Nervenzusammenbruch und wurde Anfang November endgültig aus dem Militär entlassen. In seinen Selbst - porträts der folgenden Jahre ist seine Verzweiflung und sein fragiles Nervenkostüm ablesbar. Nach Klinikauf - enthalten in Königstein im Taunus im Sanatorium von Dr. Oscar Kohnstamm und in der Folge in verschiedenen Sanatorien in Berlin und Königsstein wird seine Medi - kamentenabhängigkeit vom Schlafmittel Veronal und Morphium festgestellt, die sich in der Folge verschärfen sollte. 1917 suchte er auch in Davos Heilung und übersiedelte im folgenden Jahr in die Schweiz auf die Stafelalp oberhalb von Frauenkirch. 1921 gelang es dem Künstler, seine Sucht vorläufig zu überwinden und es begann eine gesundheitlich stabilere Phase in seinem Leben, wobei er unter anderem unter den kalten Wintern in Davos litt und zunehmend depressiver wurde. 51 Zuerst auf der Stafelalp, dann im Haus ‘In den Lärchen’ und schließlich auf dem Wildboden setzte Kirchner sein umfangreiches Werk fort. Er malte Bauern bei der Arbeit und visionäre Landschaften, die den überwältigenden Eindruck der Alpenlandschaft erfassen. Neben malerischen, zeichnerischen und graphischen Werken fertigte er wieder Möbel und freie plastische Arbeiten. Im Jahr 1910 schuf Munch sein Gemälde Der Mörder (S.35 oben), das, vergleichbar mit Kirchners Gemälde Der Wanderer von 1922 (S.35 unten), kurz nach dessen Genesung entstand. In Der Mörder schreitet die Dreiviertelfigur in dunklem Violett und Kobaltblau mit Hut bekleidet auf den Betrachter zu, wobei die Bewegung durch das transparente vorgelagerte rechte Bein und die Flüchtigkeit der dargestellten Figur angedeutet ist. Der in die Tiefe führende, mit breiter roter Linie eingefasste Weg ist seitlich von Felsformationen, die an jene bei Kragerø erinnern, und in Stirnhöhe des Mörders von der Hintergrundlandschaft begrenzt. Der Hell-Dunkel-Kontrast der seitlichen Felsformationen zeigt die menschliche Spaltung in positiv und negativ, gut und böse an. Das transparente, grüne Gesicht ist durch breite gelbweiße Pinselstriche ergänzt und bleibt ohne Mund und Nase gleich einer Maske anonym. Die vorwärtsschreitende Figur, die verstümmelten Finger 34 der angespannten Hände, die sich deutlich vom hellen Untergrund abheben und die rechts neben der Figur herunterrinnende violette und rötliche Farbe steigern die Dramatik der Szene. Ob die Tat bereits begangen wurde und sich der Täter auf der Flucht befindet, wie in der Literatur behauptet wird, 52 oder der Mann sich auf dem unausweichlichen Weg zu seinem Opfer, zum Mörder werdend, ist, bleibt offen. Die Transparenz wird jedoch zum Ausdruck der sowohl physischen als auch psychischen Bewegung als spannungsvolle Durchlässigkeit zwischen Vergangenheit und Zukunft, Geschehenem und Erwartetem. Kirchner bezieht sich in dem fast gleichformatigen Gemälde Der Wanderer sowohl in der mittigen Plazierung des nach vorn schreitenden Mannes als auch dem Weg, der von Berghängen, vergleichbar den Fels - formationen Munchs, und einer Hintergrundlandschaft begrenzt wird. Beide Künstler setzen ihren Hauptakteur in ihre sie selbst umgebende Landschaft. Doch während Munch einen Mörder bedrohlich auf den Betrachter zuschreiten lässt, entwirft Kirchner einen Wanderer, der sich geschwächt auf einen Gehstock stützt. Der genesene, jedoch geschwächte Künstler blickt geradezu argwöhnisch aus dem Bild und ist in Bedeutungsperspektive weitaus größer, gleich einem Riesen, in die Landschaft eingefügt. Das Bild ist weitgehend in grün-blauer Farbigkeit gehalten, nur eine gelbliche Kapelle und vereinzelte violette Konturen stechen hervor. Gleich einem Gegenbild setzt Kirchner Munchs berühmtem Der Mörder, sowohl im Kolorit als auch motivisch, einen kränklichen Wanderer mit klar erkennbaren Gesichtszügen des Missmutes entgegen. Der flüchtende Täter oder im Begriff des Mordes gegebene Mann Munchs wird in Kirchners Werk zu einem Spiegelbild eines Skeptikers mit ungewisser Zukunft. Sein Misstrauen, das Kirchner seinen Freunden und Geschäftspartnern entgegen brachte, findet sich in den Erinnerungen des Kunsthändlers Günther Franke beschrieben: „Man spürt fast die pathologische Anlage zur Kritik, mit der er auch seine nächsten Freunde und Mäzene verletzt.“ 53
Edvard Munch Der Mörder 1910, Woll 906 Ernst Ludwig Kirchner Der Wanderer 1922, Gordon 677 35