mixed reality adventures - artecLab - Universität Bremen
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HOEHLEN<br />
14<br />
das ein Tier im Innern verspüren mag: ich war hilfloser<br />
ausgesetzt als ein Höhlenmensch; dann aber kam mir<br />
die Erinnerung - noch nicht an den Ort, an dem ich mich<br />
befand, aber an einige andere Stätten, die ich bewohnt<br />
hatte und an denen ich hätte sein können - gleichsam<br />
von oben zur Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen,<br />
aus dem ich mir selbst nicht hätte heraushelfen können;<br />
in einer Sekunde durchlief ich Jahrhunderte der Zivilisation,<br />
und aus vagen Bildern von Petroleumlampen<br />
und Hemden mit offenen Kragen setzte sich allmählich<br />
mein Ich in seinen originalen Zügen wieder von neuem<br />
zusammen.“ (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen<br />
Zeit 1, Frankfurt/M. 1981, S. 9ff)<br />
Am Beginn auf der „Suche nach der verlorenen Zeit“<br />
finden wir keinen Anfang, haben jedoch längst begonnen.<br />
Das Immer-schon-da-gewesene markiert eine<br />
unsichere Grenze. Mein Thema ist das erwachende<br />
Wirklichkeits-Bewusstsein. Und da bin ich - so Marcel<br />
Proust - meinen Erinnerungen hilflos wie ein Höhlenmensch<br />
ausgeliefert. Vom Traum soll ein Übergang zum<br />
Wirklichen bewusst werden. Das Wissen dieser Differenz<br />
von Traum und Wirklichkeit kann aber nicht erlebt, sondern<br />
nur erschlossen werden. Der Schlüssel kommt aus<br />
der Erinnerung. Und woher kommt die Erinnerung? Und<br />
worin besteht sie?<br />
Bertrand Russell befürchtet, dass die Erinnerung uns<br />
vormache, die Welt wäre erst vor fünf Minuten aus dem<br />
Nichts geschaffen. Ludwig Wittgenstein verspottet das<br />
Argument. Man könne die fünf Minuten auf eine reduzieren.<br />
Man lasse die Welt samt aller Erinnerung eben<br />
genau in dem Augenblick erstehen, da sie stattfinde.<br />
In seiner großen Studie über die Höhlenmetapher in der<br />
abendländischen Philosophie kommentiert Hans Blumenberg:<br />
„Einen Anfang der Zeit können wir nicht denken. Er<br />
läge schon in der Zeit. … In Hautnähe kommt das alles<br />
erst durch den fundamentalen Rang der Zeit für das<br />
Bewusstsein als ‚Erlebnisorgan‘: Kein Bewusstsein kann<br />
sich anfangend erleben. Nicht einmal beim alltäglichen<br />
Erwachen aus dem Schlaf ist jemals ein Augenblick der<br />
erste; erst recht sind Anfang des Lebens und Welteintritt<br />
der Geburt jeder Erlebbarkeit wesensmäßig entzogen,<br />
was auch immer davon Spur oder Trauma geblieben<br />
sein mag.“ (Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt/M.<br />
1989, S. 11)<br />
Und es bleibt im Unbewussten die tiefe Sehnsucht<br />
der Rückkehr in die Höhle des Mutterleibes. Diese Höhle<br />
hat mir Geborgenheit gespendet, bevor ich irgendetwas<br />
- oder gar mich selbst - wahrnehme. Das erste Wort<br />
bewussten Denkens liegt noch in weiter Ferne: Und doch<br />
ist schon etwas von mir da - in der Höhle.<br />
Am Anfang des Lebens steht nicht das Wort, sondern<br />
ich werde geboren aus dem Mutterleib. Aber - ist das,<br />
was da geboren wird ein „ich“? Wird aus ‚mir‘ nicht doch<br />
erst durch die Sprache ein ‚ich‘? Lauter nicht zu entscheidende<br />
Fragen!<br />
Auch menschheitsgeschichtlich kommt die Höhle<br />
vor der Sprache. Der Übergang vom Leben zum Erleben<br />
beginnt in der Höhle. Allerdings „ist der Mensch nicht,<br />
wie die Griechen glaubten, aus der Tiefe der Erde, aus<br />
ihren Höhlen ans Licht getreten. Vielmehr waren die<br />
Höhlen seine Zuflucht, die er suchte und bewohnte.“