistischer Gründungsmythos jedoch zum unauslöschlichen<br />

Engramm wird. Von nun an wird jede historische Entwicklung,<br />

jede geistige Begegnung vom Programm dieses Engramms geregelt: Der Islam ist<br />

nicht nur die einzige monotheistische Religion; er ist die einzige legitime Religion<br />

überhaupt.<br />

Zur Realisierung und Absicherung bauten seine Gelehrten umfassende Systeme<br />

des Glaubens und des Staatsrechts aus, die heute immer lauter den anderen Religionen<br />

– besonders den Juden und Christen – etwas klarmachen, was im schnellebigen,<br />

konsenstrunkenen Pluralismus schwer zu verstehen ist: den revindikativen<br />

Anspruch des Islam, d. h. sein Recht auf Herausgabe der illegitimen Geltungsansprüche<br />

anderer Religionen sowie das sich daraus ergebende Recht auf politreligiöse<br />

Alleinvertretung im Weltmaßstab. Letzterer besteht daher nicht in Menschenrechten<br />

westlicher Art, sondern in eben diesem Islamrecht auf das ungeteilte Religionsmonopol.<br />

Islam ist demnach nicht nur eine Religion, sondern die Religion,<br />

die im Rahmen der Globalisierung nun zu einem epochalen Wachstumsschub<br />

kommt.<br />

In ihrer Bedeutung für diesen Ablauf geht über das ubiquitäre Geld die so diffuse<br />

wie wichtige Rolle der „Beigesellung“ noch weit hinaus. Sie wertet nicht nur die<br />

Trinität als polytheistische Verirrung ab, sondern wendet sich gegen das Ich des<br />

Einzelnen als irreguläre Instanz. Indem diese auf heuchlerische Anerkennung<br />

durch andere Menschen schielt oder aber jene Individualität anstrebt, die jeder<br />

denkende Gläubige spirituell sucht, entsteht im zweiten Fall gerade jener vom<br />

Islam abgelehnte, selbständige Menschentyp, den das Verhältnis zum christlichen<br />

Gott vom Sklavengehorsam emanzipiert.<br />

„Das durch die Momente des Willens und der Absichten hervorgerufene Ich ist ein<br />

uferloses Meer“ zitiert der Orientalist Ignaz Goldziher einen angesehenen Gottesgelehrten<br />

des 9. Jahrhunderts (Vorlesungen, 42) und verdeutlicht die entscheidende<br />

Rolle des Zeitgottes Allah, der es nicht dulden kann, wenn der Mensch seine Momentschöpfung<br />

aktiv stört: „Begegnet mir mit euren Absichten, nicht mit euren<br />

Taten!“ Also soll schon die vorgreifende Gedankenkontrolle verhindern, daß es zu<br />

eigenständigen Initiativen kommt, zumal auch nach koranischer Lesart Allah die<br />

Quelle des Guten, der selbständige Mensch indessen die des Bösen ist (4/80).<br />

Der als Reformer mißverstandene Religionsphilosoph Iqbal (gest. 1938) drehte in<br />

seinem Werk „The Reconstruction of Religious Thought in Islam“ den Spieß um<br />

und erhöhte das abgelehnte Einzel-Ich zu einer kollektiven Selbstoffenbarung, in<br />

der ein „Großes Ich bin“ zwischen dem Allwillen Allahs und dem Einzelwillen des<br />

Menschen schillert (Gopal, Gabriel, 113). Vor dem Druck der islamischen Realität<br />

blieb diese Vorstellung ein Konstrukt, eine Leerformel ohne bleibende Nachwirkung,<br />

die im Grunde nur über Iqbals Sympathien für Hitler und Mussolini ver-<br />

467


ständlich wird. Daß die deutsche Orientalistin Annemarie Schimmel ihn für den<br />

größten Philosophen der islamischen Moderne hielt, wird seinerseits über ihre<br />

Studie verständlich, die sie Iqbals semi-satanistischen Vorstellungen gewidmet hat.<br />

Was uns Iqbals Überlegungen allerdings deutlich machen können, ist die direkte<br />

Nähe des islamischen Gottes zur Selbstoffenbarung des Menschen und damit auch<br />

die eingebaute, von der Realität vielfach bestätigte Möglichkeit, daß sich menschliche<br />

Macht auf seine Regeln, insbesondere auf dem Gegensatz zum Anderen,<br />

beruft. Nicht nur Iqbal selbst empfand Sympathie für den radikalen Geltungsanspruch<br />

des orthodoxen Islam, sondern mit ihm auch eine Fülle prominenter Politiker<br />

und Intellektueller – im Westen wie im Islam.<br />

Dabei handelt es sich allerdings, wie wir deutlich gemacht haben, nicht um eine<br />

Nähe der christlichen Art, die eine Verbindung zwischen Mensch und Gott herstellt,<br />

sondern um eine eher profane Nähe, die durch die semantische Kennzeichnung<br />

Allahs als sehr menschlich und launenhaft agierende Gottheit zustande<br />

kommt. Insofern Allah die Zeit als Bewußtseinsmedium beansprucht, öffnet er<br />

fortlaufend eine Fülle von momentan bedingten Machtansprüchen, die ihn zwar als<br />

monotheistischen Gott, jedoch weniger der spirituellen, sondern eher der politischdespotischen<br />

Art erscheinen lassen.<br />

An Beweisen, daß dieser Gott seine Anhänger schon oft auf Augenhöhe mit der<br />

Weltpolitik brachte, hat es selten gefehlt. Im Gefolge der kurzlebigen Córdoba-<br />

Kultur wären zum Beispiel der Palastbetrieb Friedrichs II. und seine aufwendigen<br />

Aktivitäten in Forschung und Wissenschaft – u.a. mit dem Pisaner Mathematiker<br />

Leonardo Fibonacci (gest. um 1240) – ohne die Beiträge arabischer Wissenschaftler<br />

kaum denkbar. Wenngleich sie halfen, das Wirken Gottes immer meßbarer zu<br />

machen, ließ Allah eben deswegen, um selbst unmeßbar zu bleiben, ihre Ergebnisse<br />

nur in sehr begrenztem Umfang zu. Hier schließen wir einen kleinen Exkurs an,<br />

der von allergrößter Bedeutung für Allah und unser Verständnis seiner Eigenschaften<br />

ist.<br />

Die Juden in Apulien unterhielten Kontakte zu Palästina und wurden zum späteren<br />

Bindeglied zum ashkenasischen Judentum in Osteuropa (Battenberg, Zeitalter der<br />

Juden 1, 43). In Sizilien sorgten sie für einen regen Wissenstransfer, in dessen<br />

Mittelpunkt die Übersetzerschule von Salerno stand. Einer der wichtigsten Beiträge<br />

kam von dem jüdischen Arzt Faradj Ben Salim (gest. 1282), der das Hauptwerk<br />

des arabisch schreibenden, persischen Mediziners Al-Razi (gest. 926) ins Lateinische<br />

übersetzte. Finanziert wurde diese Arbeit vom Herzog von Anjou, jener Atlantikregion<br />

nördlich von Aquitanien, aus der einst je ein König für Jerusalem und<br />

Neapel hervorging (Hitti, 612f; Finkelstein, The Jews II, 1362).<br />

Anjou stand unter wechselnder, englischer und französischer Herrschaft, ebenso<br />

wie Aquitanien, das oft als Sammelbecken für jüdische Flüchtlinge aus Spanien<br />

diente. Nach dem Einfall der Almohaden ließen sie sich in besonders großer Zahl<br />

in der Provence nieder. Mit Levi Ben Gerson (gest. 1344), den man auch Gersonides<br />

nennt, wirkte dort einer der größten Juden des ausgehenden Mittelalters. Er<br />

verband Philosophie und Astronomie – mit großem Einfluß auf die Wissenschaft<br />

in Europa, unter anderen Kopernikus und Kepler.<br />

468


Gersonides folgte dem großen Islam-Philosophen Averroes (gest. 1198) in der<br />

Auffassung, daß das Wissen Gottes über den Gegensatz erhaben ist, der sich im<br />

endlichen Bewußtsein zwischen dem Allgemeinen und Individuellen abspielt. Als<br />

oberstes Formprinzip steht er über der Materie, die zwar nicht aus ihm abgeleitet<br />

werden kann, aber durch Willensakte – nicht aus dem Nichts – in die Schöpfung<br />

kommt (Guttmann, 242). Daraus ergibt sich Gott als höchstes Denken, das das<br />

Allgemeine bestimmt, ohne ins Spezielle einzugreifen.<br />

Das höchste Denken schafft innerhalb des göttlichen Wissens vom Allgemeinen<br />

die Freiheit des menschlichen Willens zur Gestaltung des Speziellen, das seinerseits<br />

wiederum durch die Grenzen des Allgemeinen bestimmt ist. Daraus folgen<br />

Gesetze empirischer Natur, die Gesetzen überempirischer, menschlich nicht erkennbarer<br />

Natur unterworfen sind. In dieser Abfolge zeichnet sich ein systematischer<br />

Geist ab, ein „aktiver Intellekt“, der im Wissen Gottes wirkt und aus dessen<br />

Interaktion mit dem Willen des Menschen das Werden des Weltganzen hervorgehen<br />

läßt. Indem Menschen mit besonderen Begabungen diese Entwicklungen anschieben,<br />

erweisen sie sich als Instrumente Gottes, als Propheten der Wissenschaft,<br />

deren Objekt früher oder später allerdings auch Gott selbst werden kann.<br />

So wie sich das Erkennbare aus dem Nichterkennbaren abbildet, erschließt sich für<br />

den Astronomen Gersonides die Astrologie aus dem Lauf der Gestirne. Dies jedoch<br />

nur in dem Maße, in dem der Mensch sich der Freiheit des Willens im Erkennbaren<br />

und der Möglichkeit bewußt ist, aus dem gewonnenen Wissen Schlüsse<br />

auf das Nichterkennbare ziehen zu können. Mit anderen Worten: Im Großen war<br />

der Wille des Menschen dem Lauf der Planeten unterworfen, im Kleinen gab es<br />

Toleranz in der Interpretation der Horoskope. Der Mensch war nicht unter einem<br />

ehernen, sondern in Grenzen gestaltbaren Gesetz geboren, das ihn am göttlichen<br />

Wissen teilhaben ließ.<br />

Dabei sind Wunder, Vorsehung und Prophetie religiöse Begriffe für natürliche<br />

Vorgänge, die der „aktive Intellekt“ aus dem Nichterkennbaren ins Erkennbare<br />

treten läßt und dem Geist des Menschen zugänglich macht. Prophetie bedeutet die<br />

Ergänzung Gottes in der Wirkung auf die Menschen. Da das Prinzip unabhängig<br />

von der Qualität ist, spannt es ein Spektrum auf, das von höchster geistiger Durchdringung<br />

bis zu platter Scharlatanerie reicht. Daß der menschliche Wille sich schon<br />

immer an der Macht zwischen Elite und Masse beteiligt hatte, war nichts Neues;<br />

Gersonides' bahnbrechende Leistung war vielmehr, die Freiheitsdimension des<br />

Willens als Teil der Macht bewußt gemacht zu haben.<br />

Anders ausgedrückt: In dem Maße, in dem sich Wissen und Wille der Eliten dem<br />

„aktiven Intellekt“ annäherten, konnten sich Wissen und Wille der Masse nach<br />

dem Muster der Gestirnsbahnen, also physikalisch strukturieren lassen. Es war<br />

bewußt geworden, daß sich Macht nicht nur durch Unterdrückung, sondern viel<br />

eleganter durch sinnvolle Mechanismen ausüben ließ. Eine vom Intellekt erleuchtete<br />

Elite konnte Herrschaftsregeln nach den Gesetzen der Natur bilden und die<br />

Masse sozusagen zu „Knechten des Universums“ machen.<br />

Auf diesem Gedankenweg entwickelte drei Jahrhunderte später der jüdische Philosoph<br />

B. Spinoza (gest. 1677) eine „Ethik nach geometrischer Methode“. Er hatte<br />

469


die Vision einer technischen Gesellschaft, die nach der „mathematischen Elementarmethode“<br />

gebaut sein sollte (Orthband, Geschichte, 294f.). Auch der Kant’sche<br />

„kategorische Imperativ“ folgt diesem Prinzip. Mit der Idee gesetzmäßig, d. h.<br />

identisch denkender Menschen, die sich letztlich wie Elementarteile gleichschalten,<br />

erlangte der deutsche Aufklärer größte Bedeutung für die moderne Technikgesellschaft.<br />

Als eine Art Nebenprodukt ermöglicht Gersonides' System noch einen weiteren<br />

Schluß, der für unser Thema von großer Bedeutung ist. Er betont die logische<br />

Unmöglichkeit, daß die Dinge ewig sind und zugleich von Gott bewirkt werden.<br />

Um das Unmögliche zu ermöglichen, muß dieser Gott die Dinge ständig neu schaffen,<br />

die im Wechsel von Werden und Vergehen ihren substantiellen Bestand verlieren<br />

(Guttmann, 240).<br />

Der Allah des Islam ist ein solcher Gott. Er schöpft nicht nur permanent, sondern<br />

identifiziert sich auch mit der Zeit (EI II, 95). Er bestätigt damit selbst, nicht ewig<br />

zu sein, denn die Zeit gibt es nur in der Welt, im Bewußtsein der Menschen. Damit<br />

stimmt die Vorstellung vom Koran überein. Das Bild von den „Tafeln im Himmel“<br />

ist in bezug auf die Ewigkeit ebenso defekt, wie Allah in bezug auf die Wahrheit<br />

erscheint. Immerhin rühmt sich der Gott des Islam selbst als „bester Ränkeschmied“<br />

(77/39), der Gläubige und Ungläubige täuscht, wann und wo er will,<br />

womit er einmal mehr das Menschlich-Allzumenschliche im koranischen Erscheinungsbild<br />

bestätigt.<br />

Von Maimonides, dem größten jüdischen Philosophen, ist bekannt, daß für ihn die<br />

Einheit Gottes den Ausschluß des Gegensatzes bedingt. Gott ist existent, weil er<br />

nicht nichtexistent ist, d. h. seine Eigenschaften sind er selbst. Ein Gott, der den<br />

Gegensatz ausdrücklich einschließt, ist ewig und nicht ewig, wahr und nicht wahr,<br />

eins und nicht eins – ist also kontingent, d. h. eine Möglichkeit. Dies wiederum<br />

stimmt zwingend mit dem Umkehrschluß aus dem Gottesbeweis überein, der auf<br />

dem bloß möglichen Sein der Dinge beruht (Guttmann, 259). Der logische Kreis<br />

schließt sich über die Zeit: Ein Gott, der wie Allah mit der Zeit identisch ist, nimmt<br />

die Subjektivität des menschlichen Bewußtseins an und stellt die Verbindung zur<br />

göttlich legitimierten, weltlichen Machtausübung her.<br />

Vor diesem Hintergrund stellt sich das Islam-System in Gersonides' Technikmodell<br />

als fundamentaler Beispielsfall dar. Auch hier greift zwar das allgemeine Göttliche<br />

nicht in das spezielle Weltliche ein, läßt aber keinen freien Willen und keine<br />

Entwicklung zu, weil es ewig, wahr und eins, aber zugleich auch das Gegenteil ist.<br />

Da zudem das „Siegel“ Muhammad jede weitere Auslegung, geschweige denn<br />

Prophetie verhindert, ist auch die Verbindung zwischen allgemeinem und speziellem<br />

Wissen, zwischen Gott und Welt, damit auch die Gewissenskontrolle von<br />

Drohung und Gewalt sowie nicht zuletzt der Geist selbst und mit ihm Ironie und<br />

Humor abgeschnitten.<br />

Allah kann also das Gegenteil von sich selbst sein. Indem sich zwischen der Ferne<br />

unnahbarer Bewegungslosigkeit und, wie es unter Bezug auf den Koran oft heißt,<br />

der nächsten Nähe der „Halsschlagader“ aufspannt, schillert er zwischen den Polen<br />

einer kosmisch-gnostischen und irdisch-offenbarten Gottheit. Zwingend logisch<br />

470


verlangt er somit auch seinen Anhängern eine Zwitterstellung zwischen Weltflucht<br />

und Weltgestaltung ab.<br />

Der Gnostiker lehnt die Welt als Ganzes ab, weil sie nicht von Gott, sondern einem<br />

Demiurgen erschaffen ist. Über einen göttlichen Samenstrom strebt er die stufenweise<br />

Rückkehr zu der entrückten Gottheit an, wobei es ihm freisteht, die Welt zu<br />

zerstören. Der Muslim lehnt die Welt ab, soweit sie nicht von Allahs Gesetz beherrscht<br />

wird. Somit zerstört er „nur“ den nichtislamischen Teil und reinigt ihn von<br />

ungläubigen Menschen, um ihn mit Allahs Gemeinschaft zu füllen.<br />

Um dies zu erreichen, besteht Allah auf einer biologisch bestimmten Frau und<br />

einem maximierten Samenstrom, den er über einen privilegierten Mann sicherstellt.<br />

Als Kämpfer und Befruchter ist der männliche Einzelmuslim nicht nur Stellvertreter<br />

Allahs in der Familie, sondern kann als das männliche Prinzip auf Erden<br />

auch als „biologischer Sohn Gottes“ gesehen werden. In diesem Sinne interpretiert<br />

der Theologe Al-Ghazali die Sexualität als göttlich geschenkten „Apparat“, der<br />

unter männlicher Kontrolle die Vermehrung der Umma antreibt. Wir haben über<br />

das Thema in den letzten beiden Folgen dieser Zeitschrift ausführlich referiert.<br />

Der Zwittergott zwischen Kosmos und Mensch verlangt ein Reinigungsopfer, das<br />

die Welt aus ihrem provokant unreinen Zustand befreit und in die eigentliche Welt<br />

und Wirklichkeit, so wie sie sein soll, also in die reine Gemeinschaft Allahs, umwandelt.<br />

Diese übergeschichtliche Forderung verwirklicht sich in den geschichtlichen<br />

Einrichtungen des Djihad (Hl. Krieg) und der Dhimma (Verhältnis zu Juden<br />

und Christen), die latent bestehen und immer dann akut werden, wenn es die aktuellen<br />

Umstände erforderlich machen oder begünstigen.<br />

Die Geschichte zeigt, daß Djihad und Dhimma automatisch aufleben, sobald sich<br />

die Kräftewaage zugunsten des Islam neigt, unabhängig davon, ob der Islam stark<br />

oder die Gegenseite schwach wird. Insofern versteht sich, daß die Befreiung vom<br />

Unglauben eine Weltpflicht ist, die sich nicht nur auf das Islamland, sondern besonders<br />

auch auf das Noch-Nicht-Islamland erstreckt. Darauf deutet allein schon<br />

dessen offizielle Bezeichnung „Kriegsland“ hin.<br />

Daraus ergibt sich die spezifische Bedeutung des „Märtyrers“ (arab.: = shahid), die<br />

sich in völligen Gegensatz zum jüdisch-christlichen Begriff stellt. Der „Shahid“ ist<br />

ein Gläubiger, der im „Djihad“, im Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen stirbt.<br />

Es ist leicht einsehbar, daß die übergeschichtliche Logik des Islamsystems dem<br />

Märtyrer einen hohen Stellenwert einräumen muß. Indem er Allah sein Leben<br />

opfert, geht er ins Paradies ein, während die Ungläubigen, ob getötet oder eines<br />

natürlichen Todes gestorben, die Hölle erwartet.<br />

Ihre Bedrohungslage unter muslimischer Herrschaft hat Christen und Juden fortlaufend<br />

gezwungen, die Frage des Märtyrertums zu prüfen, wobei sich ihre theologischen<br />

und traditionellen Unterschiede verstärkten. Während die Christen weitgehend<br />

an dem ihnen vorgeschriebenen Prinzip des Duldens und Leidens festhielten,<br />

begannen die Juden – regional unterschiedlich – die Bekenntnispflicht pragmatischer<br />

auszulegen.<br />

Ohnehin weit geringer an Zahl, blieb ihnen zwischen Tod oder Glaubensverleugnung<br />

kein gangbarer Ausweg, wobei zwei starke Motive Pate standen. Nicht nur<br />

471


wies ihre Religion strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Islam auf; sie waren zudem<br />

mit zwei Feindschaften konfrontiert, der muslimischen und der „christlichen“.<br />

Maimonides verfaßte daher ein Gutachten, dem zufolge die Verleugnung und<br />

Scheinkonversion auf den Islam beschränkt war.<br />

In bezug auf die Christen blieb nur die Alternative, Folter und letztlich den Tod auf<br />

sich zu nehmen. Auch wenn beide Optionen offen waren, gab es keine wirkliche<br />

Wahl, weil ein Meineid nur auf Muhammad möglich war. Nach dieser Lesart<br />

konnte er zwar der Prophet Allahs, nicht aber Jesus der Sohn Gottes sein. Solches<br />

erschien nachvollziehbar, denn nach einem Jahrtausend der „Jesusmörder“, als<br />

welche die christliche Propaganda die Juden diffamierte, konnte man von ihnen<br />

kaum mehr Loyalität erwarten.<br />

An Allahs Zeitfunktion hat sich natürlich auch acht Jahrhunderte später nichts<br />

geändert. Nach wie vor ist der Gott der Muslime damit beschäftigt, jeden Moment<br />

die Welt bis in die kleinste Facette, bis in jede Elektronenbewegung neu zu schöpfen.<br />

Es hat sich eine ganze Zunft von Gelehrten gebildet, die unter Nutzung der<br />

Evolutionslehre und des Mutation-Selektion-Prinzips zu beweisen suchen, daß der<br />

Fortschritt der Welt schon im Koran und damit im Schöpfungsplan Allahs angelegt<br />

ist. Die dabei auftretenden Mühseligkeiten könnten sie sich jedoch ersparen, denn<br />

längst erhalten sie Schützenhilfe von völlig unerwarteter Seite, der westlichen<br />

Moderne selbst. Deren fortlaufende Spezialisierung und Technisierung hat eine<br />

kognitive Auflösung, eine Zersplitterung der Wahrnehmung mit sich gebracht, die<br />

sich mit der Wahrnehmung der Muslime verähnlichen kann.<br />

Das Verschwinden der christlichen Identität, gepaart mit der modernen, pluralistischen<br />

Säkularisierung und dem Punktdenken eines überbordenden Konsumismus,<br />

ist nicht nur kompatibel mit dem Prinzip der Momentschöpfung, sondern stellt sich<br />

aus muslimischer Sicht als Beweis der Weisheit Allahs dar. Je zersplitterter das<br />

momentgesteuerte, westliche Bewußtsein wird, desto deutlicher wird es auch Teil<br />

der Momentschöpfung, die sich in islamischem Sinne gestalten läßt. Mit anderen<br />

Worten: Islamische Momentschöpfung und moderner Momentismus werden auf<br />

eine Weise kompatibel, welche die laufende Islamisierung in einen Strukturwandel<br />

von Weltbildformat ausweiten kann.<br />

472<br />

Der Offene Brief der 138 Imame an Papst Benedikt XVI.<br />

Die Wahrnehmungsatome, aus denen sich Allahs Momentwelt einerseits und die<br />

westliche Konsumwelt andererseits zusammensetzen, sind wesentlich identisch,<br />

nur mit dem entscheidenden Unterschied, daß Allah einen Zusammenhang anbietet,<br />

während er der westlichen Wahrnehmung entgleitet. Insofern gibt es keinen<br />

Widerspruch zwischen einer teilweise islamwidrigen Schöpfung und der Allmacht<br />

Allahs. Denn da er schaffen kann, wie er will, und dabei täuschen kann, wen er<br />

will, und zudem seine Machtfelder so leicht zu besetzen sind, entstehen Weltbilder,<br />

an deren Zustandekommen auch die muslimischen Machthaber und ihre westlichen<br />

Dialogpartner ständig mitwirken.<br />

Vor diesem Hintergrund ist nun abschließend der Offene Brief der 138 Imame an<br />

Papst Benedikt XVI. vom Oktober 2007 zu betrachten. Er bezieht sich auf die Liebe


zur Einheit Gottes und die Liebe zum Nächsten, die nach Ansicht der Autoren<br />

beide Religionen verbinden und auf der Basis der beiden ersten Gebote eine geeignete<br />

Grundlage für ein „gemeinsames Wort“ (common word) und damit auch<br />

einen erweiterten Friedensdialog bilden sollen.<br />

Wir können uns kurz fassen, denn gemäß dem, was wir oben ausgeführt haben,<br />

wäre es nun an der Zeit, das Grundsatzthema der „Beigesellung“ zur Sprache zu<br />

bringen. Davon ist im Offenen Brief der 138 allerdings keine Rede. In bezug auf<br />

die Juden und Christen, vorliegend die „Schriftbesitzer“, beschränkt man sich auf<br />

Koran 3/64, wo die Andersgläubigen aufgefordert werden, mit den Muslimen<br />

Allah anzubeten, oder zumindest anzuerkennen, daß die Muslime die wahrhaft<br />

Gottergebenen sind.<br />

Ein „gemeinsames Wort“, das seinen Namen verdient, hätte die Koranstellen ansprechen<br />

müssen, welche die Fundamentalkritik und antagonistische Lebensmitte<br />

des Islam enthalten: die Trinität mit der Gottessohnschaft Jesu und dem Heiligem<br />

Geist als Gnadenweg zur exklusiven Beziehung des Menschen zu Gott: „Wahrlich,<br />

das sind Ungläubige, die sagen, Gott (Allah) sei Christus, der Sohn Marias (5/17,<br />

/72) ... Ungläubig sind diejenigen, die sagen: ‚Gott ist einer von dreien’ (/73) ...<br />

Wer Allah irgendein Wesen zugesellt, den schließt Allah vom Paradiese aus, und<br />

seine Wohnung wird das Höllenfeuer sein“ (/72).<br />

Die Aufregung um letztere Aussage war gänzlich überflüssig, denn weder damals,<br />

noch heute, noch über die ganze Geschichte hinweg hat jemals irgendjemand versucht,<br />

Allah etwas hinzuzufügen, geschweige denn ihn zum Vater Jesu zu machen.<br />

Der ist aus muslimischer Sicht zwar ein Prophet, aber eben nur Prophet, der nicht<br />

nur das Feld für Muhammad bereiten, sondern auch im Endgericht die Muslime<br />

von den Christen befreien soll und selbst zum Islam konvertiert.<br />

Die koranische Frage, ob er die Menschen aufgefordert habe, ihn zu vergöttlichen<br />

(5/116), verneint Jesus und bezieht als „geschaffen, nicht gezeugt“ (43/60) die<br />

exakte Gegenposition zum nizäischen Dogma seiner „gezeugten, nicht geschaffenen“<br />

Göttlichkeit. So bleibt nach wie vor alles beim koranischen Alten: „Er (Allah)<br />

ist Gott, ein Einziger, durch und durch. Er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt<br />

worden, und keiner ist ihm ebenbürtig“ (5/112).<br />

Den Eindruck dogmatischer Unbeweglichkeit, den das Muslimpapier dem Leser<br />

unweigerlich aufdrängt, brachte der römische Oberrabbiner Riccardo di Segni auf<br />

seine Weise auf den Punkt: „Wenn Juden in dem Dokument erwähnt werden, dann<br />

immer nur in Klammern, als ginge es da um etwas Abstraktes, Archäologisches“<br />

(Il Foglio, 24.10.07). Überdies könne man den Eindruck gewinnen, die Muslime<br />

hätten einen Marketing-Kurs durchlaufen, um sich für den Wettbewerb der Religionen<br />

fit zu machen. Das ändere jedoch kaum etwas am fassadenhaften Charakter<br />

des Offenen Briefes, geschweige denn am Problem des islamischen Fundamentalismus.<br />

Beim zweiten Punkt ihres Briefes, der Nächstenliebe, versäumen die Imame nicht,<br />

auf die wichtige Prophetenrolle Jesu zu verweisen, verschweigen allerdings eines<br />

der Fundamente islamischen Selbstverständnisses. „Keiner trage des anderen Last“<br />

lautet die in Koran und Tradition mehrfach wiederholte Grundregel, wenn es um<br />

473


die Frage des „Nächsten“ geht. Abgesehen davon, daß es im Islam kein Gegenstück<br />

zur Bergpredigt gibt, weil es Muhammads Gegenethik allzu deutlich hätte<br />

hervortreten lassen, wäre hier die Gelegenheit, eben jene theologischen, ethischen<br />

und nicht zuletzt politischen Diskrepanzen anzusprechen. Papst Benedikt hält solches<br />

für unabdingbar und die Offenheit für eine der wichtigsten Bedingungen<br />

überhaupt:<br />

„Versuchen wir, uns das durch ein paar praktische Fragen deutlich zu machen.<br />

Wird jemand deshalb selig und von Gott als recht erkannt werden, weil er den<br />

Pflichten der Blutrache gewissenhaft nachgekommen ist? Weil er sich kräftig für<br />

und im „Heiligen Krieg“ engagiert hat oder weil er bestimmte Tieropfer dargebracht<br />

hat? Oder weil er rituelle Waschungen und sonstige Observanzen eingehalten<br />

hat? Weil er seine Meinungen und Wünsche zum Gewissensspruch erklärt und<br />

so sich selbst zum Maßstab erhoben hat? Nein, Gott verlangt das Gegenteil: das<br />

innere Wachwerden für einen stillen Zuspruch, der in uns da ist und uns aus den<br />

bloßen Gewohnheiten herausreißt auf den Weg zur Wahrheit; Menschen, die ‚hungern<br />

und dürsten nach Gerechtigkeit’ – das ist der Weg, der jedem offensteht; es ist<br />

der Weg, der bei Jesus Christus endet“ (Ratzinger, Jesus von Nazareth, 123).<br />

Es ist eben dieses „innere Wachwerden“, das uns zwar aus den Gewohnheiten<br />

herausreißt, aber nur dann „auf den Weg der Wahrheit“ führt, wenn das „gemeinsame<br />

Wort“ in der angemessenen Offenheit geführt wird. Der Brief der 138 betont<br />

ein wenig zu oft, daß man Allah „keinen Partner zuschreiben“ sollte, und er erwähnt<br />

ein wenig zu wenig, daß es „Nächstenliebe“ im Islam nicht gibt. Daran<br />

ändert auch die Glaubenspflicht des Almosengebens (Zakat) wenig. Nächstenliebe<br />

im christlichen Sinne konnte der Islam nicht hervorbringen, weil sie erst mit Christus<br />

– als Gottmensch, nicht als Prophet – in die Welt kam, was wiederum erklären<br />

mag, warum sein Reich nicht von dieser Welt ist.<br />

In einer Zeit, in der unentwegt von gegenseitigem „Respekt“ und „Anerkennung“<br />

der Religionen die Rede ist, wäre zu erwarten gewesen, daß die 138 Imame zumindest<br />

verbal von dem Kenntnis genommen hätten, was den Christen wichtig ist.<br />

Dagegen dienen alle Zitate – nicht nur aus dem Koran, sondern auch von Jesus<br />

selbst bzw. aus dem Neuen Testament – dem einzigen Zweck, die Verehrung Gottes<br />

im Sinne eines unverkürzten Allah zu gewährleisten.<br />

An keiner Stelle läßt der Text die Absicht vermuten, den Anderen in seinem Sosein<br />

wahr-, geschweige denn anzunehmen. Wenn man, wie unentwegt betont wird, den<br />

friedlichen Dialog wirklich führen will, und Jesus auch für die Muslime eine so<br />

große Rolle spielt, muß umso mehr verwundern, daß man weiterhin jede Erwähnung<br />

der Kreuzigung, der Auferstehung, der Erlösung peinlichst meidet. Es ist also<br />

nach wie vor die „Beigesellung“, die zu bekämpfen das theologische Zentrum<br />

islamischer Identität ausmacht und dem „Dialog“ fundamental im Wege steht.<br />

Eben jener Weg ist jedoch wiederum Jesus, dessen Kernsatz – „Ich bin der Weg,<br />

die Wahrheit und das Leben“ – die Lebensmitte eines jeden gläubigen Christen<br />

bildet. Die Frage für den „Dialog“ lautet – notwendigerweise etwas verdreht: Wie<br />

wenig Respekt braucht ein Nichtchrist, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen?<br />

474


Da sich das Jesus-Prinzip den Menschen zuwendet und diametral gegen die Hybris<br />

weltlicher Macht stellt, hat es zu allen Zeiten – auch in der Kirche selbst –den<br />

Widerspruch der Eliten herausgefordert. Mit der persönlichen Beziehung zu Gott<br />

hatte sich unaufhaltsam auch die Emanzipation von der Macht in Gang gesetzt.<br />

Diesen zentralen Aspekt, den die globale Moderne in immer weitere Ferne rückt,<br />

ruft Papst Benedikt ins Gedächtnis zurück: „Der Kampf um die Freiheit der Kirche,<br />

der Kampf darum, daß Jesu Reich mit keinem politischen Gebilde identisch sein<br />

kann, muß alle Jahrhunderte geführt werden. Denn der Preis für die Verschmelzung<br />

von Glauben und politischer Macht besteht zuletzt immer darin, daß der<br />

Glaube in den Dienst der Macht tritt und sich ihren Maßstäben beugen muß“ (ebd.,<br />

69).<br />

Diese Konstellation ist offenbar auch in unserer Zeit wieder dabei, sich vermehrt<br />

zu bewahrheiten, allerdings ausgestattet mit einem zusätzlichen Phänomen. Zwar<br />

hat sich im Zuge der Säkularisierung der christliche Glaube zunehmend der politischen<br />

Macht und dem Druck der Moderne gebeugt, doch scheint sich die politische<br />

Macht nun ihrerseits dem muslimischen Glauben und dem Druck der Vormoderne<br />

zu beugen.<br />

Dieser eigentümlich asymmetrische Strukturwandel mag nach acht Jahrhunderten<br />

den großen Islam-Mystiker Ibn al-Arabi bestätigen, der es wegen eines einzigen<br />

Satzes ablehnte, sich mit der Metaphysik des Aristoteles zu beschäftigen: „Wir<br />

müssen über die Art und Weise nachdenken, wie es einen Gott in der Welt zu<br />

setzen gilt.“ Damals wie heute ging und geht es um die lupenreine Erhaltung Allahs,<br />

die Teilhabe an der Macht durch Unterwerfung vermittelt. Über den Hebel<br />

des Geldes werden bekanntlich alle Inhalte austauschbar, so daß ein wachsender<br />

Allah-Anteil am neuen Gottesbild dem Islam durchaus den Anstrich geben könnte,<br />

die Religion der Globalisierung zu sein.<br />

Dr. Hans-Peter Raddatz, Orientalist, Volkswirt und Systemanalytiker, ist Ko-<br />

Autor der „Encyclopaedia of Islam“ und Autor zahlreicher Bücher über den<br />

Islam.<br />

475


Besprechungen<br />

Grundlagen der Caritas<br />

Nicht zuletzt seit der Veröffentlichung<br />

der Enzyklika „Deus Caritas Est“ von<br />

Benedikt XVI. hat die Bedeutung der<br />

sozialen Arbeit in der Kirche eine größere<br />

Aufmerksamkeit erfahren. Diakonie als<br />

eine der drei Grunddienste von Kirche<br />

kann spätestens seitdem mit neuem<br />

Selbstbewußtsein die ekklesiologische<br />

Relevanz des eigenen Handelns in den<br />

Raum von Kirche und Gesellschaft entwickeln.<br />

In diesem Zusammenhang ist es<br />

sinnvoll, die caritastheologischen Perspektiven<br />

diakonischen Handelns in der<br />

Kirche zu erforschen und Impulse für<br />

eine Caritastheologie zu formulieren.<br />

Dieser Aufgabe kommt eine dreibändige<br />

Buchreihe nach, die mit Auszügen und<br />

Ergebnissen von Diplom- und Promotionsarbeiten<br />

am Caritaswissenschaftlichen<br />

Institut der Albert-Ludwigs-Universität,<br />

Freiburg im Breisgau, die Grundlagen für<br />

die fachwissenschaftliche Reflexion<br />

bietet:<br />

Jan-Christoph Horn / Heinrich Pompey<br />

(Hg.): „Die Liebe Christi drängt<br />

uns“ (2 Kor 5,14) Caritaswissenschaftliche<br />

Forschung für caritativ–<br />

diakonisches Engagement. Drei Bände.<br />

Verlag Books on Demand, Norderstedt,<br />

2005 f., 687 S.<br />

Die drei Bände loten mit Ihren jeweiligen<br />

Schwerpunkten das umfangreiche Themenfeld<br />

caritaswissenschaftlicher Forschung<br />

aus und legen entweder nicht,<br />

oder nur eingeschränkt publizierte Texte<br />

zu verschiedenen Themenschwerpunkten<br />

vor. Band 1 widmet sich den Impulsen<br />

der Caritastheologie für die caritative<br />

Diakonie. Dabei bietet er Grundlegungen,<br />

Orientierungen und „Aufmerkpunkte“<br />

(R.B. Mate, M. Zimmer, S. Dybowski, J.-<br />

C. Horn, Sr. P. M. Grünert OSF, J. Diekes,<br />

A. Schirmer).<br />

476<br />

Auf je unterschiedliche Weise widmen<br />

sich diese i.a. systematisch-theologischen<br />

Texte der Reflexion von Caritas in trinitätstheologischen,<br />

ekklesiologischen und<br />

diakonisch-pastoralen Zusammenhängen.<br />

Dabei wird deutlich, daß das Ziel von<br />

Caritas nach Auffassung der Autor(inn)en<br />

„nicht die Beseitigung der Not, sondern<br />

die liebende Annahme der Leidenden“<br />

(Mate, S. 30) sein soll. Unter dieser Maßgabe<br />

werden innertrinitarische ebenso<br />

wie innerekklesiologische und gesamtgesellschaftliche<br />

Fragestellungen aufgeworfen.<br />

Daher zieht ein christliches Glaubensverständnis<br />

mit der Perspektive der<br />

Liebe zugleich die Konsequenz der Freiheit<br />

nach sich (Dybowski, S. 75). Der<br />

Zusammenhang der theologischen Reflexion<br />

mit dem praktischen Handeln wird<br />

in der Caritasarbeit aufgewiesen: „Glauben<br />

– das meint zuallererst mal nichts<br />

anderes, als mit Mut, Kraft und Vertrauen<br />

arbeiten zu können.“ (Horn, S. 101). An<br />

diesen sowie weiteren Stellen wird mithin<br />

kenntlich, daß die theologische Reflexion<br />

unmittelbare Relevanz für das praktische<br />

Handeln hat – die Caritas der Kirche<br />

bestimmt auf praktische Weise ihren<br />

theologischen Ort.<br />

Im 2. Band der Reihe kommen Caritaspastoral<br />

sowie Pastoral der Caritas zur<br />

Sprache. Dabei werden Studien zur Caritas<br />

der Gemeinde und zur caritativen<br />

Haltung in der professionellen Wohlfahrtspflege<br />

vorgelegt (J.-C. Horn /H.<br />

Pompey, F.-A. Frech, M.Jäggi, A. Mähler,<br />

T. Rudolph, R. Kaufmann, F.-U..<br />

Neubert, B. Adelmann, B. Flosdorf, R.<br />

Haderlein).<br />

Hier sind verschiedene Studien versammelt,<br />

die sich mit der Reflexion praktischen<br />

Handelns innerhalb der Diakonie<br />

befassen. Dabei werden sowohl historische<br />

(z.B. Jäggi), organisationale (etwa<br />

Mähler, Frech) oder auch auf unmittelbare<br />

Handlungsfelder bezogene Texte (wie<br />

bei Neubert, Adelmann oder auch Hader-


lein) vorgelegt. Die Autorinnen und<br />

Autoren machen in diesem Buch deutlich,<br />

wie unterschiedliche Logiken in der<br />

Praxis der Caritas zusammentreffen und<br />

damit deren inkarnatorische Gesamtlogik<br />

ausbilden. So werden die historisch gewachsenen<br />

Beweggründe für die Erneuerung<br />

des Diakonats ebenso vorgestellt<br />

wie die verschiedenen Perspektiven eines<br />

ökonomischen Handlungszwanges, der<br />

sich dem caritativen Auftrag entgegenzustellen<br />

scheint und dabei dennoch deutlich<br />

macht, daß diese verschiedenen<br />

Plausibilitäten in die Notwendigkeit<br />

christlichen Handelns um der Nächsten<br />

willen münden. Nicht zuletzt in den<br />

Studien zu einzelnen Themenfeldern wie<br />

Kindertagestätten, Burn-out-Problemen,<br />

Pflege oder Sterben werden die pastoralen<br />

Akzente caritativen Handelns vorgestellt<br />

und laden zur Reflexion nicht zuletzt<br />

diejenigen ein, welche sich in diesen<br />

Handlungsfeldern oder aber in den pastoralen<br />

Strukturen mit diesen Fragestellungen<br />

befassen.<br />

Im Band 3 wird der Impuls „Geht hinaus<br />

in die Welt“ (Mk 16,15) caritastheologisch<br />

aufgegriffen. Damit wird Caritaswissenschaft<br />

in der Welt und für die Welt<br />

reflektiert und solcherart in ihren internationalen<br />

sowie interdisziplinären Bezügen<br />

zum Ausdruck gebracht (H.M. Álvarez.<br />

López, M. Banakh, K. Kutznetsov, J.-P.<br />

Schneider, M. Gsöls, A. Englaender, P.<br />

Abel).<br />

Unter multinationaler Perspektive werden<br />

hier die Erfahrungen aus Lateinamerika,<br />

der Ukraine, Rußland sowie Frankreich<br />

vorgestellt und in den Gesamtzusammenhang<br />

caritaswissenschaftlicher Theologie<br />

gestellt. Im Diskurs der verschiedenen<br />

Disziplinen kommen die aus den vorhergehenden<br />

Bänden (1 und 2) resultierenden<br />

theologischen Gehalte zudem mit<br />

ökonomischen, juristischen sowie organisationstheoretischen<br />

Fragestellungen in<br />

Zusammenhang. Damit wird kenntlich,<br />

daß die vorhergehenden theologischen<br />

Erörterungen mit den unmittelbaren<br />

Notwendigkeiten des Organisationsaufbaus<br />

und der Regelstrukturen in Caritasverbänden<br />

und -einrichtungen in Zusammenhang<br />

zu bringen sind. Durch die<br />

Ausweitung des Blickwinkels auf internationale<br />

Bezüge werden ferner hilfreiche<br />

Perspektiven durch die Relativierungen<br />

der bundesdeutschen „Notwendigkeiten“<br />

möglich.<br />

Den Autorinnen und Autoren ist durch<br />

dieses dreibändige Werk ein detailgetreuer<br />

und perspektivenreicher Einblick in die<br />

Wirklichkeit der praktischen Caritas<br />

gelungen. Der vorliegende Band empfiehlt<br />

sich daher ebenso sehr für den<br />

Einstieg in fachwissenschaftliche Untersuchungen<br />

wie für die Diskussion konkreter<br />

Fragestellungen aus dem praktischen<br />

Alltag der Caritasverbände und -<br />

einrichtungen.<br />

Damit liegt ein Werk vor, das sich ebenso<br />

sehr für Fachwissenschaftler(innen) wie<br />

Praktiker(innen) eignet und dem Anliegen<br />

des Adressaten, dem Jubilar Heinrich<br />

Pompey, zu seinem 70. Geburtstag alle<br />

Ehre macht. Seinem eigenen Ansatz,<br />

Theologie und praktische Liebestätigkeit<br />

der Kirche in einen reflexiven Bezug zu<br />

setzen, wird durch dieses dreibändige<br />

Werk besonders entsprochen. Damit ist<br />

dem Dialog von Caritaswissenschaft mit<br />

ihren Bezugswissenschaften – Sozialpädagogik,<br />

Sozialarbeitswissenschaft, Soziaphilosophie<br />

u.ä. mehr – der Weg geebnet,<br />

um die Wechselbezüge der verschiedenen<br />

Diskursplausibilitäten auf Zukunft<br />

hin enger miteinander in Beziehung zu<br />

bringen. Dies stellt sicher eine ebenso<br />

anspruchsvolle wie anregende Perspektive<br />

dar.<br />

Gerechter Sozialstaat<br />

Anselm Böhmer<br />

Man kann es kaum noch ertragen, von<br />

Politikern, aber auch von kirchlichen<br />

477


Kreisen zu hören und zu lesen, daß unser<br />

Sozialstaat reformiert werden, die soziale<br />

Gerechtigkeit aber bewahrt werden müsse.<br />

Aber begründete und realisierbare<br />

Konzepte werden nur in verschwommenen<br />

Andeutungen, auch wenn sie populär<br />

erscheinen, angeboten. Jetzt hat endlich<br />

einmal ein junger Sozialethiker, der in<br />

Theologie und in Wirtschaftswissenschaft<br />

hervorragend ausgewiesen ist, eine umfassende<br />

Arbeit vorgelegt, die beides<br />

leistet: Theoretische Begründung und<br />

praktische Anwendbarkeit:<br />

Elmar Nass: Der humangerechte Sozialstaat.<br />

Ein sozialethischer Entwurf<br />

zur Symbiose aus ökonomischer Effizienz<br />

und sozialer Gerechtigkeit. Mohr<br />

Siebeck, Tübingen 2006, 323 S.<br />

Die sozialökonomische Dissertation ist in<br />

den Untersuchungen zur Ordnungstheorie<br />

und Ordnungspolitik des Walther-<br />

Eucken-Instituts erschienen, von keinem<br />

geringeren Ökonomen als Joachim Starbatty<br />

in der FAZ lobend besprochen –<br />

was bereits für die wirtschaftswissenschaftliche<br />

Kompetenz des Theologen<br />

spricht, eine heute leider selten gewordene<br />

Doppelqualifikation. Die Arbeit, obwohl<br />

von bewundernswerter Stringenz<br />

und durchsichtiger Gliederung, die den<br />

roten Faden der Gedankenentwicklung<br />

immer wieder aufgreift, wiederholt und<br />

weiterführt, ist dennoch nicht immer ganz<br />

leicht zu lesen, verlangt gewisse Kenntnisse<br />

in Ethik und Ökonomie, die interessierten<br />

Laien wohl fehlen. Eine staunenswerte<br />

Belesenheit vor allem in der<br />

gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Literatur (besonders z.B.<br />

Buchanan, Hayek, Homann, Kersting,<br />

Nozick, Nussbaum, Rawls, Sen), aber<br />

auch in den philosophisch-ethischen<br />

Klassikern wie Aristoteles, Thomas,<br />

Kant, die immer wieder Referenzpunkte<br />

darstellen.<br />

Ausgangspunkt ist der liberale Sozialstaat,<br />

in dem Freiheitsrechte die Grundla-<br />

478<br />

ge bilden. Aber diese müssen in eine der<br />

Menschenwürde verpflichtete rechtsstaatliche<br />

Sozialordnung mit juristischer gegenseitiger<br />

Verpflichtung der Mitglieder<br />

eingebettet sein, wodurch Eingriffe in die<br />

Verteilung des Marktes legitimiert werden.<br />

Nass geht immer von den liberalen<br />

Freiheitsrechten aus, setzt sich vornehmlich<br />

mit der individualistischen, utilitaristischen,<br />

auf Eigennutz beruhender und<br />

daraus erwachsender Kooperationsbereitschaft<br />

und dem Vertragsmodell der Neoklassik<br />

auseinander, deren Grundannahmen<br />

er zwar z.T. anerkennt, aber ohne<br />

deontologisch verankertes, in der Natur<br />

des Menschen gelegenes Wir-Gefühl für<br />

unzureichend, ja widersprüchlich hält.<br />

Man wird in der Literatur lange suchen<br />

müssen, bis man eine so detaillierte, an<br />

den Kriterien von Begriffsklarheit, Konsistenz,<br />

Kohärenz und realen Implementierbarkeit<br />

gewonnene Prüfung von Sozialstaatstheorien<br />

findet. Allerdings ist den<br />

hinter dem heutigen Verteilungsstaat<br />

offen oder verborgen tragenden sozialistischen<br />

Gedanken keine ausführliche Diskussion<br />

gewidmet; der Diskussionspartner<br />

sind anspruchsvollere, liberale Kooperationsmodelle<br />

– Marx, Keynes, Blüm,<br />

Lafontaine spielen hier keine Rolle. Interessant<br />

ist, daß durchgängig immer wieder<br />

auf das Pareto-Kriterium Bezug genommen<br />

wird. Nass ist in seiner Arbeit<br />

weit entfernt vom sozialutopischen Verteilungs-,<br />

Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat,<br />

aber mit Argumenten, und er setzt<br />

andererseits gegenüber dem rationalen<br />

Individualismus, besonders amerikanischer<br />

Provenienz auf „Humangerechtigkeit“<br />

und „Befähigungsfreiheit“ zur sozialen<br />

und solidarischen Verantwortung im<br />

„humangerechten Sozialstaat“ (die Terminologie<br />

scheint von Nass kreiert zu<br />

sein). Es wird eine Symbiose von wirtschaftlicher<br />

Effizienz und Humanität<br />

entwickelt, bei der Effizienz ein Dienstwert<br />

der Humanität ist und nicht umgekehrt.<br />

Kollektivismus und normativer


Individualismus werden gleichermaßen<br />

verworfen, aber die Befähigung zum<br />

Wir-Gefühl basiert auf einem „verstehenden<br />

methodologischen Individualismus“,<br />

welcher der Gruppenrationalität des<br />

Menschen folgt, nach der der Mensch erst<br />

in der Kooperation seine individuelle<br />

Leistung entfaltet. „Der humangerechte<br />

Ansatz definiert in Anlehnung an die<br />

aristotelische Tradition soziale Gerechtigkeit<br />

solidaritätsgemeinschaftlich als<br />

grundrechtlichen Anspruch jedes Individuums<br />

auf die der Natur des Menschen<br />

gemäße positive Befähigungsfreiheit, die<br />

als realisierte Humanität sozialen Frieden<br />

auf der Grundlage eines deontologisch<br />

motivierten Wir-Gefühls und Effizienz<br />

als daraus abgeleitete Optimierung individueller<br />

Verantwortungs- und Leistungsbereitschaft<br />

garantiert.“ (S. 274) Die<br />

naturrechtliche Auslegung der Humanität<br />

und die Motivation zum Wir-Gefühl wird<br />

hier aber nicht nur wie so oft sonst behauptet,<br />

sondern auch empirisch untermauert.<br />

Nass führt hier Adam Smith<br />

weiter. Damit wird das individualistische<br />

Vertragskonzept verworfen. Sozialpolitische<br />

Konsequenzen und eine Bezugnahme<br />

zur katholischen Soziallehre beschließen<br />

das außergewöhnliche Buch<br />

Benedikt XVI.<br />

Hans Joachim Türk<br />

Der Titel ist so anziehend wie der mit der<br />

Festschrift Geehrte. Die ehrende Institution,<br />

die Gustav-Siewert-Akademie in<br />

Weilheim-Bierbronnen im südlichen<br />

Schwarzwald, ist das Lebenswerk der<br />

Mitherausgeberin Alma von Stockhausen,<br />

einer tapferen Dame und Kämpferin,<br />

Professorin, Gründerin und nach wie vor<br />

Seele dieser privaten, staatlich anerkannten<br />

wissenschaftlichen Hochschule, in der<br />

philosophisch-wissenschaftlicher Eros<br />

und mütterliche Sorge Generationen von<br />

Studenten im katholischen Geist hat<br />

erziehen und heranbilden lassen.<br />

Die göttliche Vernunft und die inkarnierte<br />

Liebe. Festschrift der Gustav-<br />

Siewert-Akademie zum 80. Geburtstag<br />

Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI,<br />

herausgegeben von Abrecht Graf von<br />

Brandenstein-Zeppelin, Alma von<br />

Stockhausen und J. Hans Benirschke,<br />

Gustav-Siewert-Akademie, Weilheim-<br />

Bierbronnen 2007, 721 S.<br />

An dem Buch, einem Sammelband, wie<br />

es sich für eine Festschrift gehört, imponiert<br />

erst einmal der Umfang. Die 721<br />

Seiten teilen sich 37 Autoren. Das verführt<br />

den Rezensenten zur Ungerechtigkeit.<br />

Unmöglich, allen gerecht zu werden.<br />

Im ersten, der Theologie gewidmeten Teil<br />

des Buches – mit gleich zwei Beiträgen<br />

zur Enzyklika Benedikt XVI. „Deus caritas<br />

est“ (Heinrich Pompey, Lothar Roos)<br />

steht Christus im Mittelpunkt. Manfred<br />

Haukes Eingangsbeitrag gilt zwar der<br />

Mitwirkung Mariens an der Erlösung,<br />

stellt aber gerade die christologische<br />

Perspektive heraus, unter der die katholische<br />

Lehrentwicklung die Gottesmutter<br />

stets betrachtet hat. Joachim Piegsa richtet<br />

das Augenmerk auf „Christus als<br />

Mitte der Moral“ und Anton Ziegenaus<br />

auf „Christi Auferstehung: Anbruch der<br />

Hoffnung für die ganze Welt.“ Daß Waltraud<br />

Maria Neumanns Beitrag „Trinitas<br />

– Filioque – Quicumque“, der die<br />

Christologie in der Trinitätslehre beheimatet,<br />

dann unter „Philosophie“ erscheint,<br />

leuchtet nicht gleich ein.<br />

In den Abteilungen Philosophie, Naturphilosophie,<br />

Pädagogik und Ökumene<br />

geht das Buch kontroversen Themen<br />

nicht aus dem Weg: Glaube und Vernunft<br />

(Alma von Stockhausen/ Heinrich Beck),<br />

Naturrecht (Berthold Wald/ Wolfgang<br />

Waldstein), Kirche-Kultur-Europa (Leo J.<br />

Elders), Empirie/Naturalismus und Anthropologie<br />

(Horst Waldemar Beck/ Karel<br />

Mácha) und spezieller Schöpfung-<br />

Evolution (Trautemarie Blechschmidt/<br />

Bergund Fuchs) Kosmologie-Quanten-<br />

479


theorie (Ulrich Hoyer/ Milosz V. Lokajicek/<br />

Inge M. Thürkauf), Lebensschutz<br />

(Johanna von Westphalen) und andere<br />

mehr.<br />

Nach einer zeitgeschichtlichen Dokumentation<br />

über Papst, Kirche, Katholiken in<br />

Deutschland 1933-45 im Urteil jüdischer<br />

Zeitzeugen (Konrad Löw) läßt im letzten<br />

Beitrag „Die neue Strahlkraft des Papsttums:<br />

Rom-Köln-Bayern“ Andreas Püttmann<br />

die jüngere deutsche öffentliche –<br />

genauer: veröffentlichte – Meinung Revue<br />

passieren: vor, während und nach den<br />

bewegenden Geschehnissen in Rom in<br />

den letzten Wochen des Pontifikats Johannes<br />

Paul II., seinem Sterben, der<br />

Wahl Benedikt XVI., dem Weltjugendtag<br />

in Köln 2005 und seinem Besuch in der<br />

bayerischen Heimat 2006. Zur Freude des<br />

Verfassers über die neue auch mediale<br />

Strahlkraft des Papsttums in Deutschland<br />

gesellt sich sein kritischer Biß, mit der er<br />

die vorausgehende katholische Zeitgeist-<br />

Propaganda festhält: mit Rossen und<br />

Reitern, Trittbrettfahrern und Wendehälsen,<br />

und mit demoskopischen Befunden.<br />

Da kennt sich der Autor offenkundig aus.<br />

480<br />

Hans Thomas<br />

Deutschland – aus Klostersicht<br />

Muß man eigentlich einen Bestseller<br />

noch eigens vorstellen? Es ist zumindest<br />

reizvoll, wenn sich ein Mönch öffentlich<br />

(und werbewirksam!) zu ketzerischen<br />

Gedanken bekennt, und dies auf einem<br />

Gebiet, das nicht mit seinem sonstigen<br />

Tätigkeitsfeld auf den ersten Blick verbunden<br />

zu sein scheint:<br />

Abtprimas Notker Wolf/mit Leo G.<br />

Linder, Worauf warten wir? Ketzerische<br />

Gedanken zu Deutschland, Rowohlt<br />

Taschenbuch Verlag, Reinbek<br />

bei Hamburg 2006 (mittlerweile in 12.<br />

Auflage), 218 S.<br />

Freiheit, darum geht es dem provozierenden<br />

Klostermann in seiner Streitschrift.<br />

Sie sieht er in Deutschland vielfältig<br />

bedroht. Stillstand und Besitzstandsdenken,<br />

staatliche Bevormundung, Neigungen<br />

zum Sozialismus, Einrichten in der<br />

Bequemlichkeit, die Folgen der Achtundsechziger<br />

– immer wieder nutzt Wolf die<br />

Gelegenheit, sich und seinen Landsleuten<br />

den Spiegel vorzuhalten. Er tut dies in<br />

schonungsloser, aber sehr erfrischender<br />

Weise.<br />

Selbst dort, wo man seinen Positionen<br />

und provozierenden Formulierungen<br />

nicht folgen möchte, zwingt er den Leser<br />

(und/oder Hörer seiner zahlreichen Vorträge)<br />

zum kritischen Mitdenken. Es ist<br />

seine Außenperspektive, die so anregend<br />

wirkt. Als Abtprimas des Benediktinerordens<br />

läßt er seine unverkrampften weltweiten<br />

Erfahrungen mit anderen kulturellen<br />

Denkweisen einfließen. Faszinierender<br />

wirkt aber noch die Erschließung des<br />

Potentials benediktinischer Spiritualität<br />

und Ordenskultur für die nachdrücklich<br />

geforderte Neubesinnung. Seine Forderung<br />

nach mehr Eigenverantwortung,<br />

nach mehr Verpflichtung zur Leistungserbringung,<br />

aber auch sein Bekenntnis<br />

zum solidarischen Füreinandereintreten,<br />

gewinnen hier erst ihre wirkliche Kontur.<br />

Manche seiner Kritiker – ihnen erscheinen<br />

z.B. Aussagen zur Kürzung des<br />

Hartz-IV-Regelsatzes als wenig nachvollziehbar<br />

– sollten diese Aussagen im<br />

Kontext der vielen Beispiele aus der<br />

Ordensregel und dem Klosterleben<br />

nochmals nachlesen. Wolf will nicht die<br />

Schwachen weiter schwächen, sondern<br />

sie motivieren und ihnen klare Aufgaben<br />

geben. Hier sieht er Politik und Gesellschaft<br />

gefordert, mehr als das bisher<br />

vorrangig bürokratisch geprägte Übliche<br />

zu tun. Hier läßt er sich auch selbst in die<br />

Pflicht nehmen. Er geht zu den Parteien,<br />

sei es die CSU oder die SPD; selbst beim<br />

Zukunftsforum der FDP findet er aufmerksame<br />

Zuhörer.<br />

Bernd Kettern


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