Homosexual's Film Quarterly - Sissy
Homosexual's Film Quarterly - Sissy Homosexual's Film Quarterly - Sissy
sissy Ausgabe Homosexual’s Film Quarterly zwei · Juni bis August 2009 · kostenlos s Anna & Edith: Der erste deutsche Lesben-Film mit Happy End s Drifter: Überleben am Bahnhof Zoo s Zerrissene Umarmungen: What’s queer about Pedro Almodóvar? s Konservative Anarchisten: Gilbert & George sind sexy s Müßiggänger: Hans Stempel und Martin Ripkens flirten mit Fellini s Jamie Travis: Eine Lady kommt zum Tee s Keith Haring: Der Verführer s Gregor Buchkremer: Bloß kein Betroffenheitskino s Cinema Münster: Schwules Kino s Lady Queer: Zum Tod von Eve Kosofsky Sedgwick
- Seite 2: DER NEUE FILM VON PEDRO ALMODÓVAR
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sissy Ausgabe<br />
Homosexual’s <strong>Film</strong> <strong>Quarterly</strong><br />
zwei · Juni bis August 2009 · kostenlos<br />
s Anna & Edith: Der erste deutsche Lesben-<strong>Film</strong> mit Happy End s Drifter: Überleben am Bahnhof Zoo s Zerrissene Umarmungen:<br />
What’s queer about Pedro Almodóvar? s Konservative Anarchisten: Gilbert & George sind sexy s Müßiggänger: Hans Stempel und Martin<br />
Ripkens flirten mit Fellini s Jamie Travis: Eine Lady kommt zum Tee s Keith Haring: Der Verführer s Gregor Buchkremer: Bloß kein<br />
Betroffenheitskino s Cinema Münster: Schwules Kino s Lady Queer: Zum Tod von Eve Kosofsky Sedgwick
DER NEUE FILM VON PEDRO ALMODÓVAR<br />
ZERRISSENE<br />
UMARMUNGEN<br />
PENÉLOPE CRUZ<br />
LLUÍS HOMAR<br />
BLANCA PORTILLO<br />
JOSÉ LUIS GÓMEZ<br />
RUBÉN OCHANDIANO<br />
TAMAR NOVAS www.zerrisseneumarmungen.de<br />
Kamera: RODRIGO PRIETO A.S.C.,A.M.C.<br />
Musik: ALBERTO IGLESIAS<br />
Schnitt: JOSÉ SALCEDO<br />
Produziert von: ESTHER GARCÍA<br />
Ausführender Produzent: AGUSTÍN ALMODÓVAR<br />
Drehbuch und Regie:<br />
PEDRO ALMODÓVAR<br />
<strong>Sissy</strong> zwei<br />
Unser Titelfoto zeigt Benjamin B. Smith in Jamie Travis’ <strong>Film</strong> Der<br />
traurigste Junge der Welt.<br />
Werden traurige Kinder zwangsläufig homosexuell? Sind Ihnen auch<br />
immer alle Haustiere weggelaufen? Und wie war das überhaupt beim<br />
Sportunterricht – wurden Sie in die Mannschaft gewählt?<br />
Wie man zweifelsohne erkennen kann, können <strong>Film</strong>e durchaus auch<br />
praktische psychologische Fragen stellen. Und in aller Ausführlichkeit<br />
beantworten.<br />
SISSY steigt diesmal tiefer ein in die Diskussion, was überhaupt ein<br />
nicht-heterosexueller <strong>Film</strong> ist. Eben für jene Diskussion, für die die<br />
SISSY hier ein 36-seitiges Forum schafft.<br />
Neben den schon erwähnten traurigen Kindern<br />
stellen wir deutsches Genrekino von Gregor<br />
Buchkremer und den Kampf zweier Frauen<br />
um bessere Arbeitsbedingungen in Anna &<br />
Edith vor. Desweiteren beschäftigen wir uns<br />
mit den leidenschaftlichen Heroinen des Pedro<br />
Almodóvar, dem Graffiti-Pop von Keith Haring<br />
und dem Künstler-Herren-Doppel Gilbert &<br />
George. Wir sprechen mit Sebastian Heidinger<br />
über die heutigen Kinder vom Bahnhof Zoo,<br />
die er in seinem <strong>Film</strong> Drifter getroffen hat.<br />
Hans Stempel und Martin Ripkens erzählen<br />
von ihrem schönsten <strong>Film</strong>moment. Wer will<br />
da noch bei seinen festen Kategorien sexueller<br />
Orientierung bleiben?<br />
Für die, die hierbei den Überblick verlieren,<br />
empfehlen wir als weiterführende Lektüre<br />
die Bücher von Eve Kosofsky Sedgwick. Die<br />
Grande Dame der Queer Theory hat diese Welt der geschlechtsspezifischen<br />
Festlegungen, Schranken und Schubladen am 12. April leider<br />
für immer verlassen. Fühlen uns mit dem Weiterdenken beauftragt<br />
und verbeugen uns tief vor ihrer Leistung – denn ohne sie wäre eine<br />
SISSY nicht denkbar.<br />
Auch wenn Sie alle Ihre Haustiere noch haben sollten, wünschen wir<br />
Ihnen viel Spaß und Inspiration beim Ausflug in die Welten des nichtheterosexuellen<br />
<strong>Film</strong>s!<br />
AB 6. AUGUST IM KINO! 3<br />
vorspann
mein dvd-regal<br />
4<br />
Jamie Travis, <strong>Film</strong>emacher<br />
5<br />
jAMiE TRAViS
kino<br />
EDiTion SALZGEBER<br />
DIE gEDulD<br />
DEr FrAuEn …<br />
von diana näcke<br />
Die erste lesbische <strong>Film</strong>romanze Deutschlands mit Happy-End entstand 1975. Anna und Edith<br />
arbeiten bei der Versicherung und kommen sich im gemeinsamen Kampf gegen Chefs, Ehemänner<br />
und für bessere Arbeitsbedingungen näher. im August startet „Anna & Edith“ wieder im Kino.<br />
Unsere Autorin hat recherchiert, wie es zu diesem Projekt kam und warum es am Ende doch ein<br />
Mann gemacht hat.<br />
s „Man muss nicht betrunken sein, um mit Catherine<br />
Deneuve schlafen zu wollen – egal, welche sexuelle<br />
Orientierung man vorher hatte“, sagte Susan Sarandon<br />
gegenüber der Presse, nachdem die Dreharbeiten zu The<br />
Hunger abgeschlossen waren. Während des Drehs hatte<br />
man ihr vorgeschlagen, sich zu betrinken, um sich vor<br />
der Kamera überhaupt von einer Frau verführen lassen<br />
zu können. Das war 1983, zehn Jahre bevor die <strong>Film</strong>kritikerin<br />
B. Ruby Rich den Begriff „New Queer Cinema“<br />
prägte, weil man auf <strong>Film</strong>festivals plötzlich eine unheimliche<br />
Präsenz queerer <strong>Film</strong>e feststellen konnte, die mit<br />
einem bisher nicht da gewesenem Stolz das Spiel mit den<br />
Identitäten und den klassischen Rollenbildern zelebrierten.<br />
Doch dass homosexuelle Gesten wie eine Ladung<br />
Sprengstoff eine gesamte <strong>Film</strong>produktion aufs Spiel setzen<br />
konnte, war 1983 schon Geschichte.<br />
Zehn Jahre zuvor entstand der weltweit erste Lesbenfilm<br />
unter der Regie der US-Amerikanerin Barbara<br />
Hammer – heute eine der ganz großen Lesbenikonen. Im<br />
selben Jahr schreiben in der Bundesrepublik Deutschland<br />
die beiden Drehbuchautorinnen Cillie Rentmeister<br />
und Cristina Perincioli an einem vom ZDF in Auftrag<br />
gegebenen Drehbuch, dessen Verfilmung zum ersten Mal<br />
lesbische Liebe selbstbewusst und deutlich sichtbar ins<br />
deutsche Fernsehen bringen sollte. Anna und Edith ist<br />
das noch ungeborenen Kind der damaligen Redakteurin<br />
des Kleinen Fernsehspiels, Alexandra von Grote, die<br />
Perinciolis Kurzfilm Für Frauen – Kapitel 1 gesehen und<br />
sich dafür stark gemacht hatte, einen solchen <strong>Film</strong> finanziell<br />
zu unterstützen, den das ZDF 1975 auch als seinen<br />
Beitrag zum Jahr der Frau senden sollte. Diese Entscheidung<br />
der selbst lesbisch lebenden ZDF-Redakteurin ist zu<br />
diesem Zeitpunkt ein kleiner Meilenstein in der Fernsehgeschichte.<br />
Schließlich ist das Frauenbild im <strong>Film</strong> bis in<br />
die 1960er-Jahre hinein hauptsächlich durch männlich<br />
geprägte Rollenklischees bestimmt: die Frau als Femme<br />
fatale oder als Mutter. Die Frau in den <strong>Film</strong>en dieser<br />
Zeit ist die Gefangene einer von Männern dominierten<br />
Traumfabrik und lesbische Frauen passten nicht in ihr<br />
Bild. Frauen, die Frauen lieben, gibt es im Kino entweder<br />
gar nicht oder Gesten von Zuneigung für andere Frauen<br />
werden stark chiffriert und führen zumeist ins Verder-<br />
ben oder enden gar im Selbstmord. Der Frauenfilm in der<br />
Bundesrepublik Deutschland ist seit Mitte der 1970er-<br />
Jahre von Regisseurinnen wie Margarethe von Trotta,<br />
Ulrike Ottinger, Helma Sanders-Brahms, Ula Stöckl,<br />
Helke Sander, Jutta Brückner und Monika Treut geprägt.<br />
Familiäre Gewalt, Abtreibung, Krieg, Politik und Berufsleben<br />
aus spezifisch weiblicher Perspektive sind ihre<br />
zentralen Themen. Sie sind Teil der Bewegung Frauenfilm,<br />
die man aus heutiger Sicht in dieser Form als ein vor<br />
allem bundesdeutsches Phänomen betrachten kann, das<br />
auch international Spuren hinterlässt …<br />
In Deutschland hat sich im Fahrwasser der 1968er<br />
Revolte ein kulturelles Umfeld mit feministisch geprägten<br />
<strong>Film</strong>zeitschriften und eigenen <strong>Film</strong>festivals etabliert.<br />
Anna und Edith hätte zu dieser Zeit als erster <strong>Film</strong> mit<br />
spezifisch lesbischen Szenen im deutschen Fernsehen ein<br />
Skandal sein können, wurde es aber nicht. Warum?<br />
Anna und Edith entsteht in einer radikalen Zeit, als die<br />
„Rote Armee Fraktion“, die „Bewegung 2. Juni“ und die<br />
„Revolutionären Zellen“ aktiv sind und die so genannte<br />
zweite Welle der Frauenbewegung gerade ihren Höhepunkt<br />
erreicht. 1973 werden die ersten Frauenzentren,<br />
aber auch die erste Lesbenbewegung gegründet. Eine ihrer<br />
ersten Aktivistinnen ist die junge, lesbisch lebende Drehbuchautorin<br />
Cristina Perincioli, die 1968 aus der Schweiz<br />
nach Berlin kommt, um an der Deutschen <strong>Film</strong>- und<br />
Fernsehakademie zu studieren. Die Studentenbewegung<br />
ist bereits seit gut einem Jahr im Gange, wer studieren<br />
will, gilt als Streikbrecher. Meterweise schleppt Perincioli<br />
das <strong>Film</strong>material heimlich aus der Schule, um ihrem<br />
Traum, Regisseurin zu werden, ein Stückchen näher zu<br />
kommen. Unterricht gibt es für die jungen <strong>Film</strong>studenten<br />
kaum, im Vordergrund stehen politische Debatten,<br />
die einzige Unterstützung erfährt sie durch ihren Lehrer<br />
Klaus Wildenhahn, der durch das amerikanische „Direct<br />
Cinema“ beeinflusst ist und zu den wichtigsten Dokumentarfilmern<br />
der Bundesrepublik Deutschlands zählt.<br />
Perinciolis erste <strong>Film</strong>e sind deshalb politische Dokumentarfilme,<br />
bis sie beim NDR für sich feststellt, dass das<br />
dokumentarische Material selbst am Schnitt so verändert<br />
werden kann, dass ihm jede Brisanz entzogen wird. Sie<br />
AnnA<br />
&<br />
Edith<br />
Ein film von<br />
GErrit nEuhAus<br />
Anna & Edith<br />
von Gerrit Neuhaus<br />
D 1975, 70 Min,<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
August 2009<br />
Die Macht der Männer ist<br />
die geduld der Frauen<br />
von Cristina Perincioli<br />
D 1978, 76 Minuten<br />
Sphinx Medien,<br />
www.sphinxmedien.de<br />
6 7<br />
kino
WoLFRAM EDER<br />
kino<br />
Cillie Rentmeister, Cristina Perincioli (1988)<br />
widmet sich deshalb dem Spielfilm, der ihrer Ansicht nach von solch<br />
einer Kraft und Überzeugung durchdrungen sein kann, dass seine<br />
Grundidee nur schwerlich der Schere zum Opfer fallen dürfte. 1971<br />
leistet sie so die Vorarbeit zu Anna und Edith: Es entsteht ein Farbfilm,<br />
der 36-Minüter Für Frauen – Kapitel 1, die <strong>Film</strong>musik kommt von Ton<br />
Steine Scherben. Alexandra von Grote sieht den <strong>Film</strong> und wird zwei<br />
Jahre später die Initialzündung für Für Frauen – Kapitel 2 liefern, der<br />
später unter dem Titel Anna und Edith sich nicht mehr nur mit der<br />
Unterbezahlung und Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz<br />
auseinandersetzen, sondern auch lesbische Liebe thematisieren wird.<br />
Auf der einen Seite ist Anna und Edith ein klassischer Agit-Prop-<strong>Film</strong><br />
jener Zeit, auf der anderen Seite ein wichtiges Zeitdokument und der<br />
erste selbstbewusste Lesbenfilm der deutschen Fernsehgeschichte, in<br />
der lesbische Liebe nicht direkt ins Verderben führt, in dem zum ersten<br />
Mal ein leidenschaftlicher Kuss zwischen zwei Frauen zu sehen<br />
war. Wenn man sich den <strong>Film</strong> heute ansieht, ahnt man nicht, welche<br />
Bedeutung er zum Zeitpunkt seiner Entstehung für vier daran beteiligte<br />
Frauen erlangte. Für die einen als Lebenselixier, für die anderen<br />
als Albtraum und Sprungbrett zugleich.<br />
Nach der Fertigstellung des Drehbuchs zu Anna und Edith sucht<br />
sich die Autorin Cristina Perincioli, die auch die Regie für den <strong>Film</strong><br />
übernehmen soll, im Auftrag von Alexandra von Grote eine Produzentin.<br />
Ihre Wahl fällt auf Regina Ziegler, die gerade für ihren 1973<br />
produzierten <strong>Film</strong> Ich dachte, ich wäre tot (ihr späterer Ehemann<br />
Wolf Gremm führte Regie) mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet<br />
wurde. Anna und Edith ist Regina Zieglers erste Fernsehproduktion,<br />
die sie zu diesem Zeitpunkt allerdings auch in einen Konflikt bringen<br />
wird: Sie muss im Auftrag von Alexandra von Grote Cristina Perincioli<br />
die Kündigung als Regisseurin aussprechen. Was war passiert,<br />
dass ausgerechnet die Initiatorin des <strong>Film</strong>s plötzlich nicht mehr hinter<br />
der Macherin stand? Alexandra von Grote begründet ihre Entscheidung<br />
heute so: „Dass Frau Perincioli – entgegen der ursprünglichen<br />
Absicht, Regie bei diesem Projekt zu führen – von der Regie<br />
entbunden wurde, lag keineswegs an dem ‚für das ZDF zu radikalen<br />
Drehbuch‘ wie die beiden Drehbuchautorinnen gern behaupten. Es<br />
lag schlicht und einfach daran, dass von Frau Perincioli kein akzeptables<br />
und überzeugendes Regiekonzept vorlag. Dadurch war dem ZDF<br />
das Risiko zu groß, dass Frau Perincioli im Rahmen des Budgets und<br />
angesichts der knappen Drehzeit in der Lage sein würde, den <strong>Film</strong> der<br />
Absprache gemäß und im vorgegebenen Zeitrahmen zu drehen“. Die<br />
lesbische ZDF-Redakteurin beauftragt schließlich einen Mann, der<br />
zuvor ausschließlich Fernsehshows realisiert hatte, mit der Regiearbeit<br />
zum ersten selbstbewussten Lesbenfilm der deutschen Fernsehgeschichte.<br />
Ein Paradox. Laut Perincioli habe sich später Eckhart<br />
Stein, der 1975 die Leitung des Kleinen Fernsehspiels übernahm und<br />
für dessen Neu-Konzeption 1977 den Adolf-Grimme-Preis erhielt, bei<br />
ihr dafür entschuldigt, wie auch Alexandra von Grote, die ihr einige<br />
Jahre später anvertraut haben soll, dass sie „aus Angst so gehandelt<br />
habe“. Perincolis Co-Autorin Cillie Rentmeister verarbeitete diese<br />
Erfahrung später auf ihre Weise: Mit dem Song „Für Frau Dr. A“ , der<br />
auf der LP der ersten deutschen lesbischen Frauenrockband „Flying<br />
Lesbians“ veröffentlicht wurde.<br />
Alexandra von Grote, Regina Ziegler und Cristina Perincoli, alle<br />
zwischen 1944 und 1946 geboren, haben die Zeit des Aufbruchs der<br />
1960er und 1970er Jahren komplett unterschiedlich erlebt und sind<br />
sich selbst treu geblieben – jede auf ihre Weise …<br />
Alexandra von Grote wurde nach ihrer Zeit beim Kleinen Fernsehspiel<br />
Referentin für Kulturpolitik in Berlin, führte bei vier <strong>Film</strong>en<br />
Regie, zu denen sie auch das Drehbuch verfasste, und konzentriert<br />
sich heute ausschließlich auf das Schreiben von Kriminalromanen.<br />
Regina Ziegler gilt laut American Cinema Foundation heute als<br />
die weltweit erfolgreichste Frau im <strong>Film</strong>produktionsgeschäft. Sie<br />
trägt das Bundesverdienstkreuz, den Verdienstorden des Landes<br />
Berlin und den Adolf-Grimme-Preis für besondere Verdienste. Die<br />
Ziegler <strong>Film</strong> GmbH & Co. KG mit Sitz in Berlin hat mittlerweile über<br />
400 <strong>Film</strong>e für Kino und Fernsehen produziert, die nahezu alle Genres<br />
abdecken.<br />
Cristina Perincioli führte schließlich 1978 erfolgreich Regie bei<br />
ihrem ersten, ebenfalls vom ZDF finanzierten Spielfilm Die Macht<br />
der Männer ist die Geduld der Frauen, der weltweit ein Erfolg wurde,<br />
veröffentlichte später Bücher und produzierte Hörfunkbeiträge mit<br />
politischem Hintergrund. Sie erhielt Lehraufträge am <strong>Film</strong>institut in<br />
Kenya, der Hochschule der Künste wie auch der Deutschen <strong>Film</strong>- und<br />
Fernsehakademie Berlin sowie der <strong>Film</strong>hochschule in Babelsberg.<br />
Heute beschäftigt sie sich mit Neuen Medien, dem Herstellen von<br />
Lernsoftware und produziert Kurzfilme in Form von Videobildern.<br />
Cillie Rentmeister machte als Tastenfrau und Mitbegründerin<br />
der Frauenrockband „Flying Lesbians“ Musik, promovierte später in<br />
Kunstwissenschaften, gehörte sozusagen zu den ‚Erfinderinnen‘ der<br />
feministischen Kunst- und Kulturwissenschaft und war Mitglied der<br />
ersten Dozentinnengruppe in Berlin, die „Sommeruniversitäten für<br />
Frauen“ ins Leben riefen. Heute ist sie Professorin an der Fakultät für<br />
Sozialwesen an der Fachhochschule Erfurt und engagiert sich nach<br />
wie vor gegen häusliche Gewalt. s<br />
„IcH bIn JETzT HIEr,<br />
IcH MAg DIcH.“<br />
interview: tobias rauscher<br />
Sich treiben lassen oder verloren gehen. Regisseur Sebastian Heidinger über seinen<br />
ersten Dokumentarfilm „Drifter“, der am 11. juni im Kino startet.<br />
s Vor dreißig Jahren gab es einmal „Wir Kinder vom<br />
Bahnhof Zoo“, als Stern-Buch und als Uli-Edel-<strong>Film</strong>.<br />
Seitdem ist dieser Ort zu einem Synonym für jugendliche<br />
Prostitution und Drogensucht geworden. Edel verfilmt<br />
zwar längst andere Aufreger (z.B. Bushido), aber das<br />
Buch gibt es immer noch im Handel. Und auch die Kinder<br />
am Bahnhof Zoo sind noch da.<br />
Der junge dffb-Absolvent Sebastian Heidinger hat in<br />
seinem Dokumentarfilm Drifter drei Jugendliche begleitet,<br />
die sich am Zoo ihre Drogen besorgen, anschaffen<br />
gehen oder in Notunterkünften unterkommen. Es geht<br />
ihm um ihren Alltag, nicht um ihre Geschichte. Um das<br />
tägliche Durchhalten, Weitermachen und ‚Driften‘, ohne<br />
familiären Halt und mit wenig öffentlicher Unterstützung.<br />
Helfen können sie sich nur selbst, bestenfalls einander.<br />
Obwohl Drifter nichts zu tun hat mit Sensationsgier,<br />
Vorurteilen und Klischees einer ‚lebensfeindlichen<br />
Wirklichkeit‘ ist das ein harter und schonungsloser <strong>Film</strong>.<br />
Auf internationalen <strong>Film</strong>festivals hat er für Aufsehen<br />
gesorgt. Auf der Berlinale 2008 gab es dafür den renommierten<br />
Preis „Dialogue en Perspective“.<br />
SISSY hat sich mit Sebastian Heidinger getroffen und sich<br />
mit ihm über seinen filmischen Zugang, über die moralische<br />
Haltung beim <strong>Film</strong>emachen, über Sexarbeit und den<br />
Mythos Bahnhof Zoo unterhalten.<br />
sissy: Zuerst einmal: Warum hast du dich entschieden,<br />
deinem Dokumentarfilm mit „Drifter“ einen englischen<br />
Titel zu geben und was genau bedeutet er?<br />
Sebastian Heidinger: Das Wort Drift oder driften gibt es<br />
auch im Deutschen und meint etwas Nicht-Verankertes,<br />
was Strömungen ausgesetzt ist. Daneben gibt es auch die<br />
Vokabel des „drifters“, die der Soziologe Richard Sennett<br />
geprägt hat. Er beschreibt Drifter als Phänomen des<br />
modernen Kapitalismus und meint eine gesteigerte Form<br />
vom mobilen und flexiblen Menschen.<br />
Für dokumentarische Arbeiten gibt es sicherlich leichtere<br />
und zugänglichere Themen für einen jungen <strong>Film</strong>emacher<br />
als drogenabhängige Jugendliche. Wie kam dir die Idee zu<br />
„Drifter“?<br />
Am Anfang stand nicht das Projekt, einen <strong>Film</strong> über drei<br />
Drogenabhängige am Bahnhof Zoo zu machen. Ich hatte<br />
lediglich eine vage Idee von jugendlichen Obdachlosen,<br />
die unserem alltäglichen Blick nicht auffallen. Es ging mir<br />
nicht um Straßenpunks oder irgendwelche Abtrünnigen.<br />
Mich interessierte damals das Phänomen unserer Zeit,<br />
dass jemand am Rand unserer Gesellschaft sehr leicht<br />
behaupten kann, zur normalen Gesellschaft dazuzugehören.<br />
Jeder kann ein Handy haben, jeder kann Markenklamotten<br />
tragen und wirkt dabei nicht wie ein Außenseiter<br />
oder fällt auf. Ich hatte diesen Gedanken schon in<br />
einem früheren Projekt mit Jugendlichen in Lichtenberg<br />
verfolgt – Jugendliche in einer Umbruchphase, die dem<br />
EDiTion SALZGEBER<br />
Drifter<br />
von Sebastian Heidinger<br />
D 2007, 81 Min<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
8 9<br />
Im Kino<br />
Ab 11. Juni<br />
kino
kino kino<br />
System entsagen und sich Nischen suchen, die nicht von institutioneller<br />
Kontrolle besetzt sind.<br />
Wie bist du dann im zweiten Schritt vorgegangen und hast deine drei<br />
Protagonisten Aileen, Angel und Daniel gefunden?<br />
Unser erster Gedanke war, über Institutionen und Sozialarbeitervereine<br />
an die Menschen zu kommen. Das haben wir versucht und ich<br />
habe auch eine Zeit lang ehrenamtlich als Sozialarbeiter gearbeitet.<br />
Wir haben aber sehr schnell gemerkt, dass das überhaupt nicht funktioniert,<br />
weil du den Jugendlichen von den Sozialarbeitern vorgestellt<br />
wirst und sich in dieser Position automatisch ein starkes Ungleichgewicht<br />
aufbaut. Dann war uns schnell klar, dass wir selbst auf die<br />
Straße müssen, um die Kontakte herzustellen. Es war eine harte und<br />
aufreibende Zeit, an die Orte zu gehen und sie für sich einzunehmen.<br />
Natürlich haben wir uns anfangs unglaublich unwohl und wie Touristen<br />
gefühlt.<br />
Unsere Suche begann im Osten in Einkaufszentren in Hohenschönhausen,<br />
über den Alexanderplatz, zum Nollendorfplatz und der<br />
Kurfürstenstraße, bis wir dann an den Bahnhof Zoo gegangen und<br />
dort hängen geblieben sind. In unserer Vorlaufzeit sind wir dann vor<br />
Ort mit einem alten VW-Bus in die Jebensstraße gefahren, sind peuà-peu<br />
mit den Jugendlichen ins Gespräch gekommen und haben so<br />
versucht, zu einem festen Inventar der Szene zu werden.<br />
Dabei haben wir relativ früh kommuniziert, dass wir einen <strong>Film</strong><br />
machen, aber keine Gagen zahlen können. Einerseits konnten wir das<br />
vom Budget her nicht, anderseits wollten wir, dass den Jugendlichen<br />
auch selbst etwas daran liegt, den <strong>Film</strong> zu machen und sie es nicht<br />
aus Verdienstgründen machen. Bis zum ersten Drehtag sind dann erst<br />
mal drei Monate vergangen. 80 Prozent des Tages haben wir gewartet<br />
oder haben im Bus gesessen. Ab und zu kam jemand vorbei, um Tee<br />
zu trinken, hat angefangen zu erzählen, dann wurde gefragt, ob man<br />
die Geschichte eventuell auf Tonband aufnehmen dürfe, und so hat<br />
sich langsam das Vertrauen aufgebaut. In dieser Zeit hat sich langsam<br />
der Cast herauskristallisiert. Mit Aileen fing es an, mit ihr kam Angel<br />
ins Spiel, da sie sich nicht getraut hatte, das alleine zu machen. Angel<br />
steht ja auf eine gewisse Form der Selbstdarstellung, das merkt man<br />
im <strong>Film</strong> ja auch ganz deutlich. Während der Drehphase war es dann<br />
so, dass das Casting quasi organisch gewuchert ist. In dieser Szene<br />
gibt es ja kaum echte, durch Pech und Schwefel verbundene Freundschaften,<br />
sondern eher Zweckgemeinschaften, die aber leicht wieder<br />
auseinander brechen können und innerhalb derer es eine hohe Fluktuation<br />
gibt. Auf die Tatsache, dass jeden Moment eine neue Figur<br />
herein kommen kann, mussten wir uns während des Drehs einlassen.<br />
Entweder diese Figur begleitet die Protagonisten oder über ihre<br />
Abwesenheit werden Dinge erzählt. Es musste uns immer klar sein,<br />
dass jeder Tag der letzte mit unseren Protagonisten sein kann. Am<br />
nächsten Morgen konnte alles anders sein und einer der drei konnte<br />
keinen Bock mehr haben. Da gab es keine Verlässlichkeiten.<br />
Das klingt nach einer langen Recherche. Wie lange habt ihr für „Drifter“<br />
dann insgesamt gebraucht und wie lange hat der Dreh gedauert?<br />
Als wir bereits am Zoo waren, gab es eine lange, zweimonatige Vorlaufzeit<br />
ohne jede Kameraarbeit. Das hat uns sehr organisch zum ersten<br />
Drehtag geführt um die Protagonisten langsam an die Kamera zu<br />
gewöhnen und mit ihr auch ihre Privatsphäre zu teilen. Wir haben<br />
sechs Monate vom Spätsommer 2005 bis Frühjahr 2006 gedreht und<br />
saßen dann ein Jahr lang im Schnitt. Immerhin hatten wir 70 Stunden<br />
Material.<br />
Dein <strong>Film</strong> wird vor allem über Leerstellen erzählt. Du hast die mutige<br />
Entscheidung getroffen, viele Dinge im <strong>Film</strong> auszusparen. Wir erfahren<br />
nichts über Familie, über Freundeskreise, es werden auch keine einzelnen<br />
Biographien gezeichnet. War das denn eine Entscheidung, die ihr<br />
auch erst im Schnitt getroffen habt oder stand dieses narrative Konzept<br />
schon vorher fest?<br />
Wir haben erklärende Szenen gedreht, in denen Nebenfiguren, deren<br />
Bedeutung im Endschnitt nicht ganz klar ist, ausführlich erklärt<br />
wurden. Wir haben aber während des Schnitts festgestellt, dass der<br />
stärkste Effekt dadurch erreicht wird, dass man möglichst wenig<br />
schneidet. Der beste Schnitt ist, keinen Schnitt zu machen. Dann<br />
haben wir komplett auf Interviews verzichtet, eine Entscheidung, die<br />
bis zur vorletzten Rohschnittfassung nicht feststand. Und es stimmt,<br />
dass ich keinen <strong>Film</strong> machen wollte, der sich groß für die Biographien<br />
der Protagonisten interessiert. Es interessiert mich insofern nicht, als<br />
dass ich nicht glaube, dass ich einem Mensch gerecht werden kann,<br />
indem ich mir biographische Schlüsselmomente aus seinem Leben<br />
herauspicke. Ich finde auch, dass so etwas wie ein Körper mir über die<br />
Vergangenheit und die Persönlichkeit eines Menschen teilweise mehr<br />
erzählen kann als wenn er mir davon im Interview erzählt. Ein Beispiel<br />
ist die Szene, in der Angel für Bodo, einen der Männer, Schnitzel<br />
kocht. Das ist für mich ein ganz starker biografischer Moment. Man<br />
fragt sich unmittelbar, warum dieser Typ auf Hausfrauenart plötzlich<br />
ein Schnitzel mit Mischgemüse zubereiten kann. Man bekommt durch<br />
eine Aktion ein Gefühl, was sich aber über eine Physis, eine Körperlichkeit<br />
vermittelt. Dem vertraue ich mehr, als wenn ich in psychologisierender<br />
Art und Weise versuche in einem Interview etwas aus<br />
ihm herauszubekommen. In diesem Fall wäre es zudem sehr schwierig<br />
geworden, weil sich alle unsere Protagonisten Legenden zurecht<br />
gelegt haben. Wenn Angel Geschichten erzählt, wo er herkommt und<br />
wer seine Eltern sind, und dass sie in Griechenland leben, dann ist das<br />
seine eigene Wahrheit.<br />
EDiTion SALZGEBER<br />
Bei einem mutigen Dokumentarfilm wie deinem ist sicherlich die Frage<br />
eine Herausforderung, welche Rolle du als <strong>Film</strong>emacher spielst. Zum<br />
einen bist du wie alle Dokumentarfilmer der Beobachter, der seine Protagonisten<br />
als Material braucht. Zum anderen intervenierst du aber<br />
auch nicht, was in einem <strong>Film</strong> über Drogensucht und Jugend natürlich<br />
auch ethische Fragen aufkommen lässt.<br />
Es gab natürlich die Gefahr, beim Drehen in eine Sozialarbeiterrolle<br />
zu verfallen. Du bist Freund deiner Protagonisten und hast natürlich<br />
den Impuls sie zu bekehren, was du aber gar nicht leisten kannst,<br />
denn egal wie sehr du dich darauf einlässt – du bleibst Tourist. Natürlich<br />
behältst du auch später noch den Kontakt, aber diese Beziehung<br />
kann nie die Intensität erreichen, die sie während der Drehzeit hatte.<br />
Grundsätzlich war es bei der Beziehung zu den Protagonisten so,<br />
dass zu Aileen die engste und innigste Beziehung bestand. Zu Daniel<br />
bestand die kühlste Beziehung. Er war auch derjenige, der als Letzter<br />
in den <strong>Film</strong> kam. Zu Angel ist die Beziehung schließlich mit der Zeit<br />
gewachsen, wobei er natürlich auch den dicksten Panzer von allen<br />
hat und der versierteste in diesem Milieu ist. Das Grunddilemma war<br />
immer, dass man sich als Regisseur in dieser schizophrenen Situation<br />
befindet, immer auch Vertrauter, Freund und Ansprechpartner<br />
zu sein, denn das war in unserem Fall absolut nötig, um diesen <strong>Film</strong><br />
überhaupt zu machen. Es war unser Anspruch, uns als Personen<br />
komplett da reinzugeben. Auf der anderen Seite bist du als Regisseur<br />
natürlich ganz stur auf Material und gute Szenen angewiesen. Einerseits<br />
mussten wir im Sinne des <strong>Film</strong>s überall dabei sein, andererseits<br />
aber auch das Gefühl behalten, dass wir ein paar Sachen nicht zeigen<br />
wollen, um die Jugendlichen zu schützen. Und natürlich ist es auch<br />
für uns hart, eine Fixszene zu drehen.<br />
Eine Sache um die sich der <strong>Film</strong> dreht, die aber auch nie gezeigt wird,<br />
ist die Sexarbeit. Es scheint als würden alle drei anschaffen gehen, was<br />
aber immer außerhalb des <strong>Film</strong>s stattfindet.<br />
Daniel nicht. Der hat zu diesem Zeitpunkt vor allem Zeitungen ausgetragen<br />
und war nicht auf dem Strich. Bei Angel ist es ganz klar, dass<br />
er Stricher ist, er war aber auch am erfahrensten. Angel hatte einen<br />
Stammfreierkreis und stand auf der Jebensstraße. Bei Aileen waren<br />
wir nie dabei, weil wir es nicht wollten. Genauso wie wir sie auch<br />
nie beim Konsumieren gefilmt haben. Das ist unserer Vertrautheit<br />
geschuldet. Es ist der schmale Grad bei dieser Form von <strong>Film</strong>arbeit.<br />
Wir haben mit Angel und Daniel auch noch andere Konsumierszenen<br />
gedreht, fragten uns aber ständig, wie wir das überhaupt darstellen<br />
sollen. Wir haben uns immer vorgenommen, das ganz nüchtern als<br />
eine Form von Arbeitsbeschreibung wie Schnitzel kochen oder Zähne<br />
putzen zu machen. Das war aber unglaublich schwierig, weil es so<br />
stark klischeebehaftet ist. Sobald man einen Löffel im Bild hat, auf<br />
dem etwas aufgekocht wird, ist es nicht mehr neutral. Deswegen war<br />
ganz schnell klar, dass Konsumierszenen nur gehen, wenn sie in Kontexten<br />
gezeigt werden, die das Eigentliche erweitern oder brechen.<br />
Was das Darstellen der Sexarbeit angeht, ist es fast unmöglich, das<br />
dokumentarisch darzustellen, zuerst einmal, weil kein Freier seine<br />
Einverständnis gegeben hätte. Dann haben sich unsere Protagonisten<br />
gegen den Gedanken gewehrt. Andererseits bietet dir die Realität<br />
auch Möglichkeiten, die viel spannender sind als eine eins-zu-eins-<br />
Umsetzung wie zum Beispiel eine Totale der Kurfürstenstraße oder<br />
die Szene, in der Aileen eine Hardcore-Broschüre für Nutten laut<br />
vorliest. Sie liest dann auch auf eine so naive Art und Weise, dass die<br />
Diskrepanz in diesem Moment sehr augenscheinlich wird. Letzlich<br />
haben wir uns für eine Platzhaltererzählung entschieden. Voyeurismus<br />
muss man zwar beim Dokumentarfilm nicht diskutieren, da<br />
jeder Dokumentarfilm ja auf seine Weise voyeuristisch ist, aber bei<br />
dem Thema gibt es den Moment, wo eine eklige Form von Voyeurismus<br />
entsteht und dem wollten wir uns entziehen. Gerade wenn man<br />
sieht, wie die Jugendlichen an dem, was sie machen, kaputt gehen,<br />
bestand für uns immer die Gefahr, in eine Art Sozialarbeiterhaltung<br />
reinzurutschen. Im Endeffekt haben sie uns aber auch benutzt, was<br />
überhaupt nicht moralisch wertend gemeint ist. Wir bekamen etwas<br />
von ihnen und sie bekamen etwas von uns.<br />
Wie haben sie euch „benutzt“? Was genau haben sie von euch bekommen?<br />
Aufmerksamkeit zum einen, und Verständnis. Wir haben eben nicht<br />
die Haltung eines Sozialarbeiters an den Tag gelegt, nicht alles getan,<br />
damit die da ihr Leben ändern. Es geht auch darum zu vermitteln: Ich<br />
bin jetzt hier, ich mag dich, und mein Interesse hängt nicht davon ab,<br />
ob du mit den Drogen aufhörst oder nicht.<br />
Zu welchen großen Schwierigkeiten ist es denn beim Dreh gerade in dieser<br />
Szene gekommen?<br />
Es ging uns ja vor allem um die Nischen im System, die immer kleiner<br />
werden. Das wollten wir thematisch in den <strong>Film</strong> einbauen, haben aber<br />
beim Drehen festgestellt, dass es überhaupt nicht machbar ist. Erstens<br />
haben wir aufgrund des Themas überhaupt keine Drehgenehmigung<br />
bekommen, und zweitens hat man gemerkt, dass man selbst in<br />
ursprünglich als öffentlich wahrgenommenen Räumen nicht filmen<br />
darf. Das war am Zoo so, in Bussen und U-Bahnen, alles ist in privater<br />
Hand, überall gilt Hausrecht. Das führt eben wieder dazu, dass<br />
es keine Privatsphäre gibt, keine Privatheit und keinen geschützten<br />
Raum.<br />
Dann war ein Problem, dass wir keine Gagen zahlen konnten,<br />
unsere Protagonisten aber Geld verdienen mussten. Dadurch hatten<br />
sie immer nur ab und zu am Tag Zeit, wenn sie gerade Geld gemacht<br />
hatten und vor dem nächsten Schuss. Die Zyklen bestehen ja aus Geld<br />
machen, Drogen kaufen, Drogen konsumieren. Von diesen Zyklen<br />
gibt es ca. vier am Tag. Dazwischen gibt es höchstens kleine Fenster,<br />
in denen sie nicht unter Druck und vollkommen angespannt waren.<br />
Dann kommen natürlich noch die verschiedenen Aggregatszustände<br />
der Drogensucht hinzu. Ein Mensch ist ein komplett anderes Wesen,<br />
wenn er gerade Drogen braucht, bzw. wenn er gerade konsumiert<br />
hat. Das führt eben zu krassen Schwankungen im Temperament<br />
und auch im Tempo. Einmal haben wir ein Interview mit Aileen<br />
sehr ruhig angefangen. Mittendrin ist sie raus gegangen und hat sich<br />
einen Schuss gesetzt, war vollkommen ausgewechselt und wir sind<br />
gar nicht mehr hinterher gekommen. Oder wir haben vier Stunden<br />
im Bus gewartet und plötzlich kommt einer der drei Protagonisten<br />
vorbei und sagt, wo sie/er jetzt spontan hingeht. Wir sind überhaupt<br />
nicht vorbereitet gewesen, hatten keine Drehgenehmigungen und so<br />
weiter. Da mussten dann drei Leute simultan aufspringen und von<br />
null auf hundert gehen. Es war absolut schwer für uns, aber auch sehr<br />
lehrreich fürs <strong>Film</strong>emachen.<br />
Wenn man eine Inhaltsangabe des <strong>Film</strong>es liest, denkt man automatisch<br />
an „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und Christiane F. Der hochsymbolische<br />
Ort und die Drogenthematik wecken sofort Assoziationen. Es stellt<br />
sich da die Frage, ob es von eurer Seite eine bewusste Hinlenkung oder<br />
Ablenkung zu diesem Thema gab?<br />
Natürlich kann ich mich gegen die Verbindung zu Wir Kinder vom<br />
Bahnhof Zoo überhaupt nicht wehren. Wir haben uns den Zoo ja<br />
nicht vorrangig ausgesucht und ich erinnere mich noch, wie ich<br />
damit am Anfang sehr zu kämpfen hatte, dass es diesen Mythos<br />
gibt. Es war auch in der Arbeit mit den Protagonisten ein Problem,<br />
weil sie sich ja dieses Mythos’ auch bewusst sind, und sich anfänglich<br />
auch in diese Richtung hin inszeniert haben. Es hat viel Arbeit<br />
gekostet zu vermitteln, dass es nicht darum geht, eine 2007er-Version<br />
von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo zu machen. Ich habe mich am<br />
Anfang dadurch sehr beschränkt gefühlt, denn man wurde ständig<br />
dem Vergleich unterzogen. Am Ende habe ich aber festgestellt, dass<br />
es ein unglaubliches Glück ist, einen mythologischen Unterbau zu<br />
haben. Es ist, als ob du eine moderne Version von Hänsel und Gretel<br />
erzählst. Diese Mythen sind ja auch immer eine Verabredung mit<br />
dem Zuschauer, die es dir erlaubt, freier und fragmentarischer zu<br />
erzählen. In unserem Fall ist es eher so, dass man den Mythos bricht<br />
und den Blick neu definieren kann. s<br />
10 11
kino<br />
ToBiS<br />
EIn KIno DEr<br />
MöglIcHKEITEn<br />
von christoph meyring<br />
Pedro Almodóvars neuer <strong>Film</strong> „Zerrissene Umarmungen“ startet im Kino.<br />
SiSSY fragt sich: Was ist eigentlich das Queere an seinen <strong>Film</strong>en?<br />
s Im kommenden August wird Pedro Almodóvars neueste<br />
Produktion Zerrissene Umarmungen (Los abrazos<br />
rotos), die im Wettbewerb der diesjährigen Internationalen<br />
<strong>Film</strong>festspiele von Cannes ihre Weltpremiere erlebte,<br />
in den deutschen Kinos anlaufen. Die Liebesgeschichte,<br />
die im Mittelpunkt dieses nunmehr schon 17. Spielfilms<br />
des spanischen Ausnahmeregisseurs und zweifachen<br />
Oscar-Preisträgers steht, ist eine zwischen Mann und<br />
Frau, genauer gesagt, zwischen einem Regisseur (Lluís<br />
Homar) und seiner Hauptdarstellerin (Penélope Cruz).<br />
Obwohl eine der Nebenfiguren dieses <strong>Film</strong>s schwul ist,<br />
handelt es sich bei Zerrissene Umarmungen somit, genau<br />
genommen, wohl nicht um einen „schwulen <strong>Film</strong>“.<br />
Aber was genau ist ein „schwuler <strong>Film</strong>“? Einer, der<br />
eine sexuelle Beziehung zwischen zwei Männern thematisiert?<br />
Einer, der eine spezifische schwule Ästhetik oder<br />
Bedeutungspraxis – doch was ist darunter genau zu verstehen?<br />
– erkennen lässt? Oder genügt es schon, dass der<br />
Regisseur eines <strong>Film</strong>s, woran im Falle Almodóvars kaum<br />
ein Zweifel bestehen dürfte, schwul ist, um sein künstlerisches<br />
Erzeugnis mit dem Etikett „schwules Kino“ zu<br />
behaften? Diese Fragen scheinen nicht ohne Grund sehr<br />
schwierig zu beantworten, nicht zuletzt weil sie sehr<br />
grundsätzlicher Natur sind. Aber vielleicht lässt sich im<br />
Blick auf Teile von Pedro Almodóvars bisherigem Œuvre<br />
zumindest ansatzweise ermitteln, was in seinem spezifischen<br />
Fall dasjenige ausmacht, das man mit Attributen<br />
wie „schwul“, „queer“ – oder wie auch immer – begrifflich<br />
umfassen und umarmen kann. Danach wird es unter<br />
Umständen möglich, die Frage zu beantworten, ob auch<br />
Zerrissene Umarmungen einem solchen allgemeinen<br />
künstlerischen Prinzip gehorcht oder ob dieser <strong>Film</strong> sich<br />
aus dessen Umarmung löst.<br />
Betrachtet man die bisherigen <strong>Film</strong>e der Schwulenikone<br />
Pedro Almodóvar einmal etwas eingehender, so vermag<br />
es durchaus zu überraschen, dass nur in den wenigsten<br />
– streng genommen nur in Das Gesetz der Begierde<br />
(La ley del deseo, 1987) und La mala Educación – Schlechte<br />
Erziehung (La mala educación, 2004) – dezidiert schwule<br />
Charaktere im Zentrum des Geschehens stehen. Die<br />
meisten Protagonisten sind Protagonistinnen, Frauen, die<br />
innerhalb einer vorwiegend männlich geprägten Welt mit<br />
ungewöhnlichen Situationen und Schicksalen zu kämpfen<br />
haben und die deshalb nicht selten Frauen am Rande<br />
des Nervenzusammenbruchs (Mujeres al borde de un<br />
ataque de nervios, 1988) darstellen. Neben diesen Frauen,<br />
die aus ihrer traditionellen Rolle ausbrechen (müssen)<br />
und sich auf die Suche nach einem neuen Lebensentwurf<br />
machen, treten häufig auch geschlechtlich nicht<br />
eindeutig markierte Mischwesen auf: Transvestiten und<br />
Transsexuelle. Eines dieser Mischwesen ist die (oder der)<br />
Transsexuelle La Agrado (Antonia San Juan) aus Almodóvars<br />
Oscar-prämiertem Meisterwerk Alles über meine<br />
Mutter (Todo sobre mi madre, 1999). In einer Szene des<br />
<strong>Film</strong>s stellt sich diese artifiziell produzierte Mann-Frau,<br />
deren Name „Liebreiz“ bedeutet, auf die Bühne eines<br />
Theaters, wo an diesem Abend eigentlich Tenessee Williams’<br />
Endstation Sehnsucht gegeben werden sollte, und<br />
gibt Auskunft darüber, welche operative Veränderung sie<br />
wie viele Peseten gekostet hat. Ihre Performance endet<br />
mit folgenden Worten: „Was will ich eigentlich damit<br />
sagen? Es ist ziemlich teuer, authentisch zu sein, oh ja!<br />
Und in diesen Dingen sollten wir nicht knauserig sein.<br />
Wieso? Weil wir umso authentischer sind, je ähnlicher<br />
wir dem Traum werden, den wir von uns selbst haben.“<br />
Das Natürlich-Authentische des Geschlechts wird hier<br />
nicht als vorgängige Tatsache gesetzt, sondern in grandioser<br />
Verdrehung als Effekt zahlreicher – in diesem Fall<br />
chirurgischer und nicht nur rein diskursiver – Operationen<br />
ausgestellt und somit grundsätzlich in Frage gestellt.<br />
Denn wenn das Authentische das Resultat eines Herstellungsprozesses<br />
ist, dann gibt sich auch die scheinbar<br />
natürliche, streng dichotom strukturierte Kategorie des<br />
Geschlechts prinzipiell als eine Konstruktion zu lesen.<br />
Nicht umsonst findet Agrados Ansprache auf einer Theaterbühne<br />
statt, deutet sich damit doch an, dass die Konstruktion<br />
der Geschlechter durch Akte, Gesten und Inszenierungen<br />
bewerkstelligt und aufrecht erhalten wird,<br />
die – im Anschluss an Judith Butler und die von ihr nicht<br />
unmaßgeblich beeinflusste „Queer Theory“ – als performativ<br />
bezeichnet werden können. Die Geschlechtung<br />
erscheint damit als ein Schauspiel, das auf permanenten<br />
Imitationen kulturell vorgegebener Idealbilder beruht.<br />
Spielen Imitationen und Spiegelungen auch in Almodóvars<br />
Kino eine bedeutende Rolle, so tritt dort jedoch auch<br />
immer der Mechanismus der Verschiebung hinzu, der die<br />
Imitationen erst als solche zu erkennen gibt und darüber<br />
hinaus Raum für Neubestimmungen, Neuinszenierungen<br />
und alternative Entwürfe schafft.<br />
Im Unterschied zum alternativ konzipierten und in<br />
jeglichem Sinne teuer erkauften Körper Agrados, in dem<br />
sich das Drama der Geschlechtwerdung ganz materi-<br />
zerrissene umarmungen<br />
von Pedro Almodóvar<br />
ES 2009, 129 Min<br />
Tobis, www.tobis.de<br />
Im Kino<br />
Ab 6. August<br />
Pedro Almodóvar –<br />
Die große Edition<br />
ES/FR 1982–2009,<br />
14 DVDs, 1411 Min<br />
Ufa/Universum,<br />
www.universum-film.de<br />
12 13<br />
kino
ToBiS (2)<br />
kino<br />
ell manifestiert, kommt die befreiende Neubestimmung des Gegebenen dabei zumeist ohne das Skalpell des Chirurgen<br />
aus. So verdeutlicht der von Gael García Bernal verkörperte Revuestar Zahara in La Mala Educación – Schlechte<br />
Erziehung die performative Konstruktion des Geschlechtes im Rahmen eines ebenso wunderlichen wie wunderbaren<br />
Bühnenauftrittes allein mit den Mitteln der Travestie. Denn er/sie ist in ein – von Jean-Paul Gaultier entworfenes –<br />
atemberaubendes Abendkleid gehüllt, das einen nackten Frauenkörper imitiert: Die austauschbare Hülle bedeutet den<br />
angeblich unveränderlichen Kern, der Kern gibt sich als Hülle zu erkennen. Mit anderen Worten: Das Geschlecht stellt<br />
sich nicht als natürliche Gegebenheit, sondern<br />
als eine kulturell hervorgebrachte Einkleidung<br />
dar. Zu den die Grenzen herkömmlicher<br />
Geschlechtsidentitäten chamäleonhaft überwindenden<br />
Übergangswesen zählt ebenfalls<br />
Juez Domínguez (Miguel Bosé), der in High<br />
Heels – Die Waffen einer Frau (Tacones lejanos,<br />
1991) nicht nur als Untersuchungsrichter<br />
und Polizeispitzel, sondern auch als Travestiestar<br />
„Femme letal“ in Erscheinung tritt und<br />
in dieser Rolle die Mutter der Protagonistin<br />
Rebeca (Victoria Abril) imitiert, welche er später<br />
schwängert und am Ende ehelichen wird.<br />
Und obwohl es darin ausschließlich um heterosexuelle<br />
Paarbeziehungen geht, veranstaltet<br />
auch Sprich mit ihr (Hable con ella, 2002) einen<br />
intensiven „Gender Trouble“, sofern klassisch<br />
männliche und weibliche Rollenattribute in<br />
Bewegung gesetzt und ständig neu verteilt werden:<br />
Während die Torera Lydia (Rosario Flores)<br />
einer ausgesprochen männlichen Profession<br />
nachgeht, umsorgt, bemuttert, schminkt<br />
und frisiert die männliche Krankenschwester<br />
Benigno (Javier Cámara) die ins Koma gefallene<br />
Balletttänzerin Alicia (Leonor Watling).<br />
Dabei wirkt Benigno nicht nur ausgesprochen<br />
schwul, sondern er setzt sein schwules Image<br />
sogar ganz bewusst dazu ein, sein heterosexuelles<br />
Begehren zu verschleiern.<br />
Im Zusammenhang mit der Gender-Thematik<br />
betreibt Alles über meine Mutter überdies<br />
eine Neubestimmung der herkömmlichen<br />
Vorstellung von „Mutterschaft“, indem er<br />
– ausgehend von einer realen, aber nunmehr<br />
zerstörten Mutter-Kind Beziehung zwischen<br />
der Krankenschwester Manuela (Cecilia Roth)<br />
und ihrem verstorbenen Sohn Estéban (Eloy<br />
Nazarin) – diesen Begriff aus seinen ursprünglichen<br />
Bezügen löst, spiegelt, verschiebt, verzerrt,<br />
vervielfältigt und mit neuer Bedeutung<br />
auflädt. Jedoch nicht um ihn zu entwerten<br />
oder ihn lächerlich zu machen, sondern viel-<br />
Oben: Schlechte Erziehung – La mala educación (2004), unten: Zerrissene Umarmungen (Los abrazos rotos, 2009) mehr um seine positive emotionale Essenz<br />
freizulegen und auf zwischenmenschliche<br />
Beziehungen auszudehnen, die keine Mutter-Kind-Verhältnisse darstellen. „Mütterlich“, nämlich solidarisch, mitfühlend<br />
und selbstlos, können sich auch Menschen verhalten, die auf biologische Mutterschaft verzichten oder von ihr ausgeschlossen<br />
sind: Schwule, Lesben, Transsexuelle und kinderlose Heterosexuelle. Diese Botschaft des <strong>Film</strong>s möchte<br />
man immer dann dick unterstreichen, wenn angesichts eines tragischen Kindstodes in den Medien wieder einmal der<br />
unsägliche Satz erschallt: „Wer selber Kinder hat, kann den Schmerz der Eltern nachfühlen.“ Als ob die anderen das<br />
nicht könnten.<br />
Almodóvars filmisches Werk, das seit dem vergangenen Jahr auch hierzulande in Form einer sehr ansprechend ausgestatteten<br />
DVD-Kollektion zugänglich ist, wimmelt von offenen Zitaten und mehr oder weniger kryptischen Anspielungen<br />
sowohl intra- (Bezüge zu anderen <strong>Film</strong>en) als auch intermedialer (Bezüge zu anderen Medien) Natur: Das<br />
trashige Frühwerk Labyrinth der Leidenschaften (Laberinto de pasiones, 1982) rekrutiert sein fast unüberschaubares<br />
Personal offensichtlich direkt aus der Regenbogenpresse; Womit habe ich das verdient? (¿Qué he hecho yo para merecer<br />
esto!!, 1984) stibitzt die Idee, dass eine Hausfrau (Carmen Maura) ihren Ehemann mit einer Hammelkeule erschlägt<br />
und diese anschließend von der Polizei verspeisen lässt, aus einer Episode der TV-Serie Alfred Hitchcock Presents;<br />
in Das Gesetz der Begierde trifft man den schwulen Regisseur Pablo<br />
Quintero (Eusebio Poncela) und dessen transsexuelle Schwester Tina<br />
(Carmen Maura) in der Szenerie eines nächtlichen Cafés an, die deutlich<br />
von Edward Hoppers Gemälde „Nighthawks“ inspiriert ist; in<br />
Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs beobachtet Pepa (Carmen<br />
Maura) die beleuchteten Fenster eines Mietshauses und nimmt<br />
dabei exakt das Gleiche wahr wie James Stewart in Hitchcocks Das<br />
Fenster zum Hof (Rear Window, 1954); Fessle mich! (¡Átame!, 1990)<br />
zitiert das billige spanische Horrorkino der 1960er und 1970er Jahre;<br />
in High Heels – Die Waffen einer Frau, der sich auch auf Ingmar Bergmanns<br />
Herbstsonate (Höstsonaten, 1978) beruft, erklingt Musik aus<br />
Stephen Frears Gefährliche Liebschaften (Dangerous Liaisons, 1988);<br />
La mala Educación – Schlechte Erziehung, dessen Vorspannmusik die<br />
berühmten Geigenstakkatos aus Hitchcocks Psycho (1960) variiert,<br />
kann seine Erziehung durch das Genre des „<strong>Film</strong> noir“ nicht verleugnen;<br />
und mit Volver (Volver, 2006) kehren auch die Heroinen des italienischen<br />
Neo-Realismus sowie Hitchcocks Psycho und Marnie (1964)<br />
auf die Leinwand zurück. Etc. Etc.<br />
Almodóvar selbst will die zahllosen Medienzitate und -anspielungen<br />
in seinen <strong>Film</strong>en aber nicht als ehrerbietige, musealisierende<br />
Hommagen oder eitle Präsentationen kultureller Bildung verstanden<br />
wissen, sondern als aktive Collageelemente: „Der beste Weg, so meine<br />
ich, die Gefühle eines <strong>Film</strong>charakters zu vermitteln, ist, sie durch<br />
einen anderen <strong>Film</strong> vermitteln zu lassen, durch Bilder und Worte,<br />
die man schon kennt.“ Die ausgiebigen Medienbezüge, die etwa in<br />
Sprich mit ihr ein vielstimmiges intermediales Gespräch zwischen<br />
den Kunstformen (Stumm-) <strong>Film</strong>, Literatur, Malerei, Bildhauerei,<br />
Ballett und Stierkampf in Gang setzen, und die Tatsache, dass es sich<br />
bei vielen von Almodóvars <strong>Film</strong>figuren um Regisseure, Bühnenstars<br />
oder Literaten handelt, scheinen aber noch mehr zu bedeuten. Sie<br />
weisen nämlich auf eine undurchdringliche Vermischung von Kunst<br />
und Leben, Realität und Fiktion hin. Und zwar in dem Sinne, dass<br />
sich – wie die scheinbar natürliche und unveränderliche Realität des<br />
Geschlechts im Besonderen – auch die angeblich so wirkliche Wirklichkeit<br />
im Allgemeinen durch die permanente Imitation kultureller<br />
Entwürfe, also fiktiver Vorlagen konstituiert. Hat man dies begriffen,<br />
wird es möglich, die gesellschaftlichen Fremdentwürfe umzuschreiben,<br />
sie in einen eigenen zu verwandeln und wie Agrado den Traum<br />
zu leben, den man von sich selbst hat. Almodóvars Umgang mit seinen<br />
filmischen und sonstigen Vorbildern kennzeichnet sich demzufolge<br />
stets durch aneignende Imitation und produktive Verschiebung. So<br />
wird Joseph L. Mankiewicz’ Kinoklassiker Alles über Eva in Alles<br />
über meine Mutter zwar in vielen Einzelheiten offensichtlich imitiert,<br />
dabei aber zugleich entscheidend modifiziert. Denn Manuela (Cecilia<br />
Roth), die in einigen <strong>Film</strong>szenen augenscheinlich in die Rolle Eve<br />
Harrintons (Anne Baxter) schlüpft, stellt charakterlich das genaue<br />
Gegenteil dieser glatten, kalten und berechnenden Erpresserin dar.<br />
Und auch die Theater-Diva Huma Rojo (Marisa Paredes) unterscheidet<br />
sich im Verlauf der Handlung immer stärker vom zickig-selbstbezogenen<br />
Broadway-Star Margo Channing, den Davis in Mankiewicz’<br />
<strong>Film</strong> so eindrucksvoll verkörpert.<br />
Das Verhältnis von Realität und Fiktion thematisiert das Melodram<br />
Mein blühendes Geheimnis (La flor de mi secreto, 1995) auf<br />
besonders eindringliche Weise. Denn die Schriftstellerin Leo Macías<br />
(Marisa Paredes) verhält sich genauso wie die Heldin eines jener kitschigen<br />
Liebesromane, die sie unter dem Pseudonym Amanda Gris<br />
am laufenden Band produziert, und führt auch ansonsten eine geradezu<br />
buchstäbliche Schrift-Existenz. Eine Tatsache, die Almodóvar<br />
an vielen Stellen des <strong>Film</strong>s raffiniert ins Bild setzt: Kurz bevor Leo<br />
morgens erwacht, blättert der Wind durch die Seiten eines auf dem<br />
Nachttisch abgelegten Buches. Wenn sie ihren Ehemann anruft, verschmilzt<br />
die Tastatur ihres Telefons mit ihrer im Hintergrund sichtbaren<br />
Schreibmaschine, so dass es scheint, als ob sie ihn in diesem<br />
Moment erst schreibend erfinden würde. Und als ihre Ehe endgültig<br />
14 15<br />
kino
ToBiS<br />
ToBiS UniVERSUM<br />
UniVERSUM<br />
kino<br />
Von oben: „Volver“ (2006), „Schlechte Erziehung – La mala educatión“ (2004), „Alles über<br />
meine Mutter“ („Todo sobre mi madre“, 1999), Pedro Almodóvar bei den Dreharbeiten zu<br />
„Zerrissene Umarmungen“<br />
entzwei ist, wankt sie orientierungslos durch einen aus den Flugblättern<br />
eines Demonstrationszuges gebildeten papierenen Schneesturm:<br />
Ihr süßlicher Lebensentwurf ist zerrissen. Nach einem gescheiterten<br />
Selbstmordversuch kehrt Leo in ihr Heimatdorf zur Mutter zurück.<br />
Eine Rückkehr zu ihren natürlichen Wurzeln? Wird sie von nun an<br />
ein „authentisches“, von jeder Fiktionalität gereinigtes Leben führen?<br />
Nein, denn an dieser Stelle füllt Almodóvar die Leinwand ganz<br />
mit einem wunderbaren Bild aus: Eine textile Struktur, eine Textur,<br />
eigentlich die Spitzenklöpplerei der sich dabei Geschichten erzählenden<br />
Nachbarinnen, doch im übertragenen Sinne Text. Leo schreibt<br />
an einem neuen Lebensentwurf, und sie wird fortan andere, bessere<br />
Bücher schreiben. Ihre bisherige Arbeit übernimmt ein kleiner, etwas<br />
dicklicher heterosexueller Mann, Ángel (Juan Echanove), der schon<br />
immer Kitschromanautorin werden wollte und auch gerne Leos Liebhaber<br />
wäre. Doch am Ende des <strong>Film</strong>s macht, wie Christoph Haas in<br />
seinem lesenswerten Buch „Almodóvar. Kino der Leidenschaften“<br />
treffend feststellt, ein „Hinweis auf George Cukors letzten <strong>Film</strong> Die<br />
wilden Reichen (Rich and Famous, 1981) klar: Er ist fortan Leos ‚beste<br />
Freundin.‘“<br />
Wenngleich die <strong>Film</strong>e Almodóvars nur selten explizit schwule<br />
Liebesbeziehungen thematisieren, so dürfen sie doch insofern das<br />
Prädikat „schwul“ für sich beanspruchen, als sie – ganz im Sinne der<br />
„Queer Theory“ – eine spielerische Zersetzung und Reformulierung<br />
traditioneller Geschlechter- und Lebensentwürfe betreiben. Dass<br />
dieses – oberflächlich besehen zuweilen recht unschwule – „Kino der<br />
Möglichkeiten“ vor allem auch ein schwules Publikum anspricht, verwundert<br />
wenig, da dieses permanent zur Suche nach Alternativen zu<br />
den gesellschaftlich immer noch vorherrschenden heterosexuellen<br />
Mustern gezwungen ist. Ein Zwang, der andererseits aber auch eine<br />
Chance und eine Freiheit bedeuten kann.<br />
Zerrissene Umarmungen bleibt den Prinzipien von Almodóvars<br />
„Kino der Möglichkeiten“ treu, ja lässt sie vielleicht noch deutlicher,<br />
raffinierter und eleganter zum Zuge kommen. Im strahlenden<br />
Zentrum des <strong>Film</strong>s steht Almodóvars neue Muse und Leading Lady<br />
Penélope Cruz, die Lena verkörpert, eine Schauspielerin, die auch<br />
in ihrem Privatleben mehrere unterschiedliche Rollen – aufopferungsvolle<br />
Tochter, verschlagene Femme fatale und hingebungsvolle<br />
Geliebte – zu spielen hat und dabei in die unterschiedlichsten und<br />
aufregendsten Kostümierungen schlüpft. Lena ist die Hauptdarstellerin<br />
in Mateo Blancos (Lluis Homar) neuester Komödie „Frauen und<br />
Koffer“, die origineller Weise stark an Almodóvars Frauen am Rande<br />
des Nervenzusammenbruchs erinnert. Doch der Dreh entwickelt sich<br />
zu einem wahren Horrortrip. Denn Regisseur und Darstellerin verlieben<br />
sich sofort unsterblich ineinander, werden jedoch pausenlos von<br />
Lenas älterem und extrem eifersüchtiger Lebensgefährten Ernesto<br />
Martell (José Luis Gómez) observiert. Der mächtige Finanztycoon<br />
und Produzent des <strong>Film</strong>s hat nämlich seinen verkappt schwulen Sohn<br />
(Rubén Ochandiano), der ebenfalls ein Auge auf Mateo geworfen hat,<br />
mit einer Making-Of-Dokumentation der Dreharbeiten beauftragt –<br />
in Wahrheit ein Überwachungsvideo. Zu allem Überfluss blickt auch<br />
noch Mateos Produktionsleiterin Judit (Blanca Portillo) mit Argwohn<br />
auf die neue Verbindung ihres Ex-Geliebten. Unweigerlich läuft die<br />
explosive emotionale Gemengelage auf eine schreckliche künstlerische<br />
und menschliche Katastrophe hinaus, die Tod und Verderben<br />
mit sich bringt und deren Sprengkraft selbst 14 Jahre später noch<br />
ihre Wirkung zeigt. Zerrissene Umarmungen ist nämlich auf mehreren<br />
Zeitebenen angesiedelt und knüpft mit seiner kunstvoll verschlungenen<br />
Erzählstruktur an die formale Virtuosität von La mala<br />
Educación – Schlechte Erziehung an. Abgesehen davon treibt dieser<br />
<strong>Film</strong> das hintergründige Vexierspiel mit Realität und Fiktion auf die<br />
Spitze, zitiert ebenso dreist wie lustvoll bekannte Highlights aus der<br />
Kinogeschichte sowie aus Almodóvars eigenem Werk und wimmelt<br />
dementsprechend von Spiegelungen, Verzerrungen und Verdopplungen.<br />
Das muss man gesehen haben. s<br />
MFA<br />
rADIAnT bAby<br />
von jan künemund<br />
Am 23. juli kommt der Dokumentarfilm „Keith Haring“ von Christina Clausen ins Kino. Er feiert das<br />
kurze und wilde Leben eines Künstlers, der den Pop geliebt hat und von diesem zurückgeliebt wurde.<br />
s Keith Haring (1958–1990) war ein großer Verunreiniger<br />
von Kategorien. Seine Kunst machte die Vorstellungen<br />
von High Art auf der einen und Street Culture auf der<br />
anderen Seite gleichermaßen fraglich.<br />
Aber das war nur einer der vielen Verwirrungen, die<br />
Haring mit seiner Pop-Ikonen-Produktion stiftete. Der<br />
Zusammenhang zwischen Kunst und Kommerz beispielsweise<br />
wurde auf der Ladentheke seiner verschiedenen<br />
Pop Shops und in Deals mit Absolut Vodka und<br />
Swatch verhandelt. Der demokratische Slogan „Kunst<br />
für Jeden“ stammte von einem bestens in den internationalen<br />
Kunstmarkt integrierten Kreativen, um den sich<br />
der Museumszirkus zwischen documenta und Whitney<br />
Biennial rissen. Die Verankerung Harings in der schwulen<br />
Subkultur New Yorks der 1980er Jahre stand einer<br />
massenhaften Verbreitung, ja geradezu Ikonisierung<br />
seiner Werkmotive auf Postern, T-Shirts, Stoffbeuteln<br />
keinesfalls im Weg. Keith Haring hat Warhol und Disney<br />
auf eine Stufe gestellt, hat die Kunstwelt mit<br />
Graffiti, Hip Hop und Skateboarding bekannt<br />
gemacht und die lebensfrohesten, buntesten<br />
Bilder über den Tod gemalt. Er hat Populärkultur<br />
aufgegriffen und sie selbst wieder mit<br />
neuen Motiven versorgt, fast so, als sei er nur<br />
das Medium der durch ihn hindurch laufenden<br />
Bilder, die Menschen tagtäglich als Zeichen<br />
der Lust, Erregung, Angst und Schönheit produzieren.<br />
Doch auch dieses Medium hat eine Biografie.<br />
Ein Jahr vor seinem Tod bat Keith Haring<br />
den bekannten Kulturjournalisten und Biografen<br />
John Gruen darum, sie aufzuschreiben<br />
(„Keith Haring: Die autorisierte Biographie“).<br />
In langen Interviews wurde der bis dahin<br />
30-jährige Lebenslauf rekonstruiert, die Tonbänder<br />
davon existieren noch. Haring erzählt<br />
von seiner Kindheit in Pennsylvania, seinen<br />
Anfängen als Werbegrafik-Student, seiner<br />
autodidaktischen Weiterbildung. Dann, 1978:<br />
New York. Der Kunst-Underground, New<br />
Wave und die schwule Subkultur. Performances<br />
im öffentlichen Raum, Zusammenarbeit<br />
mit anderen Künstlern. Der Erfolg. Die HIV-<br />
Diagnose kam 1988. Zwei Jahre später wird er<br />
daran sterben.<br />
Die dänische, in Italien lebende Dokumentarfilmerin<br />
Christina Clausen hat diese Tonbänder<br />
in ihrem Portrait über Keith Haring<br />
verwendet. Über dem aufbereiteten Material<br />
aus den Archiven und Museen liegt die Stimme des<br />
Künstlers. Aber Clausen hat noch weitere O-Töne im<br />
Gepäck, eine Phalanx aus Wegbegleitern und Freunden,<br />
die Harings Werk aus ihrer Perspektive verfolgt haben<br />
oder sogar Teil davon geworden sind, wie Grace Jones, die<br />
sich für ein Musikvideo von Haring hat anmalen lassen.<br />
Auch Andy Warhol taucht auf, Madonna, Bill T. Jones,<br />
Fab 5 Freddy, David LaChapelle, Kenny Scharf, Junior<br />
Vasquez, Yoko Ono – ein Chor von Menschen, ohne die<br />
das New York der 1980er heute kein Begriff mehr wäre.<br />
Nicht weniger als The Universe of Keith Haring (so der<br />
Originaltitel des Dokumentarfilms) soll mit diesem <strong>Film</strong><br />
abgebildet und gefeiert werden. Ein komplexes Gebilde<br />
aus Trends, Stilen, prominenten und ganz normalen<br />
Menschen, aus Straße und White Cube, aus Krankheit<br />
und Lebensfreude, aus Naivität und Kalkül. Die Kunst der<br />
Verführung war Keith Harings großes Spiel. Die meisten<br />
sind ihm erlegen. s<br />
Keith Haring<br />
von Christina Clausen<br />
FR/IT 2008, 90 Min, dt. Voiceover<br />
MFA, www.mfa-film.de<br />
16 17<br />
Im Kino<br />
Ab 23. Juli<br />
kino
kino<br />
EIn roHEr KErl<br />
MIT HAng zur PoESIE<br />
von andré wendler<br />
Am 4. juni startet jan Krügers neuer Spielfilm „Rückenwind“ in den deutschen Kinos. Unser Autor<br />
meint: „Wenn man diese Bilder sieht, muss es einem gut gehen.“<br />
s Es war wohl eine der schönsten, wenn nicht die schönste Einstellung<br />
der diesjährigen Berlinale. Totale. Die Kamera steht in der Mitte<br />
einer gelblichen Betonpiste die am unteren Bildrand breiter ist als<br />
das Bild. Rechts und links gibt es nichts als Bäume. Sehr weit hinten<br />
sieht es so aus, als ob dort Wasser wäre, vielleicht ein Fluss oder ein<br />
See. Langsam sehen wir zwei Jungs auf Fahrrädern aus der Tiefe des<br />
Bildes auf uns zukommen. Es stellt sich heraus, dass das Wasser tatsächlich<br />
Luftspiegelungen im Sommer sind. Dazu hören wir Klaviermusik,<br />
die bald von zwei Sängern ergänzt wird: im Abspann werden<br />
wir erfahren, dass es Händel gewesen ist. Die Einstellung ist sehr lang<br />
und ich wünsche mir, dass sie niemals aufhört. Die Kamera kommt<br />
in Bewegung und begleitet die beiden Jungs, die hier ein Rennen mit<br />
ihren Rädern veranstalten. Am Ende liegen beide auf dem Rücken und<br />
atmen schwer.<br />
Plansequenz nennt man so etwas. Wenn ich noch einmal darüber<br />
nachdenke, wurde darin wahrscheinlich doch irgendwann geschnit-<br />
ten, aber die Musik klebt das ganze auf wunderbare Art und Weise<br />
zusammen. Im Kopf ist der <strong>Film</strong> anders als auf der Leinwand. Überhaupt<br />
passt der Begriff „Plansequenz“ so gar nicht zu diesem <strong>Film</strong>.<br />
Denn obwohl hier vieles geplant beginnt, mit sehr genauen Aufstellungen<br />
und Arrangements, endet es dann irgendwo, im Ungefähren<br />
oder Möglichen. Einmal stehen Johann und Robin sich gegenüber und<br />
schauen sich in die Augen, nur um sich daraufhin voneinander wegzubewegen<br />
und ein seltsames Fangen und Verstecken im nächtlichen<br />
Wald zu spielen, das in einer unheimlich intensiven erotischen Begegnung<br />
endet. Ein anderes Mal stehen sie Rücken an Rücken auf einem<br />
Feld, schauen voneinander weg, bis einer der beiden sich umdreht und<br />
seinen Kopf an den Hals des anderen legt. Anziehung und Abstoßung,<br />
Kontakt und Ferne, Weglaufen und Einfangen sind die beiden Kräfte,<br />
die hier immer, in praktisch jeder Einstellung präsent sind. Es gibt<br />
keine Nähe ohne Alleinsein, kein Blick in seine Augen ohne dort in<br />
einen tiefen Abgrund zu sehen.<br />
EDiTion SALZGEBER<br />
rückenwind<br />
von Jan Krüger<br />
D 2009, 75 Min<br />
Edition Salzgeber<br />
www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
Ab 4. Juni<br />
Und auch der <strong>Film</strong> ist so ein auseinanderreißendes Zusammensein.<br />
Die aufwendige und feingliedrig durchgearbeitete Tonspur<br />
erzählt eine ganz eigene Geschichte von Brandenburg und dem, was<br />
auf einem Bauernhof geschieht, auf dem die Jungs später landen. Es<br />
überlagern sich Natur- und Menschengeräusche mit Musik und diese<br />
wiederum mit anderen Musikstücken. Oft weiß man nicht mehr, wo<br />
man eigentlich hinhören soll. Das ergänzt sich mit dem Bild nicht zu<br />
einem schönen runden Ganzen, sondern kommentiert es, stellt es in<br />
Frage oder ruft nach Bildern, die man nie zu sehen bekommt. In dem<br />
Haus, in dem die Jungs zusammen in einem Bett übernachten, hört<br />
man einmal Stöhnen und man weiß nicht, wer hier gerade mit wem<br />
etwas macht. Möglichkeiten gibt es genug. Der <strong>Film</strong> projiziert diese<br />
Möglichkeiten immer wieder in die Köpfe der Menschen im Kinosaal<br />
und ist deswegen immer viel mehr als nur ein <strong>Film</strong>. Man kann<br />
sich hier nicht einfach zurücklehnen und die auf der Leinwand mal<br />
machen lassen, sondern man ist dabei: weil man die körperliche Spannung,<br />
die kaum angedeuteten oder handfesten Berührungen förmlich<br />
selbst spürt, weil man nicht so richtig weiß, was die beiden Jungs voneinander<br />
und von anderen eigentlich wollen. Rückenwind appelliert<br />
an unsere eigenen Bilderwünsche: wir wissen wie ein schwuler Kuss<br />
aussehen muss, jeder hat seine eigenen Vorstellungen von schwuler<br />
Liebe. Und die werden hier gründlich, lustvoll, empfindsam und<br />
überraschend durchkreuzt, so dass man als Zuschauer letztlich auf<br />
die selbe Reise geschickt wird wie Robin und Johann.<br />
Der <strong>Film</strong> ist ein roher Kerl mit Hang zur Poesie. Wie Nathan von<br />
Witzlow, der in der Gegend im 18. Jahrhundert immer wieder ausgeweidete<br />
Schwäne auf ihren eigenen Federn drapierte. Wie schön, wie<br />
unverständlich, wie derb ist das. An Rückenwind ist auch nicht alles zu<br />
verstehen. Wenn man aber die Anstrengung aufbringt, ihm die Bürde<br />
der Eindeutigkeit abzunehmen, dann findet man hier einmal einen<br />
<strong>Film</strong>, der schwules Kino ist, wie wir es uns wünschen. Und zwar,<br />
weil er in aller erster Linie Kino ist und nur in zweiter Linie schwul<br />
und sich damit so wohltuend von den furchterregenden Erzählungen<br />
schwuler Liebe abhebt, die Beziehungen zwischen Männern immer<br />
nur im Kontext von Coming Out und HIV situieren. Es gibt mehr<br />
zwischen Männern, Jungs, Kerlen – und Jan Krüger und dem Team<br />
des <strong>Film</strong>s ist die Suche danach mehr als geglückt. Vor allem, weil sie<br />
keine Ergebnisse liefert, die man in die Tasche stecken kann wie Sahnebonbons,<br />
sondern weil der <strong>Film</strong> das Versprechen auf eine wunderbare<br />
Süße ist, die man nur ab und an, in einigen Bildern und Tönen,<br />
in wenigen Augenblicken im Leben spüren kann, weil sie sich nicht<br />
festhalten lässt. Auch davon berichtet der <strong>Film</strong> in seinem Ende und<br />
empfiehlt das Kino, dieses Kino als wirksames Mittel zur Bekämpfung<br />
des Unglücks: wenn man diese Bilder sieht, muss es einem gut<br />
gehen und das beste daran ist: man kann sie immer wieder sehen. s<br />
18 19<br />
kino<br />
Die L-<strong>Film</strong>nacht<br />
und die<br />
Gay-<strong>Film</strong>nacht<br />
im CinemaxX<br />
wünschen Euch<br />
einen schönen<br />
Sommer.<br />
Im September<br />
geht es weiter,<br />
wir freuen uns<br />
auf Euch!<br />
www.l-filmnacht.de<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
Wir bedanken uns bei unseren Partnern:
kino kino<br />
TATE LonDon<br />
„Life“, aus „Death Hope Life Fear“, 1984<br />
KonSErvATIvE<br />
AnArcHISTEn<br />
von martin büsser<br />
Gilbert und George finden sich nicht gay, sondern „sexy“. Ende juli startet julian Coles<br />
Langzeitportrait über das skurrilste Herrenpaar der Kunstwelt im Kino.<br />
s Als Paar sind sie zur Ikone geworden, so sehr miteinander<br />
verbunden, dass man sie einzeln womöglich gar<br />
nicht auf der Straße erkennen würde. Der etwas kleinere<br />
Gilbert Prousch, geboren in den Dolomiten, der sich bis<br />
heute seinen Akzent bewahrt hat, und George Passmore,<br />
der intellektuelle Sprecher und leidenschaftliche Sammler<br />
homoerotischer Literatur aus dem viktorianischen Zeitalter,<br />
sind neben Pierre & Gilles das bekannteste männliche<br />
Paar der Kunstgeschichte. Man kennt sie nur adrett<br />
gekleidet, in Maßanzügen, etwas steif in ihren Bewegungen,<br />
ein britischer Anachronismus, so bieder und distinguiert,<br />
dass alleine schon ihr Auftreten für Irritation<br />
sorgt. Die äußerlich zur Schau gestellte Korrektheit, die<br />
weniger an zwei Dandys als an Versicherungsvertreter<br />
erinnert, wirkt wie ein Fall von schwuler Überaffirmation,<br />
also größtmöglicher Anpassung an gesellschaftliche<br />
Etiketten – doch genau das ist sie nicht. Niemand fällt im<br />
modernen Straßenbild Englands so sehr auf wie dieses<br />
seltsam antiquierte Paar, das sich schon von weitem als<br />
„queer“ im Sinne von schräg zu erkennen gibt. „Wir sind<br />
anders“, markiert das strenge Auftreten, das zugleich im<br />
radikalen Kontrast zu dem Umfeld steht, in dem Gilbert<br />
und George seit mehr als dreißig Jahren arbeiten und<br />
dem sie ihre Motive für großformatige Fotoarbeiten entnehmen.<br />
Britische Jugendliche aus der Arbeiterklasse,<br />
Skinheads ebenso wie Migranten, Obdachlose und Graffitis<br />
mit „four letter words“ wie „shit“ und „fuck“ bilden<br />
das Ausgangsmaterial ihrer frühen Arbeiten, die in einem<br />
Milieu entstanden sind, das so gar nicht zu dem korrekten<br />
Auftreten der beiden Herren passen mag.<br />
Im Rahmen der Serie „Dirty Words Pictures“, einer<br />
Montage aus Selbstbildnissen, Hinterhof-Ansichten und<br />
Graffitis, tauchte 1977 erstmals das Wort „queer“ in einer<br />
ihrer Arbeiten auf. „Wir wollten uns dieses Schimpfwort<br />
aneignen“, erklärt George im <strong>Film</strong>, „und es positiv<br />
für uns umdeuten.“ <strong>Film</strong>emacher Julian Cole, der das<br />
Paar für seine Langfilm-Doku With Gilbert And George<br />
18 Jahre begleitet hat, arbeitete 1986 für Gilbert und<br />
George als Model. „Ich stand für sie vor der Kamera“,<br />
lautet die simple Motivation für seinen <strong>Film</strong>, „nun wollte<br />
ich wissen, wie es ist, wenn sie für mich vor der Kamera<br />
stehen.“ Entstanden ist eine faszinierende Annäherung<br />
an zwei Außenseiter, die sich während ihrer Studienzeit<br />
entschieden haben, gemeinsam als lebende Skulpturen<br />
aufzutreten und die inzwischen zu den größten<br />
Exportschlagern des britischen Kunstmarkts zählen.<br />
Gleichzeitig gelingt es Julian Cole, den queeren Charakter<br />
ihrer Kunst herauszuarbeiten, ohne dass das Leben<br />
der beiden Künstler als schwules Paar näher thematisiert<br />
wird. Das ist jedoch keine falsche Scheu, vielmehr<br />
setzen alle am <strong>Film</strong> Beteiligten diese Lebensform als<br />
Selbstverständlichkeit voraus. Das Wort „gay“, erklärt<br />
George im <strong>Film</strong>, habe er nie gemocht. Er bevorzuge das<br />
Wort „sexy“ als neutrale, von Geschlechtszuweisung<br />
unabhängige Zustandsbeschreibung. „Niemand sagt ‚I<br />
feel heterosexy tonight‘“, scherzt George, gerade deshalb<br />
sei der Begriff „sexy“ so gut, um eine universelle<br />
Lust zu bezeichnen. „Erst kämpften die Heterosexuellen<br />
um sexuelle Befreiung, dann kämpften die Homosexuellen,<br />
doch die nächste Schlacht wird für alle sein“, erklärt<br />
George an einer anderen Stelle im <strong>Film</strong>.<br />
Aufgrund solcher Äußerungen verwundert es nicht,<br />
dass Gilbert und George schon früh den Begriff „queer“<br />
in ihre Arbeit eingeführt haben, um darauf hinzuweisen,<br />
dass ihre Kunst darauf abzielt, sämtliche geschlechtliche<br />
Zuweisungen zu überwinden. Vor diesem Hintergrund<br />
wird auch klar, dass ihr scheinbar normatives Auftreten<br />
nicht der Festigung, sondern der Infragestellung von<br />
Normen gilt. Nichts anderes hatten zum Beispiel frühe<br />
Performances wie „Gordon’s Makes Us Drunk“ von 1971<br />
im Sinn: Gilbert und George filmen sich dabei, wie sie<br />
sich hemmungslos mit Gin abfüllen, immer besoffener<br />
werden und dennoch versuchen, die Fassade der korrekten<br />
Englishmen zu bewahren. Das geht natürlich schief<br />
und sorgt für jede Menge Komik. Gleichzeitig haftet diesen<br />
Bildern aber auch etwas Tragisches an. Mit ihrem<br />
zwanghaften Versuch, keinerlei Enthemmung zuzulassen<br />
und krampfhaft ‚sauber‘ zu wirken, zeigen Gilbert<br />
und George, wie sehr sich gesellschaftliche Normen bis<br />
in unser tiefstes Inneres eingefressen und alle Menschen<br />
zu „living sculptures“ gemacht haben, zu fremdbestimmten,<br />
sozial geformten Apparaten. Es ist nur schade, dass<br />
Julian Cole die Originalaufnahmen solcher Performances<br />
nur für wenige Sekunden in seinen <strong>Film</strong> einstreut, so dass<br />
deren ganze Zerrissenheit zwischen Witz und Melancholie<br />
gar nicht ersichtlich wird.<br />
Der tragische Kern im Werk von Gilbert und George,<br />
der tiefe Ausdruck von Entfremdung und der Wunsch,<br />
diese zu überwinden, ist typisch für die radikale Seite der<br />
künstlerischen Avantgarde, in deren Tradition das Paar<br />
steht. Seit Marcel Duchamps „Readymades“, vom Künstler<br />
unverändert zu Kunstwerken erklärten und ins Museum<br />
With gilbert & george<br />
von Julian Cole<br />
GB 2007, 104 Min<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
20 21<br />
Im Kino<br />
Ab 30. Juli
nATionAL GALLERiES oF SCoTLAnD (U), EDiTion SALZGEBER (o)<br />
kino film-flirt<br />
gestellten Alltagsgegenständen, arbeitet die Avantgarde ebenso verzweifelt<br />
wie unerbittlich daran, die Trennung zwischen Kunst und<br />
Leben zu überwinden, das klassische Kunstwerk abzuschaffen und<br />
letztlich das eigene Leben zum Kunstwerk zu deklarieren. John Cage,<br />
der jeden Ton zur Musik erklärte und die Unbestimmtheit des Happenings<br />
einer klar umrissenen Werkstruktur vorzog, steht ebenso<br />
in dieser Tradition wie Andy Warhol, der sich und seine „Factory“-<br />
Gemeinschaft zum 24-Stunden-Kunstwerk erhoben hatte. Gilbert<br />
und George unterscheiden sich von ihren großen Vorgängern lediglich<br />
darin, dass ihr 24-Stunden-Kunstwerk nur in der Konstellation<br />
als Zweierpaar funktioniert. Einzeln sind die Beiden nicht zu haben.<br />
„Ein Großteil der Menschheit ist in Zweiergruppen aufgeteilt“, erklärt<br />
George, „so gesehen ist es völlig normal, dass wir zu zweit auftreten.“<br />
Und noch etwas ist ihm wichtig, wie er im <strong>Film</strong> erklärt: Beide treten<br />
gleichberechtigt auf. Das unterscheidet Gilbert und George von der<br />
patriarchalisch organisierten Gesellschaft, in der Frauen oft nur als<br />
Statussymbol und Anhängsel der Männer wahrgenommen werden.<br />
Die Avantgarde-Geschichte, in die sich Gilbert und George eingereiht<br />
haben, ist eine queere Geschichte. Andy Warhol war für seine<br />
sexuelle Unbestimmtheit bekannt, John Cage lebte mit dem Choreographen<br />
Merce Cunningham in einer nicht zuletzt auch künstlerisch<br />
symbiotischen Beziehung, und selbst von Marcel Duchamp gibt es ein<br />
Selbstbildnis als Frau, „Rose Selavy“, ein Pseudonym, das Duchamp in<br />
den 1920er-Jahren selbst für einige Jahre benutzte, um sexuelle Festschreibungen<br />
in Frage zu stellen. Warum jener Avantgarde-Zweig,<br />
der an einer Überwindung von Kunst und Lebensalltag interessiert<br />
war, so viele queere Aspekte aufweist, liegt eigentlich auf der Hand:<br />
In der queeren Theorie gelten sexuelle Identität und Geschlecht als<br />
etwas Gemachtes, ein soziales Konstrukt und ein performativer Akt,<br />
der eingelernt werden muss. Gerade der Performance-Kunst war stets<br />
daran gelegen, solche sozialen Zwänge aufzudecken und zu überwinden.<br />
Darum handelt auch die Kunst von Gilbert und George stets von<br />
beiden: Die Künstler spiegeln soziale Zwänge, haben sich bereits in<br />
ihrer legendär gewordenen „Singing Sculpture“ von 1968 wie eine<br />
Mischung aus Roboter und Marionetten inszeniert, um gleichzeitig<br />
spielerisch an deren Demaskierung zu arbeiten.<br />
Der einzige Nachteil an Julian Coles filmischem Portrait besteht<br />
darin, dass er solche historischen Zusammenhänge ausblendet und<br />
ganz seinen beiden Objekten der Begierde verhaftet bleibt. Gilbert<br />
und George wirken dadurch ein wenig wie Inseln im Kunstbetrieb,<br />
losgelöst von jeglichem historischen und ästhetischen Kontext, singulär<br />
und damit auch ein wenig verklärt.<br />
Die Stärke des <strong>Film</strong>s besteht allerdings darin, dass er die Solidarität<br />
des Künstlerpaares gegenüber allen Minoritäten herausarbeitet,<br />
die in der Rezeption oft übersehen worden ist. Seit ihren Anfangstagen<br />
als Künstlerpaar arbeiten Gilbert und George bevorzugt in<br />
den ärmeren Gegenden im Osten von London, wo auch das Portrait<br />
„Paki“ (1986) entstand, das Foto eines jugendlichen Einwanderers.<br />
Linke Kritiker haben darauf hingewiesen, dass „Paki“ ein diskriminierendes<br />
Schimpfwort ist, doch George weist solche Kritik im <strong>Film</strong><br />
zurück und wundert sich, dass niemandem aufgefallen ist, wie sexy<br />
der Junge dargestellt worden sei. So fotografiert niemand einen Menschen,<br />
den er zu diskriminieren beabsichtigt. Das Schmähwort „Paki“<br />
wird von Gilbert und George vielmehr als rassistische Zuschreibung<br />
von Außen benutzt und in Kontrast zu dem sympathischen Portrait<br />
des Jungen gestellt. Dieser taucht noch einmal auf einem anderen<br />
Bild auf, dem Foto „Patriots“ von 1980, wo sechs als Patrioten gekennzeichnete<br />
Jugendliche zu sehen sind, darunter auch zwei Skinheads.<br />
Indem Gilbert und George auch den jugendlichen Migranten unter<br />
die Patrioten eingemeinden, machen sie sich über jegliche Form von<br />
Rassismus lustig. Ihre eigene Vorstellung von Patriotismus ist eher<br />
dessen Gegenteil, nämlich die einer universellen Weltgemeinschaft,<br />
die keine Einteilung in Grenzen mehr kennt.<br />
Julian Cole nähert sich dem Künstlerpaar im konventionellen biographischen<br />
Doku-Stil, beginnend bei deren Geburt bis hin zur spektakulären,<br />
von Gilbert und George selbst organisierten Ausstellung in<br />
China. Der <strong>Film</strong> wagt zwar keine formalen Experimente, doch seine<br />
stringente Form trägt sehr viel zum Verständnis der beiden „lebendigen<br />
Skulpturen“ bei und entspricht vielleicht auch deren Selbstverständnis,<br />
das Gilbert am Ende des <strong>Film</strong>es zusammenfasst: „Wir sind<br />
konservative Anarchisten.“ Was das bedeutet, kann man erahnen,<br />
wenn man sieht, wie die beiden das Publikum in ihrer typisch steifen<br />
Art durch die Ausstellung „Naked Shit Pictures“ (1994) führen.<br />
Zu sehen sind Nacktaufnahmen von Gilbert und George, garniert mit<br />
kunstvoll ornamentalen Abbildungen ihrer eigenen Scheiße, die sie<br />
über Jahre für diesen Bildzyklus fotografiert haben. s<br />
Oben: In China. Unten: „In the piss“, 1997<br />
KinoWELT<br />
Der Moment<br />
von hans stempel und martin ripkens<br />
Hans Stempel und Martin Ripkens sind ein Paar, seit sie sich 1957 in Düsseldorf kennen gelernt haben. Gemeinsam<br />
arbeiteten sie als freie <strong>Film</strong>journalisten, schrieben Kinder- und jugendbücher, drehten für TV („Wie<br />
geht ein Mann“) und Kino („Eine Liebe wie andere auch“). Zu ihren Veröffentlichungen gehören „Ach Kerl<br />
ich krieg dich nicht aus meinem Kopf“, „Hyperion am Bahnhof Zoo“, „Hotel-Geschichten“ sowie die Autobiografie<br />
„Das Glück ist kein Haustier“. 2008 erhielten die beiden den Special Teddy Award auf den Berliner<br />
<strong>Film</strong>festspielen für ihr Lebenswerk.<br />
s Einfaches Hinschauen genügt nicht, oft macht erst ein<br />
kritischer Blick, vielleicht geschärft durch eigene, eigenwillige<br />
Erfahrungen, offenbar, dass scheinbare Nebenfiguren<br />
in einem <strong>Film</strong> oder einem Bild eine zentrale Rolle<br />
spielen. So ist in Dürers Gemälde von der Geburt Christi,<br />
dem berühmten Paumgartner Altar (Alte Pinakothek,<br />
München), erst nach genauem Hinsehen ein Freundespaar<br />
zu entdecken, das weit mehr Interesse für einander<br />
als für die Geburt Christi zeigt. Wenn auch dieses Paar<br />
wie ein dezenter Gastauftritt in einem <strong>Film</strong> im Hintergrund<br />
erscheint, so wurde es doch von Dürer genau ins<br />
Zentrum des Flügelaltars platziert und nicht etwa Christi<br />
Geburt.<br />
Mit entsprechendem Blick lässt sich auch in Fellinis<br />
<strong>Film</strong> I Vitelloni eine schwule Komponente entdecken,<br />
die alles andere als unwesentlich ist. Zu einer Gruppe<br />
geschwätziger Frauenhelden, die einen kleinen Badeort<br />
dominieren, zählt auch Moraldo, ein zurückhaltender<br />
junger Mann, der zunächst fast farblos erscheint. Unbeachtet<br />
streunt er nachts durch die toten Straßen der<br />
Kleinstadt und erlaubt sich nur auf einem Maskenball,<br />
wo er als Matrose auftritt, eine ungewöhnliche Geste:<br />
Er greift einem der Tänzer ins Gesicht und äußert sich<br />
begeistert über die schöne Nase.<br />
Aber schon der sehnsüchtige Blick, mit dem dieser<br />
Moraldo dem Zug nachschaut, in dem seine Schwester<br />
Sandra, geschwängert von Fausto, dem großmäuligsten<br />
der Vitelloni, auf Hochzeitreise geht, verrät, wie sehr<br />
Moraldo von einer anderen, offeneren Welt träumt. Nicht<br />
zufällig führen ihn seine nächtlichen<br />
Wege immer wieder zum<br />
Bahnhof, Wege, auf denen er den<br />
noch jungenhaften Guido trifft, der<br />
zu seiner Frühschicht am Bahnhof<br />
eilt. Und sicher ist es kein Zufall,<br />
dass Moraldos Augen leuchten,<br />
wenn er Guido sieht.<br />
Im vordergründigen Getue der<br />
übrigen Vitelloni, sie alle leben noch<br />
bei Mama und verabscheuen Arbeit,<br />
gehen solche Einstellungen fast<br />
unter. Und erst am Ende des <strong>Film</strong>s,<br />
wenn Fellini sichtbar gemacht hat,<br />
wie wenig seine Müßiggänger (so<br />
der deutsche Titel des <strong>Film</strong>s) fähig<br />
oder willens sind, ihr Leben zu<br />
ändern, erzählt er in einer letzten<br />
langen Sequenz, wie Moraldo sich<br />
aus der vermieften Kleinstadt stiehlt, um mit dem Zug<br />
das Weite zu suchen. Nur von Guido bemerkt, der ihn verwundert<br />
fragt, ob er denn wirklich glaube, dass es woanders<br />
besser sei, sagt Moraldo: „Vielleicht nicht besser, aber<br />
anders!“ Weitmehr in den Blicken, die sie tauschen als in<br />
den Worten, die sie sagen, wird deutlich, was Moraldo für<br />
Guido empfindet. So richten sich denn Moraldos letzte<br />
Blicke, Close-ups, die mit Totalen des trostlosen Bahnhofs<br />
wechseln, auf Guido. Und nach Abfahrt des Zuges<br />
sieht man Guido unsicher auf einem Gleis balancierend,<br />
in seiner rechten Hand eine Bahnwärterlampe.<br />
Wie sehr Fellini diese letzte Sequenz als gewichtige<br />
Antithese zum Kleinbürgerelend versteht, lässt er mit<br />
simplen, doch eindrucksvollen Zwischenschnitten erkennen,<br />
die uns die Vitelloni schlafend in ihren Betten zeigen.<br />
– Nie wieder hat Fellini diese Nähe zum Neorealismus<br />
erreicht wie mit dieser Arbeit, die 1953 entstand. s<br />
I vitelloni<br />
von Federico Fellini<br />
IT/FR 1953, 103 Min<br />
Arthaus, www.kinowelt.de/dvd<br />
Liebe Vielleicht<br />
Angstvoll wird er wach, es ist<br />
drei Uhr nachmittags. In welcher<br />
Ecke Münchens der Junge aus<br />
der Bahn wohl wohnen mag?<br />
Er geht noch einmal unter<br />
die Dusche, betrachtet sich<br />
nachdenklich im Spiegel und<br />
überlegt, was er mit dem Rest<br />
des Tages machen soll.<br />
Der neue Roman des<br />
Autorenpaares Hans Stempel<br />
und Martin Ripkens webt um<br />
die Geschäfte und Cafés des<br />
Münchner Gärtnerplatzviertels<br />
ein Geflecht aus Stimmungen,<br />
Gelegenheiten, Blickfängen<br />
und Sommerhitze. Dreimal<br />
müssen der junge Boris und<br />
der doppelt so alte Robert<br />
sich zufällig treffen, bis sie es<br />
wagen, an Liebe zu denken.<br />
So leicht, wie die Menschen<br />
in diesem Roman durch die<br />
Stadt treiben, ist das auch<br />
geschrieben, vom notwendig<br />
dramatischen Ende einmal<br />
abgesehen. Eine klare, präzise<br />
Sprache erfasst die Momente,<br />
in denen alles möglich<br />
erscheint, und die dennoch<br />
so leicht zu verpassen sind.<br />
„Liebe Vielleicht“ ist ein<br />
Szene-Roman aus München<br />
und man fühlt sich beim<br />
Lesen, als säße man selbst<br />
dort, am Gärtnerplatz:<br />
Menschen wie Boris oder<br />
Robert flanierten an einem<br />
vorbei und man bräuchte<br />
ihnen nur eine gemeinsame<br />
Geschichte zu geben.<br />
liebe vielleicht<br />
von Hans Stempel und Martin Ripkens<br />
Querverlag, www.querverlag.de<br />
22 23
profil<br />
Kaltmiete | Speed Dating<br />
von Gregor Buchkremer<br />
D 2007, 76 Min<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
„EIn FIlM MuSS<br />
DIcHT SEIn.“<br />
von hanno stecher<br />
Der junge deutsche Regisseur Gregor Buchkremer macht queeres Genrekino.<br />
SiSSY sprach mit ihm über seine <strong>Film</strong>e „Kaltmiete“ und „Speed Dating“.<br />
s Der 29-jährige Gregor Buchkremer ist Absolvent der<br />
Kölner Hochschule für Medienkunst. Obwohl er in seiner<br />
Arbeit auf klassische Erzähltechniken sowie auf handwerkliche<br />
Präzision setzt und sich immer wieder neu an<br />
herkömmlichen Genregrenzen abarbeitet, zeichnen sich<br />
seine <strong>Film</strong>e durch einen ganz eigenen Duktus aus. Sie<br />
hadern stets mit den Konventionen des Kinos und hebeln<br />
diese bisweilen auch ganz aus. Zu Buchkremers wichtigsten<br />
Stilmitteln gehören dabei insbesondere sein für das<br />
deutsche Kino überraschend trockener und treffsicherer<br />
schwarzer Humor, sowie eine Schwäche für Elemente<br />
der Überzeichnung und Verfremdung, die immer wieder<br />
Assoziationen an alte Grusel- oder Trashklassiker hervorrufen.<br />
Wichtigstes Beispiel dieses Zusammenspiels aus<br />
Humor und Horror ist der <strong>Film</strong> Kaltmiete. Der 45-Minüter<br />
erzählt die Geschichte einer Studenten-WG, deren vier<br />
Bewohner sich einen zermürbenden Kleinkrieg liefern:<br />
Einer von ihnen bleibt für den Zuschauer bis zum Schluss<br />
ein Phantom – er hat sich seit Tagen in seinem Zimmer<br />
verschanzt, was eine eigenartige zwischenmenschliche<br />
Dynamik unter seinen Zimmernachbarn in Gang ruft.<br />
Nach und nach offenbart sich wie in einem Kammerspiel<br />
das komplizierte Beziehungsgeflecht innerhalb der WG.<br />
Es dauert nicht lange, bis die Nerven blank liegen und die<br />
Geschichte in gleich mehreren persönlichen Tragödien<br />
endet. Auch in Speed Dating lauert das Grauen direkt<br />
unter der Oberfläche. Das Prinzip des <strong>Film</strong>s ist schnell<br />
erzählt: Wer keinen Partner hat, stirbt. Die Suche nach<br />
Liebe wird für die Protagonisten des <strong>Film</strong>s, egal ob homo<br />
oder hetero, zum Überlebenskampf. Der Kurzfilm kann<br />
so als Satire auf eine Gesellschaft verstanden werden, in<br />
der die monogame Zweierbeziehung nach wie vor idealisiert<br />
wird, während der große Teil der Individuen um<br />
sich selbst kreist und damit letztlich unfähig ist, eine<br />
Beziehung nach den selbst gestellten Vorgaben zu leben.<br />
Gemeinsam ist Buchkremers Debütfilmen, dass sie<br />
fast schon auffällig stark mit den Erwartungshaltungen<br />
und Sehgewohnheiten des Zuschauers spielen und diese<br />
notorisch unterlaufen. Und tatsächlich gehört die Möglichkeit,<br />
den Zuschauer zu führen und immer wieder auf<br />
eine falsche Fährte zu locken, für Gregor Buchkremer zu<br />
den reizvollsten Instrumenten des Mediums <strong>Film</strong>, wie er<br />
im Interview erzählt. Ebenso wie die filmische Reflektion<br />
des eigenen Umfeldes, die er mit viel Liebe zum Detail<br />
und zu seinen Figuren betreibt.<br />
Während der Vorbereitung zu seinem ersten Langfilm hat<br />
sich der Regisseur für SISSY Zeit genommen und ein paar<br />
Fragen beantwortet.<br />
GREGoR LöCHER<br />
sissy: Deine <strong>Film</strong>e spielen – ähnlich wie Seifenopern – fast alle in einem<br />
bestimmten sozialen Milieu. Es sind junge Menschen zwischen 20 und<br />
30 und die meisten von ihnen scheinen Studenten oder Leute aus der<br />
Kreativwirtschaft zu sein. Was reizt Dich daran, deine Geschichten<br />
gerade in diesem Gesellschaftsbereich anzusiedeln?<br />
gregor buchkremer: Ich sehe mich auch selbst in so einem Milieu<br />
– meine Freunde und Bekannten sind alle dort zu finden. Mir liegt<br />
es nicht unbedingt, Geschichten zu schreiben, die zu weit von mir<br />
selbst entfernt sind, ich sehe mich lieber in meinem Umfeld um und<br />
beschäftige mich mit dem, was dort passiert. Das finde ich einfach<br />
spannender und ich fühle mich da sicherer. Ich kenne viele Leute im<br />
<strong>Film</strong>bereich, die bewusst irgendwelche Themen bearbeiten, die weit<br />
weg von ihrem eigenen Leben sind, die sie vielleicht nur aus Zeitungsartikeln<br />
kennen. Ich glaube die Gefahr ist dann groß, dass man etwas<br />
falsch macht.<br />
Geht es bei diesem „vor der eigenen Tür kehren“ auch um den Gedanken,<br />
genauer hinschauen zu können? Mir kommt es manchmal so vor,<br />
als wolltest Du mit Deinen <strong>Film</strong>en auch kleine Milieustudien liefern.<br />
Auf jeden Fall. Ich habe das Gefühl, dass ich mit meinen Drehbüchern<br />
und <strong>Film</strong>en nicht nur dem Zuschauer, sondern auch mir selbst<br />
bestimmte Zusammenhänge erklären will. Ich versuche das, was<br />
mich beschäftigt, in eine Form zu packen, eine Ordnung herzustellen<br />
oder ein Muster zu entwickeln und dadurch einen neuen Blick darauf<br />
zu werfen. Und manchmal finde ich auf diesem Weg tatsächlich etwas<br />
ganz Neues über mich oder meine Umwelt heraus.<br />
Gleichzeitig wird von ‚anspruchsvollen‘ <strong>Film</strong>en ja immer auch verlangt,<br />
dass sie über den Tellerrand blicken können, dass sie sich z.B. mit gesellschaftlichen<br />
Problemen oder mit den speziellen Problemen von sozialen<br />
Minderheiten auseinandersetzen.<br />
Ich will kein Betroffenheitskino machen für Leute, die ins Kino<br />
gehen und sich einen dramatischen <strong>Film</strong> über Drogen, Migration<br />
oder Vergewaltigung ansehen und dann denken, sie seien durch den<br />
Kinobesuch bessere Menschen geworden. Das liegt mir nicht. Es gibt<br />
da sicherlich viele tolle <strong>Film</strong>e in diesem Bereich, aber es gibt auch<br />
viele <strong>Film</strong>emacher, die da auf Nummer sicher gehen und auf Teufel<br />
komm raus einen ‚Problemfilm‘ machen wollen. Natürlich will aber<br />
auch jeder, der <strong>Film</strong>e macht oder Drehbücher schreibt, der Welt seinen<br />
Blickwinkel aufdrängen. Trotzdem ist es mein Hauptanliegen,<br />
mit meinen <strong>Film</strong>en zu unterhalten, Momente zu schaffen, wo ich<br />
als Regisseur dann einfach will, das der Zuschauer genau an dieser<br />
bestimmten Stelle lacht oder erschrickt. Das Timing ist mir da total<br />
wichtig. Ich denke, dass der Zuschauer viel mehr mitnimmt, wenn er<br />
sich unterhalten fühlt und sich nicht die ganze Zeit den Kopf zerbrechen<br />
muss. Mehr auf jeden Fall, als wenn er die ganze Zeit den erhobenen<br />
Zeigefinger auf der Leinwand sieht.<br />
War es für Dich als jemand, der an einer Medienkunsthochschule studiert<br />
hat, schwierig, sich mit diesem Anspruch durchzusetzen? Da hat<br />
man sich ja sicherlich etwas anderes unter Kunst vorgestellt als das,<br />
was Du in Deinen <strong>Film</strong>en machst.<br />
Es war in beide Richtungen schwierig. Ich war ja in der Fächergruppe<br />
Medienkunst, wo es überhaupt nicht üblich ist, narrative <strong>Film</strong>e zu<br />
machen. Und auch meine Prüfer, u.a. Marcel Odenbach und Mattthias<br />
Müller, waren ja größtenteils Medienkünstler. Da war es dann schon<br />
so, dass ich das Narrative verteidigen musste. Auf der anderen Seite<br />
stachen die <strong>Film</strong>e auch im Fachbereich <strong>Film</strong> und Fernsehen heraus,<br />
weil es sich bei Speed Dating ja um eine Komödie bzw. um eine Satire<br />
und bei Kaltmiete um einen Thriller handelt. Alle anderen hatten Dramen,<br />
kurze Dramen, während ich Genrefilme gemacht habe. Das war<br />
da total exotisch, da war ich wirklich der Einzige. Ich hatte oft das<br />
Gefühl, dass ich mich auf beiden Seiten rechtfertigen muss, obwohl<br />
ich meine <strong>Film</strong>e persönlich nicht so außergewöhnlich finde, im Kino<br />
und Fernsehen laufen doch auch fast ausschließlich Genrefilme.<br />
Wobei Du ähnlich wie Alfred Hitchcock, der, wie ich weiß, zu Deinen<br />
Vorbildern gehört, ja auch bewusst mit Genres spielst. Neben den unter-<br />
haltsamen Momenten gibt es auch noch viele andere Ebenen, die man<br />
vielleicht auf den ersten Blick nicht unbedingt bemerkt.<br />
Das stimmt schon. Da geht es aber auch wieder um einen bestimmten<br />
Anspruch, den ich an Unterhaltung habe. Wenn Hitchcock beispielsweise<br />
aus Psycho ein klassisches Drama über einen Mann mit<br />
einer gespaltenen Persönlichkeit gemacht hätte, das dieses Thema<br />
völlig ausreizt, wäre der <strong>Film</strong> sicher weniger hängen geblieben und<br />
wohl auch nicht so gut geworden. Er wirkt ja dadurch, dass die Schizophrenie<br />
eben zum großen Twist der Geschichte gehört. Trotzdem<br />
ist sie Teil des <strong>Film</strong>s. Ich mag einfach die Technik auch, wie <strong>Film</strong> über<br />
Schnitt funktioniert, über Sound, über eingelöste oder nicht eingelöste<br />
Erwartungshaltungen der Zuschauer. So funktioniert <strong>Film</strong> für mich,<br />
das ist das schöne daran, dass man die Zuschauer dirigieren kann.<br />
Deine <strong>Film</strong>e sind auch sehr dicht. Es gibt wenige Flächen. Ist Dir das<br />
wichtig?<br />
Meiner Meinung nach muss ein <strong>Film</strong> total dicht sein und ein gewisses<br />
Tempo haben. Manchmal ist es ganz gut, wenn es Momente gibt,<br />
wo man etwas ruhen lässt und vielleicht nur ein einzelnes Bild zeigt.<br />
Aber das muss schon wirklich total durchkomponiert sein, man darf<br />
ja auch nicht vergessen, dass <strong>Film</strong> unheimlich teuer ist. Ich würde in<br />
einem Drehbuch nie auch nur einen Satz ausgesprochen haben wollen,<br />
den ich eigentlich überflüssig finde. Ich sehe meine <strong>Film</strong>e als<br />
Chance, ein kleines eineinhalbstündiges Universum zu eröffnen und<br />
würde die Protagonisten daher nie Füllwörter sagen lassen, nur weil<br />
man das im normalen Leben so macht. Ich achte darauf, dass auch<br />
in dieser kleinen Geste irgend etwas steckt, was wichtig ist, damit<br />
man nicht aussteigt beim Zusehen. Es gibt ja viele <strong>Film</strong>e, die in sich<br />
total unlogisch sind, wenn man länger darüber nachdenkt. Die haben<br />
dann aber oft so ein tolles Tempo, dass man gar keine Zeit hat darüber<br />
nachzudenken, was da gerade alles schief läuft, das ist dann gar nicht<br />
so wichtig.<br />
Das ist ja dann eigentlich eine sehr klassische Perspektive auf <strong>Film</strong>. Für<br />
Dich steht die Illusion im Vordergrund.<br />
Das ist ja auch der Grund, warum ich Lynch so gerne mag, weil ich<br />
denke, dass er die Leinwand eben für sich so richtig nutzt. Er nutzt<br />
sie um Dinge zu behaupten, egal ob das nun ‚realistisch‘ ist oder nicht.<br />
Ich mag das lieber als das bloße Abbilden, da liegen meine Stärken,<br />
denke ich.<br />
Das Thema Homosexualität spielt zwar immer eine Rolle in Deinen <strong>Film</strong>en,<br />
ist aber immer verwoben in einen größeren Zusammenhang. Hast<br />
Du Dir schon einmal überlegt, einen schwulen <strong>Film</strong> zu machen, bei dem<br />
schwule Beziehungen im Vordergrund stehen?<br />
Das würde ich gerne. Ich glaube nur, dass ich das aus taktischen Gründen<br />
nicht als Debütfilm machen könnte. Ich habe ja gerade erst mein<br />
neues Drehbuch fertiggestellt. Das wird dann vielleicht mein zweiter<br />
oder dritter <strong>Film</strong>. Ich würde gerne eine schwule Komödie machen,<br />
darüber denke ich oft nach. Ein <strong>Film</strong>, in dem wirklich alles durch<br />
und durch schwul ist, der aber eben kein ‚Szenefilm‘ oder Coming<br />
Out-<strong>Film</strong> werden soll, mit rosa <strong>Film</strong>plakat und nackten Oberkörpern<br />
von geilen Typen. Es soll kein Problemfilm werden, einfach eine ganz<br />
gewöhnliche Komödie.<br />
Warum ist es denn Deiner Meinung nach so schwierig, solch einen <strong>Film</strong><br />
als Projekt durchzusetzen?<br />
Die ganzen Redakteure und Produzenten, die ganzen Hände, durch die<br />
so ein Buch geht, die sind genauso schwul wie der Rest von Deutschland,<br />
eben nur zu einem kleinen Prozentsatz. Die werden dann immer<br />
diesen Stempel ‚schwul‘ draufsetzen und dann auch immer nach den<br />
‚Problemen‘ suchen oder das Drehbuch in diese Richtung ändern wollen.<br />
Das wird sich auch leider nicht einfach so ändern. s<br />
24 25<br />
profil
profil<br />
„MEIn<br />
THErAPEuT<br />
IST AnDErEr<br />
MEInung.“<br />
interview: paul schulz<br />
jamie Travis gilt mit 29 als der vielleicht talentierteste <strong>Film</strong>emacher Kanadas und ist einer der meist<br />
ausgezeichneten Regisseure seines Landes. Dabei besteht sein gesamtes Œuvre aus fünf ziemlich<br />
schwulen Kurzfilmen, die jetzt auf einer DVD erschienen sind. Ein Gespräch über Hitchcock,<br />
Waschzwang und Sex unter Teenagern.<br />
sissy: Ich habe gerade alle <strong>Film</strong>e gesehen, die du in den letzten sechs<br />
Jahren gemacht hast. Und zwar in weniger als zwei Stunden. Ist es<br />
nicht frustrierend, dass ich das schaffen kann?<br />
Jamie Travis: Überhaupt nicht. Es sind ja gute <strong>Film</strong>e, auch wenn sie<br />
kurz sind. Und sie passen auch stilistisch sehr gut zusammen. Hattest<br />
du denn Spaß beim Kucken?<br />
Ja. Aber ich würde gern wissen, wie autobiografisch die <strong>Film</strong>e sind.<br />
Das ist mir beim Machen selbst nicht bewusst gewesen, aber retrospektiv<br />
betrachtet sind alle meine <strong>Film</strong>e ziemlich autobiografisch.<br />
Jetzt mache ich mir Sorgen um dich.<br />
Das ist nett, aber unnötig.<br />
Wirklich? Alle deine <strong>Film</strong>e handeln von sehr unglücklichen Kindern<br />
oder psychisch gestörten Erwachsenen, oder beidem.<br />
Das ist wahr.<br />
Warst du ein glückliches Kind?<br />
Ich würde sagen ja. Mein Therapeut ist allerdings anderer Meinung.<br />
Könntest du das ausführen?<br />
Ich war ein Kind mit riesiger Vorstellungskraft, sehr theatralisch.<br />
Und damit auch relativ selbstzufrieden, weil ich in meiner Phantasie<br />
ja immer sein oder werden konnte was ich wollte. Ich habe als Knirps<br />
stundenlang am offenen Kamin gesessen und Tee getrunken. Das war<br />
nie langweilig, weil ich gespielt habe, dass ich eine echte Lady bin, die<br />
Tee trinkt. Der große weibliche <strong>Film</strong>star in mir konnte sich allerdings<br />
auch ab und zu melodramatisch die Treppe herunter werfen, was ich<br />
dann auch getan habe.<br />
Mochten dich deine Eltern?<br />
(lacht) Ja, sehr.<br />
Hattest du viele Freunde?<br />
Nicht wirklich, das war auch nicht notwendig. Als Teenager war ich<br />
nie jemand, der viel getrunken oder Drogen genommen hat. Im Gegenteil,<br />
ich war ein echter Streber und man traf mich Samstag Abend eher<br />
in der Bibliothek als in irgendwelchen Clubs.<br />
Du hast die 90er also eigentlich komplett verpasst.<br />
Ich sehe das nicht so. Es war enorm wichtig für mich, sehr gute Noten<br />
zu bekommen. Eine 2+ war schon ein echtes Problem.<br />
Warum?<br />
Die Schule war meine Arbeit. Ich wollte Dingen auf den Grund gehen<br />
und sie so gut wie irgend möglich machen.<br />
Wo ist da die Grenze zur Obsession, perfekt sein zu wollen, in dem Wissen,<br />
nicht perfekt sein zu können?<br />
Natürlich ist genau das mein Problem. Aber ich arbeite daran, nicht<br />
mehr ein solcher Kontroll-Freak zu sein.<br />
Das ist schade. Denn letzten Endes leben doch deine <strong>Film</strong>e stilistisch<br />
wie inhaltlich genau davon, dass deine Figuren und du alles perfekt<br />
machen wollt.<br />
Ja. Aber das ist weder für meine Figuren noch für mich besonders<br />
schön, menschlich gesehen.<br />
Entschädigt der Erfolg nicht ein bisschen? Du hattest mit unter 30 deine<br />
erste Retrospektive im London Museum of Modern Art und giltst als<br />
einer der besten <strong>Film</strong>emacher Kanadas.<br />
Jetzt stell dir mal vor, ich würde mir die ganze Mühe machen, jede<br />
Vorhangfalte in meinen <strong>Film</strong>en kontrollieren, mir stundenlang den<br />
Kopf über Kleinigkeiten zermartern und hätte damit keinen Erfolg.<br />
Das wäre doch furchtbar!<br />
Ja. Du musst am Set ein echter Alptraum sein.<br />
Nein, bin ich nicht. Wenn ich drehe ist ja alles durchgeplant. Da fühle<br />
ich mich sicher.<br />
Du fungierst bei vielen deiner <strong>Film</strong>e gleichzeitig als Drehbuchautor,<br />
Produzent, Set-Designer und Regisseur. Um das Endergebnis möglichst<br />
genau unter Kontrolle zu haben, richtig?<br />
Ja, natürlich. Aber ich bemühe mich, mich selbst dabei genauso ironisch<br />
zu betrachten wie meine Figuren. Denn letzten Endes sind alle<br />
meine <strong>Film</strong>e ja auch Komödien. Schräge Komödien, aber Komödien.<br />
Wenn ich wie bei Patterns (Muster) einen <strong>Film</strong> mache, der auch davon<br />
Michael Kurliak als Chester in „Warum die Anderson-Kinder nicht zum Essen kamen“<br />
handelt, wie jemand sich zwanghaft die Hände wäscht, dann mache<br />
ich mich dabei ja auch über mich selbst lustig. Ich bin also durchaus<br />
in der Lage, Distanz zu meinen eigenen Topoi aufzubauen. Wie sollte<br />
ich sie sonst auch künstlerisch verarbeiten.<br />
Dein Stil wird oft mit dem von Hitchcock und Kubrick verglichen. Deren<br />
<strong>Film</strong>e sind auch Widerspiegelungen ihrer psychischen Zustände.<br />
Ja, und sie sind beide sehr statische <strong>Film</strong>emacher, die große Freude<br />
daran haben, ein Bild mit Bedeutungen aufzuladen und ihm mehr<br />
als eine Ebene zu geben. Das verstehe ich gut. Ich habe vor ein paar<br />
Wochen zum ersten Mal Marnie gesehen und konnte mich dabei nur<br />
sehr eingeschränkt auf die Handlung konzentrieren, weil ich so fasziniert<br />
davon war, wie Hitchcock in diesem <strong>Film</strong> mit Bildsprache<br />
umgeht. Sein Stil wird oft als kalt angesehen, weil die Bilder so durchkomponiert<br />
und kontrolliert sind. Aber das macht vieles in seinen <strong>Film</strong>en<br />
erst möglich.<br />
Wie bei dir. Nur das deine <strong>Film</strong>e zwar unfassbar durchkomponiert, aber<br />
auch quietschbunt sind. Wie wichtig ist Farbe für dich?<br />
Sehr wichtig. Wie überhaupt das ganze Production Design unglaublich<br />
wichtig für mich ist. Es fällt mir sehr schwer, das aus der Hand<br />
zu geben. Aber bei meinem neuen <strong>Film</strong>, den ich gerade vorbereite, tue<br />
ich es. Die Lösung: Wenn es dir wichtig ist, dass die Vorhänge in einer<br />
Szene auf eine ganz bestimmte Art und Weise hängen, such dir jemanden,<br />
der sie genau so hängt. Auch Hitchcock, Kubrick oder Fassbinder<br />
haben immer wieder mit den selben Leuten gearbeitet. Wenn man<br />
etwas nicht selbst machen kann, muss man sich nur Leute suchen, die<br />
es genauso tun, wie man es selbst machen würde.<br />
Leute mit der gleichen Macke.<br />
Ja, sehr richtig. (lacht)<br />
Wie schwul sind deine <strong>Film</strong>e und Figuren?<br />
So schwul wie ich. Was die Bilder und Sets angeht also sehr. Ich weiß<br />
nicht, ob sich 100%ig heterosexuelle Männer diese Mühe überhaupt<br />
machen würden. Bei den Figuren kann ich dir das nicht klar beant-<br />
worten. Das The saddest boy in the world bei schwulen Männern so<br />
gut an kommt, hat mich überrascht, aber auch hier werden mir viele<br />
Bezüge erst retrospektiv klar. Wahrscheinlich ist das ein schwules<br />
Kind, auch wenn es zu jung ist, um seine Entfremdung zu den anderen<br />
Kindern darauf zurückzuführen.<br />
Warst du so?<br />
Ja. Ich hatte seit ich 14 war Sex mit meinem besten Freund, aber wenn<br />
du mich an einen Lügendetektor angeschlossen hättest, hätte ich bis<br />
zu meinem Coming Out glaubhaft versichern können, heterosexuell<br />
zu sein. Mein Sex mit ihm hatte einfach nichts mit dem zu tun,<br />
was ich als „schwul“ kannte. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das<br />
zusammen gebracht habe.<br />
Ist es das, wobei dir deine <strong>Film</strong>e helfen?<br />
Wahrscheinlich. Ich benutze meine <strong>Film</strong>e selbst hauptsächlich dazu:<br />
wenn ich sie ansehe, verstehe ich besser, was in mir vorgeht. Und vielen<br />
im Publikum geht das wohl auch so. s<br />
Der traurigste Junge der Welt<br />
Kurzfilme von Jamie Travis<br />
CA 2003–2006, 70 Min<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Wir bedanken uns bei unseren Partnern:<br />
26 27<br />
profil<br />
EDiTion SALZGEBER
frisch ausgepackt<br />
neu auf DvD<br />
von jan künemund<br />
Good Boys<br />
iL 2005, Regie: Yair Hochner, Gmfilms<br />
Dieser kompromisslose<br />
Spielfilm über zwei<br />
Stricher in Tel Aviv<br />
war die erste Regiearbeit<br />
von Yair Hochner,<br />
der ursprünglich nur<br />
das Drehbuch schreiben<br />
wollte. In 16 Tagen<br />
gedreht, ohne Geld und<br />
Unterstützung durch<br />
das israelische <strong>Film</strong>system, auf der Grundlage<br />
freiwilliger Mitarbeit von Freunden, eroberte<br />
dieser <strong>Film</strong> die schwullesbischen Festivals und<br />
brachte es hierzulande sogar zu einem kleinen<br />
Kinostart. Hochners raue Tel Aviver Nachtstudie<br />
macht das, was man mit einer geringen<br />
Ausstattung machen kann: er bleibt dicht an<br />
der vorgefundenen Realität. Er begleitet die<br />
beiden Jungs durch 1 ½ Tage, in skurrilen und<br />
gefährlichen Situationen ihrer Arbeit und lässt<br />
dabei immer wieder Öffnungen zu einem ‚besseren<br />
Leben‘ aufscheinen: dass die Jungs Halt<br />
in ihrer Szene, dass zwei Stricher vielleicht<br />
miteinander die Liebe finden. Doch Good Boys<br />
ist realistisch genug, um keine einfache Abfahrt<br />
zu nehmen. Sein eigentliches Thema findet der<br />
<strong>Film</strong> im Aufspüren einer Würde, die oft genug<br />
ohne Selbstbestimmung hergestellt wird. Nicht<br />
nur darin gelingt die Verbeugung vor Godards<br />
Vivre sa vie, den Hochner für den besten <strong>Film</strong><br />
hält, der jemals über die Prostitution gemacht<br />
wurde.<br />
AntArticA<br />
iL 2008, Regie: Yair Hochner, Pro-Fun Media<br />
Zeitgleich zu seinem<br />
Debüt Good Boys ist<br />
jetzt auch Yair Hochners<br />
zweiter <strong>Film</strong> in<br />
Deutschland auf DVD<br />
erschienen. Der israelische<br />
Regisseur ist mittlerweile<br />
ein angesehener<br />
<strong>Film</strong>kritiker und<br />
hat 2006 das TLVFest<br />
(Tel Aviv Int. LGBT <strong>Film</strong> Festival) mitgegründet,<br />
dessen künstlerischer Leiter er ist. Anders<br />
als sein radikales Debüt versteht sich Antartica<br />
als leichter urbaner Flirt-Reigen einiger attraktiver<br />
20- und 30somethings in der hippen<br />
Homoszene Tel Avivs, die sich nicht mit den<br />
28<br />
düsteren Seiten der Stadt auseinander setzen<br />
müssen. Doch liegen auch hier die Dramen und<br />
Untiefen der Figuren nicht allzu tief unter der<br />
Oberfläche – denn so verstrickt und verknotet<br />
sich die Szene hier auch darstellt, gerät der<br />
oder die Einzelne doch immer in die Gefahr,<br />
zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Im<br />
Erzählgeflecht des <strong>Film</strong>s weiß man bis zum<br />
Ende nicht, wer denn nun zu wem finden wird<br />
– und ob jemand gar auf der Strecke bleibt. Und<br />
es gelingt Hochner dabei, die schönen Singles<br />
hinreichend komplex zu zeichnen, so dass zum<br />
genussvollen Anschauen auch das Mitfühlen<br />
hinzukommt.<br />
otto; or, up with deAd people<br />
D/CA 2008, Regie: Bruce LaBruce, Gmfilms<br />
„Otto; Or, Up With Dead<br />
People ist ein schwuler<br />
Zombiefilm. Keine reine<br />
Parodie, sondern auch<br />
die vielleicht logischste<br />
Fortführung des Genres<br />
seit langer Zeit. Die<br />
Geschichte um Otto,<br />
einen jungen Zombie,<br />
der sich in einem<br />
unwirklich inszenierten Berlin auf die Suche<br />
nach seiner Todesursache begibt und dabei fast<br />
von der kulturellen Interpretationsmaschine<br />
geschluckt wird, ist ein wahres Heldenepos.<br />
Das Publikum dringt in Welten vor, die ganz<br />
vertraut aber doch unwirklich erscheinen, und<br />
kann nie sicher sein, ob es den <strong>Film</strong> falsch versteht<br />
oder ob man Otto… überhaupt richtig verstehen<br />
kann. Und ob es nicht vielleicht einzig<br />
und allein um das shock-value der Bilder geht,<br />
wenn LaBruce seinen essgestört dürren, aber<br />
ätherisch schönen Hauptdarsteller an scheinbar<br />
echten Hasenleichen herumnagen lässt<br />
oder Untote sich in erst durch Verwesung entstandene<br />
Körperöffnungen hinein begatten. So<br />
sieht heldenhafte Konsequenz aus: für Durchschnittsaugen<br />
eben immer auch ein bisschen<br />
nach Lizzie Borderline.“ (Paul Schulz in der<br />
SISSY 01/09)<br />
der trAuriGste junGe der welt.<br />
kurzfilme von jAmie trAvis<br />
CA 2003–06, Regie: jamie Travis, Edition Salzgeber<br />
Das (wir hoffen: vorläufige) Gesamtwerk des<br />
jungen kanadischen <strong>Film</strong>emachers Jamie<br />
Travis ist ein Katalog aus hysterischen Innen-<br />
einrichtungen,traurigen Kindern und allen<br />
Arten von Mustern (von<br />
Tapeten und von filmischen<br />
Erzählweisen).<br />
In Anlehnung an die<br />
Bezeichnung für <strong>Film</strong>emacher<br />
wie Wes Anderson,<br />
Alexander Payne<br />
oder Todd Solondz darf<br />
man Jamie Travis den ersten der „Canadian<br />
Eccentrics“ nennen. Mehr dazu auf Seite 26.<br />
cominG of AGe, vol. 1<br />
USA/GB/FR 1994–2004, Regie: Raoul o’Connell, W.i.Z.,<br />
Armand Lameloise, CMV Laservision<br />
„Coming of Age“ ist<br />
der unscharfe Begriff<br />
für einen Zwischenzustand.<br />
Der aber schon<br />
impliziert, dass am Ende<br />
der vollwertige Erwachsene<br />
steht, der über sich<br />
Klarheit gewonnen hat<br />
und diese nach außen<br />
auch vermitteln kann.<br />
Jede Lesbe und jeder Schwule wird zwangsläufig<br />
das Coming Out damit verbinden und für<br />
diesen gedanklichen Kurzschluss ist der Klassiker<br />
A Friend of Dorothy von 1994 ein schönes<br />
und sehr charmantes Beispiel. Hier fängt<br />
ein junger Mann, seinen Eltern entronnen,<br />
an zu leben. Zwar mit der Hilfe von Barbara<br />
Streisand, aber das ist spätestens dann nicht<br />
mehr so wichtig, als er einen hübschen Judy-<br />
Garland-Fan trifft. Wie man aber für einen<br />
erotischen Schwebezustand Bilder findet, zeigt<br />
die Kurzfilmentdeckung Baby des Music-Clip<br />
(u.a. für Oasis und Massive Attack)-Regisseurs<br />
W.I.Z. Der schickt seine Figur „Little<br />
Joe“ mit den grünen Augen von Ben Whishaw<br />
durch eine Welt aus erotischen Impulsen, aus<br />
Schwänzen und Stöckelschuhen, Schwimmbädern<br />
und Zeitschriftenauslagen. Hier ist nichts<br />
festgelegt und nichts funktional, hier reift niemand<br />
und gibt niemand Bekenntnisse ab. Es<br />
sind ‚einfach‘ nur 12 Minuten Erregung eines<br />
15-Jährigen.<br />
junGe helden<br />
USA/CA/F/DK 2002–2008., Edition Salzgeber<br />
Ein Sechsjähriger,<br />
ordentlich frisiert und<br />
im feinen Anzug, tritt<br />
vor der versammelten<br />
Familie an ein Mikrophon<br />
und verkündet: „I<br />
am a homosexual!“ Der<br />
stürmische Beifall, den<br />
er damit erntet, spottet<br />
jeglicher Erfahrung und<br />
machte aus Celebration einen Kurzfilmklassiker.<br />
Was Jungs wagen, wenn sie die ersten<br />
Schritte zur Veröffentlichung ihres Anders-<br />
Seins machen, erzählen die anderen <strong>Film</strong>e<br />
dieser Kompilation in vielen Varianten. Schön<br />
sind vor allem die <strong>Film</strong>e, die dicht an einer<br />
jugendlichen Wahrnehmung bleiben – Lloyd<br />
Neck zum Beispiel, der über die Frage der sexuellen<br />
Orientierung hinaus von Freundschaft<br />
und familiären Allianzen erzählt, ohne dass<br />
ein Aspekt dabei die Oberhand gewinnt; oder<br />
Candy Boy von Pascal-Alex Vincent, der souverän<br />
die Möglichkeiten der Animation einsetzt,<br />
um das zu erzählen, was über eine realistische<br />
Wahrnehmung hinausgeht.<br />
GAy fun shorts<br />
D/USA/CA/F/Fi/iS/UK/AUS 2003–08, Edition Salzgeber<br />
Dass Schwule über sich<br />
selbst lachen können,<br />
ist bekannt. Man hat<br />
Übung im Einfühlen in<br />
die ‚andere‘ Perspektive<br />
und lernt fast zwangsläufig,<br />
sich selbst zu<br />
beobachten. Ein Versuch<br />
über schwulen<br />
Humor in 11 <strong>Film</strong>en ist<br />
allerdings gewagt, reicht doch da die Spannbreite<br />
von Ralf König bis Noel Coward. Also<br />
reicht auch hier das Spektrum von <strong>Film</strong>en<br />
mit witziger Pointe (Love Bite, 41 Sekunden),<br />
<strong>Film</strong>en mit witziger Ausgangssituation (Gay<br />
Zombie), über Tragikkomisches (Wrestling,<br />
Der Steingarten), Hysterisches (Die Bedröhnten<br />
und die Getönten, Meins!), bis zu äußerst<br />
Kompliziertem (Ein Harter Schlag, 2 Minuten<br />
nach Mitternacht) – und dann gibt es noch<br />
zwei wirkliche Perlen, die so gar keine Erwartungen<br />
bedienen: Tango Finlandia lässt zwei<br />
Bilderbuch-Männer beim Tanzen schwach<br />
werden, Karaoke Show dagegen ist ein mehrfach-mutiger<br />
Selbstversuch: nackt sein und<br />
Moonwalk tanzen, so dass es gut aussieht. Das<br />
klappt niemals im Leben, aber im <strong>Film</strong> gibt’s<br />
Special Effects. Von einer Kurzfilmsammlung<br />
zum Thema „Männer, die tanzen“ könnte man<br />
sich ziemlich viel erwarten.<br />
freundinnen<br />
D/CH 2007–2008, Edition Salzgeber<br />
Eine Kurzfilmsammlung<br />
zum Thema lesbische<br />
Liebe aus rein<br />
deutschsprachigen<br />
Arbeiten, verschafft<br />
einen guten Überblick<br />
über den Stand des geografisch<br />
nahen <strong>Film</strong>h<br />
o c h s c h u l - O u t p u t s<br />
(denn vor allem dort<br />
werden Kurzfilme gemacht). Die Beiträge sind<br />
grundverschieden in Stil, Ton und filmischem<br />
Zugang. Glioblastom erzählt frei heraus seine<br />
absurde Familiengeschichte mit skurrilem<br />
Humor und Mut zum Nonsense. 510 Meter über<br />
dem Meer dagegen trifft genau und konzentriert<br />
die Stimmung einer Nacht des Wartens,<br />
zwischen Schlafen und Wachen, Müdigkeit und<br />
Sehnsucht – ein <strong>Film</strong>, der selbst irgendwann<br />
zu schweben beginnt. Originell auch Antje &<br />
Wir, in dem lauter gutaussehende junge Menschen<br />
von ihrer erotischen Erfahrung mit ein<br />
und derselben Frau erzählen, die aber im <strong>Film</strong><br />
selbst gar nicht auftaucht. Der <strong>Film</strong>, den man<br />
hier nicht sieht, geht in leuchtenden Farben im<br />
eigenen Kopf los.<br />
die verBorGene welt<br />
ZA/UK 2007, Regie: Shamim Sarif, Pro-Fun Media<br />
Die Autorin und <strong>Film</strong>emacherin<br />
Shamim<br />
Sarif bereichert das<br />
Queer Cinema gerade<br />
durch multimediale<br />
und multikulturelle<br />
lesbische Geschichten.<br />
Die Tochter südasiatischer<br />
Eltern, in Südafrika<br />
aufgewachsen,<br />
heute in London lebend, ist dazu übergegangen,<br />
ihre eigenen preisgekrönten Romane zu<br />
verfilmen. Die verborgene Welt ist ihr Debüt<br />
und macht es sich nicht leicht: Es erzählt in<br />
einem entfernten historischen Setting (Südafrika<br />
in den 1950ern, zu Beginn der Apartheid-<br />
Politik) ein sehr spezifisches Kulturthema (die<br />
Situation von Indern in einem in Schwarz und<br />
Weiß getrennten Land). Darin allerdings entwickelt<br />
sich die universelle Liebesgeschichte<br />
zweier sehr unterschiedlicher Frauen als zarte<br />
Romanze kleiner, versteckter Gesten, gegen<br />
die die Umwelt in Gestalt von prügelnden Ehemännern,<br />
sadistischen Polizisten und böswilliger<br />
Nachbarinnen hartes Geschütz auffährt. „I<br />
wish I’d knew how it feels to be free“ singt Nina<br />
Simone gleich zu Beginn. Diese Blues-Variation<br />
von Grüne Tomaten nimmt sich dennoch das<br />
Recht zum Happy-End heraus.<br />
i cAn’t think strAiGht<br />
UK 2007, Regie: Shamim Sarif, Pro-Fun Media<br />
Auch ihren neuen <strong>Film</strong><br />
I can’t think straight<br />
drehte Shamim Sarif<br />
nach ihrem eigenen<br />
Roman. Diesmal spielt<br />
die Liebesgeschichte<br />
zweier Frauen allerdings<br />
in einer urbanen<br />
Gegenwart, im multikulturellen<br />
London, wo<br />
die christliche Jordanierin palestinensischer<br />
Herkunft Tala auf die muslimische Inderin<br />
Leyla trifft. Das lesbische Coming Out ist in beiden<br />
Fällen kompliziert, von einer gemeinsamen<br />
Beziehung ganz zu schweigen. Sarif vertraut in<br />
diesem Gewirr an kulturellen und emotionalen<br />
Voraussetzungen auf ein kluges Drehbuch, das<br />
all diese Fäden und Kontexte miteinander zu<br />
verknüpfen weiß und profitiert reichlich von<br />
der Schönheit ihrer beiden Hauptdarstellerinnen<br />
Lisa Rey und Sheetal Sheth, die sich einen<br />
Spaß daraus machen, ihre Rollen aus Die verborgene<br />
Welt im neuen <strong>Film</strong> zu tauschen. Visuell<br />
deutet hier nichts auf ein kleines Budget<br />
hin – auch die Songauswahl geht in die Vollen,<br />
Katy Perry’s „I kissed a girl“ inklusive.<br />
mit Geschlossenen AuGen –<br />
trAGe liefde<br />
nL 2007, Regie: Boudewijn Koole, Edition Salzgeber<br />
Ein junger Mann findet<br />
seinen schwulen Vater,<br />
der gar nichts von ihm<br />
weiß, und geht eine<br />
riskante Beziehung zu<br />
ihm ein. Ein mutiges<br />
und radikales Drama,<br />
von mehreren schmerzvollen<br />
Versionen von<br />
Gershwin’s „Summertime“<br />
unterlegt. „Boudewijn Koole erzählt<br />
seine Geschichte eher bruchstückhaft und deutet<br />
vieles nur an. So bleibt Raum für die Fantasie<br />
des Zuschauers, der andererseits womöglich<br />
auf falsche Fährten gelockt und dazu gebracht<br />
wird, Verbindungen herzustellen, die es gar<br />
nicht gibt, und sich Falsches zusammenzureimen.“<br />
(Jan Gympel in der SISSY 1/09)<br />
Autopsy<br />
F 2007, Regie: jérôme Anger, Edition Salzgeber<br />
frisch ausgepackt<br />
Ein harter Cop, der<br />
in seinem Revier klar<br />
kommt, vielleicht etwas<br />
jähzornig, aber so kennt<br />
man das aus Krimis.<br />
Eine Familie steht im<br />
Hintergrund, eine Frau<br />
und ein pubertierender<br />
Sohn – doch der Vater<br />
ist ein einsamer Wolf,<br />
der die Dinge auf eigene Faust regelt. Wie einsam<br />
er ist, merkt er, als sein Männlichkeitskonzept<br />
ins Wanken gerät – er muss einen Serienkiller<br />
stellen, der es auf alte Schwule abgesehen<br />
hat, und er verliebt sich aus heiterem Himmel<br />
in einen Mann, der kaum weniger ‚männlich’<br />
ist als er selbst. Stéphane Freiss spielt das großartig:<br />
einen Mann, der die Konfrontation sucht<br />
und deshalb auch nicht lange fackelt, wenn es<br />
darum geht, sein bisheriges Leben aufzugeben.<br />
29
frisch ausgepackt<br />
Jérôme Angers Versuch, Coming Out-Drama<br />
und Polizeithriller zu verbinden, ist originell<br />
und fesselnd erzählt.<br />
shelter<br />
USA 2007, Regie: jonah Markowitz, Pro-Fun Media<br />
Der junge Zach hat<br />
wenig Gelegenheiten,<br />
ein ‚Teenager‘ zu sein<br />
– er muss seine Familie<br />
unterstützen und sich<br />
um seinen kleinen Neffen<br />
kümmern. Schwierige<br />
Voraussetzungen<br />
für ein Coming Out.<br />
„Wie sich schließlich<br />
alles für alle Beteiligten trefflich fügt, mag<br />
man als große Gunst des Schicksals betrachten<br />
– oder auch als unbedingten Willen des<br />
Drehbuchautors Jonah Markowitz zu einem<br />
umfassenden Happy End. Doch darüber sieht<br />
man gern hinweg, nicht nur wegen der – zumal<br />
in den von Kulturkämpfen geschüttelten USA<br />
– ausgesprochen politischen Botschaft, der<br />
zufolge Familie und ein ideales Umfeld für<br />
Kinder nicht unbedingt aus Mama und Papa<br />
zu bestehen brauchen. Auch erzählt Markowitz<br />
in seinem Spielfilmregieerstling seine<br />
Geschichte von einem Coming Out, generellem<br />
Selbstfinden und Erwachsenwerden, Aufopferung<br />
und Verantwortung einfühlsam und mit<br />
einer schönen Balance aus Zurückhaltung und<br />
Direktheit.“ (Jan Gympel in der SISSY 1/09)<br />
GeGen die schwerkrAft<br />
(defyinG GrAvity)<br />
USA 1997, Regie: john Keitel, Edition Salzgeber<br />
Solange ‚sexuelle Orientierungen’<br />
ein Thema<br />
sind, wird es Coming<br />
Out-<strong>Film</strong>e geben. Auch<br />
Gegen die Schwerkraft<br />
gehört dazu – die sexuelle<br />
Identitätsfindung<br />
eines jungen Mannes ist<br />
sein zentrales Thema.<br />
Trotzdem ist dieser<br />
kleine <strong>Film</strong> eine Entdeckung. Berührend ist die<br />
Ernsthaftigkeit, mit der Keitel in der sonnigen<br />
südkalifornischen College-Welt aus lärmenden<br />
Buddies und kichernden Mädchen das Drama<br />
ausmacht, den naiven, bei allen beliebten Sonnyboy,<br />
der glaubt, diese Rolle ewig weiterspielen<br />
zu können, so lange er seine Gefühle nur<br />
heimlich auslebt. Den Ehrlichkeit einfordernden<br />
Freund kann er so lange ignorieren, bis<br />
dieser Opfer eines Unfalls wird und dadurch<br />
als Sparringspartner für die Selbstfindung<br />
ausfällt. Erst auf sich allein gestellt, gelingt<br />
sie schließlich und der Freund wird aus dem<br />
Koma wachgeküsst. Dieses wunderschön kit-<br />
schige Happy-End ist kein Drehbuch-Trick – es<br />
wundert sich über Probleme, die eigentlich gar<br />
keine waren.<br />
phoenix<br />
USA 2006, Regie: Michael D. Akers, CMV Laservision<br />
Es wird viel geweint<br />
in diesem <strong>Film</strong>. Über<br />
Beziehungen, die einfach<br />
nicht funktionieren.<br />
Über falsch investierte<br />
Gefühle. Über<br />
Verletzungen, die riskiert<br />
und erlitten werden.<br />
Zwei Männer stellen<br />
fest, dass sie Partner<br />
und Geliebter des selben Mannes gewesen<br />
sind. Sie können ihn nicht zur Rechenschaft<br />
ziehen, da er sich aus dem Staub gemacht hat,<br />
also haben sie nur einander. Mit dem Mut der<br />
Verzweiflung werden Schlussstriche gezogen<br />
und Neuanfänge gewagt, bis sie begreifen, dass<br />
sie erst mal verarbeiten müssen, was ihnen<br />
passiert ist. Michael Akers hat wieder einen<br />
Low-Budget-Spielfilm gedreht, der mit großer<br />
Ernsthaftigkeit das Gefühlsleben seiner beziehungssehnsüchtigen<br />
Protagonisten erkundet,<br />
zwischen jugendlicher Naivität und reifem<br />
Zynismus. Dafür kann man sich schon mal 86<br />
Minuten Zeit nehmen.<br />
kiss the Bride<br />
USA 2007, Regie: C. jay Cox, Pro-Fun Media<br />
Hochzeit als Thema<br />
und Variation. Schon<br />
an der schwulen wird<br />
kein gutes Haar gelassen,<br />
gelingt es Lifestyle-Magazin-Redakteur<br />
Matt doch kaum,<br />
Models für einen Titel<br />
über die Homo-Ehe zu<br />
finden. Die heterosexuelle<br />
Ehe allerdings, noch dazu die seines besten<br />
Freundes, in den er immer noch verliebt ist,<br />
ist für ihn eine persönliche Katastrophe. Und<br />
ihre Verhinderung seine Mission. Zurück in<br />
der Provinz, die vielen abschreckenden Beispiele<br />
dauerbetrunkener Hetero-Ehepaare vor<br />
Augen, kommt er erneut seinem Traummann<br />
nahe, doch eine ‚Bekehrung‘ sieht anders aus.<br />
Klarheit schafft die Ehefrau in spe, die die beiden<br />
Männer noch mal aufeinander loslässt,<br />
um potentielle Lebenslügen zu verhindern. So<br />
scharf die Dialoge auch sind, so böse der Blick<br />
auf die Heuchelei der rechtschaffenen Landeier,<br />
so ironisch das Gerede von den „guten<br />
und den schlechten Zeiten“: am Ende machen<br />
alle auf unkonventionelle Art ihren Frieden<br />
mit der gesellschaftlichen Institution und der<br />
Höhepunkt dieses <strong>Film</strong>s darf doch wieder eine<br />
Hochzeit in üppigster Pracht und ironiefreiem<br />
Pathos sein. Und das schöne Titelbild zur<br />
Homo-Ehe wird auch noch gefunden.<br />
out At the weddinG<br />
USA 2007, Regie: Lee Friedlander, Pro-Fun Media<br />
Chaos and the City –<br />
in dieser Screwball-<br />
Comedy um Geschlechterverwirrung<br />
und<br />
va riable sexuelle Orientierungen<br />
ist nichts,<br />
wie es auf den ‚normalen’<br />
Blick scheint. „Die<br />
zwangsläufig folgenden<br />
Verwicklungen stellen<br />
alle vor große Herausforderungen, und ausgerechnet<br />
während ihres ersten ‚Ausflugs‘ als<br />
Lesbe läuft Lexie ihrem zukünftigen Schwiegervater<br />
in die Arme. Katastrophe! Da hilft<br />
nur eins: das Spiel mit noch größerem Einsatz<br />
weiterspielen… Geistreich, selbstironisch,<br />
turbulent, scharf beobachtend und herrlich<br />
schräg spielt Out at the Wedding mit Klischees<br />
und entlarvt genau diese äußerst charmant.<br />
Bevor der <strong>Film</strong> auf sein fulminantes Ende und<br />
einen großartigen Showdown zusteuert, müssen<br />
noch einige Klippen umschifft und harte<br />
Schläge eingesteckt werden, bis am Ende alle<br />
etwas Elementares dazu gelernt haben und<br />
jede das bekommt, was sie immer schon wollte,<br />
auch wenn das nicht vorhersehbar war.“ (Sharon<br />
Adler in SISSY 1/09)<br />
poster Boy<br />
USA 2004, Regie: Zak Tucker, Pro-Fun Media<br />
Eigentlich sollte dieser<br />
<strong>Film</strong> zur US-Präsidentschaftswahl<br />
2004<br />
erscheinen und damit<br />
zur Wahlhilfe für den<br />
demokratischen Kandidaten<br />
John Kerry werden.<br />
Doch die Produktion<br />
bekam kalte Füße,<br />
die Regisseure wechselten,<br />
der A-Cast wurde durch unbekannte<br />
Schauspieler ersetzt und der <strong>Film</strong> kam fern<br />
jeglicher Wahlkämpfe 2006 in die US-Kinos.<br />
Was nichts aussagt darüber, wie interessant<br />
dieser Low-Budget-Independent-<strong>Film</strong> ist.<br />
Die einfache Geschichte (es stellt sich heraus,<br />
dass der Sohn eines republikanischen Senators<br />
schwul ist und daher kaum noch zur Unterstützung<br />
des homophoben Wahlkampfs seines<br />
Vaters taugt) füllt Regisseur Zak Tucker durch<br />
viele interessante Nebenschauplätze und einen<br />
bösen Humor auf, so dass daraus am Ende das<br />
Drama eines permanent manipulierten Menschen<br />
wird, der keine Chance hat, ein eigenes<br />
Leben zu leben. Das Drehbuch riskiert viel<br />
dabei, ohne sein Potential dabei zu verschenken<br />
und die Kameraarbeit ist alles andere als<br />
TV-Standard. Ein fiebrig nervöser Trip durch<br />
die Untiefen politischen Handels, das nicht<br />
davor zurückschreckt, in die Sexualität von<br />
Menschen einzugreifen.<br />
kAtmiete | speed dAtinG.<br />
D 2007, Regie: Gregor Buchkremer, Edition Salzgeber<br />
Deutsche <strong>Film</strong>emacher<br />
versuchen es ja immer<br />
wieder mit den klassischen<br />
Genres: Thriller,<br />
Science-Fiction, Horror.<br />
Wenn man die ersten<br />
<strong>Film</strong>e des noch jungen<br />
Gregor Buchkremer<br />
gesehen hat, hat man<br />
Grund zur Hoffnung,<br />
dass es auch mal jemand kann. Mehr über<br />
Buchkremers queeren Zugang zu klassischen<br />
Erzählformen auf Seite 24.<br />
Boystown (chuecAtown)<br />
ES 2007, Regie: juan Flahn, Pro-Fun Media<br />
Schwule Gentrifizierung.<br />
Madrids ehemaligerRotlichtbezirk<br />
Chueca, von den<br />
Schwulen und Lesben<br />
mit viel Liebe und Kreativität<br />
wieder lebenswert<br />
gemacht, soll<br />
saniert und in ein bürgerliches<br />
Wohngebiet<br />
umgebaut werden – in ein schwullesbisches,<br />
versteht sich. Was da allerdings noch stört, sind<br />
die alten Bewohner, demographisch korrekt:<br />
die Omas, die einfach nicht weichen wollen. In<br />
Juan Flahns drastischer Komödie werden sie<br />
deshalb von einem skrupellosen (heterosexuellen)<br />
Immobilienhai ermordet – soweit die hübsche<br />
Spielfilmidee. Doch wie man es von vielen<br />
spanischen Komödien kennt, läuft’s im Drehbuch<br />
nicht ganz so geschmiert. Hysterisches<br />
Geplapper, skurrile Nebenfiguren, absurde<br />
Konflikte, überraschende <strong>Film</strong>figuren-Tode,<br />
dramatisches Minenspiel stürzen so geballt auf<br />
den Zuschauer ein, dass er vorsichtshalber zwei<br />
Bier trinken sollte, um der Handlung durch<br />
Reduktion von Komplexität folgen zu können.<br />
Als witzige Hauptfiguren fungiert ein nicht<br />
allzu helles Bärenpaar, das ganz sicher nicht<br />
zur angestrebten Zielgruppe des Immobilienmaklers<br />
zählt. Ihrer hundsgemeinen (Schwieger-)<br />
Mutter wünscht man allerdings bald das<br />
für sie bestimmte Gentrifizierungs-Schicksal.<br />
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wAlAnG kAwAlA – ohne AusweG<br />
PH 2008, Regie: joel Lamangan, CMV Laservision<br />
Die Philippinen haben<br />
eine lange <strong>Film</strong>tradition.<br />
Seit der Einführung<br />
der digitalen<br />
Videoproduktion hat<br />
sich die <strong>Film</strong>szene dort<br />
bis zur Unübersichtlichkeitausdifferenziert.<br />
Walang Kawala<br />
ist ein neues Beispiel<br />
für eine Reihe von queeren <strong>Film</strong>en in Tagalog,<br />
von denen The Blossoming of Maximo Oliveiros<br />
(2005) und Der Masseur – Masahista (2005) die<br />
bekanntesten sein dürften. Oft wird eine ähnliche<br />
Geschichte erzählt – junge Männer müssen<br />
aus unterschiedlichen Gründen ihr Heimatdorf<br />
verlassen und stranden in Manila, wo sie<br />
oft genug keine andere Möglichkeit haben als<br />
ihren Körper zu Geld zu machen. Auch Walang<br />
Kawala erzählt so eine Geschichte, erweitert<br />
ihre Themen aber auch. Ausgangspunkt hier<br />
ist eine schwule Lovestory auf dem Land, die<br />
angesichts der traditionellen Sozialkontrolle ihr<br />
vorhersehbares Ende findet. Im ‚Manila-Teil‘<br />
geht es nicht nur um Prostitution, Gay Bars und<br />
Macho Dancing, sondern auch um Menschenhandel.<br />
Daraus entsteht ein grandioses Drama<br />
großer Gesten, in dem das Schicksal den beiden<br />
Liebenden Joaquin und Waldo keine Chance<br />
lässt. Eine radikale Verbindung von antiker<br />
Tragödie und Telenovela, durch die immer die<br />
genau erfasste soziale Realität durchscheint.<br />
solos<br />
SG 2007, Regie: Kan Lume, Loo Zihan, Gmfilms<br />
In ihren Texten zum<br />
<strong>Film</strong> sprechen die beiden<br />
jungen Regisseure<br />
Kan Lume und Loo<br />
Zihan von einer Lehrer-Schüler-Beziehung,<br />
von Sehnsüchten und<br />
Träumen der Figuren,<br />
von Problemen… Zu<br />
sehen ist das alles nicht<br />
in ihrem <strong>Film</strong> Solos. Man sieht drei Menschen<br />
(Boy, Man und Mother), die nicht miteinander<br />
sprechen, weswegen es auch im <strong>Film</strong> keinen<br />
Dialog gibt. Und in einem anderen, puristischerem<br />
Verständnis von Sehen sieht man viel<br />
mehr in diesem <strong>Film</strong>. Eine Beziehung, einen<br />
älteren und einen jüngeren Mann. Sie schlafen<br />
miteinander, sie fahren Auto, sie packen<br />
einen Koffer. Wie sie diese Dinge tun, von einer<br />
unbewegten Kamera in Schwarzweiß aufgezeichnet,<br />
erzählt mehr als das, was sie tun. Von<br />
einer Beziehung, die am Ende ist, von kleinen<br />
Gemeinheiten und kleinen Liebesbeweisen,<br />
von Angst und Einsamkeit. Immer wieder,<br />
32<br />
überfallartig, werden farbige Sequenzen hineingeschnitten,<br />
Bilderexzesse, kleine Explosionen,<br />
die die Wucht der Gefühle andeuten, die<br />
in den kleinen Alltagsgesten verborgen sind.<br />
Das ist ein freies, rein visuelles Kino, das sich<br />
nicht den restriktiven Strukturen des Produktionslandes<br />
anbiedert, sondern ein künstlerisches<br />
Signal setzt, das weiter geht als jegliches<br />
abgesichertes Reden darüber (wie das von Ian<br />
McKellen im Bonusmaterial). Solos läuft natürlich<br />
nicht in den Kinos in Singapur. (Auch nicht<br />
in den deutschen.) Aber er erweitert die Möglichkeiten<br />
des <strong>Film</strong>s.<br />
the fruit mAchine – rendezvous<br />
mit einem killer<br />
UK 1988, Regie: Philip Saville, Pro-Fun Media<br />
Was für eine Wiederentdeckung!<br />
Diesen<br />
<strong>Film</strong> Ende der 1980er zu<br />
sehen, war ein herzergreifendes<br />
Vergnügen.<br />
Ihn heute zu sehen, ist<br />
ein Erinnern und Vermissen.<br />
Ein Vermissen<br />
von <strong>Film</strong>en dieser Art,<br />
in denen der Härte und<br />
Traurigkeit der Realität eine ganz naive Flucht<br />
in die Phantasie und die selbst erschaffenen<br />
Welten entgegengesetzt wurde. Zwei Teenager<br />
hauen aus ihren homophoben Familien<br />
und Heimen ab, aber sie haben dabei Marilyn<br />
im Ohr: „Runnin’ wild!“. Obwohl sie so unterschiedlich<br />
sind, der eine völlig aufgehend in<br />
seinem WONDERLAND (so eine Neonschrift<br />
am Anfang) der Realitätsflucht und der andere<br />
ein Straßenkind, der das Leben und seine<br />
Grausamkeiten kennt und sich darin eingerichtet<br />
hat, spielen sie hier doch eine der schönsten<br />
Fast-Liebesgeschichten der schwulen <strong>Film</strong>geschichte.<br />
Gejagt von einem Killer, beschützt<br />
von einem ‚Delfin-Mann‘, eingebettet in eine<br />
Synthieoper von Hans Zimmer und angefeuert<br />
von Robbie Coltrane in Frauenkleidern, treiben<br />
die beiden durch ein kaltes England und<br />
opfern sich schließlich für einander und für<br />
die Phantasie eines besseren Lebens auf. Der<br />
<strong>Film</strong> des Schauspielers und Regisseurs Philip<br />
Saville ist pures Kino: im Zeigen und anschließenden<br />
Verzaubern der Realität und im unbedingten<br />
Bekenntnis zur Kraft der Poesie. Wenn<br />
am Ende ein Delfin befreit wird, mag man das<br />
kitschig finden. Doch dass sich damit der Wonderland-Junge<br />
aus der realen Welt und damit<br />
von seinem street-weisen Freund verabschiedet,<br />
trifft den mit-träumenden Kinozuschauer<br />
hart, auch 2009 noch.<br />
Impressum<br />
Herausgeber Björn Koll<br />
Verlag Salzgeber & Co. Medien GmbH<br />
Mehringdamm 33 · 10961 Berlin<br />
Telefon 030 / 285 290 90<br />
Telefax 030 / 285 290 99<br />
Redaktion Jan Künemund,<br />
presse@salzgeber.de<br />
Art Director Johann Peter Werth,<br />
werth@salzgeber.de<br />
Autoren Martin Büsser, Stefan Jung,<br />
Jan Künemund, Christoph<br />
Meyring, Diana Näcke,<br />
Tobias Rauscher, Martin Ripkens,<br />
Ringo Rösener, Paul Schulz,<br />
Hanno Stecher, Hans Stempel,<br />
Jamie Travis, André Wendler<br />
Lektorat Rut Ferner<br />
Anzeigen Jan Nurja, nurja@salzgeber.de<br />
Druck Westermann, Braunschweig<br />
Rechte Digitale oder analoge<br />
Vervielfältigung, Speicherung,<br />
Weiterverarbeitung oder<br />
Nutzung sowohl der Texte als<br />
auch der Bilder bedürfen einer<br />
schriftlichen Genehmigung des<br />
Herausgebers.<br />
Verteilung deutschlandweit in den<br />
schwul-lesbischen Buchläden,<br />
in den CinemaxX-Kinos in<br />
Augsburg, Berlin, Bielefeld,<br />
Bremen, Dresden, Essen,<br />
Freiburg, Hamburg-Wandsbek,<br />
Hannover, Kiel, Magdeburg,<br />
München, Offenbach, Oldenburg,<br />
Regensburg, Stuttgart,<br />
Wuppertal, Würzburg und<br />
weiteren ausgewählten Orten.<br />
Haftung Für die gelisteten Termine<br />
und Preise können wir keine<br />
Garantie geben. Alle Angaben<br />
entsprechen dem Stand des<br />
Drucklegungstages.<br />
Bildnachweise Die Bildrechte liegen bei den<br />
jeweiligen Anbietern.<br />
Anzeigen Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 1<br />
vom Januar 2009.<br />
Abo Sie können SISSY kostenfrei<br />
abonnieren. E-Mail genügt:<br />
abo@sissymag.de<br />
SISSY erscheint alle drei Monate,<br />
jeweils für den Zeitraum<br />
Dezember/Januar/Februar –<br />
März/April/Mai – Juni/Juli/<br />
August – September/Oktober/<br />
November. Auflage: 40.000<br />
Exemplare (Druckauflage).<br />
Unterstützung SISSY bedankt sich bei der<br />
<strong>Film</strong>förderungsanstalt FFA<br />
ISSN 1868-4009<br />
„WIr SInD<br />
KEInE<br />
cInEASTEn.“<br />
von stefan jung<br />
Mit Pasolini und Salzgeber gegen den Mainstream:<br />
Vor 20 jahren entdeckten die Münsteraner Kinomacher<br />
Thomas Behm und jens Schneiderheinze ihre Liebe<br />
zum <strong>Film</strong>.<br />
s Im April 1989 starteten Thomas Behm und Jens Schneiderheinze<br />
ihre erste schwule <strong>Film</strong>reihe in Münster. Für den Drogisten aus Bremen<br />
und den Spiel- und Theaterpädagogen aus Mülheim an der Ruhr,<br />
zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren ein Paar, markierte dies<br />
den Einstieg ins Kinogeschäft. Heute sind die beiden 46-Jährigen<br />
Geschäftsführer des Programmkinos Cinema in der Westfalenmetropole,<br />
das für seine Programme immer wieder ausgezeichnet wird und<br />
nach wie vor viel Wert auf queeres <strong>Film</strong>gut legt.<br />
Die erste schwule <strong>Film</strong>reihe von Behm und Schneiderheinze präsentierte<br />
in einem friedensbewegten Weiterbildungsinstitut 16-Millimeter-<strong>Film</strong>e<br />
wie Ein Mann namens Herbstblume und Wie man sein<br />
Leben lebt. 1990 konnten die beiden Kinofans ins soziokulturelle Zentrum<br />
Cuba umziehen, wo sie mit einer professionellen 35-Millimeter-<br />
Anlage und vier Tagen Betrieb pro Woche zum ernst zu nehmenden<br />
Off-Kino avancierten. Das Spektrum erweiterten sie rasch um lesbische<br />
<strong>Film</strong>e und andere, die in Münster kein Forum fanden. Ein Highlight<br />
der Cuba-Epoche war die Reihe „20 Jahre Schwulenbewegung<br />
im <strong>Film</strong>“ (1993). In dieser Phase entstand die Freundschaft mit Manfred<br />
Salzgeber, dessen Credo „Mit Kino kann man die Welt verändern“<br />
die beiden Kinomacher stark beeindruckte und in schwierigen Zeiten<br />
zum Weitermachen motivierte. „Bis heute hängt ein Salzgeber-Foto<br />
im Cinema-Büro“, berichtet Behm.<br />
1997 erreichte die Professionalisierung der beiden Münsteraner<br />
mit der Übernahme des Programmkinos Cinema seinen Höhepunkt.<br />
Als Geschäftsführer der Cinema <strong>Film</strong>theater GmbH eigneten<br />
sich die Kino-Quereinsteiger gewohnt engagiert alle dafür<br />
nötigen Kenntnisse an. 1998 bauten Behm und Schneiderheinze das<br />
Kinofoyer um und schufen mit dem „Café Garbo“ einen gastronomischen<br />
Treffpunkt für Kinofans, Nachbarschaft, Gay- und Alternativszene.<br />
Und 2005, kurz nach einer Beinahe-Insolvenz, renovierten<br />
sie die drei Kinosäle (158, 58 und 52 Plätze) und verhalfen<br />
Thomas Behm, Monika Treut und Jens Schneiderheinze<br />
rubrik<br />
ihnen so zu mehr Besuchern. Die finanziell oft schwierige Lage des<br />
Kinos entschärfen die Betreiber durch die Einnahmen des Cafés.<br />
Ähnliches leisten auch das originelle Zwei-Säulen-Modell – neben<br />
der GmbH existiert der Verein „Die Linse“ (ursprünglich „Rosa<br />
Linse“), der städtische Zuschüsse und Mitgliedsbeiträge einfährt<br />
– sowie die Prämien, mit denen Land, Bund und Europa das ambitionierte<br />
Programm der Münsteraner jährlich honorieren. Neben<br />
dem aktuellen Repertoire bietet das Cinema stets umfangreiche<br />
Reihen und Werkschauen, die zum Teil in Zusammenarbeit mit<br />
lokalen Initiativen entstehen. Die Palette reicht vom Dokumentarfilm-<br />
und Zivi<strong>Film</strong>Fest über <strong>Film</strong>reihen wie „Stumm<strong>Film</strong> in der<br />
Stadt“ und „Psycho – <strong>Film</strong> und Analyse“ bis hin zu Werkschauen<br />
über Pedro Almodóvar und Gus Van Sant.<br />
Fester Bestandteil des Cinema-Spielplans sind seit jeher die<br />
Queerfilme. Aktuelle Streifen wie Brokeback Mountain, Mein<br />
Freund aus Faro und Ghosted laufen soweit möglich im regulären<br />
Programm. Das <strong>Film</strong>festival Queerstreifen, das jährlich über<br />
vier Tage hinweg im Herbst stattfindet, dieses Jahr bereits zum<br />
elften Mal, präsentiert schwule, lesbische und Transgender-Produktionen<br />
aus aller Welt erstmals in Münster. Ebenfalls zur festen<br />
Institution avanciert ist der Queer Monday mit aktuellen schwullesbischen<br />
<strong>Film</strong>en.<br />
In 20 Jahren Kinoarbeit haben sich für Behm und Schneiderheinze<br />
viele Rahmenbedingungen verändert, ihr Selbstverständnis<br />
aber nicht. Pasolinis Idee von „Kino als Widerstandsarbeit gegen<br />
die Mainstreamisierung des Geschmacks“ halten sie für unverändert<br />
aktuell. Die beiden Kinomacher definieren ihre Arbeit durchaus<br />
auch ästhetisch, vor allem aber politisch-emanzipatorisch: „Wir sind<br />
keine Cineasten. Mit unseren <strong>Film</strong>en wollen wir vielmehr Identifikationsmodelle<br />
anbieten, die in den regulären <strong>Film</strong>theatern nicht vorkommen“,<br />
formuliert Schneiderheinze. s<br />
33<br />
PRiVAT (3)
service<br />
bEzugSquEllEn<br />
Nicht-heterosexuelle DVDs erhalten Sie unter anderem in den folgenden Läden. Die Auswahl<br />
wird laufend ergänzt. Bitte helfen Sie uns dabei!<br />
bErlIn b_booKS Lübbenerstraße 14 · bruno’S Bülowstraße 106,<br />
030/61500385 · bruno’S Schönhauser Allee 131, 030/61500387 ·<br />
DuSSMAnn Friedrichstraße 90 · gAlErIE JAnSSEn Pariser Straße 45,<br />
030/8811590 · KADEWE Tauentzienstraße 21–24 · MEDIA MArKT AlExA<br />
Grunerstraße 20 · MEDIA MArKT nEuKölln Karl-Marx-Straße 66<br />
· nEgATIvElAnD Dunckerstraße 9 · PrInz EISEnHErz bucHlADEn<br />
Lietzenburger Straße 9a, 030/3139936 · SATurn EuroPAcEnTEr Tauentzienstraße<br />
9 · vIDEo WorlD Kottbusser Damm 73 · vIDEoDroM<br />
Fürbringer Straße 17 DorTMunD lITFASS DEr bucHlADEn Münsterstraße<br />
107, 0231/834724 DüSSElDorF booKxxx Bismarckstraße<br />
86, 0211/356750 · MEDIA MArKT Friedrichstraße 129–133 ·<br />
SATurn Königsallee 56 · SATurn Am Wehrhahn 1 FrAnKFurT/<br />
MAIn oScAr WIlDE bucHHAnDlung Alte Gasse 51, 069/281260 ·<br />
SATurn Zeil 121 HAMburg bucHlADEn MännErScHWArM Lange<br />
Reihe 102, 040/436093 · bruno’S Lange Reihe/Danziger Straße<br />
70, 040/98238081 · clEMEnS Clemens-Schultz-Straße 77 · EMPIrE<br />
MEgASTorE Bahrenfelder Straße 242–244 · MEDIA MArKT Paul-Nevermann-Platz<br />
15 Köln bruno’S Kettengasse 20, 0221/2725637 ·<br />
MEDIA MArKT Hohe Straße 121 · SATurn Hansaring 97 · SATurn Hohe<br />
Straße 41–53 · vIDEoTAxI Ebertplatz 9 · vIDEoTAxI Salierring 42 · vI-<br />
DEoTAxI Hohenzollernring 75–77 MAnnHEIM DEr AnDErE bucHlADEn<br />
M2 1, 0621/21755 MüncHEn bruno’S Thalkirchner Straße<br />
4, 089/97603858 · lIllEMor’S FrAuEnbucHlADEn Barerstraße 70,<br />
089/2721205 · MAx & MIlIAn Ickstattstraße 2, 089/2603320 · SATurn<br />
Schwanthalerstraße 115 · SATurn Neuhauser Straße 39 STuTTgArT<br />
bucHlADEn ErlKönIg Nesenbachstraße 52, 0711/639139 TübIngEn<br />
FrAuEnbucHlADEn THAlESTrIS Bursagasse 2, 07071/26590<br />
WIEn bucHHAnDlung löWEnHErz Berggasse 8, + 43/1/13172982<br />
KInoS<br />
Nicht-heterosexuelle <strong>Film</strong>e können Sie unter anderem in den folgenden Kinos sehen. Die<br />
Auswahl wird laufend ergänzt. Bitte helfen Sie uns dabei!<br />
AScHAFFEnburg cASIno FIlMTHEATEr Ohmbachsgasse 1,<br />
06021/4510772 AugSburg cInEMAxx Willy-Brandt-Platz 2,<br />
0821/3258080 bErlIn ArSEnAl Potsdamer Straße 2, 030/26955100<br />
· KIno InTErnATIonAl Karl-Marx-Allee 33, 030/24756011 · xEnon<br />
KIno Kolonnenstraße 5–6, 030/78001530 · cInEMAxx PoTSDAMEr<br />
PlATz Potsdamer Straße 5, 030/25922111 bIElEFElD cInEMAxx<br />
Ostwestfalenplatz 1, 0521/5833583 bocHuM EnDSTATIon KIno IM<br />
bHF. lAngEnDrEEr Wallbaumweg 108, 0234/6871620 brEMEn KIno<br />
46 Waller Heerstraße 46, 0421/3876731 · cInEMAxx Breitenweg 27,<br />
0421/3010101 DrESDEn KID – KIno IM DAcH Schandauer Straße 64,<br />
0351/3107373 · cInEMAxx Hüblerstraße 8, 0351/3156868 ESSEn cInEMAxx<br />
Berliner Platz 4–5, 0201/8203040 ESSlIngEn KoMMunAlES<br />
KIno Maille 4–9, 0711/31059510 FrAnKFurT/MAIn MAl SEH’n<br />
Adlerflychtstraße 6, 069/5970845 · orFEoS ErbEn Hamburger Allee<br />
45, 069/70769100 FrEIburg KoMMunAlES KIno Urachstraße 40,<br />
0761/709033 · cInEMAxx Bertholdstraße 50, 0761/20281410 göT-<br />
TIngEn KIno luMIèrE Geismar Landstraße 19, 0551/484523 HAMburg<br />
METroPolIS KIno Steindamm 52–54, 040/342353 ·<br />
cInEMAxx WAnDSbEK Quarree 8-10, 040/68860778 HAnnovEr<br />
APollo STuDIo Limmerstraße 50, 0511/452438 · cInEMAxx Nikolaistraße<br />
8, 0511/9110319 · KIno IM KünSTlErHAuS Sophienstraße 2,<br />
0511/16845522 KArlSruHE KInEMATHEK KArlSruHE KIno IM PrInz-<br />
MAx-PAlAIS Karlstraße 10, 0721/25041 KIEl DIE PuMPE – KoMMunAlES<br />
KIno Haßstraße 22, 0431/2007650 · cInEMAxx Kaistraße 54–56,<br />
0431/6618010 Köln FIlMPAlETTE Lübecker Straße 15, 0221/122112<br />
· KölnEr FIlMHAuS Maybachstraße 111, 0221/2227100 KonS-<br />
TAnz zEbrA KIno Joseph-Belli-Weg 5, 07531/60162 lEIPzIg PAS-<br />
SAgE KIno Hainstraße 19 a, 0341/2173865 MAgDEburg cInEMAxx<br />
Kantstraße 6, 0391/5990077 MAnnHEIM cInEMA quADrAT Collinistraße<br />
5, 0621/1223454 MArburg cInEPlEx Biegenstraße 1a,<br />
06421/17300 MüncHEn nEuES ArEnA FIlMTHEATEr Hans-Sachs-<br />
Straße 7, 089/2603265 · cITy KIno Sonnenstraße 12, 089/591983 ·<br />
cInEMAxx Isartorplatz 8, 089/21211411 MünSTEr cInEMA FIlM-<br />
THEATEr Warendorfer Straße 45–47, 0251/30300 nürnbErg KoMM-<br />
KIno Königstraße 93, 0911/2448889 oFFEnbAcH cInEMAxx Berliner<br />
Straße 210, 069/80907210 olDEnburg cInE K Bahnhofstraße 11,<br />
0441/2489646 · cInEMAxx Stau 79–85, 0441/21 77103 PoTSDAM THAlIA<br />
ArTHouSE Rudolf-Breitscheid-Straße 50, 0331/7437020 rEgEnSburg<br />
WInTErgArTEn Andreasstraße 28, 0941/2980963 · cInEMAxx<br />
Friedenstraße 25, 0941/7802121 SAArbrücKEn KIno AcHTEInHAlb<br />
Nauwieser Straße 19, 0681/3908880 · KIno IM FIlMHAuS Mainzer Straße<br />
8, 0681/372570 ScHWEInFurT KuK – KIno unD KnEIPE Ignaz-Schön-<br />
Straße 32, 09721/82358 STuTTgArT cInEMAxx An DEr lIEDErHAllE<br />
Robert-Bosch-Platz 1, 0711/22007978 TrIEr broADWAy FIlMTHEATEr<br />
Paulinstraße 18, 0651/96657200 WEITErSTADT KoMMunAlES KIno<br />
Carl-Ulrich-Straße 9–11 / Bürgerzentrum, 06150/12185 WuPPEr-<br />
TAl cInEMAxx Bundesallee 250, 0202/4930 1181 Würzburg cInE-<br />
MAxx Veitshöchheimer Straße 5a, 0931/3040140<br />
34<br />
nAcHruF<br />
von ringo rösener<br />
Zum Tod von Eve Kosofsky Sedgwick (1950–2009),<br />
der Pionierin der Queer Theory.<br />
s Natürlich ist Homosexualität keine Tatsache, die primär auf eine<br />
sexuelle Orientierung hinweist. Homosexualität rekurriert auf ein<br />
Geständnis, das wir zumeist alle abgelegt haben und es blumig als<br />
Coming Out bezeichnen. Unsere Sexualität ist somit, mehr als die der<br />
anderen, an ein Wissen gebunden, das sich zum Ziel gesetzt hat, alles<br />
über das Liebesleben zu erfahren und es zu bestimmen. Denn „The<br />
special centrality of homophobic oppression […], has resulted from<br />
its inextricability from the question of knowledge and the processes<br />
of knowing in modern Western culture at large.“ Die Literaturwissenschaftlerin<br />
Eve Kosofsky Sedgwick ist in ihren Büchern diesem<br />
Thema nachgegangen. Sie klagt darin den offensichtlichen Schleier<br />
an, den eine bürgerliche Moral über die gleichgeschlechtliche Anziehung<br />
fallen ließ und so erst „Homosexualität“ zu einem existentiellen<br />
Dilemma konstituierte – ein Versteckspiel begann.<br />
Am 12. April dieses Jahres verstarb Eve Kosofsky Sedgwick.<br />
Damit verschwindet eine der Gründerinnen der Queer-Theorie und<br />
Kämpferinnen für ein selbst bestimmtes Sexualleben ohne Geständniszwang.<br />
Uns obliegt es nun, ihre Theorie fortzuführen und sie<br />
nicht auf literarische Texte zu beschränken. Wir werden lernen<br />
müssen, <strong>Film</strong>e ebenso zu betrachten. Denn was wir sehen, ist nicht<br />
unschuldig. Die <strong>Film</strong>historie weist genügend Beispiele auf, in denen<br />
das Wissen von der Anderen Liebe als Ausgeschlossenes, Albernes<br />
oder zu Versteckendes für die Behauptung eines heterosexuellen<br />
Ideals eine wesentliche Rolle spielt. Der Dokumentarfilm The Celluloid<br />
Closet setzt hier an: Ein Hollywood ohne Homosexualität hat es<br />
nie gegeben. Und es wird gezeigt, wie perfide die Traumfabrik sich<br />
selbst zensierte und betrog. <strong>Film</strong> und Theorie arbeiten die Strategien<br />
des Versteckens heraus, das die schamlose Entblößung geradezu provoziert.<br />
Kosofsky Sedgwick lebte ein Leben ohne Versteckspiele. Sie war<br />
immer eine Freundin der Homosexuellen und schien sich in ihrer<br />
Gegenwart mindestens genauso wohl gefühlt zu haben wie in der ihres<br />
Mannes. Daran sollten wir uns erinnern und uns die Mühe machen,<br />
der Konstruktion von Geheimnissen mit Offenheit zu begegnen. s<br />
DAViD SHAnKBonE<br />
<strong>Film</strong>patenschaft<br />
A Florida<br />
Enchantment<br />
USA 1914 regie und produktion Sidney Drew<br />
für Vitagraph Company of America mit Ethel Lloyd,<br />
Charles Kent, Grace Stevens, Ada Gifford, Lillian Burns,<br />
Frank O'Neil, Allan Campbell und Cortland Van Deusen<br />
In diesem ersten lesbisch-schwulen <strong>Film</strong> der <strong>Film</strong>ge-<br />
schichte überhaupt findet eine junge Frau exotische<br />
Geschlechtsumwandlungs-Pillen und eine ganze<br />
Stadt in Florida steht Kopf, nachdem sich diverse<br />
Frauen in Männer und Männer in Frauen verwandelt<br />
haben.<br />
Unsere 1988 erworbene 16mm-Kopie ist mittlerweile<br />
nicht mehr spielbar und A Florida Enchantment<br />
soll neu abgetastet, restauriert und mit deutschen<br />
Zwischentiteln versehen werden. Außerdem soll eine<br />
Klavierbegleitung eingespielt und der <strong>Film</strong> für eine<br />
digitale Kinoauswertung bearbeitet und auf DVD veröffentlich<br />
werden.<br />
Die Kosten dafür übersteigen die planbaren Einnahmen.<br />
Wenn Sie Interesse daran haben, dass dieser<br />
wichtige Meilenstein unserer <strong>Film</strong>geschichte wieder<br />
verfügbar ist und Sie sich zum Beispiel eine Patenschaft<br />
für A Florida Enchantment vorstellen können,<br />
dann setzen Sie sich bitte mit mir in Verbindung.<br />
Björn Koll<br />
Salzgeber & Co. Medien GmbH<br />
Mehringdamm 33<br />
10961 Berlin<br />
koll@salzgeber.de<br />
Telefon 030 / 285 290 90
Fotos: studio canal+; Paramount Pictures<br />
WIr lIEbEn MännEr.<br />
und guTE fIlME.<br />
After stonewAll Von john ScaglIoTTI<br />
i‘m no Angel MIT MaE WEST<br />
in hAssliebe lolA Von loThar laMbErT<br />
ich küsse nicht Von andré TéchIné<br />
the dAme ednA treAtment<br />
MIT daME Edna EVEragE<br />
TIMM ist der erste TV-Sender für schwule<br />
Männer. TIMM ist digital über Kabel,<br />
Satellit und Internet frei empfangbar.<br />
Weitere Informationen zum Empfang und<br />
zum Programm auf:<br />
www.timm.de<br />
Jetzt auch im<br />
analogen<br />
kabel<br />
von berlin, köln und<br />
dem rhein-main-gebiet