mixed reality adventures - artecLab - Universität Bremen
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artec Lab paper 7<br />
Laboratory for Art, Work and Techhnology<br />
Enrique-Schmidt-Straße 7 (SFG)<br />
28359 <strong>Bremen</strong><br />
<strong>mixed</strong> <strong>reality</strong><br />
<strong>adventures</strong><br />
Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews (Hg.)<br />
1
2<br />
Impressum<br />
<strong>artecLab</strong> paper 7<br />
Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews (Hg.), <strong>mixed</strong> <strong>reality</strong> <strong>adventures</strong><br />
Laboratory for Art, Work and Technology<br />
<strong>Universität</strong> <strong>Bremen</strong><br />
Enrique-Schmidt-Straße 7 (SFG)<br />
D-28359 <strong>Bremen</strong><br />
www.arteclab.uni-bremen.de/publications/paper<br />
Redaktion: Bernd Robben<br />
ISSN 1860-9953<br />
Copyright © <strong>artecLab</strong>-paper, <strong>Bremen</strong><br />
Satz und Herstellung im Eigenverlag<br />
<strong>Bremen</strong> 2005
Bernd Robben<br />
Ralf Streibl<br />
Alfred Tews<br />
Mixed Reality Adventures<br />
3
das ist der Befehl zum Schauen, die Auf-<br />
miraforderung das Sehen zu sehen, von einem<br />
festen oder von verschiedenen Standpunkten aus. Oder<br />
von nirgendwo?<br />
das ist das Wunder des Bildes, in einem<br />
miramedialen Raum etwas zu sehen, was dort<br />
nicht ist, an dem man sich nie satt sehen kann.<br />
das ist die Schaulust. Wer sie befriedigen<br />
mirawill, geht in die Höhle der Felsmalereien,<br />
der Theaterhäuser, der Kinos oder der imaginären 3D-<br />
Welten.<br />
das ist das einmalige Erlebnis des gemeinsa-<br />
miramen Sehens gehörter Bilder in einer Umgebung<br />
der Finsternis, eine Zumutung für die Sinne im<br />
Hörspiel.<br />
mira das ist Theorie, also Einsicht, aber auch<br />
Show, also ein Symposion, mit anderen<br />
Worten ein sinnliches Gelage mit Sinn.<br />
Unter dem Motto „mira“ und der Überschrift „Mixed Reality<br />
Adventures“ fand in <strong>Bremen</strong> im Oktorber ein Symposium<br />
statt, das eine Film- und Vortragsreihe im Kino 46<br />
und eine aufwändige Cave-Installation im Lichthaus am<br />
Pier 2 umfasste. Cave steht dabei für Höhle, aber auch<br />
für „Computer Animated Virtual Environment“.<br />
Wir dokumentieren die Vorträge des Symposiums, die<br />
sich mit dem Thema von Schein und Wirklichkeit in den<br />
unterschiedlichen Medien des Theaters, des Kinos und<br />
in Mixed Reality Installationen auseinander setzten.<br />
Alle Vortragsmanuskripte wurden nur hier und da um<br />
Literaturangaben ergänzt, aber nur wenig verändert. Sie<br />
haben also eher den Stil einer mündlichen Rede als den<br />
eines schriftlichen Textes. Zum Teil haben wir auch die<br />
anschließenden Diskussionen dokumentiert, wenn sie<br />
inhaltlich neue Aspekte beigetragen haben.<br />
<strong>Bremen</strong>, August 2005<br />
Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews<br />
5
INHALTSVERZEICHNIS<br />
Alfred Tews & Bernd Robben<br />
Legenden vom Ende der KinoZeit – Ein fingiertes Gespräch 9<br />
Bernd Robben<br />
Höhlen – Ein assoziativer Bildessay 13<br />
Willi Bruns<br />
Schein und Wirklichkeit in Mixed Reality – Technische Möglichkeiten Grenzen und Risiken 27<br />
Peter Lüchinger<br />
Schein und Wirklichkeit im Theater 35<br />
Hans-Jürgen Wulff<br />
WeltenWandererWelten – Mögliche Realitäten im Kino 55<br />
Ralf Streibl<br />
Ich bin meine eigene Welt – Schöpfungen zwischen Konstruktion und Illusion 67<br />
Melanie Johänning & Simon Meyborg<br />
Virtuelle Höhlen: CAVE – eine Grenzerfahrung der Sinne 83<br />
Programm des Symposiums 86<br />
Pressespiegel 91<br />
7
LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT<br />
Ein fingiertes Gespräch<br />
Alfred Tews & Bernd Robben<br />
BR: Hat das Kino noch eine Zukunft?<br />
AT: Zukunft ist immer jetzt. Es ist durchaus angebracht,<br />
sich über mediale Perspektiven fürs 3. Jahrtausend<br />
Gedanken zu machen. Ausgehend von der Devise „Der<br />
Film (das bewegte Bild) ist das wichtigste künstlerische<br />
Medium“ beschäftigen wir uns mit Utopien im Film und<br />
neue Medien. Die gute alte Film-Welt hat Konkurrenz<br />
bekommen. Virtuelle Welten, virtual actors - heißt das<br />
Zauberwort, das die Tore zu einer neuen Dimension aufsprengt.<br />
BR: Ist das das Ende von Film, Kunst Künstler und Realität?<br />
Was hat es deiner Meinung nach auf sich mit<br />
diesen künstlichen, teilweise interaktiven drei - und<br />
mehrdimensionalen Welten? Verschwinden die Grenzen<br />
zwischen Realität und Fiktion? Oder war „Virtual“ nur<br />
der ultimative Trend am Übergang der Jahrtausende,<br />
Ich hörte einen Kuckuck rufen<br />
Und blickte in seine Richtung,<br />
Aus der sein Ruf kam.<br />
Was sah ich da?<br />
Bloß den bleichen Mond am Morgenhimmel.<br />
Das Orakel vom Berge; Philip K. Dick<br />
der letzte hohle Hype für Medienphilosophen, die heute<br />
schon wieder überholt sind?<br />
AT: Wenn Bilder, Klänge und Texte erst einmal digitalisiert<br />
sind, scheint mir alles möglich zu sein. Der Kampf<br />
mit den Widersprüchen zwischen dem, was wir von<br />
unseren Medien verlangen, und dem, was sie zu leisten<br />
imstande sind, ist zuende. Oder er ist gegenstandslos<br />
geworden. In der analogen Welt gab es scharfe Grenzen:<br />
Man konnte ein Stück Holz oder eine Gitarre nur zu<br />
dem veranlassen, was ihnen zu tun möglich war. In der<br />
digitalen Welt gibt es keine dinglichen Grenzen: Alles<br />
ist nur eine Frage der Speicherkapazität, der Prozessorgeschwindigkeit<br />
und der Kommunikations-Bandbreite.<br />
Die digitale Revolution vollendet die geistige Revolution,<br />
die vor Jahrtausenden begonnen hat, als jemand<br />
erstmals mit Farbe auf Stein malte. Der Beginn, die<br />
9
LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT<br />
10<br />
natürliche Welt zu abstrahieren, um eine Idee daraus<br />
zu machen.<br />
BR: Welche Phantasie entwickelst du da? Muss ich die<br />
ins Spiel gebrachte Endzeit-Legende des Kinos für wahr<br />
nehmen. Oder konkret nachgefragt:<br />
Wird das Celluloid verschwinden und damit die Kinos?<br />
Wird es keine Film-Regisseure im klassischen Sinne mehr<br />
geben? Sind alle Experimente des Films schon gemacht?<br />
Verschwindet das Narrative aus dem bewegten Bild? Wird<br />
jeder ein „actor“ mit eigener Kamera? Wird eine digitale<br />
Internet-Individual-Audience die Cinema-Audience<br />
ablösen? Werden die Schauspieler überflüssig?<br />
AT: Banal geantwortet: Nein!<br />
BR: Jetzt wirst du plötzlich sehr wortkarg. Das muss du<br />
für mich etwas plastischer ausdrücken. Wie kann ich mir<br />
die Geschichte vorstellen?<br />
AT: Retro-aktiviert: Von der Steinzeitmalerei - oder Platons<br />
Interpretation des Höhlenschattens als erste Erkennung/Erkenntnis<br />
einer Virtuellen Welt bis hin zu UBIK =<br />
ubique (lat. überall) oder ubiquity (Allgegenwart). „ It‘s<br />
moving - its alive - its alive! Now I know what it feels to<br />
be god!” Die Sehnsucht – „the brain of a dead man waiting<br />
to live again in a body I made with my own hands”<br />
– und die Warnung liegen beieinander. Der Lehrling<br />
träumt vom Schaffen neuen, künstlichen Lebens und hat<br />
seinen mehr moralisch denkenden Lehrer wissenschaftlich<br />
längst überrundet. Die Geschichte von Frankenstein<br />
nach dem Roman von Mary Shelley Wollstonecraft ist<br />
der bedeutende Schritt in der Filmgeschichte, das Motiv<br />
vom Künstlichen Menschen als definitives Muster vorzulegen.<br />
Weitere Beispiele für in Romanen oder Erzählungen<br />
angedachte und dann filmisch-technologisch gewordene<br />
Film-Realitäten sind: der Schachautomat in Ambrose<br />
Bierce Erzählung „Moxon`s Master“, die Roboter in Karel<br />
Capeks Drama „R.U.R.“, Isaacs Asimovs SF-Geschichten<br />
„I,Robot“ mit den Robotergesetzen, Retortenkinder in<br />
Aldous Huxleys „Brave New World“, der mechanische<br />
Hausgehilfe in Gilbert Chestertons „the Invisible Man“,<br />
der Homunculus, von dem schon Goethe berichtet oder<br />
Laurence Sterne in „Tristam Shandy“, H.G.Wells erfundene<br />
Halbwesen in „The Island of Dr. Moreau“, der Golem<br />
des Rabbi Loew, Androiden in Philip K. Dick‘s „Do Androids<br />
Dream of electric sheep?“ Dies sind nur einige Beispiele<br />
und sie stehen für eine Kino-Zeit von 1910-1980.<br />
BR: Geht 1980 eine Film-Epoche zuende?<br />
AT: Mit Der Kino-Zeit des „Blade Runners“ beginnt praktisch,<br />
sich die Idee des „virtuellen Reality“/Actors“<br />
durchzusetzen“ – zunächst nur als filmisches Ab-Bild<br />
wie in dem zu früh auf dem Markt geschmissenen „TRON“<br />
von Steven Lisberger (1982), „Videodrome“(David Cronenberg,<br />
1982, als Sonderfall des Übertritts zwischen<br />
materieller und Virtueller Welt, dann in Produktionen wie<br />
„The Lawnmower Man“ (Brett Leonard, 1992, nach einer<br />
Kurzgeschichte von Stephen King), „Virtuosity“ (ebenfalls<br />
Brett Leonard, 1995), „Johnny Mnemonic“(Robert<br />
Longo, 1995, nach einer Kurzgeschichte von William<br />
Gibson, dem Erfinder des Cyberpunk).<br />
Max Headroom ist der erste virtuelle Star in der<br />
bewegten Bilderwelt. Ein Computermensch, der eine TV-<br />
Show moderiert und dabei ein undenkbares Eigenleben<br />
entwickelt.
Nach einer Kurzgeschichte des Cyberspace-Autors William<br />
Gibson aus dem Jahre 1980 entstand der Film<br />
„Johnny Mnemonic“(1995). Der Fim spielt im 21.Jahrhundert,<br />
wo Wirtschaftkonzerne die Weltherrrschaft<br />
übernommen haben und die Datennetze kontrollieren.<br />
Datenschmuggel ist ein subversives Vergehen, gegen das<br />
die „LoTeks“ verschwörerisch angehen. Johnny ist einer<br />
dieser Schmuggler, der Daten von Beijing nach Newark<br />
bringt und in seinem Gehirn einen Chip implantiert hat,<br />
mit dessen Hilfe er die Daten und Bilder an den Wächtern<br />
vorbeischmuggelt. Schließlich erleidet der Computer<br />
in seinem Kopf einen Overflow und droht ihn selbst<br />
zu vernichten. Wie in den meisten dieser Filme sieht die<br />
künstliche Wirklichkeit um so faszinierender aus, wie die<br />
„wirkliche“ Wirklichkeit unbewohnbar geworden ist!<br />
BR: Künstliche Welten faszinieren, weil die reale Welt<br />
nicht mehr zu ertragen ist?<br />
AT: „In dieser Phase der Filmgeschichte trat neben die<br />
Angst erzeugende Phantasie eines künstlichen Menschen<br />
in einer wirklichen Welt das genaue Gegenbild: der wirkliche<br />
Mensch, der sich in einer künstlichen Realität verläuft.<br />
Erst als Eindringling, dann als Gefangener eines<br />
Labyrinths. Wieder führt uns indes die Angstvision in die<br />
alten Albträume zurück: Hänsel und Gretel verlaufen sich<br />
im Cyberwald. Und wir sind nicht mehr eins, begegnen<br />
unseren eigenen Doppelgängern, spalten uns endlos,<br />
sind hier und woanders gleichzeitig. Das Eintauchen in<br />
die Cyberworld, das uns in so simplen Erzählungen wie<br />
TRON als schiere „Verwechslungen“ von Wirklichkeit und<br />
Simulation begegnete, ist nichts anderes als die elektronische<br />
Wiederkehr eines Syndroms, das wesentlich<br />
älter ist als jenes „Stendhal Syndrom“, von dem in Dario<br />
Argentos gleichnamigen Film (1994) die Rede ist: Georg<br />
Seeßlen spricht vom Eintauchen des Blicks in das Bild,<br />
das keine Rückkehr, keine Distanz mehr kennt.<br />
BR: Das heißt, wir sind in der virtuellen Welt gefangen?<br />
AT: Damit sind wir im Jahr 1998 angelangt, bei „MATRIX“.<br />
Mit MATRIX sind alle bisher in Filmen noch erkennbaren<br />
realen Grenzen endgültig aufgehoben. MATRIX hat die<br />
seit langem unwahrscheinlichste Geschichte, die zum<br />
Plot eines Science Fiction-Films wurde: Die Menschheit<br />
ist versklavt von intelligenten Maschinen, die ihre Energie<br />
aus menschlichen Embryonen ziehen, die in gigantischen<br />
Zuchtstationen gehalten werden. Man begegnet<br />
im Film einer der bislang radikalsten Ausformulierungen<br />
eines Phänomens, das seit einiger Zeit durchs Hollywood-Kino<br />
(und nicht nur dort) geistert: einer Art kollektiver<br />
Verschwörungsparanoia, in der sich ein tiefes<br />
Misstrauen gegenüber der Welt, wie wir sie kennen, artikuliert.<br />
Die Umsetzung folgt gnadenlos den Gesetzen<br />
des Unterhaltungskinos – und hat funktioniert, wie man<br />
an Filmen wie Lara Croft, Final Fantasy, A.I., Resident<br />
Evil und so weiter sieht.<br />
BR: Worin liegt das umwälzend Neue dieser Generation<br />
von Science Fiction-Filmen?<br />
AT: In der grenzüberschreitenden Art der Verknüpfung<br />
von virtuellen und wirklichen Welten: Der auslösende<br />
Skandal des Phantasmas vom künstlichen Parallel- und<br />
Nachmenschen beginnt etwa bei Cronenberg damit, dass<br />
ein Inneres nach außen tritt. So wird der Roboter mit<br />
seiner stählernen Haut, die Vollendung jenes Panzers,<br />
mit dem sich der Krieger seit Urzeiten vor allem semio-<br />
LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT<br />
11
LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT<br />
12<br />
logisch zu wappnen versucht, zu dem Wesen, das endgültig<br />
die Trennung von Innen und Außen zu seinem<br />
Bild gemacht hat: Einen Roboter/Computer/Avatar<br />
zu „öffnen“, heißt in der Regel in unserer Mythologie<br />
bereits, ihn zu töten. Georg Seeßlen hat diesen Wirkmechanismus<br />
ausführlich beschrieben.<br />
In den Filmen von David Cronenberg geschieht der<br />
Übertritt zwischen materieller und virtueller Wirklichkeit<br />
häufig und auf sehr heftiger Art und Weise. Die zweite<br />
Wirklichkeit tritt nicht nur in die Vorstellung, sondern<br />
ganz direkt ins Fleisch des Menschen wie in Filmen wie<br />
VIDEODROM (1982) oder „eXistenZ“ (1999), wo es um die<br />
Geburt des neuen Menschen als „MetaFlesh Game-Pod“<br />
geht. Hier kann die virtuelle WELT nur eine furchtbare<br />
Abbildung des Bekannten sein. So wie die Gespenster<br />
der Irrealität in der Wirklichkeit wüten, so wüten nun<br />
die Gespenster der Realität in den Traumreichen. Und<br />
Cronenberg geht in seinen Filmen an den Ursprung des<br />
Mythos zurück, zum „Grauen“ der Geburt, die sich aus<br />
der natürlichen Abfolge löst. So schafft sich der ‚artifizierende’<br />
Mann in VIDEODROM so etwas wie eine Vagina,<br />
und in „eXistenZ“ erschafft die Heldin ein Computerspiel,<br />
das die perfekte Simulation einer Gebärmutter ist,<br />
und vernabelt ihren „Sohn“ mit einem „Bioport“.<br />
In der Literatur gibt es dafür Vorläufer. Da ließe sich<br />
der Ubik von Philipp K. Dick zitieren: „Ich bin Ubik. Mich<br />
gabs schon, bevor es das Universum gab. Ich habe die<br />
Gestirne gemacht, ich habe die Welt erschaffen und den<br />
Raum, in dem es existiert. Ich lenke es hierhin, ich lenke<br />
es dorthin. Es bewegt sich nach meinem Willen, es tut,<br />
was ich sage. Ich bin das Kennwort, mein NAme wird<br />
nie ausgesprochen, mein NAme, den niemand kennt. Ich<br />
werde Ubik genannt, aber das ist nicht mein NAme. Ich<br />
bin. Ich werde immer sein.“<br />
Das ist doch die geniale Vorwegnahme der Philosophie<br />
des MATRIX-Universums anhand einer Phraseologie,<br />
welche die Eröffnung des Neuen Testaments von Johannes<br />
nachahmt und den Computer metaphorisch mit (dem<br />
christlichen) Gott gleichsetzt.<br />
Sic MATRIX! Die Dimension ist Gott! Avatar bezeichnet<br />
im Sanskrit eine göttliche Wesenheit, die menschliche<br />
Gestalt annimmt. In diesem Sinne sind Virtual Actors<br />
von heute die guten Geister von morgen, Schnittstellen<br />
zu einer autonomen Parallelwelt in einem selbstregelnden<br />
System.<br />
BR: Siehst du in derartigen virtuellen Welten von Caves<br />
und Avataren die künftige Kinowelt heraufziehen?<br />
AT: Wer weiß das schon genau. Alle Filme werden heute<br />
auch digital produziert. Für die Zukunft gilt auf jeden<br />
Fall: „Phantasy kills <strong>reality</strong>!“
HÖHLEN<br />
Ein assziativer Bildessay<br />
Bernd Robben<br />
„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal<br />
fielen mir die Augen, wenn kaum die Kerze ausgelöscht<br />
war, so schnell zu, daß ich keine Zeit mehr hatte zu<br />
denken: „jetzt schlafe ich ein.“ Und eine halbe Stunde<br />
später wachte ich über dem Gedanken auf, daß es nun<br />
Zeit sei, den Schlaf zu suchen; ich wollte das Buch fortlegen,<br />
das ich noch in den Händen zu haben glaubte, und<br />
mein Licht ausblasen; im Schlafe hatte ich unaufhörlich<br />
über das Gelesene weiter nachgedacht, aber meine<br />
Überlegungen waren seltsame Wege gegangen; es kam<br />
mir so vor, als sei ich selbst, wovon das Buch handelte:<br />
eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen Franz<br />
dem Ersten und Karl dem Fünften. Diese Vorstellung<br />
hielt zuweilen noch ein paar Sekunden nach meinem<br />
Erwachen an; meine Vernunft nahm kaum Anstoß an ihr,<br />
aber sie lag wie Schuppen auf meinen Augen und hinderte<br />
mich daran, Klarheit darüber zu gewinnen, daß<br />
das Licht nicht brannte. Dann wurde sie immer weniger<br />
greifbar, wie nach der Seelenwanderung die Gedanken<br />
einer früheren Existenz; … wenn ich mitten in der<br />
Nacht erwachte, wußte ich nicht, wo ich mich befand,<br />
ja im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war: ich<br />
hatte nur in primitivster Form das bloße Seinsgefühl,<br />
13
HOEHLEN<br />
14<br />
das ein Tier im Innern verspüren mag: ich war hilfloser<br />
ausgesetzt als ein Höhlenmensch; dann aber kam mir<br />
die Erinnerung - noch nicht an den Ort, an dem ich mich<br />
befand, aber an einige andere Stätten, die ich bewohnt<br />
hatte und an denen ich hätte sein können - gleichsam<br />
von oben zur Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen,<br />
aus dem ich mir selbst nicht hätte heraushelfen können;<br />
in einer Sekunde durchlief ich Jahrhunderte der Zivilisation,<br />
und aus vagen Bildern von Petroleumlampen<br />
und Hemden mit offenen Kragen setzte sich allmählich<br />
mein Ich in seinen originalen Zügen wieder von neuem<br />
zusammen.“ (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen<br />
Zeit 1, Frankfurt/M. 1981, S. 9ff)<br />
Am Beginn auf der „Suche nach der verlorenen Zeit“<br />
finden wir keinen Anfang, haben jedoch längst begonnen.<br />
Das Immer-schon-da-gewesene markiert eine<br />
unsichere Grenze. Mein Thema ist das erwachende<br />
Wirklichkeits-Bewusstsein. Und da bin ich - so Marcel<br />
Proust - meinen Erinnerungen hilflos wie ein Höhlenmensch<br />
ausgeliefert. Vom Traum soll ein Übergang zum<br />
Wirklichen bewusst werden. Das Wissen dieser Differenz<br />
von Traum und Wirklichkeit kann aber nicht erlebt, sondern<br />
nur erschlossen werden. Der Schlüssel kommt aus<br />
der Erinnerung. Und woher kommt die Erinnerung? Und<br />
worin besteht sie?<br />
Bertrand Russell befürchtet, dass die Erinnerung uns<br />
vormache, die Welt wäre erst vor fünf Minuten aus dem<br />
Nichts geschaffen. Ludwig Wittgenstein verspottet das<br />
Argument. Man könne die fünf Minuten auf eine reduzieren.<br />
Man lasse die Welt samt aller Erinnerung eben<br />
genau in dem Augenblick erstehen, da sie stattfinde.<br />
In seiner großen Studie über die Höhlenmetapher in der<br />
abendländischen Philosophie kommentiert Hans Blumenberg:<br />
„Einen Anfang der Zeit können wir nicht denken. Er<br />
läge schon in der Zeit. … In Hautnähe kommt das alles<br />
erst durch den fundamentalen Rang der Zeit für das<br />
Bewusstsein als ‚Erlebnisorgan‘: Kein Bewusstsein kann<br />
sich anfangend erleben. Nicht einmal beim alltäglichen<br />
Erwachen aus dem Schlaf ist jemals ein Augenblick der<br />
erste; erst recht sind Anfang des Lebens und Welteintritt<br />
der Geburt jeder Erlebbarkeit wesensmäßig entzogen,<br />
was auch immer davon Spur oder Trauma geblieben<br />
sein mag.“ (Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt/M.<br />
1989, S. 11)<br />
Und es bleibt im Unbewussten die tiefe Sehnsucht<br />
der Rückkehr in die Höhle des Mutterleibes. Diese Höhle<br />
hat mir Geborgenheit gespendet, bevor ich irgendetwas<br />
- oder gar mich selbst - wahrnehme. Das erste Wort<br />
bewussten Denkens liegt noch in weiter Ferne: Und doch<br />
ist schon etwas von mir da - in der Höhle.<br />
Am Anfang des Lebens steht nicht das Wort, sondern<br />
ich werde geboren aus dem Mutterleib. Aber - ist das,<br />
was da geboren wird ein „ich“? Wird aus ‚mir‘ nicht doch<br />
erst durch die Sprache ein ‚ich‘? Lauter nicht zu entscheidende<br />
Fragen!<br />
Auch menschheitsgeschichtlich kommt die Höhle<br />
vor der Sprache. Der Übergang vom Leben zum Erleben<br />
beginnt in der Höhle. Allerdings „ist der Mensch nicht,<br />
wie die Griechen glaubten, aus der Tiefe der Erde, aus<br />
ihren Höhlen ans Licht getreten. Vielmehr waren die<br />
Höhlen seine Zuflucht, die er suchte und bewohnte.“
(Hans Blumenberg, ebenda, S. 25) Wie lange es gedauert<br />
hat, bis er die Höhlen als seine bildlich erkennbar<br />
machte, wissen wir nicht wirklich. Genauso wenig kennen<br />
wir heute die Funktionen der Höhlenzeichnungen: Waren<br />
es praktische, magische, kultische?<br />
Klar ist nur: In der Höhle gelang es, Abwesendes anwesend<br />
zu machen. Beim Durchgang durch die Höhle wurde<br />
der Mensch das träumende Tier. „Im Schutz der Höhle,<br />
unter dem Gebot der Mütter … entstand die Phantasie.“<br />
(Hans Blumenberg, ebenda, S. 30) Statt die ewig<br />
langweiligen Erfolgsgeschichten der heimkehrenden<br />
Jäger immer wieder aufzuwärmen, war es das Privileg<br />
der Schwachen in der Höhle Zurückgebliebenen, in der<br />
Phantasie etwas auszumalen, ohne es zu erleiden. In der<br />
Höhle lässt sich die Kunst ausbilden, die Vorstellungskraft<br />
zu bannen und die Phantasie zu beflügeln.<br />
Aber der Schutz der Höhle ist ambivalent: Ihre Dunkelheit<br />
nährt auch „das Gefühl des Unheimlichen“, die<br />
„Vorstellung, der Augen beraubt zu werden“ (Sigmund<br />
Freud, Das Unheimliche, Studienausgabe Bd. IV, S. 253).<br />
Dunkle Schatten wirken bedrohlich.<br />
Deshalb müssen die Schatten gebannt und fixiert<br />
werden. Liegt im Bannen der menschlichen Schatten -<br />
im Nachzeichnen ihres Umrisses - der Ursprung der Malerei?<br />
Für Plinius den Älteren ist das bei aller Unsicherheit<br />
über ihren Anfang unbezweifelbar der Fall (Vgl. Victor<br />
I. Stoichita, Eine kurze Geschichte des Schattens, München<br />
1999, S. 7).<br />
Dagegen gibt es einen gewichtigen Einwand: Älter<br />
als gestalthafte Bilder sind die abstrakten Zeichen.<br />
Am Anfang aller Aufzeichnungen steht nicht die naive<br />
HOEHLEN<br />
15
HOEHLEN<br />
16<br />
Darstellung der Wirklichkeit. Erinnerungen bilden sich<br />
im Abstrakten, graben sich als Spuren ins Gedächtnis<br />
ein. Ihre ältesten, in Höhlen gefundenen Zeugnisse sind<br />
Kritzeleien und Graphismen. Schon bevor es Zahlwörter<br />
in der Sprache gibt, werden einfache Zahlzeichen<br />
in Knochen geritzt. Derartige makabre Zeugnisse des<br />
auf die Zukunft gerichteten theoretisch planenden Denkens<br />
- eingraviert in Gebeine - legen die Lebenden den<br />
Gestorbenen in die Höhle des Grabes. Wo auch immer<br />
der Anfang genau liegt. Sicher ist: Höhlen schaffen eine<br />
Erinnerungskultur und damit die Voraussetzung für ein<br />
reflektierendes Wirklichkeits-Bewusstsein.<br />
Wie Sie alle sicher schon erwarten, muss zum Thema<br />
Wirklichkeits-Bewusstsein das berühmteste Höhlengleichnis<br />
der westlichen Philosophiegeschichte kommen.<br />
Lauschen wir Platos Aufzeichnungen. Sokrates erzählt:<br />
„Stelle dir vor: Da befinden sich Menschen in einem<br />
unterirdischen höhlenartigen Gehäuse. Nach oben zum<br />
Licht hin verläuft ein langer Gang an der Höhle entlang.<br />
In dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an<br />
Schenkeln und Nacken. Sie können sich nicht von der<br />
Stelle bewegen und nur vor sich hin blicken. Die Köpfe<br />
zu wenden, verwehrt ihnen die Fesselung. Licht fällt auf<br />
sie von einem Feuer, das oberhalb und rückwärtig entfernt<br />
von ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den<br />
Gefesselten liegt etwas höher ein Weg, an dem entlang<br />
du dir ein Mäuerchen vorstellen mußt, wie die Gaukler<br />
Schranken zwischen sich und den Zuschauern aufrichten,<br />
um über diesen ihre Kunststücke vorzuführen.<br />
Ich sehe es vor mir, sagte (Glaukon).<br />
Dann stelle dir weiter vor, wie an diesem Mäuerchen
entlang Leute allerlei Gebilde tragen, die über das Mauerwerk<br />
hinausragen. Es sind steinerne wie hölzerne Darstellungen<br />
von Menschen und Tieren sowie mancherlei<br />
andere Kunstformen. Die Vorführer dieser Gebilde mögen<br />
sich wohl unterhalten, einige werden still sein.<br />
Von einem wunderlichen Bild erzählst du und von<br />
wunderlichen Gefangenen, sagte (Glaukon).<br />
Aber doch ganz ähnlich uns, sagte ich. Menschen in<br />
dieser Lage haben, das wirst du zugeben, von sich selbst<br />
und voneinander seit jeher keine andere Kenntnis als<br />
durch die Schatten, die das Feuer auf die Höhlenwand<br />
vor ihnen, wirft.<br />
Wie sonst, sagte er, wenn sie durch Zwang auf Lebenszeit<br />
die Köpfe unbewegt halten müssen?<br />
Was aber sehen sie von den Gebilden, die hinter ihnen<br />
vorgeführt werden? Etwas anderes (als deren Schatten)?<br />
Was sonst?<br />
Könnten sie nun miteinander erörtern, was sie da<br />
sehen, würden sie es nicht auch deiner Meinung nach<br />
für das Seiende selbst halten?<br />
Es bleibt ihnen nichts anderes übrig.“<br />
Mit dieser ziemlich brutalen Schilderung des Zwangscharakters<br />
der Höhle ist das Höhlengleichnis noch<br />
nicht zuende. Plato öffnet die Höhle, um die Differenz<br />
zwischen Denken und Wahrnehmung bewusst zu machen.<br />
Traue dem Schein nicht, so lautet seine Botschaft:<br />
Dichter und Maler täuschen uns mit ihren Kunstwerken.<br />
Die sophistischen Philosophen fallen auf sie rein.<br />
Wahre Erkenntnis lässt sich mit den getäuschten Sinnen<br />
nicht erfahren. Das Wahre und Gute findet sich in der<br />
Sphäre der Ideen, welche der Philosoph ans Licht bringt.<br />
Wer die Welt erleuchtet im Licht der Ideen sieht, wird<br />
zunächst geblendet sein. Geht der so Aufgeklärte gar<br />
in das Dunkle der Höhle zurück, so wird man ihm nicht<br />
glauben und ihn wegen seiner frevelhaften Äußerungen<br />
über den Charakter der Wirklichkeit - genau wie Sokrates<br />
- mit dem Tode bedrohen.<br />
Der kritische Einwand gegen Sokrates und Plato lautet:<br />
Das Licht der Idee ist nur eine andere blendende Metapher.<br />
Aus der Höhle der Zeichen von Dichtern und Künstlern<br />
gibt es kein Entkommen. Wirklichkeits-Bewusstsein<br />
hat die Welt nie direkt, sondern nur vermittelt. Und wie<br />
unterscheiden wir die Wirklichkeit dann vom Traum?<br />
Ungefähr 2000 Jahre nach Plato, hält der Beginn des<br />
Winters einen anderen Philosophen in einer anderen<br />
Höhle, in einer Ofenstube eingeschlossen, in der er alle<br />
Muße hatte, sich mit seinen Gedanken zu beschäftigen.<br />
Am Martinsabend 1619 gerät René Descartes beim<br />
Grübeln in höchste Erregung. Natürlich ist es Nacht, als<br />
ihn die Phantome von Träumen bedrängen:<br />
Immer wenn er aufwacht, die Studierstube wieder<br />
erkennt und über seinen Traum nachdenken will, schläft<br />
er wieder ein. Schließlich beschert ihm der Traum ein<br />
Wörterbuch und die Frage, welchen Lebensweg er einschlagen<br />
soll. Immer wenn er im Wörterbuch nachschlagen<br />
will, fehlen die entsprechenden Stellen. Die Träume<br />
in der Studierstube deutet Descartes als Botschaft. Sein<br />
Leben lang wird er nachdenken über das Wahre und Falsche.<br />
Auf der Suche nach der evidenten Wahrheit kommen<br />
die Zweifel an den Sinnen. Fast alles fällt der Fiktion<br />
HOEHLEN<br />
17
HOEHLEN<br />
18<br />
zum Opfer: die innere und äußere Sinneserfahrung. Auch<br />
die Mathematik bietet keine letzte Gewissheit. Und Descartes<br />
beschließt:<br />
„Jetzt schließe ich meine Augen, stopfe meine Ohren<br />
zu, rufe alle Sinne zurück und tilge ebenfalls alle Abbilder<br />
körperlicher Dinge aus meinem Denken oder erachte<br />
sie wenigstens wegen ihres eitlen Truges für nichts, weil<br />
das andere schwerlich möglich ist; indem ich aber mit<br />
mir alleine spreche und mich genauer anschaue, versuche<br />
ich allmählich mir selber bekannter und vertrauter<br />
zu werden.“ (zitiert nach Rainer Specht, Descartes,<br />
Reinbeck bei Hamburg 2001, S. 86)<br />
„Täusche mich, wer immer kann, er wird doch nie<br />
bewirken, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich<br />
ich etwas bin. … Das Denken ist, nur dies kann man mir<br />
nicht entwinden; ich bin, ich existiere, ist gewiß. Wielange<br />
aber? Nun, solange ich denke.“ (ebenda, S. 88f)<br />
Für das Wirklichkeits-Bewusstsein zählt letztendlich nur<br />
das Denken.<br />
Der zentrale Punkt bei Descartes ist der Dualismus<br />
zwischen der Welt des Bewusstseins und der materiellen<br />
Welt, zwischen der Seele und dem Körper. Aus der Vorstellung<br />
der Dualität von Körper und Geist ergibt sich<br />
das Problem, wie sich die beiden zueinander verhalten.<br />
Descartes zeichnet ein Funktionsbild und erklärt:<br />
Im mittleren Gehirnventrikel schwebt die Zirbeldrüse<br />
(H), welche die umgebenden Animalgeister zu steuern<br />
vermag. Die kleinen Kreise sind die Endungen der Nervenschläuche,<br />
durch welche die Drüse Animalgeister in<br />
die Muskeln transportiert, um sie aufzublähen.
„Durch Empfindungen … belehrt mich die Natur, daß<br />
ich in meinem Körper nicht wie ein Kapitän in seinem<br />
Schiffe weile, sondern so überaus enge mit ihm verbunden<br />
und gleichsam vermischt bin, daß ich mit ihm eine<br />
Einheit bilde; andernfalls würde ich nämlich, da ich nicht<br />
anderes bin als ein denkendes Ding, bei einer Verletzung<br />
des Körpers keinen Schmerz empfinden, sondern diese<br />
Verletzung mit meinem bloßen Verstande wahrnehmen,<br />
so wie ein Kapitän es mit dem Auge wahrnimmt, wenn<br />
etwas an seinem Schiffe bricht.“ schreibt Descartes<br />
(ebenda, S. 125).<br />
Der moderne Philosoph positioniert den Menschen in<br />
der Höhle seines Denkens, in den Spalten des Geistes.<br />
Offensichtlich folgen daraus philosophische Schwierigkeiten<br />
mit der Positionierung des Körpers.<br />
Statt diesen vergeistigten philosophischen Schwierigkeiten<br />
weiter nachzugehen, befrage ich zum Thema des<br />
Wirklichkeits-Bewusstsein die Techniker, also Künstler,<br />
Designer, Ingenieure.<br />
Der moderne Künstler Filipo Brunelleschi hat dem<br />
meditierenden Menschen schon über ein Jahrhundert<br />
vor Descartes eine Höhle voller Harmonie gebaut. Mit<br />
einem revolutionär neuen Konstruktionsverfahren - der<br />
Errichtung eines riesigen Gewölbes ohne Lehrgerüste<br />
und Hilfskonstruktionen - schafft er in Florenz eine Kirchenkuppel<br />
mit einer mystischen Athmosphäre. Diese ist<br />
genau geplant, die Wirkung von diffusem und gedämpften<br />
Licht päzise vorherbestimmt.<br />
Hier steht der Mensch im Mittelpunkt der Höhle. Seine<br />
Sicht auf die Welt ist berechnet, nach den Erfordernissen<br />
der perspektivischen Darstellung. Die von Brunelleschi<br />
HOEHLEN<br />
19
HOEHLEN<br />
20<br />
gefundenen Regeln perspektivischer Projektion prägen<br />
von nun an den Blick.<br />
Um in den Bildnissen der Kuppel - von Vasari und Zuccari<br />
- Szenen von realistischer Wirklichkeit zu sehen,<br />
muss der Betrachter sich selbst in die richtige Position<br />
begeben. Wenn er sich an den adäquaten Platz stellt,<br />
dann taucht er meditierend ein in eine mystische Athmosphäre<br />
des Geheimnisses von Innen und Außen. Er<br />
empfindet den Bildraum als real gegenwärtig.<br />
Dieser etwa 1475 entstandene Holzschnitt ist die<br />
erste bekannte Darstellung einer ganzen Stadt als<br />
autonomes Kunstwerk, die kein Phantasiegebilde ist.<br />
Er basiert auf einer Konstruktion, die sich die Möglichkeiten<br />
der Perspektive zu Kontrolle und Korrektur der<br />
direkten Beobachtung nach der Natur zunutze macht<br />
und die Topografie zur Überprüfung des planimetrischen<br />
und volumetrischen Aufbaus. Um die Stadt Florenz hervorzuheben,<br />
hat der Zeichner einen erhöhten Aussichtspunkt<br />
gewählt. Die mathematisch konstruierte Ansicht<br />
rückt die Kuppel von Brunelleschi in den Mittelpunkt<br />
der Stadt.<br />
Auf das perspektivisch konstruierten Tafelbild ist<br />
unser Auge inzwischen so trainiert, dass es sich auf den<br />
richtigen Standpunkt positioniert, ohne dass wir den<br />
Körper zum richtigen Standpunkt bewegen.. Das Bild<br />
hat sich in „ein Fenster verwandelt, durch das wir in<br />
den Raum hindurchzublicken glauben“ (Erwin Panofsky,<br />
Die Perspektive als symbolische Form, in: ders., Aufsätze<br />
zur Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin<br />
1992, S. 99). Die korrekte geometrische Konstruktion<br />
stellt das Bild als einen planen Durchschnitt durch die
sogenannte Sehpyramide vor. Angeblich geben die Sehstrahlen<br />
objektiv die Lage der Bildpunkte vor, welche<br />
korrespondierende Punkte in der Wirklichkeit repräsentieren..<br />
Um die Gestaltung eines völlig rationalen, d.h.<br />
unendlich stetigen und homognen Raumes zu gewährleisten,<br />
werden stillschweigend zwei wesentliche Voraussetzungen<br />
gemacht:<br />
Erstens, dass wir nur mit einem völlig fixierten unbeweglichem<br />
Auge sehen, zweitens dass der ebene Durchschnitt<br />
durch die Sehstrahlen als adäquate Wiedergabe<br />
des Sehbildes gelten darf (vgl. ebenda S. 101).<br />
Seit Jahrhunderten leben wir in der Höhle der perspektivischen<br />
Repräsentation. Unser Blick ist fixiert.<br />
Fotorealistische Darstellungen repräsentieren für uns<br />
die Wirklichkeit. Wir schauen sie auf kunstvollen Tafelbildern<br />
bzw. heute eher auf den chemisch fixierten<br />
Hochglanzabbildungen der Illustrierten, dem gemeinen<br />
Fenster zur Welt-Anschauung.<br />
Dieses einfache Verhältnis der Repräsentation der<br />
Wirklichkeit, das den Betrachter immer außerhalb positioniert,<br />
verkompliziert sich in den neuen technischen<br />
Höhlenbildern.<br />
Als die auf der rechten Seite abgebildete Installation<br />
1974 in Köln aufgestellt werden soll, schreibt der Künstler<br />
Num June Paik an an den Ausstellungsleiter Wulf<br />
Herzogenrath:<br />
„I got a very good idea, which is simple, inexpensive,<br />
yet very beautiful. For the opening night and one more<br />
day, I will become a „LIVING BUDDHA“ myself, watching<br />
also TV. Therefore there will be two Buddhas watching<br />
TV, one is the old wooden Buddha, the other is myself.“<br />
HOEHLEN<br />
21
HOEHLEN<br />
22<br />
Nachdruck verboten<br />
Das Bild wird selbst-reflexiv. Denken Sie also einen<br />
Augenblick darüber selbst. Wer nicht selbst denken kann<br />
oder mag, möge einige Gedenksekunden für John Cage<br />
einlegen.<br />
Das Bild beerdigen, das heißt, ein Bild zu schaffen.<br />
Das Bild ist gerade das, was visuell in der Leere<br />
übrig bleibt. Es legt den Grund offen, zieht sich zurück<br />
und uns hinein. Im Akt des Blicks treffen Trauer und<br />
Begehren zusammen. Und dann haben wir es mit einer<br />
Phantasmatik der Zeit zu tun. In der Höhle erstrahlen<br />
Bewegungs- und Zeitbilder. Ab jetzt befinden wir uns in<br />
der Höhle des kinematischen technischen Bildes.<br />
Die normalen Ordnungen perspektivischer Repräsentation<br />
werden gerade durch die Instrumente zum<br />
Verschwinden gebracht, deren Zweck eine technische<br />
Verbesserung der Wiedergabe der Wirklichkeit ist. Sie<br />
formen künstliche Höhlen, in denen wir wie die Fliege<br />
im Glas gefangen sind. Optik kreiert die Sichtweisen, die<br />
sie zu beschreiben vorgibt. Künstliche Perspektive und<br />
Belichtung und künstliche Beleuchtung schaffen neue<br />
Ordnungen der Sichtbarkeit. Durch die Vermischung<br />
von Wissenschaft und Kunst werden komplexe Vorgänge<br />
nicht nur dargestellt, sondern auch erst produziert. Mit<br />
der Camera Obscura beginnt das Zeitalter der Sehmaschinen<br />
und Medienkultur. Nicht der homogene Blick<br />
durch ein Fenster ist hier möglich, sondern das Starren<br />
auf den Bildschirm. Zunehmend wird nicht ein Abbild,<br />
wie es in der Welt aussieht, sondern ein Vorbild, wie die<br />
Welt zu sehen ist, in die Wohnzimmer gestrahlt. Und die<br />
Bilder der Sehmaschinen behaupten immer ein objekti-
ves, nach wissenschaftlichen Regeln produziertes Weltbild<br />
zu liefern.<br />
Seitdem es möglich ist, Bilder im Zehntel-Sekunden-<br />
Takt zu schießen, sehen wir den Körper, wie wir ihn<br />
vorher nie gesehen haben. Solche Bewegungsstudien im<br />
Geiste der Naturfreunde-Bewegung bilden das Material<br />
für Frederick Winslow Taylors wissenschaftliche Begründung<br />
der Arbeitsteilung. Technische Vorbilder ermöglichen<br />
die effektive kapitalistische Ausbeutung und<br />
Organisation der Arbeit.<br />
Aber die neckischen Körper-Bilder sind auch der erste<br />
Schritt für die Erbauung der Höhlen, in denen man den<br />
tristen Arbeitsalltag vergessen kann, für die modernen<br />
Höhlen der Illusion. Gemeint ist natürlich das Kino. Nur<br />
noch Dogmatiker glauben, dass es die Aufgabe des Kinos<br />
sei, die Wirklichkeit abzubilden. Aber über die Montage<br />
von Zeit- und Bewegungsbildern werden hier - im Kino<br />
- Berufenere als ich sicher noch Fundierteres sagen.<br />
Ich werfe stattdessen einen Blick in verschiedene<br />
andere Höhlen des technisch produzierten und programmierten<br />
Bildes.<br />
„Der Schoß ist zu einem Operationsgebiet geworden:<br />
So wie über ihn gesprochen wird, so wie seine Überwachung,<br />
Verteidigung und Versorgung geplant wird, …<br />
ist das Werden „unter dem Herzen der Frau“ zu einem<br />
öffentlichen Prozeß gemacht worden. Die secreta mulierum<br />
sind zu einem Gelände geworden, auf dem gesehen,<br />
eingegriffen, entschieden werden kann.“ diagnostiziert<br />
die Historikerin Barbara Duden.<br />
Der Blick ist schamlos geworden. Vor Leornardo da<br />
Vinci galt es noch als ein Verbrechen, Leichen zu sezie-<br />
HOEHLEN<br />
23
HOEHLEN<br />
24<br />
ren. Heute ist es ein anstößiges Schauspiel, sie als<br />
Körper-Welten zur Schau zu stellen. Inzwischen geht der<br />
Blick weit unter die Haut, tiefer als jedes Seziermesser,<br />
tiefer auch als Röntgenstrahlen. Programmierte Bilder<br />
machen Gene sichtbar und manipulierbar.<br />
Die technischen Bilder sind keine Abbilder, sondern<br />
visuell realisierte Modelle oder Datenverdichtungengen.<br />
Bilder, die wir von atomaren Vorgängen haben, beruhen<br />
nicht auf einer optischen, sondern im Falle der Rastersondenmikroskopie<br />
auf einer „taktilen“ Erfassung der<br />
Oberfläche von Atomen oder im Falle der Magnetresonanzspektroskopie<br />
auf einer Aufzeichnung der Frequenz<br />
der Präzessionsbewegung des Kernspins. Erst am Schluss<br />
werden die Daten in Bilder übersetzt und in Relation<br />
gebracht zu anderen wissenschaftlichen Darstellungen,<br />
zum Beispiel zu chemischen Formeln. Ob die Sache so<br />
ausssieht, wie die Bilder sie uns zeigen, ist eine unsinnige<br />
Frage. Denn außer den technischen Bildern gibt es<br />
hier nichts zu sehen. Atome sind unsichtbar. Erst technische<br />
Verfahren in den Höhlen der wissenschaftlichen<br />
Laboratorien produzieren die Schatten für den auf diese<br />
Weise fixierten Blick.<br />
Zwischen dem Auge des Astronomen und der Galaxie,<br />
die er beobachten will, liegt ein ganzes Areal verketteter<br />
Apparaturen, die die ursprüngliche Information Schritt<br />
für Schritt auswählen, transformieren und übersetzen,<br />
bis sie schließlich als eine visuelle Konfiguration das<br />
Auge des Betrachters erreicht:<br />
Satelliten, Spiegelanlagen, Teleskoplinsen, Fotovorrichtungen,<br />
Abtastgeräte, Übertragunsgeräte und vor<br />
allem Computerprogramme. Am Ende stehen bildförmig
präsentierte Daten, als Kitsch für Kalender oder als Rohmaterial<br />
für die Interpretation der Experten der Astronomie.<br />
Programmierte Bilder liefern aber weit mehr als statische<br />
Visualisierungen. Sie stellen Simulationen der<br />
theoretischen Modelle zur Verfügung, mit denen eine<br />
virtuelles Probehandeln möglich wird.<br />
Wer heute etwas wissen und verstehen will, kann den<br />
Höhlen also nicht entfliehen. Kritikfähigkeit heißt, die<br />
Höhlen wahrzunehmen. Man darf sich nicht blenden<br />
lassen durch die Bilder. Auf der Suche nach der Wirklichkeit,<br />
die sie abbilden, wird man nur Leere finden.<br />
Man muss begreifen, wie die Bilder das Wirklichkeits-<br />
Bewusstsein konstrieren, lernen ihre Beziehungen<br />
zueinander zu sehen.<br />
Seit den steinzeitlichen Höhlen hat sich scheinbar<br />
nicht so viel oder doch alles verändert. Zahlen<br />
und Bilder und Wörter werden zusammengebracht. Sie<br />
schaffen Erinnerungen und Wirklichkeitsbewusstsein.<br />
Aber in den heutigen Höhlen der Virtualität werden sie<br />
neu komponiert, programmiert und prozessiert. In der<br />
Komplexität der prozessierenden technischen Übersetzungen<br />
lässt sich das, was wir wissen können, präziser<br />
als jemals zuvor aufschreiben. Es wird programmiert.<br />
Programmiertes Wissen, dessen Darstellung die prozessierende<br />
Logik des Computers generiert, wird paradoxerweise<br />
auch anschaulicher oder verführerischer:<br />
Filmbilder mögen uns erschrecken oder faszinieren.<br />
Aber sie laufen doch außerhalb von uns auf der Leinwand.<br />
Wir schauen ihnen auf dem Sessel sitzend zu.<br />
In einer avancierten Form der heutigen programmier-<br />
ten Höhle, dem CAVE, dem Computer Animated Virtual<br />
Environment, taucht der Betrachter dagegen ein in die<br />
Höhlenbilder. Mit seinen Aktionen werden - Computer<br />
gesteuert - die Ansichten generiert, die er gerade<br />
durchfahren und erleben will. In einer Mixed Reality<br />
Umgebung wird die erlebte virtuelle Welt in dem Augenblick<br />
erschaffen, in dem sie erlebt wird - worüber Wittgenstein<br />
sich so lustig machte. Wie das wirkt, kann man<br />
nicht erzählen. Das muss man erleben.<br />
HOEHLEN<br />
25
SCHEIN UND WIRKLICHKEIT IN MIXED REALITY<br />
Technische Möglichkeiten, Grenzen und Risiken<br />
Willi Bruns<br />
InformatikerInnen sind Gestaltende und Erlebende von<br />
Schein, von Zeichenwelten, prozessierenden Zeichen. Sie<br />
erleben die Leichtigkeit der Zeichen (F. Nake), aber sie<br />
gehen auch mit der Nachdrücklichkeit von Materie um.<br />
Ausgangspunkte unserer Forschungen und Entwicklungen<br />
in artec waren<br />
1. die als Ironie der Automation bezeichnete Feststellung<br />
von Lisanne Bainbridge (1983):<br />
der Designer versucht den Bediener von Maschinen zu<br />
Die höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darin eine<br />
gewisse Affinität miteinander, dass beide nur das Reelle suchen, und für<br />
den bloßen Schein gänzlich unempfindlich sind.<br />
Nur durch die unmittelbare Gegenwart eines Objektes in den Sinnen wird<br />
jene aus ihrer Ruhe gerissen, und nur durch Zurückführung seiner Begriffe<br />
auf Tatsachen der Erfahrung wird der letztere zur Ruhe gebracht;<br />
mit einem Wort, die Dummheit kann sich nicht über die Wirklichkeit erheben<br />
und der Verstand nicht unter der Wahrheit stehen bleiben.<br />
Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe<br />
von Briefen, 26. Brief<br />
eliminieren, überlässt ihm aber die Aufgaben, die er<br />
selbst nicht verstanden hat oder automatisieren kann,<br />
2. die von Böhle und Milkau (1988) in industriesoziologischen<br />
Studien erkundete einseitige Orientierung<br />
von Maschinenbauern an objektivierenden Perspektiven<br />
von Maschinennutzung unter Vernachlässigung ebenso<br />
wichtiger subjektivierender Perspektiven,<br />
3. die Bedeutung physikalisch gegenständlicher Modellierung<br />
als Ergänzung zu virtuellen Modellen und digitaler<br />
Simulation, die wir in Industrieprojekten erfuhren.<br />
27
MIXED REALITY<br />
Abb. 1<br />
Kugel hinter einer Wand<br />
28<br />
Abb. 2<br />
Kugel vor einer Wand<br />
Abb. 3<br />
Elastischer Stoß zweier Kugeln<br />
Abb. 4<br />
Eine magische Wand<br />
Abb. 5<br />
Reale Kugel (rot)<br />
und virtuelle Kugel (grün)<br />
Unsere Konsequenz daraus ist der Versuch, eine ausgewogene<br />
Arbeit (mit objektivierenden und emphatischen<br />
Anteilen) in automatisierten Systemen dadurch zu unterstützen,<br />
dass wir Konzepte für eine Systementwicklung<br />
verfolgen, die eben diese Ausgewogenheit auch schon<br />
in der Entwicklungsphase von Maschinen und Systemen<br />
unterstützt. Dies könnte gelingen, wenn Ingenieure und<br />
Künstler zusammen gebracht werden. Ingenieurwissenschaft<br />
stärkt die rationale, Kunst die komplementäre<br />
Perspektive. Uns interessiert die Frage, wie wir durch<br />
experimentelles Spielen in gemischten Welten, denen<br />
der Realität und denen des Scheins, Mixed Reality, einen<br />
neuen Zugang zur Sicht auf Mensch-Maschine Interaktionen<br />
und zum Systemdesign bekommen können.<br />
TECHNISCHE MÖGLICHKEITEN VON MIXED REALITY<br />
Hinter dem vom Computer über seine Ein-Ausgabegeräte<br />
vermittelten Schein stehen programmierte Verhaltensmodelle,<br />
die mehr oder weniger genau die uns bekannten<br />
physikalischen Gesetze repräsentieren. Sie reichen<br />
von Animationen, in denen trickfilmartig Einzelbilder so<br />
erzeugt werden, dass sie den Eindruck einer Bewegung<br />
vermitteln, ohne dass hinter der Bilderzeugung ein im<br />
Rechner formalisiertes physikalisches Gesetz steht, bis<br />
zu Simulationen, die auf der Basis möglichst genauer<br />
physikalischer Repräsentanz bestimmter ausgewählter<br />
Phänomene beruht. Sind diese bei der Simulation immer<br />
erfolgenden Abstraktionen (Konzentration auf ausgewählte<br />
Phänomene, Vernachlässigung anderer) für die<br />
Nutzer der Simulationssysteme nicht mehr einsichtig, so<br />
kann ein Verlust an Urteilskraft eintreten, der eine Ver-<br />
wechselung von Simulation und Realität begünstigt. Die<br />
unendliche Vielfalt von Zeichen, die ein realer Prozess<br />
vermitteln kann, lässt sich nicht auf einen Rechner übertragen.<br />
Abb. 1-4 zeigen jeweils eine Kugel hinter und<br />
vor einer Wand. Ein aufmerksamer Betrachter könnte aus<br />
den statischen Bildern folgern, dass im ersten Bild keine<br />
Kugel hinter der Wand sein kann, weil man ja keinen<br />
Schatten sieht. Würde er die dynamische Simulation vorgespielt<br />
bekommen, so würde er sehen, wie ein Kugelbild<br />
von rechts auf die Wand zu fliegt, hinter ihr verschwindet<br />
und nach einem bestimmten Zeitintervall auf der linken<br />
Seite mit gleicher Geschwindigkeit weiterfliegt. Seine<br />
Beobachtungen wären in einem Widerspruch, aber letztendlich<br />
würde er sich wohl entscheiden, den fehlenden<br />
Schatten als Abstraktion oder fehlende Beleuchtung zu<br />
interpretieren und eine kontinuierliche Bewegung einer<br />
Kugel anzunehmen. Dasselbe Erscheinungsbild wäre<br />
aber auch durch einen elastischen Stoss einer bewegten<br />
Kugel auf eine ruhende Kugel gleicher Masse hinter der<br />
Wand zu erzeugen (Abb.3). Es stellt sich die Frage, ob<br />
diese Fortsetzung eines physikalischen Phänomens (der<br />
ankommenden Kugelmasse) nicht auch in einer durch<br />
den Computer vermittelten Weise über eine trennende<br />
Wand hinaus, wie in Abb. 5 dargestellt, erfolgen kann.<br />
Dieses ist in der Tat möglich, indem der Impuls der eingehenden<br />
Kugel gemessen und dann gespeichert wird<br />
und auf der anderen Seite ein entsprechender Impuls<br />
mit einer neuen Kugel erzeugt wird. Diese technische<br />
Möglichkeit lässt sich nun in vielfältiger Weise für eine<br />
Durchdringung von Realität und Virtualität nutzen. Eine<br />
virtuelle Kugel (grün) trifft auf eine virtuelle Trennwand
und der computergesteuerte versteckte Mechanismus<br />
generiert eine reale Kugel (rot), die mit gleichem Impuls<br />
aus einer realen Wand fliegt. Diese Lösung kommt einer<br />
Idee sehr nahe, die schon von dem Computergraphik<br />
Pionier Sutherland (1965) geäußert wurde: „The ultimate<br />
display would, of course, be a room within which<br />
the computer can control the existence of matter …. a<br />
bullet displayed in such a room would be fatal.”<br />
Unsere Forschung und Lehre beschäftigt sich mit technischen<br />
Möglichkeiten und Grenzen dieser Verdoppelung<br />
und Fortsetzung von physikalischen Phänomenen in<br />
Schein und umgekehrt.<br />
BREMER STUDENTEN SPIELEN MIT SCHEIN UND WIRKLICHKEIT<br />
Es sollen vier Projekte vorgestellt werden, die von Studentinnen<br />
und Studenten der Bremer Studiengänge<br />
Informatik, Digitale Medien und Kulturwissenschaft<br />
durchgeführt wurden: Theater der Maschinen, Sensoric<br />
Garden, Mixed Reality Stages, Wedding Rehearsal in<br />
Cybertown und Mixed Reality Caves.<br />
Theater der Maschinen<br />
Diese Theaterinszenierung thematisierte die Auseinandersetzung<br />
zwischen<br />
einem Avatar, einer Holzmarionette<br />
zwei Robotern, einem Robot-Schauspieler und<br />
einem Cellisten<br />
um die Frage:<br />
Wer kontrolliert wen in einem Mensch-Machine System<br />
oder welchen Spielraum haben Menschen und Maschinen<br />
in einem hochtechnisierten System?<br />
MIXED REALITY<br />
29
MIXED REALITY<br />
30<br />
Der Cellist spielte mit großer Hingabe ein klassisches<br />
Stück nach der Partitur des Komponisten. Der auf eine<br />
Leinwand projizierte Avatar bewegte sich, interaktiv von<br />
seinem Designer gesteuert, nach dieser Musik und steuerte<br />
gleichzeitig über ein Programm die Bewegungen<br />
einer Holzmarionette, die an einem Servo-Motor-Gerüst<br />
hing (Abb. 8-12). Als die künstlichen Figuren begannen<br />
ein gewisses unabhängiges Eigenleben zu zeigen, wurde<br />
der Cellist über Handy aufgefordert, die Steuerung des<br />
Avatars und der Marionette über einen Sensorgalgen zu<br />
übernehmen. Daraus entwickelte sich eine Szene mit<br />
Auftritten weiterer Maschinen , die dem Zuschauer die<br />
Interpretationsmöglichkeiten eröffnete, der Cellist kontrolliere<br />
die Maschinerie oder er sei selbst kontrolliert<br />
von ihr.<br />
Sensoric Garden<br />
Dieses Projekt METHEA (Medien und Theater) setzte<br />
sich mit dem Erleben in realen und virtuellen Welten<br />
auseinander. Höhepunkt des Projekts waren nächtliche<br />
Installationen Sensoric Garden in der gleichzeitig stattfindenden<br />
Rosenausstellung „A rose is a rose is a ...“<br />
auf dem ehemaligen Theaterberg anlässlich der 200-<br />
Jahrfeier der Bremer Wallanlagen.<br />
Diese Installationen kreisten um eine Skulptur von<br />
Gerhard Marks, die als virtuelle Figur erwachte und mit<br />
der die Besucherinnen interagieren konnten.<br />
Aegina, Erwachen einer Skulptur<br />
Tempel der Philosophen unter Feuer und Wasser<br />
Flirt-Bank, Treffen mit Aegina<br />
Klaviatur, Tanz oder Komposition
Flirt-Bank<br />
Klaviatur Philosophen-Tempel<br />
Mixed Reality Stages<br />
In diesem Projekt wurden zukünftige Formen von Theaterbühnen<br />
und Aufführungstechniken erkundet.<br />
Wedding Rehearsal in Cybertown<br />
Gegenstand dieser kleinen Theateraufführung waren<br />
unterschiedliche Handlungs- und Kommunikationsbeziehungen<br />
bei der Vermischung von realer Bühne, virtueller<br />
Bühne im Cyberspace, realen und virtuellen Schauspielern<br />
und Zuschauern, die örtlich anwesend im Aufführungsraum<br />
oder verteilt im Internet waren. Es wurde das<br />
verrückte Stück einer durcheinander geratenen Hochzeitsprobe<br />
gespielt. 18 studentische Akteure steuerten<br />
jeweils über PCs ihre selbst entworfenen Avatare in<br />
einem Cyberraum im Internet und agierten gleichzeitig<br />
miteinander in physischer Präsenz untereinander und<br />
mit den real anwesenden Zuschauern im realen Aufführungsraum.<br />
Mixed Reality Caves<br />
Drei parallele Projekte beschäftigten sich mit unterschiedlichen<br />
Konzepten der räumlich geschlossenen<br />
Bildprojektion von 3D-Phantasiewelten, die über Sensorik<br />
und Aktorik steuerbar waren.<br />
MIXED REALITY<br />
31
MIXED REALITY FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN<br />
32<br />
Neben den vorgestellten spielerisch performativen<br />
Erkundungen der Möglichkeiten von Mixed Reality<br />
beschäftigt uns deren Anwendung in neuen Formen<br />
- von Kooperation,<br />
- von Systementwicklung,<br />
- von Lernumgebungen,<br />
- und von darstellender und bildender Kunst.<br />
Welche Möglichkeiten bietet diese Technik für die Ingenieursausbildung?<br />
Bezogen auf die von Böhle & Milkau<br />
geforderten Dimensionen der Ingenieursbildung können<br />
wir folgendes Potenzial erkennen:<br />
• objektive, wissenschaftlich-technische Dimension<br />
- Verständnis von augmented <strong>reality</strong> (angereicherter<br />
Realität)<br />
- Grundlagen und Perspektiven von <strong>mixed</strong> <strong>reality</strong><br />
- Grenzen und Widersprüche der Automation<br />
- Stärken und Schwächen formaler Methoden<br />
• subjektive Dimension<br />
- Auseinandersetzung mit Freiheit und Zwang- menschen-zentrierte<br />
Entwicklungsperspektiven<br />
- Expressivität und Performanz<br />
- Erkundung von Spiel versus Zweckrationalität<br />
Grenzen der Durchdringung von Realität und Virtualität<br />
sind:<br />
- Begrenzte Kenntnisse und Fähigkeiten in der Erkennung<br />
und Erzeugung physikalischer Phänomene,<br />
- die zeitliche Dynamik von Sensor-Aktor-Prozessor<br />
Kopplungen und Übertragungen im Netz,<br />
- Manipulationstechniken und gesellschaftliche<br />
Normen<br />
Gefahren und Chancen der Durchdringung sind:<br />
- Verlust/Gewinn von Realitätssinn<br />
- Aufspaltung/Verbindung von Wirklichkeit und<br />
Schein<br />
- Zerstreuung/Integration von Persönlichkeit<br />
- Verlust/Gewinn an Urteilskraft<br />
- Manipulierbarkeit/Standfestigkeit
LITERATUR<br />
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der Maschinen, artec paper 102, <strong>Bremen</strong>.<br />
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Alder, S. and B. Söhle (2003). Theater in gemischten Welten.<br />
Untersuchung der Interaktionen in den Theaterstükken<br />
A Wedding Rehearsal in Cybertown und ME DEA<br />
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Azuma, R., Y. Baillot, R. Behringer, S. Feiner, S. Julier and<br />
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Springer Verlag, Secaucus, N.J.<br />
Böhle, F. and B. Milkau (1988). Vom Handrad zum Bildschirm.<br />
Eine Untersuchung zur sinnlichen Erfahrung<br />
im Arbeitsprozeß. Campus Verlag, Frankfurt/M, New<br />
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Crampton-Smith, G. (2002). Who will design the cathedrals<br />
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24-25. ACM, N.Y.<br />
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MIXED REALITY<br />
33
SCHEIN UND WIRKLICHKEIT IM THEATER<br />
Peter Lüchinger<br />
Schönen guten Abend,<br />
ach es ist ja noch Tag. Was ist eigentlich für eine Zeit<br />
draußen, was ist für eine Zeit drinnen? Draussen ist<br />
es hell, hier drin ist es dunkel. Ein spannender Unterschied.<br />
Ich bin Schauspieler bei der bremer shakespeare<br />
company und wurde vor zwei Monaten gefragt, ob ich<br />
einen Vortrag bei dieser Veranstaltung halten könnte,<br />
„na klar mache ich“ und ich habe zugesagt. Aber ein<br />
Schauspieler, wie ich, kann keine Vorträge schreiben, er<br />
kann eigentlich nur Texte vortragen, sein Wissen weitergeben,<br />
weiter erzählen. Dieses Wissen hat sehr viel mit<br />
dem Autor Shakespeare zu tun. Die bremer shakespeare<br />
company, der Name sagt es, beschäftigt sich, segnet<br />
sich mit diesem Autor. Ich werde gleich eine Textstelle<br />
vortragen, und danach könnten wir feststellen: Das war<br />
der Vortrag, in diesem Text wird eigentlich schon alles<br />
zum Thema Schein und Wirklichkeit gesagt, alles gesagt,<br />
was das Theater zur Scheinwirklichkeit macht. Aber ich<br />
soll einen Vortrag halten so werde ich anschliessend,<br />
zwei, drei Thesen aufstellen. Ob das gesagte wahr ist,<br />
das zu bewerten, überlasse ich Ihnen.<br />
Prolog aus Heinrich V.<br />
Oh wären wir erleuchtet wie mit Feuer<br />
den hellsten Himmel voller Phantasie<br />
zu wölben über diesem Bühnenkönigreich,<br />
mit Prinzen als Figuren und Monarchen,<br />
das brodelnde Spektakel anzuschaun!<br />
Dann käm der kreigerische Heinz, ganz wie er war,<br />
im Helm des Mars zurück, und ihm bei Fuß,<br />
wie Doggen angeleint, jauln Hunger, Schwert und<br />
Feuer,<br />
auf Beute lauernd. Doch verzeiht, Ihr Edlen,<br />
dem seichten, unentfachten Geist, der´s wagt,<br />
auf dieses klägliche Gerüst zu bringen<br />
solch grossen Gegenstand. Kann dieser Hühnerstall<br />
die Weite Englands fassen? Dürfen wir<br />
in dieses O aus Holz die Truppen zwängen,<br />
die eine Welt erschüttern bei Azincourt?<br />
Verzeiht: kann nicht die schiefe, kleine Zahl<br />
auf einem Zettel für Millionen stehn?<br />
So laßt uns, Ziffern dieser grossen Summe,<br />
heut abend Eure Phantasie entfachen!<br />
35
THEATER<br />
36<br />
Ergänzt, was bei uns fehlt, in Eurem Kopf.<br />
Zerlegt in tausend Teile einen Mann<br />
und formt aus ihm ein Heer.<br />
Glaubt, reden wir von Pferden, sie zu sehen,<br />
wie sie mit stolzen Hufen Spuren prägen,<br />
denn Eure Phantasie krönt unsere Könige;<br />
tragt sie von hier nach dort, springt in der Zeit,<br />
und kürzt so das Geschehen von dreizehn Jahrn<br />
zum Stundenglas. Gewährt, in diesem Lichte,<br />
uns, als dem Chorus, Zutritt zur Geschichte.<br />
Wie ich schon sagte, das ist der Prolog aus einem Stück<br />
von William Shakespeare, aus Heinrich V. Dieser kleine<br />
Text enthält eigentlich alles. Das Theater kann nur leben,<br />
wenn eine Grundvereinbarung funktioniert, d.h. wenn<br />
der Zuschauer und der Mensch oben, der sich Schauspieler<br />
nennt, sich entführen, verführen lassen wollen. Und<br />
dazu braucht es die Phantasie. Eine Frage, die ich nicht<br />
beantworten kann: „Was benötigt man für die Phantasie?“<br />
oder „Wie gross, wie mächtig ist unsere Phanstasie?<br />
Ist sie etwas, was wir Menschen in uns tragen,<br />
angeboren ist, genetisch kulturell vererbt oder was auch<br />
immer?“ Oder „Brauchen wir Lebenserfahrung, Lebenseindrücke<br />
um unsere Phantasie anreichern zu können?“<br />
Also, was war zuerst, das Huhn oder das Ei, das Ei oder<br />
das Huhn? In diesem Punkt bin ich mir nicht sicher. Ich<br />
weiß nur: Jeder Mensch trägt in sich eine überbordende<br />
Phantasie. Das zeigt sich auch in unseren Träumen. Und<br />
die Phantasie wird, wenn etwas anregendes z. Bsp. auf<br />
einer Bühne dargestellt, angeklickt. Einmal angeregt,<br />
sprudelt sie immer weiter. Sie speist sich aus sich selber<br />
weiter fort. So bleibt nun eine weitere Frage zu klären:<br />
Warum machen wir eigentlich Theater? Was wollen die<br />
Menschen im Theater? Warum kehren die Menschen<br />
öfters an diesen Ort zurück? Hier, in diesem Raum ist es<br />
doch wunderbar. Hier befinden wir uns einem Kino. Ins<br />
Kino gehen wir um neue Geschichten zu erfahren, neue<br />
Welten zu sehen. Aber das Kino ist „nur“ die moderne<br />
Fortsetzung des Theaters.<br />
Warum gehen wir dann noch ins Theater? Shakespeare<br />
hat vor 400 Jahren gelebt, hat 37 Stücke geschrieben.<br />
Und die spielen wir heute immer noch, warum? Was<br />
ist das, was die Zuschauer, ins Theater zieht? Warum<br />
wollen sie „Romeo und Julia“ sehen, hören? Eigentlich<br />
kennt doch jeder den Inhalt des Stücks. Ein Grossteil der<br />
Zuschauer kommt ins Theater und weiß: Am Ende dieses<br />
Stückes stirbt die Julia wie auch Romeo. Der Zuschauer<br />
weiß es vorher. Und er geht trotzdem ins Theater und<br />
guckt sich die Geschichte vielleicht zum wiederholten<br />
Male an. Er hat das Wissen, über die Geschichte des<br />
Stückes.<br />
Ich glaube, während einer Theatervorstellung – und<br />
der Zuschauer kann es, miterleben, wenn es gut ist<br />
– etwas wie ein kollektives Vergessen stattfindet. Die<br />
ausserhalb des Theaters liegende Gegenwart wird allmählich<br />
ausgeblendet. Man kann einen leichten Eintritt<br />
finden in diese Gefühlswelt und man kann gleichzeitig<br />
mit den Figuren leben. Das heißt, das Wissen, das<br />
Bewusstsein, die persönliche Welt des Zuschauers wird<br />
auf gewisse Weise ausgeschaltet. Man fängt an, den<br />
Augenblick mitzuleben, mitzufühlen, mit den Figuren
oben auf der Bühne, aber auch mit den Zuschauern. Dafür<br />
muss man eine gewisse Phantasieleistung erzeugen und<br />
sich verführen lassen und sich ihr, der Phantasie „hingeben“.<br />
Und sich verführen lassen, das haben wir alle mal<br />
gelernt, respektive wir haben es nicht gelernt, sondern<br />
wir haben es alle ganz einfach gelebt, als etwas selbstverständliches.<br />
Als Kinder haben wir alle gespielt. Und<br />
irgendwann hat man uns das weggenommen, haben wir<br />
es uns selber weggenommen, das Spielen. Was machen<br />
wir, wenn wir spielen?<br />
Und da sind wir wieder bei der Frage? Warum gehen<br />
wir ins Theater? Beim Spielen können wir alles machen,<br />
was wir wollen. Wir können eine Rolle annehmen und<br />
jemand anderer sein. Ich kann sagen: „Ich bin König.“<br />
und setze mir eine Krone auf. Und wenn sie mir glauben,<br />
dass ich König bin, dann bin ich ein König. Doch wenn<br />
Sie sagen, sie glauben die Krone funktioniert nicht, du<br />
bist immer noch der gleiche wie ohne Krone, dann bin<br />
ich kein König. Bei Kindern funktioniert diese Transformation<br />
leicht. Sie fragen nicht nach der Wahrheit.<br />
Bei Shakespeare ist es ähnlich spannend. Shakespeare<br />
hat in seine Stücke viele Behauptungen, Unwahrheiten<br />
gesetzt. Zum Beispiel „Romeo und Julia“ – Spielort ist<br />
Verona in Italien. Shakespeare reiste nie nach Italien.<br />
Aber er hat ein Stück geschrieben über Italien. Heute<br />
verbindet man „Romeo und Julia“ immer mit Italien,<br />
aber keiner weiß, wie es damals ausgesehen hat. Auch<br />
Shakespeares Zuschauer konnte nicht wissen, wie Verona<br />
ausgesehen hat, wie man in Verona lebte. So verführt<br />
uns Shakespeare mit seiner „Lüge“ nach Italien. In England<br />
zu Shakespeares Zeit muss es ein großes Interesse<br />
geweckt haben, ein Stück über Italien zu sehen, ein Liebesdrama<br />
zu sehen, das in Italien stattfindet. Das heißt<br />
verkürzt: Die haben Reisekosten gespart. Weil sie nicht<br />
reisen konnten, haben sie es sich vorgestellt: Ach so<br />
könnte das ausgesehen haben in Italien. Die lieben vielleicht<br />
so in Italien. Aber im Erleben dieser italienischen<br />
Welt kommen sie natürlich auch mit ihrer eigenen Welt<br />
in Berührung. „Das ist vielleicht ein Liebesdrama, was<br />
eventuell auch in England, in meiner Welt so stattfinden<br />
könnte“. So wird der fremde Ort gleichzeitig zum Ort der<br />
Nähe, die geographische Distanz fällt weg, die Phantasie<br />
baut sich die Brücken.<br />
Zu Shakespeares Zeit, vor 400 Jahren, war England<br />
eine Weltmacht gewesen. Die ersten Schiffe aus fernen<br />
Ländern sind zurückgekehrt, mit Wilden, mit Schwarzen<br />
an Bord. Shakespeare verarbeitet diesen großen Wandel<br />
gleich in einem Stück: Der Sturm. Er hat auf der Bühne<br />
einen politischen Diskurs gestartet, über das Fremde,<br />
über die Unterdrückung, über die Rache,über die Gnade,<br />
etc. doch er lässt das Stück in einer fiktiven Welt spielen,<br />
auf einer Insel. Es gibt keine Anhaltspunkte über<br />
ihre wirkliche Existenz. Die Insel liegt sozusagen im Nirgendwo.<br />
Das heißt, Shakespeare hat die Leute wiederum<br />
entführt in ein fremdes Land, in eine unbekannte Welt,<br />
mittels ihrer Phantasie. Doch dieses Mal ist es nur „noch<br />
„ eine Insel, alles ist erfunden, der Zuschauer hat keine<br />
Anhaltspunkte, keine Vergleichsmöglichkeiten mehr.<br />
Shakespeare hat sein Drama auf dieser Insel aufspielen<br />
lassen. Er zieht die Zuschauer in diese Welt und am Ende<br />
entlässt er sie wieder aus dieser Welt in ihre eigene Welt.<br />
Zu seiner Zeit muss das sehr gut funktioniert haben. Nur<br />
THEATER<br />
37
THEATER<br />
38<br />
am Rande, diese „Inselwelt“ fand auf einer leeren Bühne<br />
statt, kein Bühnenbild, keine Hilfsmittel.<br />
Diese „Einfachheit“ ist das, was bei uns heute nicht<br />
mehr so einfach funktionieren kann. Wir sind Bildermenschen<br />
geworden. Weil wir Fernsehen haben, glauben<br />
wir nicht mehr an diese einfache Welt der Verführung.<br />
Im Film meinen wir meistens die Realität zu sehen. Die<br />
Bilder vermitteln uns eine fiktive Wahrheit. Wir wollen<br />
der Realität nahe kommen mit Hilfe der Bilder.<br />
Und das kann das Theater nicht. Es ist eine Illusion<br />
zu glauben, dass das Theater etwas mit der Realität<br />
zu tun hat. Theater kann sehr viel transportieren. Es<br />
kann Emotionen transportieren. Die sind natürlich<br />
real, aber ein Theaterstück ist eine Komprimierung von<br />
einer Geschichte, von Emotionen. In zwei Stunden kann<br />
man ein ganzes Leben erzählen, kann man fünf Weltuntergänge<br />
erzählen. Das kann man alles machen. Der<br />
Zuschauer geht mit. Er geht in dieser neuen Realität auf<br />
und akzeptiert diese ander Welt. Aber trotzdem erkennen<br />
wir, wenn wir unten sitzen, unsere eigene Realität<br />
wieder – in dieser gespielten Realität. Man muss sich<br />
das überlegen.<br />
Um auf Shakespeare zurückzukommen. Sie kennen<br />
vielleicht das Globe Theater, haben gesehen, was das<br />
Globe Theater ist: Es ist ein rundes Theater, ein runder<br />
Holzbau. Wenn wir heute von Theaterbauten reden, dann<br />
sprechen wir meistens von der Guckkastenbühne. Selbst<br />
hier, dieses Kino. ist eine klassische Guckkastenbühne,<br />
eigentlich so wie man das Theater kennt. Das gab es bei<br />
Shakespeare nicht. Es gab nur eine Plattform, die als<br />
Bühne diente, nach drei Seiten offen. Warum die Platt-<br />
form? Damit man alles sehen kann. Eigentlich braucht<br />
man auch die erhöhte Plattform nicht. Es ist nur eine<br />
physikalische Möglichkeit, besser gesehen zu werden.<br />
Und auf dieser Plattform hat er all seine Welten erzählt.<br />
Die ganze Welt ist eine Bühne oder auf dieser Bühne<br />
kann die ganze Welt dargestellt werden. Es gab keine<br />
Bühnenbilder. Es gab nichts. Und trotzdem gibt es eine<br />
Möglichkeit, dieses leere Bühne zu füllen. Mit Worten<br />
eine Welt zu bauen. Die Zuschauer mit Worten zu führen,<br />
zu verführen! Mit Worten, sprich Phantasie eine Welt<br />
zu formen, zu gestalten. Wir nennen das im Theater die<br />
Wortkulisse. Aber die funktioniert ebenfalls nur, wenn<br />
der Zuschauer mitgeht.<br />
Wieder auf’s Kind zurück: Wenn sie nicht glauben, das<br />
jemand, der eine Krone trägt, ein König ist, dann funktioniert<br />
die Verabredung nicht. Weiter muss man sich<br />
vorstellen: Sie haben bei Tageslicht gespielt. Es war taghell.<br />
Und heute? Wir gehen ins Theater, das Licht geht<br />
aus, das Kunstlicht geht an. Das hat mit verzaubern tun.<br />
Aber damals, die Leute haben sich im Tageslicht verzaubern<br />
lassen, sie konnten alles sehen und trotzdem haben<br />
sie im Theaterstück eine neue Welt entdeckt. Zu Shakespeares<br />
Zeit gab es eine Zensur. Shakespeare hat viele<br />
Königsdramen geschrieben, politische Stücke, Stücke<br />
über Macht, Machtzerfall, Stücke wo Könige aufsteigen<br />
aber auch fallen. Politischer Zündstoff. Das wäre, wie<br />
wenn wir heute schreiben würden: Bush ist gestürzt<br />
worden! Ein König wird gestürzt, ein König kann aber<br />
nicht gestürzt werden aus Sicht der Zensur – es gab ja<br />
nur einen König – also wenn in einem Stück ein König<br />
gestürzt wird, stürzt folglich der König von England. Das
sind politisch unheimlich brisante Themen. Shakespeare<br />
verstand es aber die Botschaft so zu vermitteln, dass die<br />
Zensur im freies Spiel liess. Was machte Shakespeare um<br />
die Zensur zu umgehen, er verlegte die Stücke dreihundert<br />
Jahre zurück. Das heißt nun: Die Menschen haben<br />
einen Teil ihrer politischen Realität, ihrer politischen<br />
Wünsche entdecken können. Trotz dieser zeitlichen<br />
Distanz scheint es für die Zuschauer trotzdem spannend<br />
gewesen zu sein. Wenn wir heute in den Nachrichten<br />
was über Bush sehen, finden wir es doof, wir meinen er<br />
macht seinen Job jämmerlich und gefährlich, denn er hat<br />
sein Volk in den Krieg getrieben. Wir fällen ein schnelles<br />
Urteil aber das bringt wenig. Viel spannender ist es,<br />
wenn man eine Figur in die Ferne rückt und sagt:<br />
„Ach so! Es hat schon einmal so eine Realität gegeben.<br />
Es hat schon mal solche Kriege gegeben. Irgendwie<br />
sind die ganz ähnlich, wie unsere Kriege heute.“<br />
Eine unbekannte Geschichte muss man aufmerksamer<br />
verfolgen. Wir entdecken einen immerwährenden Machtmechanismus,<br />
sind dabei aber nicht der Gegenwart<br />
verpflichtet. Wir können über unsere eigene Realität<br />
hinausschauen. Wir sehen eine Realität, die wir nicht<br />
kennen und meinen doch eine „wahre“ Geschichte zu<br />
sehen. Es geht nicht darum, ob das historisch stimmt.<br />
Es ist ja alles eine Behauptung, eine Fiktion, eine Erfindung<br />
des Autors. Es wird also eine historische Realität<br />
dargestellt, die eine Realität sein könnte, eine wirklich<br />
stattgefundene Realität.<br />
Wichtig war auch, dass die Zuschauer gerne sehen wollten,<br />
wie der König, neben seinem Amt, als Mensch lebt.<br />
Bei Shakespeare gibt es Figuren auf der Bühne, die die<br />
gleiche Neugier haben – heute sehen wir das teilweise<br />
im politischen Kabarett. Wir nennen das: die Untersicht.<br />
Das Volk guckt dem König bei seinem Leben zu! Theater<br />
kann uns somit etwas zeigen, was man sonst nicht<br />
sehen kann: Wie lebt der König? Ach der König hat auch<br />
Probleme. Er ist auch „nur“ ein Mensch, er hat Angst.<br />
er hat Panik. Er flüchtet. Er kann umgebracht werden.<br />
Er kann sterben. Was wusste man sonst vom König. Er<br />
lebt im Palast. Der ist aber verschlossen. Im Theater<br />
kann man Wände, Räume öffnen. Man muss sich das vor<br />
400 Jahren vorstellen. Ich weiss, dass ist so naiv, doch<br />
ich liebe die naive Sicht auf die Dinge. Heute mit dem<br />
Fernsehen kommt man überall rein und sagt: „Ach so<br />
sieht das aus. Danke!“ Man kriegt schnell ein Bild geliefert<br />
und dann meint man zu wissen wie es aussieht. Der<br />
Zuschauer muss sich nicht mehr aktiv beteiligen, alle<br />
Fragen werden mit dem Bild beantwortet, es entsteht<br />
eine scheinbare Klarheit. Es ist schade, dass wir diese<br />
fertigen überbordenden Bilder haben. Vielleicht spüren<br />
Sie es: Ich bin natürlich ein Verehrer vom Theater. Im<br />
Theater kann man noch lügen. Im Theatersind die vorgestellten<br />
Bilder meistens grösser als die Realität, mindestens<br />
bleiben sie nicht an der Oberfläche haften.<br />
Welche Funktion hat das Theater noch zu leisten?<br />
– Unterhaltung! Das ist wahrscheinlich einer von den<br />
Ursprünge des Theaters, des Spielens. Und Unterhaltung,<br />
unterhalten, heißt lachen, Heiterkeit und Leichtigkeit<br />
hervorrufen. – der Clown ist dafür der beste Beweis...<br />
Warum lacht man über den Clown? Man sieht einen Menschen<br />
in einer tiefen Not. Man fiebert mit und hofft,<br />
er kann sein Problem lösen. Aber er kann das Problem<br />
THEATER<br />
39
THEATER<br />
40<br />
nicht lösen. Man fängt an zu lachen über ihn, über sein<br />
Missgeschick. Nicht über das, womit er uns unterhalten<br />
will. Wir lachen über seine Not, seinen Kampf im Dschungel<br />
des Lebens bestehen zu können. Zum Beispiel: Ein<br />
Clown will unbedingt auf diese Bühne hochkommen. Er<br />
kommt aber nicht hoch, ein normaler einfacher Vorgang<br />
wird für ihn zum Desaster. Und irgendwann verstehen wir<br />
seine Not und fiebern mit ihm mit. Hoffentlich schafft<br />
er es! Jedoch jedes seiner Missgeschicke bringt uns zum<br />
Lachen. Wir sind einem Menschen nicht böse, dass der<br />
dümmer ist als wir, sondern wir sehen, spüren eine Verwandtschaft<br />
mit ihm. „So könnten wir vielleicht auch<br />
einmal sein“ Das Lachen befreit uns davon. Und er tut es<br />
für uns, weil wir sind ja nicht so. Und da sind auch schon<br />
wieder beim Kind gelandet. Kinder mögen es, über das<br />
Missgeschick zu lachen. Das Theater ist keine moralische<br />
Anstalt. Man darf über jemand lachen. Das ist auch Ziel<br />
und Zweck und ein Sinn des Theaters, die Menschen zur<br />
Freude zu bringen und nicht (nur) um aufzuklären.<br />
Und das ist sowieso – im Nebensatz – ein Problem<br />
von uns, dass wir immer denken: Theater soll etwas mit<br />
Bildung oder mit Bilden zu tun haben. Der Beruf heißt<br />
Schau-Spieler. Wir spielen Theater. Es heißt nicht so<br />
etwas wie Hör-Saal oder so ähnlich, sondern es geht um<br />
Spiel. Und das Schauspielen ist ein Handwerk. Das kann<br />
man lernen.<br />
Da würde ich gern mal etwas versuchen. Was macht<br />
eigentlich ein Schauspieler aus? Es gab schon einen<br />
amerikanischen Präsidenten, der Schauspieler war. War<br />
der nun wirklich Präsident oder hat er den Präsidenten<br />
gespielt, also Rolle sozusagen? Das wäre eine wichtige<br />
Frage. Aber wir wollen weitergehen. Vielleicht können<br />
wir mal ein Experiment machen. Möchte jemand mitspielen!<br />
Kommen Sie doch mal!<br />
Ein Zuschauer wird auf die Bühne gebeten: Es beginnt<br />
ein Versuch, in dessen Verlauf dieser Aufgaben erhält.<br />
Es heißt Adventure, das folgende Experiment. So. Sie<br />
sind ein vollkommen normaler Mensch. Und ich auch.<br />
Lacher aus dem Publikum<br />
Stellen wir uns mal nebeneinander. Hier stehen wir<br />
nun, sozusagen. - Privat, nein eher halb privat. Und sie<br />
gucken sich das jetzt an. Sie denken: Den habe ich jetzt<br />
eine Viertelstunde reden hören. Sie haben sich ein inneres<br />
Bild von mir gemacht. Was ist das für einer? Warum<br />
redet der so? Warum bewegt er sich so? Ihn kennen Sie<br />
noch nicht. Aber jetzt fangen Sie an, auch über ihn ein<br />
Bild zu machen, wollen ihn erfassen. Privat könnten wir<br />
hier so stehen, aber wir sind auf einer Bühne, wir sind<br />
beide sozusagen öffentlich.<br />
Jetzt machen wir was Anderes. Ich geben Ihnen jetzt<br />
eine Aufgabe. Ich stelle sie mir auch, mir zuerst:<br />
Das ist eine Bühne. Die Bühne hat eine Begrenzung.<br />
Sie ist so und so groß. Und nun versuche ich neutral<br />
über die Bühne zu gehen. Und Sie machen das auch,<br />
neutral über die Bühne gehen. Ich überquere jetzt die<br />
Bühne neutral.<br />
Peter Lüchinger geht über die Bühne.<br />
Jetzt machen Sie das auch.<br />
Versuchsperson geht über die Bühne.
Ich habe das Wort neutral nicht gross betont. Frage an<br />
die Zuschauer: Was haben Sie gesehen? Was hat jeder<br />
einzelne von Ihnen gesehen? Neutral? Sie haben ‚neutral’<br />
gesehen? Echt? – Dann waren wir richtig gut.<br />
Gelächter im Publikum<br />
Jetzt fangen wir mit der Schauspielerei an. Das neutrale<br />
war eigentlich auch schon Schauspielerei. Aber wir üben<br />
das jetzt mal. Ganz ruhig, immer neutral bleiben! Sagen<br />
Sie mir ein Gefühl!<br />
Müde.<br />
Gut.<br />
Peter Lüchinger geht müde über die Bühne.<br />
Was haben Sie gesehen? Sie dürfen reden. – Müde? alt?<br />
lustlos?<br />
Aus dem Publikum:<br />
langsam ... langweilig ... fertig ... erschöpft.<br />
Peter Lüchinger:<br />
Also: Jeder sieht etwas Anderes. Der Auftrag war ja nur<br />
müde über die Bühne zu gehen. Ich kann das gar nicht<br />
„wahr“ spielen. Müde. Bei einem schlechten Theater<br />
würde müde so aussehen:<br />
Peter Lüchinger gähnt mit Betonung.<br />
Das ist nicht müde. Das ist ein blödes Ausstellen, ein<br />
Klischee von müde. Das ist ein vorgefertigtes Bild erfüllen.<br />
Das ist nicht Theater.<br />
Und zur Versuchsperson gewandt:<br />
Jetzt kommen Sie dran. Versuchen Sie das auch mal.<br />
Müde über die Bühne zu gehen.<br />
Was passiert während ich spreche: Er ist auf der Bühne<br />
und denkt, er muss jetzt etwas machen, etwas darstellen.<br />
Es fängt schon an: Bühnenstress!<br />
Das ist normal. Den habe ich auch als Schauspieler.<br />
Das ist normal. Denn auf der Bühne fehlt auf einmal<br />
alles. Es fehlt unser soziales Umfeld. Sie haben keinen<br />
Stuhl, keine Anhaltspunkte mehr. So leer ist es hier<br />
oben. Es gucken Tausende Augen, na ja, es sind nicht<br />
Tausende, achtzig etwa. Achtzig Augen auf sie. Und man<br />
denkt. „Oh Gott! Die sehen alle Fehler.” So geht es mir<br />
auch. Das gleiche Gefühl habe ich auch.<br />
So jetzt versuche wir zusammen mal etwas:Stellen Sie<br />
sich vor, sie sehen da vorne, ... aber schön langsam ...<br />
sie gucken da hin. Jetzt sehen Sie noch eine schwarze<br />
Wand, die Rückwand vom Kino. Da oben sind die Filmprojektoren,<br />
die Projektionslöcher. Und jetzt stellen Sie<br />
sich vor, langsam, sie sehen ein Meer. Es ist wunderbar<br />
warm: dreißig Grad. Sie hören das Rauschen. Sie entdekken<br />
ein Schiff, ganz weit draußen. Das fährt von links<br />
nach rechts. Sie würden gerne auf dem Schiff sein. ...<br />
Und jetzt sehen Sie einen wunderschönen Sonnenuntergang,<br />
über dem Meer ... Und jetzt stellen Sie Sich vor,<br />
Sie sind etwa fünfzehn, nee zehn Jahre alt. ... Sie, der<br />
sich dieses Meer anguckt. Schauen Sie alles nochmals<br />
an, das Schiff, den Sonnenuntergang....So. Danke!<br />
Verhaltene Lacher im Publikum, das Peter Lüchinger<br />
dann befragt:<br />
THEATER<br />
41
THEATER<br />
42<br />
Was haben Sie gesehen? Wenn ich das jetzt nicht gesagt<br />
hätte, wenn Sie meine Worte nicht gehört hätten. Hat<br />
sich bei ihm etwas verändert?<br />
Wie und was hat sich verändert? Er hat ja nichts dargestellt.<br />
– Die Phantasie hat ihm den Ausdruck gegeben.<br />
Seine Vorstellung hat ihn zu diesem Ausdruck gebracht.<br />
Sie sehen, es ist nichts Kompliziertes, das Schauspielen.<br />
Das ist unser Beruf. Eigentlich ist genau das Schauspielerei.<br />
Das heißt hohe Konzentration auf diese Bilder,<br />
auf die imaginierten Bilder. Die da unten, die wissen ja<br />
nicht, was sie sich vorstellen. Aber sie interpretieren<br />
den Ausdruck. Mit zehn, fünfzehn, da waren sie noch<br />
jung. Und das ist ein Geheimnis: Die müssen die ja nicht<br />
wissen, dass sie längst fünfzig sind.<br />
Gelächter im Publikum<br />
Menschenskind, fünfzehn. Da strahlen Sie. Da war das<br />
Leben noch leicht, locker. Was anderes. Jetzt arbeiten<br />
wir mal an Kälte.<br />
Jetzt stehen wir hier auf dieser leeren Bühne, normale<br />
Raumtemperatur. Wir haben nichts, keine Requisiten,<br />
keine Kostüme, wie Handschuhe, nichts. So nun kommt<br />
die Anleitung zum Lügen. Stellen Sie Sich vor: Es wird<br />
kalt. Im schlechten Theater macht man dann so.<br />
Peter Lüchinger reibt sich die Hände.<br />
Aber stellen Sie sich einfach mal vor, was passiert wenn<br />
es kalt ist. Es ist kühl. Um Gottes Willen. Man fängt an<br />
zu frieren. Die Vorstellungskraft macht, dass wir frieren.<br />
Und irgendwie wird man immer kleiner. Man zieht<br />
sich zusammen. Dann zeigt man das vielleicht auch,<br />
indem man sich gegen die Kälte wehrt. Man fängt an zu<br />
handeln, man will ja nicht frieren. Man will es eigentlich<br />
warm haben. Und schon erzählen wir eine kleine<br />
Geschichte. Denkpause! – Nun weiss jeder unten: Auf<br />
dieser leeren Bühne, in unserem Raum hier oben, ist<br />
es kalt. Aber tatsächlich sehen wir noch einen grauen<br />
Boden, eine graue Wand. Aber irgendwann glauben Sie:<br />
Der hat wirklich ein Problem, der hat wirklich kalt, sie<br />
fühlen mit der Person oben mit, sie glauben die kleinen<br />
Geschichte über die Kälte …<br />
Lacher im Publikum<br />
und nun können wir die Geschichte noch weiterführen,<br />
es liegen Steine auf dem Boden, spitze Steine: „Aua,<br />
aua.“ Alles tut weh. So einfach ist es. Wieder von den<br />
Kindern ausgehen! So einfach könnte es sein, wenn<br />
nicht der Autor uns ... Ach vielen Dank!<br />
Peter Lüchinger verabschiedet die Versuchsperson.<br />
So einfach könnte es sein, wenn der Autor nicht so viel<br />
vorgäbe, eine komplexe Geschichte. Das Stück ist eine<br />
Partitur, die so viel hintereinander an Emotionalität,<br />
Brüchen, Gegensätzen usw. komprimiert. Bisher haben<br />
wir schön langsam gearbeitet. Das waren noch einfache<br />
Geschichten. Jedoch eine Partitur vom Autor gibt dem<br />
Schauspieler eine völlig fremde Welt vor. Der Schauspieler<br />
muss mit seiner Figur in diese Welt eintreten. Er muss<br />
sie mit Hilfe seiner Phantasie erforschen. Das Stück ist<br />
eine klare Vorgabe und die Schauspieler müssen all diese<br />
Vorgaben so erfüllen, dass die Zuschauer alll die „Lügen“<br />
glauben.
Ich werde jetzt noch einen Text vorlesen: Eine Anleitung<br />
zum Theater spielen.<br />
Es gibt ein Stück. Das heißt: Der Sommernachtstraum.<br />
Da gibt es die Handwerker. Und das ist meiner Meinung<br />
nach eine der besten Anleitungen fürs Theaterspielen.<br />
Hier kann man hören, wie Shakespeare sich „sein“ Theater<br />
vorstellte. Sie müssen ganz naiv zuhören.<br />
Zum Inhalt: In diesem Stück sollen Handwerker eine<br />
Theaterstück zu Aufführung bringen, sie sollen Theaterspielen:<br />
Sommernachtstraum<br />
Die Handwerker treffen sich zu einer Probe. Zweite<br />
Szene.<br />
Szenenanfang, Zettelt tritt auf, die anderen sind schon<br />
da.<br />
Zettel: Sind wir alle da?<br />
Squenz: Pünktlich wie die Mauer. Und hier ist ein<br />
exquisiter Platz für die Probe. Dieser grüne Fleck ist<br />
unsere Bühne, der Hagedornbusch die Garderobe;<br />
und wir wollens mit Aktion machen, wie wirs machen<br />
wollen vorm Herzog.<br />
(Die müssen Theater spielen vorm Herzog.)<br />
Zettel: Das sind Sachen in dieser Komödie von Pyramus<br />
und Thisbel, die werden nie gefallen. Erst mal, Pyramus<br />
muss ein Schwert ziehen, um sich umzubringen, was<br />
die Ladies nicht vertragen können. Was sagen Sie dazu?<br />
Handwerker dazwischen: Das müssen wir weglassen, das<br />
ist ein heikler Punkt.<br />
Zettel: Kein Stück: ich hab eine Idee, die alles in Lot<br />
bringt. Schreiben Sie mir einen Prolog: und im Prolog<br />
soll in etwa stehen, dass wir keinen Schaden anrichten<br />
wollen mit unseren Schwertern; und dass Pyramus<br />
nicht echt umgebracht wird; und um noch besser versicherter<br />
zu sein, sagen Sie ihnen, dass ich, Pyramus,<br />
micht Pyramus bin, sondern Zetter der Weber. Das wird<br />
ihnen die Furcht wegnehmen.<br />
Squenz: Gut, dann kommt so ein Prolog.<br />
Handwerker. Also, da haben wir noch ein anderes Problem.<br />
Einen Löwen. Werden die Damen nicht Angst<br />
kriegen vor dem Löwen?<br />
Zettel: Wir können doch einen Löwen nicht unter die<br />
Ladies bringen. Das ist ja ein höchst erschreckliche<br />
Sache. Denn es gibt nicht noch einmal so ein grässliches<br />
Raubwild wie einen Löwen. Ich sage da nur:<br />
Aufgepasst! Da sagt ein anderer: Wir müssen einen weiteren<br />
Prolog schreiben, dass er kein Löwe ist. Nein, wir<br />
müssen seinen Namen nennen und sein halbes Gesicht<br />
muss durchkucken durch den Hals vom Löwen. Und er<br />
muss selber durchbrechen und sagen etwa des Inhalts<br />
gemäss: „Ladies“, oder „zarte Ladies“, - „ich möchte<br />
Sie bitten“ - , oder „ich möchte Sie ersuchen“,- oder<br />
„ich möchte Sie beschwören, sich nicht zu fürchten,<br />
nicht zu zittern, mein Leben für Ihrs. Wenn sie glaubten,<br />
ich wäre als Löwe hergekommen, tät mir das für<br />
mein Leben leid. Nein: ich bin nicht so was; ich bin<br />
ein Mensch wie jeder andere Mensch“. Und dann soll er<br />
seinen Namen nennen und Ihnen klipp und klar sagen:<br />
Er ist Span, der Tischler.<br />
Squenz: Na gut, meinetwegen. Aber da sind noch zwei<br />
THEATER<br />
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THEATER<br />
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harte Sachen, nämlich: wie bringt man das Mondlicht<br />
in das Zimmer? Denn ihr wißt, Pyramus und Thisbe<br />
treffen sich bei Mondlicht.Ja gut, also machen wir das<br />
auch noch, diesen Prolog.<br />
Handwerker: Scheint der Mond in der Nacht, wo wir das<br />
Spiel spielen?<br />
Zettel: Ein Kalender, ein Kalender! Nein in der Nacht<br />
scheint der Mond nicht. Na gut! Dann könnten wir doch<br />
folgendes machen: Wir machen einen Fensterflügel vom<br />
großen Saal auf, wo wir spielen. Und dann kann der<br />
Mond durch das Fenster hereinscheinen.<br />
Oder, sagt der Zettel, denn das ist ein ganz kluger, es<br />
kommt einer rein mit Dornbusch und Laterne und sagt:<br />
Er präsentiert und bekörpert die Person des Mondscheins.<br />
Dann ist noch eine Sache: Wir brauchen eine Mauer im<br />
großen Saal; denn Pyramus und Thispe – sagt die Fabel<br />
– sprechen durch den Ritz von einer Mauer. Handwerker<br />
dazwischen rufend: Also eine Mauer kriegen wir da nie<br />
rein. Das ist ja unmöglich.<br />
Zettel: Gut dann muss irgendein Mann die Mauer vorstellen.<br />
Und er soll etwas Mörtel und etwas Leim oder<br />
etwas Putz an sich dran haben. Das bedeutet Mauer.<br />
Und er soll seine Finger hinhalten – so – das ist dann<br />
das Loch und durch diese kleine Klinze sollen Pyramus<br />
und Tispe flüstern.<br />
So hat sich Shakespeare Theater vorgestellt. Die Frage,<br />
die da aufgezeigt wird, ist: Wie kann man ein großes<br />
Drama auf diese kleine Bühne bringen? Mit Mauer, mit<br />
Mond etc., etc. Shakespeare hat die Regieanweisungen<br />
mitgeliefert. Wenn man es so wie die Handwerker macht,<br />
dann ist es schon lustig und interessant.<br />
Aber versuchen wir, noch weiter zu kommen. Im Theater<br />
geht es neben vielem auch noch um die emotionalen<br />
Zustände von Figuren. Und da geht es natürlich um<br />
Worte, die diese transportieren müssen.<br />
Was wir in der heutigen Zeit oft machen, wenn wir<br />
einen emotionalen Zustand beschreiben müssen, so<br />
sagen wir: Mir geht es schlecht. Ich fühle mich Scheisse<br />
... Wir meinen in einem Satz alles ausgedrückt zu haben.<br />
Das heißt, wir haben nicht mehr die sprachliche Fähigkeit,<br />
unsere inneren Gefühle mit Worten nach außen zu<br />
tragen.<br />
Um diese innere Welt zu zeigen, bedient sich ein guter<br />
Autor wie Shakespeare Metaphern, um beim Zuschauer<br />
etwas auslösen zu können: Diese Aufgewühltheit, die<br />
Zerrissenheit oder die Angst. Es gilt, die ganze Emotionalität<br />
einer Figur so an den Zuschauer zu bringen,<br />
dass mit dem Gesprochenen auch die ganze Gefühlswelt<br />
aufgezeigt wird. Und Gefühle sind meistens viel grösser<br />
und stärker als wir denken. Sie können auf die unterschiedlichsten<br />
Weisen in Worte gefasst werden. Würde<br />
wir es heutig, umgangssprachlich veräussern, wären alle<br />
Theaterstücke von sehr kurzer Dauer. Um das zu erklären,<br />
lese ich einen Teil einer Szene aus König Lear vor, in<br />
der ein König am Ende ist und nicht mehr weiter weiß.<br />
Heutig gesprochen, „es geht ihm schlecht“<br />
Was macht er? Der König geht aufs Land, in die Natur,<br />
und fängt an die Natur herauszufordern. Und er schreit.
Blast Stürme, sprengt die Backen! Rast! Blast!<br />
Ihr Katarakte und Orkane, speit:<br />
Ertränkt die Kirchtürme, ersäuft die Wetterhähne!<br />
Ihr schwefligen, gedankenschnellen Blitze,<br />
Vorreiter eichenspaltender Donnerkeile,<br />
Versengt mein weisses Haupt! Du, allerschütternder<br />
Donner,<br />
Schlag diese feiste, runde Erde platt!<br />
Zertrümmer jede Gußform der Natur;<br />
Auf einen Schlag vernichte jeden Samen,<br />
Aus dem der undankbare Mensch entsteht!..<br />
Furz deine Därme leer!<br />
Kotz Feuer! Rülps, piss Regen!<br />
Regen, Donner, Wind und Feuer, sind nicht meine Töchter.<br />
Euch Elemente schimpf ich nicht unmenschlich.<br />
Euch gab ich nie ein Königreich.<br />
Euch nannt ich niemals Kinder.<br />
Ihr schuldet mir nicht Demut.<br />
Also schüttet eure fürchterlich Lust herab.<br />
Hier stehe ich: ein armer, schwacher und verhasster<br />
Greis.<br />
Was würden Sie sagen, wenn Sie so was hören? Wie geht<br />
es diesem Menschen? Da hört man doch eine hochgradige<br />
Verzweiflung. Das heißt: Er wünscht, dass er vom<br />
Donner erschlagen wird. Da ist eine erbärmliche Ausweglosigkeit,<br />
das Leben soll nicht weiter gehen. Was Shakespeare<br />
auch behauptet, ist, dass man mit dem Himmel<br />
reden kann. Kann man mit dem Himmel reden? Wer sitzt<br />
da oben? Mit Gott kann man reden. Man kann die Ele-<br />
mente anrufen. Man kann alles aus sich rausholen, um<br />
einen inneren Zustand zu zeigen. Und er sitzt am Ende<br />
seines Ausbruchs da, erschöpft, erniedrigt und sagt:<br />
Aber eigentlich passiert ja nichts. Mein Flehen nach dem<br />
Ende wird nicht erfüllt, die Natur erfüllt meinen Wunsch<br />
nicht, ich muss weiterleben. Und sie haben in diesem<br />
kurzen Text die extreme Seelenlage dieser Figur mitgekriegt,<br />
erfassen können. Oder nicht? Bis jetzt waren es<br />
nur die Worte? Wenn nun noch das ganze Spiel dazukommt,<br />
wird es noch ein bisschen aufregender. wahrscheinlich<br />
auch noch ein bisschen erschütternder.<br />
Was gibt es noch im Theater, das die Lüge unterstützt?<br />
Die Schauspielerei haben wir berührt und auch geübt.<br />
Was noch? Ja, wir können uns noch verkleiden, was sehr<br />
beliebt ist und auch eine grosse Lust macht. Ich, als<br />
Schauspieler, kann jemand anderer sein, mit meinem<br />
Äusseren, mit meinem Kostüm, mit meinen Gesten. Ich<br />
kann einen anderen Menschen imitieren. Beispiel: Ich<br />
kann alt werden, kann mir die Haare grau machen. Und<br />
wenn ich das gut mache dann glauben Sie mir, dass ich<br />
alt bin. Und da haben wir die nächste Lüge. Man kann<br />
auch - was wir bei der Shakespeare Company teilweise<br />
machen – das Geschlecht wechseln, als Mann eine Frau<br />
spielen oder umgekehrt. Und auch dass kann man glauben,<br />
vorausgesetzt die Grundverabredung stimmt, dass<br />
Sie mir glauben wollen. Wenn nicht, dann habe ich, der<br />
Schauspieler, keine Chance.<br />
Eine kleine Geschichte – weil wir heute im Kino sind:<br />
Wir hatten mal ein Stück in unserem Spielplan, das<br />
hieß Comedian Harmonists. Da haben wir folgendes versucht:<br />
THEATER<br />
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THEATER<br />
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Im Kino werden viele Geräusche nachträglich eingespielt,<br />
produziert von einem Geräuschmacher. Das weiß<br />
der Zuschauer aber nicht, sondern wir sehen uns den<br />
Film an und denken: Super! Da schießen sie in echt. Da<br />
laufen sie real die Treppen hoch, etc. Wir glauben den<br />
Geräuschen, die wir hören. Und weil wir einen Geräuschemacher<br />
kannten, haben wir ihn gefragt, ob er uns<br />
mal zeigen kann, wie es Film zu und hergeht, wie diese<br />
Geräusche produziert werden.<br />
Es gibt ein Film von Wim Wenders: Lisbon story. In<br />
diesem Film wird die Arbeit eines Geräuschemachers teilweise<br />
gezeigt. Das heißt, mit dem Inhalt dieser kleinen<br />
Kiste des Geräuschmachers, nur ein Reisekoffer voller<br />
„Instrumente, kann man eine ganze Bilderwelt auf die<br />
Bühne, ich meine in einen Film, stellen. Und wenn Sie<br />
wüssten, wie das geht, dann sagen Sie: Ach Gott, das ist<br />
es. So einfach ist das. Mit so einfachen Mitteln erzeugt<br />
er diese Geräsuche.<br />
Aber das heißt auch: Unser Ohr will das glauben, was<br />
es sieht. Und es verbindet die beiden Eindrücke, Wahrnehmungen<br />
und sagt: Stimmt. Richtig. Das ist Regen.<br />
Wie macht man das Geräusch von Regen? Mit alten Filmrollen,<br />
entrollt, und einfach ein bisschen drehen, mit<br />
den Fingern drin rumwühlen. Das können Sie zu Hause<br />
mal üben, geht auch mit alten Tonbändern und gleich<br />
haben sie die Illusion: Das ist Regen. Sie koppeln zum<br />
Geräusch ein Bild von Regen hinzu. Oder – was hatten<br />
wir noch? Feuerwerk. Sehr beliebt. Ein Feuerwerk geht<br />
so: ein Ballon, aus dem man plötzlich Luft austreten<br />
lässt, durch die Öffnung, die man mit den Fingern auseinanderzieht.<br />
Peter Lüchinger macht die entstehenden Geräusche mit<br />
dem Mund nach.<br />
Dazu muss natürlich auf der Bühne etwas gespielt<br />
werden. Wenn ich dann noch an einem aufgeblasenen<br />
Ballon zupfe …<br />
Peter Lüchinger macht die entstehenden Geräusche<br />
wieder mit dem Mund nach.<br />
Dann denken Sie, es mache in der Ferne Bumm! Bumm!<br />
Jedenfalls, wenn es funktioniert. Sehr beliebt sind<br />
auch Schritte. Im Film sind diese Geräusche meistens<br />
nachvertont, wegen den verschiedenen Distanzen zur<br />
Kamera, sprich Zuschauer. Schritte sind eigentlich ein<br />
einfaches Geräusch, man nimmt ein Holztäfelchen und<br />
macht darauf die Schritte mit realen Schuhen, wie wenn<br />
man gehen würde. Man bleibt aber am Orte stehen. Jeder<br />
Schuhe erzeugt einen anderen Sound. Mit wechselnden<br />
Rhytmen kann man jemand rennen lassen oder Treppen<br />
steigen lassen etc.<br />
Das ist unheimlich spannend, wie das Hörspiel gestern.<br />
Wir könnten jeztzt das Licht ausmachen und anfangen,<br />
Geräusche zu erzeugen. Bei Ihnen würde sofort der<br />
Wunsch entstehen, die Geräusche zu dechiffrieren. Wir<br />
wollen herausfinden: Was könnte das sein? Da wir eine<br />
Antwort finden wollen, spekulieren wir. Wir überlegen,<br />
was könnte es sein. Wir gleichen das nicht real erzeugte<br />
Geräusch mit unserer Erinnerung ab und finden dadurch<br />
eine scheinbare Realität.<br />
Und so oder ganz ähnlich funktioniert Theater. Wir<br />
bauen aus den verschiedenen Eindrücke von der Bühnenwelt<br />
eine eigene Welt zusammen.
Was brauchen wir noch für das Theater, um der Lüge<br />
einen Ausdruck zu geben? Wir hatten schon die Kostüme,<br />
die Bühne, Schauspieler, kommt noch das Licht – das<br />
ist aber etwas Modernes. Mit Licht haben wir unendlich<br />
viele neue Möglichkeiten dazu gekriegt. Wir können das<br />
Geschehen wegzaubern oder wir können mit Licht etwas<br />
abgrenzen, betonen etc. Aber das wäre schon wieder ein<br />
neues Feld. Also lassen wir es bei diesem. Viel mehr<br />
brauchen wir nicht fürs Theater.<br />
Um dem Autor gerecht zu werden: Zum Abschluss noch<br />
ein Monolog:<br />
Die ganze Welt ist eine Bühne,<br />
Und alle Fraun und Männer nichts als Spieler.<br />
Sie haben ihren Auftritt, ihren Abgang,<br />
Und jeder spielt im Leben viele Rollen.<br />
Die Akte sieben Alter. Akt eins: der Säugling,<br />
der kreischt und kotzt im Arm der Amme.<br />
Dann, quengelig, der Schüler mit dem Ranzen,<br />
Mit frischen Morgenblick, kriecht wie ne Schnecke<br />
Zur Schule, widerwillig. Dann, der Verliebte,<br />
Seufzt wie ein Ofen, herzzereissend, Reime<br />
Aufs Haar der Geliebten. Dann, Soldat,<br />
Voll fremder Flüche, bärtig wie ein Panther,<br />
Kitzlig in Ehre, hitzig, blitzschnell in Streit,<br />
Sucht er die Seifenblase Ruhm selbst noch<br />
In der Kanonenmündung. Dann, der Richter,<br />
Schön rund der Bauch, gut mit Kapaun gefüttert,<br />
Gestrengen Blicks, den Bart korrekt gestutzt,<br />
Voll klüger Sprüche, platten Fallbeispielen,<br />
So spielt er seine Rolle. Sechstes Alter,<br />
Neues Fach: der hagere Greis im Jugendwahn<br />
Die Brille auf der Nase, Geld im Strumpf,<br />
Die jugendliche Hose, gut geschont,<br />
Ne Welt zu weit für seine Schrumpelschenkel,<br />
Und seine kräftge Männerstimme kippt<br />
Zurück zum kindischen Diskant, fistelt<br />
Und piepst wie dieser. Letzte Szene: Ende<br />
Des seltsam-wechselvolln Historienspiels;<br />
Die zweite Kindheit, völliges Vergessen,<br />
Kein Zahn, kein Auge, kein Geschmack, kein gar nichts.<br />
Danke.<br />
(Jacques aus „Wie es euch gefällt“ von W. Shakespeare)<br />
Wenn Sie Fragen haben, über die vorgetragenen<br />
Thesen, bitte, fragen Sie. War Alles so schlüssig? – Ja?<br />
Frage:<br />
Bisher haben Sie viel über Phantasie gesprochen. Wie<br />
versteht ein Schauspieler die Phantasie? Was ist die<br />
Phantasie für Sie?<br />
Antwort Peter Lüchinger:<br />
Darüber habe ich am Anfang gesprochen. Was war zuerst<br />
da, das Ei oder das Huhn? Ich denke: Es gibt so etwas<br />
wie eine kollektive gesellschaftliche Phantasie, die wir<br />
weiter vererben über Generationen. Die Menschheit<br />
THEATER<br />
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THEATER<br />
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gibt eine Grundphantasie weiter als Muster, die wir alle<br />
dechiffrieren können. Und dann werden uns viele Dinge<br />
in der Kindheit erlebnisfähig angezogen. Aber dann gibt<br />
es noch das Unbewusste. Das Unbewusste ist etwas, das<br />
man einfach anzapfen müsste. Dann beginnt die große<br />
Kunst, wenn man eine Möglichkeit findet, diese Unbewusste<br />
materialisieren zu können. Phantasie hat jeder<br />
Mensch. Und jeder einzelne hat eine hunderprozentige<br />
Phantasie.<br />
Doch wie mache ich die Phantasie sichtbar, fassbar?<br />
Nur – was ist der Unterschied zwischen Denken und<br />
Phantasie? Wo liegt die Wahrnehmung. Wie nehme ich<br />
etwas wahr? Die Kunst des Schauspielers ist auch, die<br />
Phantasie, die ihn überkommt, verbalisieren zu können.<br />
Das ist die Kunst. Ein Musiker macht es mit Musik. Der<br />
andere macht es mit dem Schreiben. Und wir Schauspieler<br />
sind so ein Zwischending. Wir haben ja nichts. Wir<br />
haben nur unsere blöden beschränkten Körper. Der ist<br />
unser Instrument. Wir haben die Stimme, mit der wir<br />
Worte intonieren können. Und wenn die Phantasie ganz<br />
stark ist, dann nimmt das Instrument sie auch an. Aber<br />
man muss die Phantasie orten können. Denn sonst deckt<br />
sie ihren Wirt total zu. Das ist ein wahnsinniger Trip.<br />
Ein große Problem der Theaterkunst ist: Wir müssen uns<br />
reproduzieren können. Im Gegensatz zum Film. Beim<br />
Film spielt der Schauspieler, dann wird es aufgenommen<br />
und dann ist der Vorgang festgehalten. Im Theater<br />
müssen wir üben, wir müssen es wiederholbar machen.<br />
Wir müssen die Emotionalität, den körperlichen Ausdruck,<br />
etc. oft wiederholen können, frei und offen aber<br />
doch präzise. Für sich allein ist das noch einfach. Aber<br />
dann kommt noch ein Kollege mit auf die Bühne. Der<br />
stört dann schon. Dann kommen drei auf die Bühne, das<br />
macht es noch schwieriger, dass Sie den Ausdruck als<br />
etwas völlig normales, als etwas jetzt gelebtes ablesen<br />
können. Und es muss als etwas geformtes ablesbar<br />
sein. Sonst wäre es eine Selbstdarstellung. Das ist der<br />
ganz große Unterschied. Ich stelle meine Phantasie der<br />
Figur zur Verfügung. Zum Beispiel: Wenn ich den Hamlet<br />
spiele, und ich weiss ich der Hamlet begeht einen Mord<br />
dann kann ich als friedliebender Schauspieler nicht<br />
kommen und sagen: Ich kann niemand umbringen. Wenn<br />
ich das sage, dann kann ich eigentlich den Hamlet nicht<br />
spielen. Das heißt: Meine Phantasie muss mir zeigen, wie<br />
ich einen Mord mache. Ich muss ja nicht jemand umgebracht<br />
haben, um das spielen zu können. So naiv darf<br />
man sich das nicht vorstellen. Als Schauspieler muss ich<br />
die Fähigkeit haben, so genau spielen zu können, wie es<br />
wäre. wenn man das und das tut. Dann kann ich es noch<br />
variieren. Aber Sie müssen mir das glauben. Deswegen<br />
ist die Frage: Was glauben Sie mir? Vielfach sagen die<br />
Leute im Theater: Wenn die Pistole so aussieht, dann<br />
kann er damit ja niemand umbringen. Das ist aber nur<br />
das äußere Zeichen. Und wenn es das gewesen ist, ist<br />
man als Schauspieler immer ein bisschen enttäuscht<br />
und denkt: Scheiße, jetzt haben sie nur das gesehen.<br />
Den Glauben will man woanders erzeugen. Den will man<br />
eigentlich hier erzeugen.<br />
Peter Lüchinger zeigt auf seine Stirn.<br />
Wenn das klappt, dann waren wir relativ gut auf der<br />
Bühne.
Frage:<br />
Du hast ja mehrfach betont, dass du uns auf der Bühne<br />
immer wieder gern anlügst. Mir erscheint das ein bisschen<br />
wie Kokettieren. Ich finde gerade das Spannende,<br />
dass ich mich im Theater nie angelogen fühle. Ich gehe<br />
gern ins Theater und fühle mich nie belogen, sondern<br />
für mich ist Theater eine Einladung. Wo ich tagtäglich<br />
belogen werde und das auch so wahrnehme, das ist tatsächlich<br />
im Fernsehen. Die Bilder lügen mich wesentlich<br />
eher an als das Theater. Das Theater ist für mich eine<br />
Einladung.<br />
Antwort Peter Lüchinger:<br />
Heute sind wir viel auf das Lügen gekommen. Ich wollte<br />
eigentlich auf etwas Anderes hinaus. Wir haben da oben<br />
die Bühne. Die Bühne ist doch auch die politische Bühne.<br />
Wenn man zum Beispiel diesen ganzen Wahlkampf sieht,<br />
dann denkt man: Das sind ja zwei wahnsinnig schlechte<br />
Schauspieler. Da liegt das Problem. Den Gedanken<br />
müsste man weiter diskutieren. Die Bilder, die wir über<br />
das Fernsehen kriegen, sind ja auch keine realen Bilder.<br />
Das, was ich hier erzähle, ist nichts Neues. Eigentlich<br />
steht da nur ein Politiker. Das ist sein Beruf. Nur wie<br />
man diesen Beruf ausführt, dass sollte er üben. Wenn er<br />
schon Millionen von Menschen führen will und soll, dann<br />
sollte er doch bitte auch dafür Geld investieren, dass er<br />
eine gute Ausbildung erhält. Der Politiker soll mich auch<br />
unterhalten. Wir haben ja das Gefühl: Wir wählen einen<br />
Politiker und mit dem Politiker wählen wir auch noch<br />
eine Person. Also wählen wir auch den Menschen Schröder.<br />
Dem ist aber nicht so. Der Gewählte ist der Herr<br />
Bundeskanzler, der den Namen Schröder trägt. Wenn<br />
wir gute Schauspieler sind, können wir den sehr schnell<br />
nachspielen. Der hat eine Funktion und eine festgelegte<br />
Verantwortung auszufüllen. Das ist es, was ihn ausmacht.<br />
Aber das, was wir sehen und hören und wahrnehmen<br />
ist nicht das, was einen Politiker ausmacht. Wenn<br />
man Schröder sieht, kommt nichts Neues dazu, außer<br />
dass bei ihnen noch der Reflex hinzukommt: Oh Gott, oh<br />
Gott schon wieder! Er lebt nicht. Der Politiker hat ein<br />
ganz großes Problem. Er kann oder darf keine Unmittelbarkeit<br />
herstellen. Joschka konnte das früher teilweise,<br />
spontan reagieren, spontan reden. Im Theater erlügen<br />
wir die Spontaneität. Wenn wir auf die Bühne gehen,<br />
tun wir so, als ob wir das Stück noch nicht kennten. Aber<br />
wir wissen ja schon das Ende. Aber wir gaukeln Ihnen<br />
vor: Ich habe keine Ahnung, was im fünften Akt passiert.<br />
Das nenne ich die kokettierte Lüge. Das Schöne<br />
ist: Sie machen Sie auch mit. Das ist ganz wichtig. Das<br />
funktioniert in der Politik aber nicht. Spontane Gefühle<br />
darf man nicht zeigen, weil ja alles aufgezeichnet wird.<br />
Und dann wäre es im Bild und Ton festgehalten: Da hat<br />
er einen falschen Satz gesagt. Da kann eine ganze Welt<br />
zugrunde gehen. Diese Angst ist was völlig absurdes,<br />
sie engt ein, macht alles tödlich klein. Ich finde es toll,<br />
wenn Leute ins Theater gehen. Denn ich finde zu lügen<br />
etwas Tolles. Also nur auf der Bühne lügen! Im Leben<br />
sollten Sie ganz ehrlich sein!<br />
Frage:<br />
Eine Frage direkt hinterher: Gehört nicht das schlechte<br />
Spiel von Bush und Kerry zu dieser Art von Bühnenin-<br />
THEATER<br />
49
THEATER<br />
50<br />
szenierung dazu? Kürzlich ging ja durch die Presse – im<br />
zweiten Gespräch zwischen Bush und Kerry im Fernsehen<br />
glaube ich – im dritten Programm ist das als der<br />
Billy Vanilly der Weltpolitik charakterisiert worden – das<br />
ganze schlechte Schauspiel liest das anders aus, nämlich<br />
dass er eine Marionette ist, dass er ferngelenkt ist. Das<br />
es da auch noch Leute gibt, die eigentlich auch kommunikative<br />
Macht haben. Das macht ihn zu einer Art<br />
von Gliederpuppe in diesen Fernsehszenen. Also was ich<br />
meine: Ist schlechtes Schauspiel nicht ein Hinweis auf<br />
Realität. Also nicht von Illusion, die du so stark betont<br />
hast, was ich auch richtig finde. – Wie du das gemacht<br />
hast, fand ich einfach toll. Das sei nebenbei gesagt. –<br />
Schlechtes Schauspiel ist ein Indikator dafür: Dieses ist<br />
nicht Bühne. Wenn man im Fernsehen Reality TV-Shows<br />
sieht. Zum Beispiel die Fahndungssendung im ZDF, die<br />
am Freitagabend läuft. Da kann man nicht hingucken.<br />
Das ist gruselig, was da an Schauspiel abgeliefert wird.<br />
Aber möglicherweise dient genau dieses schlechte<br />
Schauspiel zur Authentifizierung, dass wir es hier nicht<br />
mit einer Illusionen schaffenden Bühne zu tun haben,<br />
sondern mit etwas, das auf die Realität bezogen ist.<br />
Das ist die erst Frage und eine zweite, die ich anschließen<br />
möchte ...<br />
Antwort Peter Lüchiner:<br />
Nicht zwei auf einmal. Ich bin Schauspieler. Ich kann<br />
mir keine Texte merken. Also: Wenn man wieder ein<br />
Shakespeare-Stück nimmt ... Shakespeare ist unheimlich<br />
gemein in seinen Stücken. Er zeigt den Politiker,<br />
wie wir ihn nicht mal sehen können. Shakespeare ist<br />
so brutal. Und Bush ist in gleicher Weise brutal. Die<br />
Bilder, die wir kriegen, lösen aber diese Brutalität nicht<br />
mehr aus, die dahinter steckt. Vielleicht noch die Fakten<br />
lösen sie aus. Mal aus dem Nähkästchen: Wenn wir in<br />
der Bremer Shakespeare Company Stücke ansetzen wie<br />
wir das gerade haben, wie König Johann. Es interessiert<br />
niemanden. Aber dennoch ist es fünf mal spannender,<br />
zwei Stunden irgendeinen Deppen – welchen auch immer<br />
– im Theater anzuschauen, weil hier die Geschichte komprimiert<br />
ist und Abgründe aufgetan werden. Was wir bei<br />
diesen Fernseh-Inszenierungen sehen, ist schlussendlich<br />
nur: Langeweile. Einfach die Überbrückung der tiefen<br />
Langeweile der Menschen. Ist das eine Antwort?<br />
Nachfrage:<br />
Ja, aber da ist ja noch die zweite Frage. Ich möchte auch<br />
noch mal auf die Cave-Installationen zurückkommen. Du<br />
hast den Illusionsaspekt sehr stark dargestellt. Das ist<br />
in der Geschichte der Künste etwas ganz Altes. Etwa das<br />
Trompe-l’æil in der bildenden Kunst, seit der Barockzeit<br />
bis heute. Je mehr an Illusionierung angeboten und je<br />
mehr der Zuschauer aufgesogen wird, desto mehr von<br />
der beabsichtigten Wirkung! Die Bereitschaft von Seiten<br />
des Zuschauers, sich zur Illusion verführen zu lassen,<br />
ist vorhanden. Sie tauchen ein in den Jurassic-Parc, in<br />
eine fingierte Realität. Im Theater – mehr als im Kino<br />
– sind wir konfrontiert mit einem Problem, dass wir<br />
Filmwissenschaftler Doppelwahrnehmung nennen: Ich<br />
sehe dich, wie du den Hamlet spielst. Aber ich sehe auch<br />
dich. Also ich sehe Hamlet und den Schauspieler beide<br />
gleichzeitig. Oder im Kino sehe ich: Das ist eine wun-
derbare illusionäre Landschaft. Ich sehe die Landschaft<br />
und gleichzeitig, das ist ein Bild. Das ist nicht 3D. Das<br />
ist Fläche. Es basiert auf einer Projektion. Wie gehst<br />
du mit dieser Tatsache um? Gehört es nicht auch zum<br />
Programm des Theaters, immer wieder diese Figur des<br />
Schauspielers zu ergründen. Um es deutlich zu machen.<br />
Nehmen wir zum Beispiel ein Brecht. Brecht sagt: Es<br />
geht nicht um die Illusion. Es wird etwas aufgeführt und<br />
es soll spürbar werden, das ist abstrakt. Es geht eigentlich<br />
nicht darum, dass der Schauspieler sich maximal in<br />
den Hamlet versenkt.<br />
Antwort Peter Lüchinger:<br />
Ich glaube, nein, der Schauspielr muss sich nicht immer<br />
weiter ergründen. In einem gewissen Alter habe ich auch<br />
so gedacht. Dann hatte ich das Privileg, andere Kulturen<br />
kennen zu lernen. Bei denen ist der Schauspieler viel mehr<br />
ein Erzähler, ein Geschichtenerzähler. Und der Erzähler<br />
– etwa in Afrika – fängt an, eine Geschichte zu erzählen.<br />
Dabei springt er von einer Figur zur anderen. Je mehr er<br />
vom Märchen erzählt, desto mehr führt er einen in diese<br />
Welten, und er als Erzähler ist am Ende gar nicht mehr<br />
da. Das ist auch mein Wunsch im Theater, dass ich hinter<br />
der Figur verschwinde. Ich bin nur Instrument. Wenn<br />
ich Instrument sein kann – emotional, seelisch und körperlich<br />
– und das der Figur zur Verfügung stellen kann,<br />
wenn ich wie bei dem Mord von Hamlet meine Phantasie<br />
zur Verfügung stelle und ich nur noch Haut und Knochen<br />
bin, dann kommt man als Schauspieler viel weiter. Denn<br />
ich überwinde das Ego-Gefühl. Aber das ist ein Problem,<br />
wenn wir in der heutigen Zeit nur noch von Schauspie-<br />
ler mit Namen oder nur von den Regisseuren reden. Das<br />
ist das Gesetz des Marktes. Wer so etwas will, soll er<br />
halt ins Theater gehen und sagen, da waren der und der<br />
Schauspieler. Also die Frage scheint mir nicht zu sein,<br />
ob ein Schauspieler gut oder schlecht ist, sondern ob<br />
wir ihm sein Spiel glauben. Theater soll nicht bewerten<br />
werden, sondern berühren. Das hat wohl etwas mit Alter<br />
zu tun. Wenn wir älter werden, werden wir auch demütiger<br />
gegenüber fremden Menschen, also gegenüber den<br />
Figuren. Nehmen wir als Schauspieler Hamlet. Na Hamlet<br />
ist der größte von allen. Aber das ist eigentlich egal.<br />
Hamlet, wie ein Diener, führt ein hundert prozentiges<br />
reiches Leben. Einen Diener zu spielen ist genau gleich<br />
wichtig wie den Hamlet. Im Stück selbst funktioniert<br />
Hamlet nur über den Diener. Die gehören zusammen.<br />
Die gehören in ihrer Welt zusammen. Auch ein Diener<br />
hat ein hundert prozentiges Leben. Das darzustellen,<br />
ist eine wahnsinnige Aufgabe. Der isst, hat Hunger,<br />
hat Bedürfnisse, hat Träume, Sehnsüchte. Und die sind<br />
genau dieselben wie die von Hamlet. Hamlet redet ein<br />
bisschen mehr. Aber das macht keinen Unterschied. Das<br />
macht keinen Unterschied dafür, ob wir als Schauspieler<br />
die Aufgabe erfüllen können. Wenn Schauspieler Urteile<br />
fällen: Das sind im Stück die kleinen Rollen, das sind<br />
die großen Rollen, dann ist eigentlich auch das schon<br />
falsch.<br />
Frage:<br />
Ich habe auch eine Frage zum Thema Illusion, die man<br />
im Theater glaubt. Könnte der Florifant in einem Theaterstück<br />
mitspielen, also eine virtuelle künstliche Figur,<br />
die in der Dschungel-Cave-Installation existiert? Könnte<br />
THEATER<br />
51
THEATER<br />
52<br />
eine solche Figur auf die Bühne springen und mitspielen?<br />
Ein solches programmiertes Wesen wäre ja mehr als<br />
Kulisse. Denn es hat ein vom Programmierer implementiertes<br />
Eigenleben wie die Tiere im Jurassic Parc. Ginge<br />
auch das? Ließe sich so lügen? Oder zersprengt solch ein<br />
Szenario das Theaterspiel. Wäre das interessant.<br />
Antwort Peter Lüchinger:<br />
Ich kenne die Installation noch nicht. Ich werde sie<br />
erst morgen sehen. Ob das interessant ist, entscheidet<br />
der Zuschauer. Wir haben ja meistens ein Brett vor dem<br />
Kopf und denken: Alles ist toll, was wir machen. Aber<br />
wenn der Zuschauer gelangweilt nach Hause geht, war<br />
es nichts. Nehmen wir die Tiere im Jurassic Parc. Was<br />
ist der Trick. Die Schauspieler machen die Tiere zu Menschen.<br />
Das ist eine Projektion. Wir geben ihnen ein Verhalten.<br />
Und der Zuschauer dechiffriert es. Deswegen ist<br />
es kein Problem. Wenn wir es akzeptieren, können wir<br />
mit Schachteln spielen. Man muss dem Zuschauer einen<br />
guten Einstieg geben, damit er das verstehen kann.<br />
Danach erzeugt man eine Konflikt, dadurch wiederum<br />
Emotionalität: Zwei Schachteln, eine rote und eine<br />
grüne können miteinander streiten. Das ist der Böse,<br />
das ist der Gute. Irgendwann lesen sie das ab. Und jeder<br />
sieht dabei etwas Anderes. Aber verbindend denken Sie:<br />
Die haben Streit. Nur glaube ich, alles kann man nicht<br />
miteinander vermischen. Wir machen gerade eine Erfahrung.<br />
Wir haben ein Stück mit Masken gemacht. ....<br />
Frage:<br />
Das passt vielleicht gut im Anschluss. Ich glaube, es ist<br />
alles eine Frage der Verabredung. Und die ist bei den<br />
Neuen Medien noch offen. Denn die Zuschauer wissen<br />
noch nicht, welche Verabredungen getroffen werden<br />
sollen. Aber bei Eurem Stück mit den Masken, diesem<br />
Wintermärchen, sehr zu empfehlen übrigens, wissen sie<br />
es. Das ist ein Stück, da haben Sie außer den Masken<br />
als Requisite nur Licht und einen Stuhl. So kam es mir<br />
jedenfalls vor. Ich war völlig fasziniert, dass so ein kleines<br />
weißes Pappschiffchen, das irgendwie wackelt, in<br />
mir Vorstellungen von Titanik und Wahnsinn und von See<br />
auslöst. Ich weiß nicht, was Ihr Euch da traut. Aber<br />
ich habe gespürt: Alle Zuschauer glauben das. Da ist<br />
wirklich nur so ein kleines weißes Pappschiffchen. Und<br />
genauso kann der Florifant aus seiner Welt raus und mit<br />
Life-Geschichten interagieren. Die Frage ist nur: Wissen<br />
alle um die Verabredung? Wo ist der Einstieg? Ich war<br />
ja auch in der Cave-Installation. Und die Frage ist: Wie<br />
komme ich da hinein?<br />
...Einwurf Peter Lüchinger: Das ist ganz wichtig.<br />
... Fortsetzung Frage:<br />
Irgendwo muss der Anfangspunkt und das Agreement<br />
sein: Wir sind jetzt drin. Wenn wir drin sind, dann ist viel<br />
egal. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass wir bestimmte<br />
Erwartungen an verschiedene Medien haben. So ist das<br />
im Kino ja auch. Wenn ich zum Beispiel viel Hollywood-<br />
Mainstream-Kino anschaue, und dann wieder anfange,<br />
70er Jahre Fassbinder-Filme zu kucken. Dann denke ich:<br />
Mein Gott ist der langsam. Das liegt an meinen Erfahrungen<br />
mit dem Kino, und diese Erfahrungen muss man<br />
mit einbeziehen, was die Weiterentwicklung der Neuen<br />
Medien angeht.
Antwort Peter Lüchinger:<br />
Ich möchte noch einmal auf die Masken zurückkommen.<br />
Deren Magie kann man nicht erklären. Ich bin gar nicht,<br />
ja absolut nicht esoterisch. Aber wir haben jetzt vier<br />
Monate mit Masken gearbeitet. Wir haben die Masken<br />
selber gebaut. Und Masken sind einfach nur geformte<br />
Pappe. Vier Schichten Pappe und drei Schichten Farbe<br />
drüber.<br />
Man guckt schaut der Maske zu und man weiß das. Das<br />
ist nur Pappe, und trotdem sieht man diese Pappe sich<br />
bewegen. Was sie bewegt – keine Ahnung! Aber wir<br />
wissen, die Pappe ist nicht beweglich. Die ist hart. Aber<br />
das Tolle ist, dass sie sich bewegt.<br />
Ich – der Zuschauer – bringe sie zur Bewegung.<br />
Ich bewege sie, weil die Figuren auf der Bühne eine<br />
Geschichte erzählen und diese Geschichte einen Ausdruck<br />
hat und auf einmal sieht man die Gesichter lachen,<br />
weinen etc. Das Tolle ist, dass das Pappgesicht bei 300<br />
gelacht hat.<br />
Da treffen wir Menschen uns beim Urtümlichen. Theater<br />
ist etwas Urtümliches. Das ist ja alles modern, was<br />
ihr hier im Kino oder mit den virtuellen Welt macht.<br />
Wir, im Theater, sind noch Dinosaurier. Theater ist Dinosaurier.<br />
Wir sind nicht modern. Theater wird eigentlich<br />
immer nach den gleichen Gesetzen ablaufen. Man kommt<br />
auf die Bühne und erzählt eine Geschichte. Und irgendwann<br />
ist sie fertig. Und dann ist der Abend aus. Das<br />
kann man nicht ändern. Das ist ja das Problematische,<br />
dass Theater immer mehr versucht, dem Film näher zu<br />
kommen. Das ist aber nicht interessant. Film ist Film,<br />
und Theater soll Theater bleiben.<br />
Frage:<br />
Nur eine kleine Bemerkung. Ich muss da hinein gehen,<br />
ja das ist wichtig. Aber man muss noch tiefer gehen.<br />
Dein Stichwort Phantasie führt da auf die richtige Spur.<br />
Wir haben in der experimentellen Filmforschung Hinweise<br />
darauf, dass wir schon bei ... Also wenn wir völlig<br />
abstrakte Displays, etwa bei kleinen Dreiecken und größeren<br />
Vierecken, die sich irgendwo hin und her bewegen,<br />
dass wir dann sofort so etwa wie Intentionalitätsattributionen<br />
– so nennt sich das – hinzufügen, also wir<br />
unterstellen: Die wollen etwas, die haben miteinander<br />
zu tun. Die interagieren miteinander. Die lieben sich.<br />
Die fürchten sich. Also lauter Prozesse letzten Endes<br />
auf der Bühne, ohne dass irgendein Kontext zugesetzt<br />
worden wäre.<br />
Einwurf Peter Lüchinger: Ohne jeden Kontext? Echt?<br />
Fortsetzung Frage:<br />
Ohne jeden Kontext! Schon da funktioniert diese Unterstellung.<br />
Das ist natürlich verrückt. Und deshalb sage<br />
ich. Du hast da den Königsweg.<br />
Antwort Peter Lüchinger:<br />
Wenn du das so sagst, ist ja noch viel spannender. Ja wir<br />
wollen das sehen, weil die uns entlasten. Wir wollen da<br />
reinträumen. Wir wollen sehen, dass die einen Konflikt<br />
haben, denn ich haben ihn dann nicht mehr, weil ich bei<br />
deren Konflikt bin.<br />
Frage:<br />
Nicht der große Ausdruck, nicht das „over-acting“, sondern<br />
gerade die Abwesenheit des Ausdrucks macht even-<br />
THEATER<br />
53
THEATER<br />
54<br />
tuell den Körper des Schauspielers lesbar als besonders<br />
ausdrucksintensiv?<br />
Antwort Peter Lüchinger:<br />
Das ist der Austausch. Das wichtigste am Schauspieler<br />
sind die Augen. Wenn Sie das Auge nicht sehen, dann<br />
ist es sehr schwierig, dass Sie den Schauspieler fassen<br />
können.
WELTEN WANDERER WELTEN<br />
Mögliche Realitäten im Kino<br />
Hans-Jürgen Wulff<br />
Ausgehend von der Annahme, daß Fiktionen darauf aufruhen,<br />
daß sie mögliche Welten (in einem logischen,<br />
epistemologischen und pragmatischen Sinne) hervorbringen,<br />
gilt es zu zeigen, daß<br />
(1) die Doppelwahrnehmung, daß mögliche und reale<br />
Welt gleichzeitig exitieren, zur Wahrnehmung fingierter<br />
möglicher Welten wesenhaft dazugehört. Außerdem ist<br />
zu zeigen, daß<br />
(2) dann, wenn die Fiktion mehrere mögliche Welten<br />
umfaßt, diese nicht nur in ein logisches, sondern auch<br />
in ein semantisches Verhältnis zueinander gesetzt sind.<br />
Darum sind mögliche Welten wissensbasiert, beziehen<br />
ihre Versatzstücke nicht nur aus der (ersten) Realität,<br />
sondern auch aus den Welten, die in den Künsten als<br />
(sekundäre) mögliche Welten hervorgebracht werden.<br />
(3) Darum nutzen Weltenwechsel, die im Film dargestellt<br />
sind, das Wissen von Zuschauern um mögliche<br />
Welten einschließlich der Art und Weise, wie sie in den<br />
darstellenden Künsten dargestellt sind, und inszenieren<br />
den Wechsel der Realitäten unter Umständen auch als<br />
Wechsel des semiotischen Modus der Darstellung.<br />
1. Fiktionale Filme entwerfen mögliche Welten<br />
Eine der vielleicht elementarsten Leistungen des<br />
Zuschauers bei der Rezeption von Filmen ist der Aufbau<br />
einer inneren Repräsentation eines zusammenhängenden<br />
Raumes, in dem die Szene spielt. Ein beliebiges<br />
Beispiel: Howard Hawks‘ RED RIVER (1948) erzählt<br />
davon, wie eine Viehherde zur Eisenbahnstation getrieben<br />
wird; es entsteht eine Rivalität zwischen dem Vater<br />
und dem adoptierten Sohn, die am Ende beigelegt wird.<br />
Dabei entfaltet sich das fiktive Universum der Welt des<br />
Westens, der Lust an offenen Räumen, der moralischen<br />
Begründung des Verhaltens der Figuren, ihrer Lebensstile<br />
und -entwürfe, oft monatelang von Frauen getrennt.<br />
Eine Western-Realität eben.<br />
Dass Geschichten „mögliche Welten“ ausbilden,<br />
ist ebenso evident wie rätselhaft. Worin besteht die<br />
erzählte Welt, was sind ihre Ingredienzien? Wie bezieht<br />
sie sich auf die Welt des Zuschauers? Korrespondiert sie<br />
mit den anderen Welten der Fiktionen, und wenn ja -<br />
wie?<br />
55
KINO<br />
56<br />
In der Filmtheorie hat sich die Bezeichnung Diegese<br />
für die Weltvorstellung, die eine Fiktion anbietet, seit<br />
Souriau eingebürgert. Der Begriff dient als Bezeichnung<br />
der raumzeitlichen Beziehungen der erzählten Welt,<br />
als Bezeichnung ihrer modellhaften Einheit, als räumlich-zeitliches<br />
Universum der Figuren bzw. Charaktere<br />
gebraucht. In dieser Bedeutung wurde der Begriff erstmals<br />
in der Filmtheorie verbreitet: Souriau (1948, 1953)<br />
kontrastierte die „Diegese“ der repräsentierten Welt<br />
von den medialen Mitteln, in denen die Repräsentation<br />
erfolgt; für ihn ist diégèse die Menge der vom Film<br />
behaupteten Denotationen (Souriau 1953, 7). Seither<br />
hat das Konzept internationale Verbreitung gefunden.<br />
Es wurde in der Filmtheorie von Metz aufgegriffen und<br />
zu einem Grundelement einer Signifikationslehre des<br />
Films (Metz 1972, 137ff). Im Sinne der erzählten Welt<br />
wird Diegese heute allgemein „als Inbegriff der Sachverhalte,<br />
deren Existenz von der Erzählung behauptet<br />
oder impliziert wird, angesehen. Die erzählte Welt kann<br />
dabei homogen oder heterogen, stabil oder instabil,<br />
möglich oder unmöglich sein“ (so Gfrereis 1999, 38). Ihr<br />
kommt ein eigener Raum und eine eigene Zeit zu.<br />
Es ist aber nötig, die erzählte Welt genauer zu bestimmen.<br />
Sie besteht aus vier miteinander koordinierten<br />
Teilschichten: Sie ist physikalische Welt, Wahrnehmungswelt,<br />
soziale Welt und moralische Welt gleichzeitig.<br />
Auf allen Ebenen kann sie eigenständig sein, von<br />
der äußeren Alltagswelt abweichen. Im einzelnen:<br />
(1) Sie ist eine physikalische Welt und hat physikalische<br />
Eigenschaften (Schwerkraft, Konsistenz etc.).<br />
Meist ist die Physik der erzählten Welt in Übereinstim-<br />
mung mit der Physik der äußeren Welt der Zuschauer.<br />
Ausnahmen gibt es vor allem im Fantasy-Film. Ein Beispiel<br />
ist der Geisterfilm GHOST - NACHRICHT VON SAM<br />
(USA 1995, Jerry Zucker): Die Welt der Geister und die<br />
Welt der Menschen unterstehen hier zwei verschiedenen<br />
Physiken. Die Geister sind immateriell, sie durchgehen<br />
die materielle Welt.<br />
(2) Sie ist als Wahrnehmungswelt der Figuren konzeptualisiert.<br />
Gemeinhin nehmen sie gemeinsam wahr. Es<br />
sind aber Fälle denkbar, daß die Figuren den Wahrnehmungsraum<br />
nicht vollständig teilen - manche können<br />
Geister sehen, andere nicht. Ein neueres Beispiel ist THE<br />
SIXTH SENSE (1999, M. Night Shyamalan). Es ist also<br />
möglich, daß die im Bild einheitliche Realität tatsächlich<br />
aus zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsrealitäten<br />
besteht.<br />
(3) Sie ist die soziale Welt der Figuren, die in einem<br />
als gemeinsam unterstellten Rahmen von Normen,<br />
Regeln über die Angemessenheit von Verhalten, Vorstellungen<br />
über Verpflichtungen und Ziemlichkeiten, Dinge<br />
des Glaubens und des Genießens handeln. Und sie teilen<br />
oft Strategien, als gemeinsam akzeptierbare Sinnhorizonte<br />
auszuhandeln. Manchmal geraten soziale Welten<br />
durcheinander, wenn etwa Figuren mittels Zeitreise in<br />
eine ihnen fremde soziale Welt geraten oder Reisende<br />
in einer ihnen zutiefst fremden sozialen Realität angelangen.<br />
(4) Sie ist schließlich eine moralisch eigenständige<br />
Welt. Zwar bildet die dargestellte Wertewelt meist die<br />
äußeren Wertehorizonte des Zuschauers ab, aber sie ist<br />
mannigfaltigen Einflüssen ausgesetzt: denen der beson-
deren Handlung; denen des Genres; denen der abgebildeten<br />
Zeit und Gesellschaft.<br />
Die mögliche Welt eines Films (seine Diegese) ist umfassender<br />
und länger geltend als die Geschichte, die in<br />
dieser Welt spielt - die Geschichte endet, die Bedingungen<br />
der erzählten Welt gelten aber weiter (Aumont et<br />
alii 1992, 90). Darum ist es möglich, Fortsetzungen zu<br />
drehen, neue Geschichten in einem einmal etablierten<br />
diegetischen Raum anzusiedeln. Die Geschichte und das<br />
diegetische Universum bedingen einander. Ist die erstere<br />
eine besondere Ausfaltung der diegetischen Welt, steht<br />
letztere ihr als Welt, die eine solche Geschichte ermöglicht,<br />
gegenüber (ähnlich Aumont et alii 1992, 90).<br />
Nun ist die mögliche Welt eines Films nicht nur durchlässig,<br />
sondern auch fragil. Sie ist durchlässig, weil<br />
Figuren einer anderen Ebene der möglichen Welt auftauchen<br />
können - da verirrt sich der Erzähler in die erzählte<br />
Welt, da tritt eine Figur aus der erzählten Welt heraus<br />
(wie im Theater einer an die Rampe tritt) und kommentiert<br />
das Geschehen. Eine Reihe Diffeenzierungen<br />
sind heute üblich. Figuren, die derselben diegetischen<br />
Wirklichkeit zugehören, nennt man isodiegetisch. Daneben<br />
lassen sich eine extradiegetische (alle Ereignisse,<br />
die außerhalb der erzählten Welt lokalisiert sind), eine<br />
intradiegitische oder einfach diegetische (alle Ereignisse,<br />
die zur erzählten Welt gehören) sowie eine metadiegetische<br />
Ebene unterscheiden (zu letzterer gehören<br />
alle Aussagen, die diegetische Elemente im Rahmen der<br />
Narration selbst lokalisieren). Und die erzählte Welt ist<br />
fragil, weil Mikrophone ins Bild hängen, der Filmstreifen<br />
ist zerschrammt, die Projektion ist unscharf. Dann<br />
wird die erzählte Welt greifbar als eine fingierte Realität,<br />
als „Welt zweiter Ordnung“, die ihre Faszination<br />
nur im Raum des Kinos und für die Dauer der Vorführung<br />
ausüben kann.<br />
In eine diegetische Welt können andere Diegesen<br />
eingebettet werden. Träume, andere Erzählungen etc.<br />
werden aber als neue diegetische Räume markiert, so<br />
daß der Fortschritt von einer Diegese in eine andere<br />
immer bewußt bleibt. Zahlreiche Interaktionen und<br />
Brüche („infractions“) zwischen unterschiedlichen<br />
diegetischen Rahmen sind möglich. So kann ein eigentlich<br />
extradietischer Erzähler in die diegetische Welt<br />
intervenieren. Man denke an die Reisen, die der Hund,<br />
der den phantastischen Geschichten des Rahmen-Erzählers<br />
fasziniert zuhört, in Jim Hensons THE STORYTELLER<br />
in die erzählte Welt unternimmt. Diese Brüche werden<br />
manchmal Metalepsis genannt.<br />
Jeden Falls greift das Branigansche Paradox der<br />
Diegese: Jedes Element, das mit der diegetischen Wirklichkeit<br />
nicht kompatibel ist (Mikrofone z.B.), zerstört<br />
nicht etwa den Raum der Diegese und läßt den Zuschauer<br />
zur primären Realität zurückkehren, sondern eröffnet<br />
einen neuen diegestischen Rahmen (so Anderson 1996,<br />
120-125). Gelegentlich öffnet das nondiegetische Element<br />
die Darstellung zum ästhetischen Programm des<br />
Films. So ist in Lars von Triers IDIOTEN gelegentlich<br />
eine zweite Kamera im Bild - der Illusionscharakter ist<br />
gebrochen, aber der Spielcharakter der Inszenierung<br />
sowie der sozialpsychologisch-realistische Anspruch des<br />
KINO<br />
57
KINO<br />
58<br />
Spiels tritt dafür um so stärker in den Mittelpunkt der<br />
Wahrnehmung.<br />
2. Zuschauer erbringen synthetisierende Leistungen<br />
Gerade die Brüchigkeit der Diegese weist darauf hin,<br />
daß sie nicht passiv hingenommen, sondern aktiv konstruiert<br />
wird (so auch Casebier 1991, 105). Das macht<br />
sich z.B. daran fest, daß ein Element diegetisch sein<br />
kann, ohne im Bild oder Ton repräsentiert zu sein. Dominique<br />
Château weist auf die durch die Geschichte und<br />
die Handlungen der Akteure induzierte Vorstellung des<br />
Monsters in manchen Horrorfilmen hin, das man nicht<br />
oder erst am Ende der Geschichte zu Gesicht bekommt<br />
(zit. n. Stam/Burgoyne/Flitterman-Lewis 1992, 38f).<br />
Auch abwesende Figuren wie den Katelbach aus Roman<br />
Polanskis CUL-DE-SAC (1966) könnte man hier nennen:<br />
Das Diegetische umfaßt mehr als das, was das Bild<br />
zeigt. Die Vorstellung einer möglichen Welt ist das Produkt<br />
einer synthetischen Leistung, die in der Aneignung<br />
des Textes erbracht wird. Sie ist eines der formalen Ziele<br />
der Rezeption - den diegetischen Raum der Erzählung zu<br />
generieren und zu durchdringen, die inneren Plausibilitäts-<br />
und Wahrscheinlichkeitsmaße der erzählten Welt<br />
aufzubauen etc. Zum Verstehen der Geschichte ist es<br />
unabdingbar, die Kondition der Diegese als Voraussetzung<br />
der Narration zu akzeptieren.<br />
Meist erfolgt das Diegetisieren „durch die dargestellten<br />
Mittel hindurch“, als Interpretation dessen, wovon<br />
die Rede ist - davon absehend, daß es im Text nur in<br />
besonderer Art und Weise in Erscheinung tritt. Für die<br />
Figurensynthese z.B. wird von der Tasache, daß sie<br />
farbig oder schwarzweiß abgebildet sind, meist abgesehen<br />
- die Figur, die Humphrey Bogart gerade darstellt,<br />
weiß nicht, daß sie schwarzweiß zu sehen ist, und<br />
der Zuschauer weiß auch nicht, daß Humphrey Bogart<br />
tatsächlich einen lila Anzug trug, um die geforderten<br />
Grauwerte zu erzeugen. Kinorezeption findet in einer<br />
grundsätzlichen Doppelwahrnehmung statt - so sehr der<br />
Zuschauer sich auch mit der erzählten Geschichte identifizieren<br />
mag, so sehr ist er sich der Tatsache, daß er<br />
im Kino ist, bewußt. Jedes Lachen des Nachbarn, die<br />
Lampe über dem Notausgang, Äußerungen des eigenen<br />
Leibes gehören zum Kino. Das Phantasieren, Imaginieren,<br />
Simulieren der Geschichte und der zu ihr gehörenden<br />
möglichen Welt gehören zur Fiktion. Beides ist als<br />
Bewußtseinstatsache immer bewußt. Phänomenologisch<br />
ausgedrückt: Diegetische Realitäten sind imaginäre<br />
semantische Enklaven in der Realität von Zuschauern,<br />
die nur abgeblendet, aber nicht aufgegeben wird. Mögliche<br />
Welt der Erzählung oder Diegese bezeichnen so eine<br />
imaginierte Bezugsgröße des Bewußtseins, die zur Filmerfahrung<br />
dazugehört.<br />
Obwohl die Entfaltung des diegetischen Universums<br />
immer bruchstückhaft und selektiv ist, bemüht sich der<br />
Zuschauer, eine homogenisierte semantische Welt zu<br />
entwerfen. In der Regel wird davon ausgegangen, daß<br />
sie harmonisch aufgebaut ist, also keine Widersprüche<br />
zwischen Elementen auftreten. Der Zuschauer ist<br />
aber nicht unschuldig, er kennt sich im Kino aus und<br />
weiß, daß Genres Familien ähnlicher Erzählwelten sind.<br />
Das läßt sich an einfachen Beispielen illustrieren. Eine
Geschichte spiele in der Welt der schlesischen Bergarbeiter,<br />
um 1880, im Milieu der kleinen Leute. Da wird die<br />
Gegenwelt der „Fabrikanten“ evoziert, auch wenn nie<br />
von ihnen die Rede war. Und wenn einer fliehen will, um<br />
ein anderes und besseres Leben zu führen, wird er nach<br />
„Amerika“ aufbrechen, weil Amerika zu unserem Wissen<br />
über die Handlungswelten am Ende des vergangenen<br />
Jahrhunderts gehört, es ist der Flucht- und Hoffnungsort.<br />
Die erzählte Welt umfaßt ganze Kontinente, die in<br />
der Erzählung nie erwähnt wurden, weil das Erzählte in<br />
einem Horizont steht, der das Erzählte und das Gewußte<br />
integriert. Spielt die Geschichte in Rußland, ist der Ort<br />
der Hoffnung vielleicht „Sibirien“ - weil der Wissens-<br />
Horizont von Rußland mit anderen Elementen erfüllt<br />
ist als Schlesien. Doch nicht nur die subjektive, sondern<br />
auch die objektive Welt ist am Rande der Diegese<br />
immer mitgegeben. Wenn einer aus dem Berliner Kiez<br />
eine Urlaubsreise nach Mallorca gewinnt, sind wir nicht<br />
überrascht - sondern können Mallorca in der erzählten<br />
Welt (sie ähnelt unserer Alltagswelt) wie aber auch in<br />
der Bedeutungswelt unterbringen - Mallorca ist die Insel<br />
des Massentourismus etc. Horizontwissen ist historisch<br />
sensibel. Eine Geschichte spielt im England des 12. Jahrhunderts.<br />
„Amerika“ ist im Horizont dieser Welt nicht<br />
enthalten. Aufschlußreich sind auch Geschichten des<br />
„Weltenwechsels“ wie z.B. Ein Yankee aus Connecticut<br />
an König Artus‘ Hofe. Weltenwechsel ist eigentlich Horizontwechsel<br />
resp. die Amalgamierung von Horizonten.<br />
Die erzählte Welt ist im engeren Sinne die Welt der<br />
individuellen Fakten. Die diegetische Welt wird aber<br />
sowohl von individuellen Fakten wie von Gesetzen,<br />
Regeln, Geboten und Verboten, Stilistiken KINO und ähnlich<br />
Überindividuellem ausgemacht. Der Zuschauer vermittelt<br />
zwischen beiden Ebenen, leitet im Idealfall das<br />
Überindividuelle aus dem Besonderen ab. Truffauts<br />
Zukunftsfilm FAHRENHEIT 451 (1966): Die Regelungen<br />
des Tagesablaufs, die Tätigkeiten, die Verstrickungen<br />
und Irritationen, in die die Figuren geraten - all das<br />
muß der Zuschauer aus dem Dargebotenen gewinnen.<br />
Am Ende ist er initiiert, er könnte im Idealfall eine<br />
Geschichte erzählen, die in der Fahrenheit-Welt spielt.<br />
In diesem Sinne ist Kino eine Schule der Phantasie -<br />
weil der Zuschauer gezwungen ist, die Erzählwelten der<br />
Geschichten auf der Leinwand vor seinem inneren Auge<br />
nachzubilden.<br />
3. Krieg und Nachbarschaft der Welten<br />
Das bis heir angedeutete Spiel mit möglichen Realitäten<br />
ist in hohem Maße ein formales Vergnügen, in das<br />
der Zuschauer eintreten kann. Fiktionen sind „bewußte<br />
Virtualitäten“; Zuschauer treten in einen Prozeß ein, in<br />
dem die primäre Realität des Zuschauerleibes in Geltung<br />
bleibt. So sehr das Kino auch Illusionsmaschine war und<br />
sein wollte und heute anstrebt, neue Qualitäten des<br />
Illusionismus zu erreichen, so sehr ist doch die Doppelbindung<br />
des Zuschauers konstitutiv für das Kino.<br />
Oft ist das Spiel der Realitätsebenen, -stufen und -<br />
formen im Kino selbst Thema gewesen. Da existieren<br />
magische Löcher in andere Wirklichkeiten, auf Inseln<br />
sind Parallelwelten entstanden oder erhalten geblieben,<br />
durch Sternentore kann man Zeiten und Planeten fast<br />
KINO<br />
59
KINO<br />
60<br />
nach Belieben wechseln. Gerade im Kontrast und Konflikt<br />
der möglichen Welten werden die formalen Qualitäten<br />
des Spiels „eine Fiktion verstehen“ greifbar. Werden in<br />
einer Fiktion zwei mögliche Realitäten hervorgebracht,<br />
bestehen rein formal vier verschiedene Möglichkeiten<br />
der Juxtaposition der beiden:<br />
(1) Äquivalenz, Gleichberechtigung der beiden Welten<br />
(W1~W2); es gibt Übergänge und Brücken zwischen<br />
beiden;<br />
(2) Determination und Kontrolle der einen durch die<br />
andere Realität (W2 = f(W1)); ein berühmtes Beispiel<br />
ist Fasinders WELT AM DRAHT (1973), der von einer Welt<br />
erzählt, in der die Protagonisten entdecken, daß sie<br />
Simulationen in einer höheren, ihnen bislang unbekannten<br />
Realität sind;<br />
(3) Einbettungen der Realitäten (W1{W2}W1); die<br />
eine bildet eine Enklave in der anderen; dazu rechnen<br />
alle Imaginationen wie Träume, Visionen, Phantasien<br />
etc.;<br />
(4) Sequenz bzw. Ablösung der einen durch die andere<br />
Realität (W1 > W2); ein Extremfall ist Ken Russells Film<br />
ALTERED STATES (1980), in dem die äußere Realität in<br />
einem Wassertank-Experiment ganz gegen eine neue,<br />
halluzinierte und nur vom Subjekt hervorgebrachte Realität<br />
ausgetauscht wird.<br />
Komplizierter wird die Überlegung, wenn man nach den<br />
semantischen Grundlagen fragt, die den Kontrast zweier<br />
Welten in der Fiktion fundieren. Hier scheint es nötig,<br />
poetologische Grundlagen zu bemühen. Zuallererst wird<br />
dem Jetzt des Zuschauers (oder einer Darstellung, die<br />
klar das „Jetzt“ abbildet) eine andere Realität entge-<br />
gengestellt, seien sie positive, negative oder gleichberechtigte<br />
Gegenwelten (Utopien = gute Orte, Dystopien<br />
= schlechte Orte, Heterotopien = andere Orte). Sodann<br />
beziehen sich manche Doppelrealitäten auf die Medien-<br />
und Genre-Realitäten, auf Kino-Wirklichkeiten, aber<br />
auch auf die Tätigkeit des Geschichtenerzählens selbst;<br />
immer geht es dabei darum, reflexiv mit „Realitätenwissen“<br />
umzugehen. Es gibt schließlich magische und<br />
märchenartige Realitäten, die unmittelbar an das Jetzt<br />
angrenzen. Und es ist sogar denkbar, in der sozialen<br />
Gegenwart selbst in andere Realitäten einzutreten - weil<br />
Realität als „soziale Realität“ relativ, nicht allgemein<br />
verbindlich ist und weil soziale Realitäten, die wenig<br />
miteinander zu schaffen haben, in unmittelbarer Nachbarschaft<br />
koesistieren können. Im Überblick:<br />
1. Utopien, Dystopien und Heterotopien<br />
eingeführt als literarischer Topos: Utopia (Thomas<br />
Morus); Die Insel Felsenburg (Johann-Gottfried Schnabel);<br />
meist Inseln, die abgeschottet von der Restwelt<br />
existieren<br />
1.1 Inseln<br />
Beispiel: HERR DER FLIEGEN (1993, 1990);<br />
Als Sonderfall - die Republik eines „irren wissenschaftlers“<br />
(mad scientist): Die Insel des Dr. Moreau (1933,<br />
1977, 1996)<br />
1.1.1 verborgene Realitäten<br />
Beispiel: LOST HORIZON (1937) - eine pazifistische<br />
Republik im Himalaya; Beispiel: THE LOST WORLD (1925,<br />
1960, 1993) - abgelegene Insel oder Hochpülateau, auf<br />
dem Dinosaurier überlebt haben; erinnert sei außerdem
an die diversen Atlantis-Inseln, die in Fabel und Film<br />
behandelt worden sind<br />
1.2 zufällige Sonderlagen: Flugzeugabstürze, Katastrophenfilme<br />
Flugzeugabstürze und dergleichen mehr konfrontieren<br />
die Akeure meist nur kurzfristig mit anderen Lebensbedingungen;<br />
es geht meist um Prüfungen der Adaptionsfähigkeit,<br />
um Tugenden wie Mut und Verantwortung<br />
etc.<br />
1.3 systematische Sonderlagen: Lagerfilme<br />
Lager und Gefängnisse können einerseits so etwas sein<br />
wie innergesellschaftliche Asyle, in denen Sonderbedingungen<br />
herrschen, andererseits bilden sie auch<br />
Rückzugsräume, die das Individuum schützen vor den<br />
Bedrohungen durch die Realität schützen; ein Beispiel<br />
für das letztere Motiv ist Georges Franjus Film LA TÊTE<br />
CONTRE LES MURS (1959)<br />
1.4 Simulationen und induzierte Sonderlagen<br />
Beispiel: DAS EXPERIMENT (2001) - nach dem Muster der<br />
Stanford-Experimente gehen Versuchspersonen in einem<br />
Gefängnis eine Sonder-Kondition des Zusammenlebens<br />
ein; manchmal wird „von innen her“ entdeckt, daß die<br />
Welt, in der die Akteure leben, eine simulierte Welt ist;<br />
ein Beispiel ist THE TRUMAN SHOW (1998), in der der<br />
Protagonist in einer gigantischen Seifenoper-Simulation<br />
leben<br />
2. reflexive Formen<br />
2.1 Kino-Fiktionen<br />
Beispiel: PURPLE ROSE OF CAIRO (1985) - eine junge Frau<br />
betritt die Welt auf der Leinwand; ähnlich ist auch LAST<br />
ACTION HERO (1993), in dem eine „goldene Eintrittkarte“<br />
das Betreten der Filmfiktion gestattet<br />
2.2 Erzählen als realitätenschaffende Geste<br />
Beispiel: JIM HENSON‘S THE STORYTELLER (1987), in dem<br />
der Erzähler bzw. sein Hund in der erzählten Geschichte<br />
auftaucehn<br />
2.3 Bilder begehen<br />
Beispiel: KUROSAWA‘S DREAMS (1990), in dem ein Museumsbesucher<br />
sich in die Bilder van Goghs verirrt<br />
2.4 versehentlicher Medienwechsel als Realitätswechsel<br />
Beispiel: AMAZON WOMEN ON THE MOON (1987), in dem<br />
sich ein Fernsehzuschauer mittels der Fernbedienung<br />
ins Fernsehprogramm verirrt; ähnlich auch LADRI DI<br />
SAPPONETTE (1989)<br />
3. magische Formen<br />
Beispiel: TIME BANDITS (1981)<br />
4. Innergesellschaftliche Realitäten; Lebenswelten<br />
Beispiel: METIN (1979), in dem eine sechsjährige Berlinerin<br />
als Türkin die Sommerferien in Berlin verbringt<br />
und die Stadt in einer ganz neuen Weise erlebt;<br />
Beispiel: IL MARCHESE DE GRILLO (1981), in dem ein<br />
Marquis und ein Kohlenhändler die Rollen tauschen und<br />
die soziale Realität der Napoleon-Zeit aus zwei ganz<br />
unterschiedlichen Persektiven erfahren.<br />
4. Von Krähen im Bild und Krähen im Flug<br />
Zur letzten These: Weltenwechsel, die im Film dargestellt<br />
sind, nutzen das Wissen von Zuschauern um mögliche<br />
Welten gleich in zweierlei Art und Weise - als Wissen<br />
KINO<br />
61
KINO<br />
62<br />
um die inneren Bestimmungselemente der erzählten<br />
Welt, aber auch als Wissen um die Art und Weise, wie<br />
sie in den darstellenden Künsten gemeinhin dargestellt<br />
ist. Sie inszenieren den Wechsel der Realitäten auch als<br />
Wechsel des semiotischen Modus der Darstellung. Ein<br />
Beispiel sei die schon erwähnte „Krähen-Episode“ aus<br />
Kurosawas Film DREAMS (1990).<br />
Sie beginnt in einem Museum. Ein junger Japaner<br />
besichtigt Bilder von van Gogh, interessiert, aber von<br />
erkennbarer Unruhe. Er greift schließlich zu seiner<br />
Staffelei, als wolle er sich zum Gehen wenden, bleibt<br />
noch einmal nachdenklich vor einem Gemälde stehen.<br />
Der Umschnitt zeigt die Landschaft des Bildes als reale<br />
Landschaft, der Rahmen ist verschwunden, die Grenzen<br />
des Bildes sind die Grenzen der Leinwand, am Beginn<br />
noch unbewegt, dann aber animiert. Die Waschfrauen<br />
am Fluß bewegen sich, ein Wagen rollt über die Brücke.<br />
Der japanische Betrachter läuft auf die Frauen zu, fragt<br />
nach van Gogh - und sie weisen ihn in die Felder, warnen<br />
ihn noch einmal, van Gogh sei im Irrenhaus gewesen.<br />
Über ein gemähtes Feld hinweg erreicht der Japaner<br />
schließlich den Maler, der einen Skizzenblock in der<br />
Hand hält, ohne große Beachtung des Hinzugekommenen<br />
vom „Licht“ stammelt und daß er malen müsse. Auf<br />
den Kopfverband angesprochen, erzählt er, er habe am<br />
Morgen ein Selbstporträt versucht, nur das Ohr sei nicht<br />
gelungen, da habe er es abgeschnitten. Mit größter Eile<br />
rafft er seine Sachen zusammen, läßt den japanischen<br />
Gast stehen. Der zaudert kurz, eilt dann hinter van Gogh<br />
hinterher. Es ist nun aber keine realistische Landschaft
mehr, durch die er van Gogh hinterherläuft, sondern es<br />
sind Landschaftsskizzen van Goghs, Landschaften in<br />
grobem Umriß, ohne die Feinheiten der photographischrealistischen<br />
Abbildung, in hartem Farbkontrast hintereinandermontiert.<br />
Van Gogh verschwindet schließlich<br />
im Hintergrund des letzten photographischen Bildes der<br />
Zeit, die der Agent-Betrachter „im Bild“ verbringt. Der<br />
Maler stört noch einige Krähen auf, die zunächst lebendig<br />
in diesem filmischen Bild zu sehen sind, man hört<br />
ihr Geschrei - und die dann in ein Gemälde van Goghs<br />
übergehen, das ein Kornfeld mit auffliegenden Krähen<br />
zeigt. Der Japaner ist wieder im Museum, er nimmt verstört<br />
die Mütze ab.<br />
Man könnte meinen, die Episode sei eine Allegorie<br />
über die Illusionskraft des Kinos. Die Figur ist in das<br />
Bild heineingegangen, hat nach dem Maler gesucht, ihn<br />
getroffen und am Ende doch keine Realität gefunden.<br />
Das erste Bild, in dem der Übergang von der äußeren<br />
Welt des Museums in die innere Welt der van-Goghschen<br />
Bilder geschah, ist ein Photo, das zwischen Landschaft<br />
und Gemälde lokalisiert ist. Es zeigt lebende Menschen,<br />
eine Wagen mit einem wirklichen Pferd. Aber die Steine,<br />
aus denen sie gebaut ist, weisen Farben und eine graphische<br />
Gestalt auf, die nicht einer Wirklichkeit, in der<br />
man sich bewegen könnte, sondern dem Bild van Goghs<br />
zugehören. Kann man „in ein Bild hineingehen“ und dort<br />
etwas anderes finden als das Bild selbst? Ist das Bild<br />
nur eine Abbildung, möglicherweise eine mechanische<br />
Reproduktion? Oder ist es eine semiotische Transformation<br />
des Vorfilmischen in eine andere Realität oder Realitätsstufe<br />
hinein?<br />
KINO<br />
63
KINO<br />
64<br />
Das Motiv des „Ins-Bild-Gehens“ ist mehrfach auch in<br />
der Filmtheorie aufgetaucht: Balázs erzählt die folgende<br />
Legende: „Einst lebte ein alter Maler, der ein herrliches<br />
Landschaftsbild schuf. Darauf wand sich durch ein<br />
reizendes Tal ein Pfad, schlang sich um einen hohen<br />
Berg, hinter dem er schließlich verschwand. Dem Maler<br />
gefiel sein Bild so gut, daß ihn die Sehnsucht packte.<br />
Er ging in sein Bild hinein und folgte dem Pfad, den er<br />
selbst gemalt hatte. Er wanderte immer weiter in die<br />
Tiefe des Bildes, dann verschwand er hinter dem Berg<br />
und kam nie mehr zum Vorschein“ (1972, 40). Balázs<br />
deutet die Geschichte als Allegorie für die Neigung des<br />
Films, den Zuschauer an einen anderen Ort zu versetzen.<br />
Keine Selbstentdeckung, keine Spiegelung des Subjekts,<br />
sondern ein Verschwinden und Aufgehen des Subjekts in<br />
der Fiktion: Die gleiche Episode wird auch bei Kracauer<br />
(1973, 224) als Bild des Kontrollverlustes des Zuschauers<br />
erzählt, die er angesichts des „Banns“ erfährt, den<br />
der Gegenstand, den das Bild zeigt, ausübt. Der Illusionsfähigkeit<br />
des Bildes (oder des Films) tritt die Illusionssehnsucht<br />
des Betrachters (oder Zuschauers) zur<br />
Seite. Das Eintreten in virtuelle Realitäten erscheint so<br />
gebunden an den Wunsch, den Realtätenwechsel imaginierend<br />
zu vollziehen.<br />
Doch helfen diese rezeptionsästhetischen Bemerkungen<br />
beim Verständnis des Geschehens in DREAMS nicht<br />
weiter. Hier scheint die Begehung des Bildes viel eher<br />
einem semiotischen Abenteuer zu ähneln als einem<br />
Wollens- oder gar Sehnsuchtsmotiv zu folgen. Das erste<br />
Filmbild der Episode zeigt das Bild van Goghs als Bild;<br />
das zweite nimmt das Bild als Filmbild. Das erste zeigt<br />
das Bild in seinem Rahmen, an seinem Platz im Museum,<br />
auf den Betrachter wartend, für ihn bereitgestellt. Das<br />
zweite zeigt das Bild als Kinobild, die Leinwand ist<br />
gefüllt, einen Rahmen gibt es nicht. Der Beginn des<br />
Bildes wirkt für einen Moment wie eingefroren, dann<br />
aber zieht das Leben der Akteure ein - und es erscheint<br />
der Horizont von Bewegung, von Zeit und von Handlung.<br />
Beide Bilder stehen zwischen malerischer Erfindung und<br />
mechanischer Abbildung. Beide verweisen nicht so sehr<br />
auf ein semantisches Moment Das-ist-gewesen!, das die<br />
Bilder der Photographie auszuzeichnen scheint und das<br />
sie aus dem Fluß von Bewegung und Geschehen herausbricht<br />
(Bazin 1967), sondern vielmehr auf eine mögliche<br />
Szene und damit auf eine Handlungswelt, in der man sich<br />
bewegen könnte. Man könnte der Photographie anlasten,<br />
sie könne nur das reproduzieren, was außerhalb ihrer<br />
schon existiere, und als Kunstform lasse sie sich allein<br />
durch das Wie, nicht aber durch das Was bestimmen. Das<br />
changierende Bild aus Kurosawas Film sagt ganz anderes,<br />
deutet darauf hin, daß das, was das Bild zeigt, nicht<br />
auf einer Wirklichkeits-, sondern einer Möglichkeitsform<br />
beruht! Es verweist nicht auf ein Szenario selbst, sondern<br />
auf eine Stilisierung, wie man sie auch im Theater<br />
oder eben in der Malerei finden könnte.<br />
Noch ist das erste Bild eine Mélange zwischen den<br />
beiden Bildformen - aber die Landschaften werden<br />
unähnlicher, Bild und Filmbild treten auseinander. Die<br />
Bilder entstammen nicht mehr einem realistischen<br />
Impuls, sondern mischen die Bildmodelle der Skizze<br />
und des photographischen Bildes - gleich in zweierlei<br />
Hinsicht. Zum einen läuft das photographische Bild
des japanischen Betrachters in den überdimensionalen,<br />
riesigen Skizzen herum, jedes Bild enthält beide Bild-<br />
Arten. Und zum zweiten stehen die Skizzen im Kontext<br />
einer filmischen Sequenz aus photographischen Bildern<br />
- auch das akzentuiert den Unterschied. Zweifacher Kontrast<br />
- darum fällt die Differenz so ins Auge. Noch das<br />
erste Bild zwischen malerischem und filmischem Bild<br />
hatte ähnliche Bildfundamente für beide Affinitäten zu<br />
den Kunstgattungen, beide waren dem Prinzip einer an<br />
das Photographische gemahnenden Ähnlichkeit gebunden<br />
(zu den bildtheoretischen Grundlagen vgl. Wulff<br />
1993). Das ändert sich rabiat, wenn die Episode die realistische<br />
Grundebene aufgibt. Die Vorstellung der möglichen<br />
Welt, in der die Suche des Japaners lokalisiert ist,<br />
ist nicht mehr nur die einer realen Welt wie die, in der<br />
wir leben, sondern umfaßt einen Filter, der die Realität<br />
als ganz anders erscheinen läßt als wie wir sie gewöhnt<br />
sind. Kann dieses die Wahrnehmungswelt der Akteure<br />
sein? Kann es sich um eine soziale oder gar eine moralische<br />
Welt handeln? Oder ist die van-Gogh-Welt idiosynkratisch,<br />
unverallgemeinerbar, nicht als Handlungswelt<br />
der Akteure denkbar? Letzteres sei zumindest in Zweifel<br />
gezogen - eine ganze Reihe von Animations- und Kinderfilmen<br />
zeigen, daß auch zur Skizze reduzierte Welten als<br />
mögliche Handlungswelten genutzt werden können.<br />
Es geht in Kurosawas Film um etwas anderes. Es sind<br />
Landschaftsskizzen, durch die der Held läuft (im photographischen<br />
Bild, per blue-box-Verfahren von der George<br />
Lucas gehörenden Firma Industrial Light and Magic in<br />
das van Gogh entlehnte Grundbild eingemischt), und<br />
Landschaften sind per se begehbar, allein weil sie als<br />
„Landschaften“ erkennbar sind. Und der Film behauptet<br />
zudem, daß das filmische Bild sich nicht im baren Wirklichkeitsverweis<br />
erschöpft, sondern in weitere Kontexte<br />
der Signifikation eingelassen ist.<br />
(1) Es ist Teil eines Stils, einer besonderen visuellen<br />
Art, darzustellen; und dieser Stil kann seine Ursprünge<br />
natürlich in der Malerei haben.<br />
(2) Es ist Element von filmischem Kontext, und es<br />
lohnt, genauer in die „Krähen“-Episode hineinzusehen.<br />
Da behauptet van Gogh, er sei getrieben von diesem<br />
Licht, wie eine Maschine - und das farbige Bild des Malers<br />
ist mit einer Schwarzweiß-Aufnahme einer Lokomotive<br />
unterschnitten, so, wie wir sie aus dem russischen Montagekino<br />
kennen. Auch die Musik wechselt, als sollte<br />
der intertextelle Rückverweis intensiviert werden. Und<br />
die Schattenbilder der Krähen, die das Landschaftbild<br />
am Ende überlagern, erinnern deutlich an die erst nach<br />
den eigentlichen Filmaufnahmen in die Filmbilder eingestanzten<br />
Vogelsilhouetten aus Hitchcocks THE BIRDS,<br />
als ein Bild, das nur realistisch wirkt, es aber keinesfalls<br />
(von der Produktionsseite als Photo) ist.<br />
(3) Es ist schließlich dem kulturellen Kontext des Kinos<br />
und der Künste zugehörig - und daß der berühmte Maler<br />
van Gogh von einem berühmten Filmregisseur (nämlich<br />
Martin Scorsese) gespielt wird, trägt sicher eine eigene<br />
Information über die Mischung der signifikativen und<br />
kulturellen Sphären.<br />
Mögliche Welten im Kino sind wissensbasiert. Und die<br />
semiotische Maschine des Kinos ist dazu in der Lage,<br />
Wissen der unterschiedlichsten Arten miteinander zu<br />
KINO<br />
65
KINO<br />
66<br />
verbinden, es in einer wie Zauber anmutenden Prozedur<br />
zu amalgamieren und Neues hervorzubringen.<br />
Literatur<br />
Anderson, Joseph D. (1996) The <strong>reality</strong> of illusion. An ecological<br />
approach to cognitive film theory. Carbondale/<br />
Edwardsville: Southern Illinois University Press.<br />
Aumont, Jacques [...] (1992) Aesthetics of film. Austin, Tex.:<br />
University of Texas Press (Texas Film Studies Series.).<br />
Balázs, Béla (1972) Der Film. Werden und Wesen einer neuen<br />
Kunst. Wien: Globus.<br />
Bazin, Andre (1967) The Ontology of the Photographic<br />
Image. In seinem: What Is Cinema? Berkeley: University<br />
of California Press, pp. 9-16.<br />
Casebier, Allan (1991) Film and Phenomenology. Toward a<br />
realist theory of cinematic representation. Cambridge<br />
[...]: Cambridge University Press, pp. 105-112 (Cambridge<br />
Studies in Film.).<br />
Gfrereis, Heike (Hrsg.) (1999) Grundbegriffe der Literaturwissenschaft.<br />
Stuttgart/Weimar: Metzler (Sammlung<br />
Metzler. 320.).<br />
Kracauer, Siegfried (1973) Theorie des Films. Die Errettung<br />
der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt: Suhrkamp (Siegfried<br />
Kracauer. Schriften. 3.).<br />
Metz, Christian (1972) Semiologie des Films. München: Fink.<br />
Souriau, Etienne (1948) La structure de l‘univers filmique et<br />
le vocabulaire de la filmologie. In: Revue de Filmologie<br />
7/8, pp. 231-240.<br />
Souriau, Etienne (1953) Préface zu seinem L‘Univers Filmique.<br />
Paris: Flammarion, pp. 5-10.<br />
Stam, Robert / Burgoyne, Robert / Flitterman-Lewis, Sandy<br />
(1992) New vocabularies in film semiotics. Structuralism,<br />
post-structuralism and beyond. London/New<br />
York: Routledge (Sightlines.).<br />
Wulff, Hans J. (1993) Bilder und imaginative Akte. Ein Beitrag<br />
zur Theorie ikonischer Zeichen. In: Zeitschrift<br />
für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 38,2,<br />
pp. 185-205.
ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />
Schöpfungen zwischen Konstruktion und Illusio<br />
Ralf E. Streibl<br />
„Wildeste Spekulationen – gewiß; die Science Fiction<br />
hat nichts dagegen, belächelt zu werden von Fachleuten<br />
– solange sie von ihnen gelesen wird.“<br />
Wolfgang Jeschke (1995, S.75)<br />
In seinem Beitrag über Schein und Wirklichkeit im Theater spricht Peter<br />
Lüchinger viel über Phantasie. Phantasie ist auch vonnöten, um sich auf<br />
den folgenden Text einzulassen. Denn er basiert auf einem Vortrag, der um<br />
viele kurze Filmausschnitte herum konzipiert war. Die Vielschichtigkeit von<br />
Bewegtbild und Ton eines Filmes widersetzt sich dem papiernen Medium<br />
– nur eine Annäherung ist möglich. Und so wird der vorliegende Text eine<br />
Reihe erzählter Filmsequenzen beinhalten, die – vielleicht und hoffentlich<br />
– in den Köpfen der Leserinnen und Leser Vertrautes oder auch Unvertrautes<br />
entstehen lassen. Wer die zitierten Filme kennt, möge mir manche<br />
Ungenauigkeiten in den Beschreibungen verzeihen, wer sie nicht kennt,<br />
mag es als eine Phantasie-Übung betrachten, sich anhand der Beschreibungen<br />
Szenen und Sequenzen vorzustellen und diese vielleicht irgendwann<br />
später beim Ansehen des entsprechenden Filmes mit dem dort gezeigten<br />
Ablauf zu vergleichen. Auch dies könnte als eine besondere Form konstruktiver<br />
Schöpfung im Sinne des Titels dieses Beitrages betrachtet werden. 1<br />
Die gebaute Welt von Truman<br />
1 Beim Vortrag im Rahmen des MIRA-Symposiums<br />
konnten übrigens aus technischen<br />
Gründen die Filmausschnitte ebenfalls<br />
nicht gezeigt werden – sie wurden dort<br />
nur erzählt. Die interessierte und engagierte<br />
Diskussion nach dem Vortrag gibt<br />
mir jedoch die Hoffnung, dass diese Form<br />
der Vermittlung dieser illustrierenden<br />
und assoziativen Elemente auch in einer<br />
schriftlichen Fassung gelingen könnte.<br />
67
ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />
68<br />
Werbung<br />
Im Fernsehfilm VIDEOPOLY ODER DUPONTS<br />
VERSCHWINDEN (1985) sieht man Herrn<br />
Dupont einen Werbespot betrachten. Der Chef<br />
des Fernsehsenders TVM, Dr. Moorckz (Hans<br />
Korte), bewirbt darin ein neues interaktives<br />
Angebot: „Ein Traum wird wahr: Flieger hätt’ ich werden<br />
können, Seemann, Astronaut... Dabeisein! Selber riechen<br />
und fühlen! Das neue Spiel VIDEOPOLY von TV Moorckz<br />
macht’s möglich. Modernste Fernsehtechnologie kombiniert<br />
mit der neuesten Computertechnik lässt Sie 1 zu 1<br />
am Weltgeschehen teilnehmen!“<br />
Zu Beginn des Filmes WESTWORLD sehen wir<br />
einen Fernsehbericht. Ein Interviewer befragt<br />
mit dem Mikrofon in der Hand begeisterte<br />
Besucher eines völlig neuen Freizeitparks,<br />
in dem man hautnah in die Welt der antiken Römer, in<br />
die des Mittelalters oder in den „Wilden Westen“ eintauchen<br />
kann. Der Besucher, den er momentan vor dem<br />
Mikrofon hat, kommt euphorisch heraus. In „Westworld“<br />
erlebte er real, wovon er schon immer geträumt hatte: Er<br />
wurde in Schießereien und Prügeleien verwickelt (ohne<br />
dass ihm etwas zustieß, natürlich!) und zeigt sich im<br />
Interview davon absolut begeistert. Auf die Nachfrage<br />
des Interviewers nach der Realitätsnähe des Szenarios<br />
schwärmt er davon, wie absolut echt alles wirke und dass<br />
man kaum glauben könne, dass die Akteure in dem Park<br />
Roboter seien. Der Reporter wendet sich in die Kamera<br />
und fasst zusammen: „The robots at Westworld are there<br />
to serve you and they give you the most unique vacation<br />
experience of your life!“<br />
Im Film TOTAL RECALL sehen wir einen Mann<br />
namens Douglas Quaid (Arnold Schwarzenegger)<br />
in einen Zug steigen. Im Wagen läuft<br />
auf einer Vielzahl von Bildschirmen eine Werbesendung,<br />
die zunehmend sein Interesse<br />
findet: Die Firma „Recall“ verkauft virtuelle Erinnerungen.<br />
Man kann so eine Urlaubsreise haben, die man in<br />
Wirklichkeit nicht gemacht hat. Die Erinnerung daran<br />
bekommt man bei „Recall“ ins eigene Gehirn übertragen<br />
und kann – so das Werbeversprechen – endlich dem<br />
mörderischen, langweiligen Alltag entfliehen und ihn<br />
gegen Abenteuer eintauschen, die man sonst nie hätte<br />
erleben können. „Come to Recall Inc.! For you can buy<br />
the memory of your ideal vacation cheaper, safer and<br />
better than the real thing. So don’t let life pass you by.<br />
Call Recall!“<br />
1. Teil: Freizeit<br />
Phantasie und Technik<br />
Was haben diese drei Sequenzen gemeinsam? Sie zeigen<br />
drei neue Formen von Freizeitgestaltungen, charakteri-
siert durch das Ausleben von Wünschen, Träumen und<br />
Sehnsüchten. WESTWORLD (1973), VIDEOPOLY (1985) und<br />
TOTAL RECALL (1990) setzen jeweils beim Ausbruch aus<br />
dem Alltag und der täglichen Routine an. Dem Phänomen<br />
„Freizeit“ und dem, was Menschen darunter verstehen<br />
und daraus machen, kann man sich auf vielfältige Weise<br />
nähern, z.B. historisch, politisch, psychologisch, kulturell<br />
etc. (vgl. Karst 1987). Eine wichtige Betrachtungsweise<br />
ist sicherlich die wirtschaftliche: Freizeit dient<br />
heute nicht nur der Wiederherstellung der Arbeitskraft.<br />
Die ganze Freizeitindustrie basiert auf der Erkenntnis,<br />
dass sich das Streben von Menschen neben der Regeneration<br />
vor allem auch der Kompensation des Alltags<br />
widmet. Diese Bedürfnisse lassen sich zur Steigerung<br />
eigener Umsätze und Gewinne vielfältig kanalisieren.<br />
Dies zeigen beispielsweise auch die Werbeprospekte von<br />
Reiseveranstaltern, die Angebote von Abenteuer- und<br />
Freizeitparks und ähnliches. Trotz vielfältiger Angebote<br />
bleiben Bedürfnisse jedoch oft unbefriedigt, wie Schulze<br />
herausstellt: „Im Moment der Erfüllung entsteht bereits<br />
die Frage, was denn nun als nächstes kommen soll, so<br />
dass sich Befriedigung gerade deshalb nicht mehr einstellt,<br />
weil die Suche nach Befriedigung zur Gewohnheit<br />
geworden ist“ (1993, S.65). Wünsche, Träume, Sehnsüchte<br />
– wir wollen das haben oder können, was wir<br />
(bisher) nicht haben oder können. Und wir wollen natürlich<br />
das, was andere haben oder können!<br />
Den Ausbruch aus dem Alltag und der gewohnten Realität<br />
finden wir als Motiv nicht nur in utopischen Filmen.<br />
Es gibt viele weitere Beispiele, in denen die Akteure<br />
im Film eine Möglichkeit finden, ihre Realität zu verän-<br />
dern oder zu verlassen. Denken wir beispielsweise an<br />
folgende Szene aus MARY POPPINS (1964):<br />
Der Straßenmaler Bert (Dick van Dyke) hat<br />
einige Bilder auf den Fußweg gezeichnet, als<br />
Mary Poppins (Julie Andrews) mit den beiden<br />
von ihr betreuten Kindern vorbeikommt. Mit<br />
ihrer Hilfe springen sie alle in eines der Bilder hinein<br />
und landen in einer phantastischen Welt: Es ist eine<br />
Welt, nach der man sich sehnen kann, eine Welt, in der<br />
vieles möglich ist, was in Wirklichkeit nicht machbar ist<br />
– eine wahre Wunscherfüllungswelt: Wir besteigen die<br />
Karussellpferde, die ihre Kreisbahn verlassen, und reiten<br />
in die weite Welt.<br />
Wie schön, wenn man einen Straßenmaler hat, der<br />
solch zauberhafte Bilder malen kann und wie schön,<br />
wenn eine hilfreiche Mary Poppins dafür sorgt, dass<br />
man in diese Bilder hineinspringen kann. Der Mut zur<br />
Phantasie öffnet hier die Türen zu neuen Erfahrungen.<br />
Doch ist das ein zeitgemäßer Weg? Um auf dem Weg<br />
der Phantasie in meine Träume einzutauchen und mich<br />
mit meinen Wünschen und Sehnsüchten zu beschäftigen,<br />
muss ich die Chance haben, meine eigenen Träume<br />
zu erkunden. Die heutige Freizeitindustrie zeigt ebenso<br />
wie die anfangs zitierten Werbeutopien, dass eine<br />
andere Entwicklung entgegensteht: Träume, Wünsche<br />
und Sehnsüchte sind ein ökonomisches Gut, welches es<br />
zu gestalten gilt. Medial verbreitete und reproduzierte<br />
Werte und Begehren tragen auch hier zu einer Standardisierung<br />
– und Verarmung – bei. Und sie schaffen einen<br />
Markt. Bereits heute gibt es Modetrends bezüglich der<br />
ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />
Mit Mary Poppins auf der Reise<br />
durch eine gemalte Welt<br />
69
ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />
2 Vielen Dank an Peter König für<br />
das diesbezügliche anregende<br />
Gespräch während des MIRA-<br />
Symposiums.<br />
70<br />
Zwei Duelle mit Gunslinger<br />
Freizeitgestaltung und für viele ist es wichtig, auch in<br />
diesem Bereich „in“ zu sein.<br />
Was also tun mit den so erzeugten und unerfüllten<br />
Wünschen und Begierden? Die Antwort der modernen<br />
Gesellschaft ist klar: Wir finden eine technische Lösung<br />
für dieses Problem. Technik erleichtert uns in vielfältiger<br />
Weise den Arbeitsalltag – wer von uns ist nicht dankbar<br />
für die Erfindung der Waschmaschine? Autos als wahre<br />
Zaubermaschinen beschleunigen uns zu ungeahntem<br />
Tempo. Wir kommen damit nicht nur überall hin, sondern<br />
das Auto selbst wird zur Wohlfühl-Welt. Es ist Transportmittel,<br />
Lebensraum, Schutzschild und Ausdruckssymbol<br />
in einem. „Jede Maschine ist eine Wunschmaschine, eine<br />
Angstmaschine oder beides zusammen“, schreibt Peter<br />
Krieg (1990, S.44) im Begleitbuch zur Videoausgabe<br />
seiner eindrucksvollen dokumentarischen Provokation<br />
MASCHINENTRÄUME (1988).<br />
Der Mensch entwickelt sich selbst durch neue technische<br />
Erfindungen. „(…) und indem er dann die Maschine<br />
perfektioniert, perfektioniert er sich selbst: mit dem<br />
Fernrohr kann er besser sehen, mit dem Auto kann er<br />
schneller oder komfortabler fahren“ (Bammé et al. 1983,<br />
S.17). Liegt es dann vor diesem Hintergrund nicht nahe<br />
darüber nachzudenken, auch die menschliche Phantasie<br />
zu technisieren?<br />
Schon immer haben uns Medien jeglicher Art – Bücher,<br />
Bilder, Filme – bei der Entwicklung unserer Träume und<br />
Sehnsüchte geholfen. Wenn wir ein Buch lesen, projizieren<br />
wir etwas in das Gelesene hinein. Es entsteht etwas<br />
in unserem Kopf. Sind es Bilder, die in dem Text vorgegeben<br />
sind? Sind es Bilder, die von uns selbst kommen?<br />
Sind es wirklich Bilder – oder sind es nur Beschreibungen<br />
oder Ideen von Bildern? 2 Das, was wir an Wünschen<br />
oder Sehnsüchten im Zusammenhang mit Medien erleben<br />
oder aus Medien präsentiert bekommen: sind das unsere<br />
Träume? Oder sind es Träume, zu denen wir gelockt oder<br />
verführt werden? Sind es Einladungen – ähnlich dem,<br />
was auf der Bühne im Theater passiert? Oder sind es<br />
vorgegebene Drehbücher, die wir nur noch abarbeiten<br />
dürfen?<br />
MIT LEIB UND SEELE HINEIN INS ABENTEUER!<br />
Kehren wir nun wieder zurück zu dem mit unzähligen<br />
humanoiden Robotern ausgestatteten Freizeitpark<br />
WESTWORLD. Stürzen wir uns als aktiv handelnde Person<br />
in ein wirkliches Abenteuer: Der „Wilde Westen“ ruft…<br />
In einem originalgetreu wirkenden Saloon<br />
unterhalten sich zwei junge Männer, die erstmals<br />
den Vergnügungspark besuchen. Der<br />
eine beklagt sich gerade bei seinem Freund,<br />
wie seltsam er sich vorkäme, kostümiert in solch einer<br />
Kulisse zu stehen, als er von hinten angerempelt wird.<br />
Der schwarz gekleidete Revolverheld Gunslinger (Yul<br />
Brynner) geht weiter an die Bar, als wäre nichts gewesen.<br />
Der Freund des solcherart Gestoßenen drängt ihn,<br />
sich zu wehren und den Kampf zu suchen – es kommt<br />
zum Duell. Der Schwarzgekleidete stellt sich in Position<br />
und sagt mit sonorer Stimmer: „Your move…“<br />
– beide ziehen, Gunslinger fällt – von Kugeln durchsiebt<br />
– blutüberströmt nach hinten, dann wird sein lebloser<br />
Körper aus dem Saloon herausgeschleppt. Die beiden
Besucher unterhalten sich anschließend an der Bar:<br />
„Pretty realistic, ha?“ – „Listen, are you sure he was a<br />
...?“ – „Oh, you don’t really think you shot anybody, do<br />
you?“ Die erste Verunsicherung im Gesicht des Schützen<br />
löst sich langsam und es legt sich ein vorsichtiges,<br />
erwartungsvolles Lächeln über seine Gesichtszüge, als<br />
er antwortet: „Wow!!“<br />
In einer späteren Einstellung sieht man in den unterirdischen<br />
Serviceräumen des Parks den deaktivierten<br />
Roboter Gunslinger bei der Wartung. Die Gesichtsabdekkung<br />
wird geöffnet, darunter kommen diverse technische<br />
Bauteile zum Vorschein.<br />
Freizeitparks der heutigen Art locken mit Abenteuer,<br />
Thrill und Erfahrungen, die man sonst nicht macht.<br />
Wir werden dabei häufig auch in unserer Körperlichkeit<br />
gefordert – auf Achterbahnen oder in Katapulten. Die<br />
Roboter in WESTWORLD stellen die direkte Fortschreibung<br />
in Form einer Art physischen Wirklichkeitsersatzes<br />
dar. Sie erzeugen ein rundum stimmiges Szenario<br />
und erscheinen als bewegliche Schießbuden, an denen<br />
wir unsere Sensumotorik messen und trainieren können.<br />
Durch ihre Programmierung sollen sie zu perfekten Animateuren<br />
werden – besser als in jedem Club-Urlaub. Der<br />
automatisierte Freizeitpark ist wesentlicher Teil eines<br />
Übergangs der Freizeitparks, wie wir sie heute kennen,<br />
zu einem virtuellen Freizeitpark.<br />
UMWELT ALS SIMULIERTE SINNESTÄUSCHUNG<br />
Bei der Vorstellung eines virtuellen Freizeitparks werden<br />
möglicherweise viele, die die eine oder andere Folge der<br />
Nachfolgeserien und -filme der originalen Star-Trek-Serie<br />
gesehen haben, an das „Holo-Deck“ denken. Diese wunderbare<br />
Einrichtung ist eigentlich ein komplett leerer<br />
Raum an Bord, in dem programmgesteuert künstliche<br />
Realitäten nach Wunsch erzeugt werden können. Als<br />
Besucher kann man diese Simulationen betreten und mit<br />
den simulierten Personen interagieren. Die fortgeschrittenen<br />
technischen Möglichkeiten erlauben dabei auch<br />
die Integration physischen Erlebens: Ich kann mich auf<br />
einen simulierten Stuhl setzen, über eine simulierte<br />
Wurzel stolpern oder die Anstrengung beim Besteigen<br />
eines Berges verspüren. Die Simulationen können selbst<br />
entwickelt oder modifiziert werden, was dem Ausleben<br />
eigener Träume und Phantasien viel Spielraum lässt (und<br />
gleichzeitig den Drehbuchschreibern der Serien einen<br />
unglaublichen Fundus bietet). Greifen wir zur Illustration<br />
einen kleinen Filmausschnitt aus dem Kinofilm STAR<br />
TREK: GENERATIONS (1994) heraus:<br />
Wir sehen ein altes Segelschiff mit Namen<br />
Enterprise auf hoher See. An Bord – in der<br />
Zeit angemessenen Marineuniformen – befindet<br />
sich die Brückenmannschaft des Raumschiffs<br />
U.S.S. Enterprise (The next generation). Anlass<br />
dieses Treffens ist die Feier der Beförderung von Lt.<br />
Cmdr. Worf. Man hat sich eine kleine Besonderheit ausgedacht:<br />
Um sich einen Hut – als symbolisches neues<br />
„Rangabzeichen“ – zu ergattern, soll er auf einer weit<br />
über Bord ragenden Planke balancieren und nach oben<br />
springen, um den Hut zu greifen. Vor dem Versuch hört<br />
man den ersten Offizier Riker zu Captain Picard sagen:<br />
„Das schafft er nie! Hat noch keiner geschafft!“ – Nach-<br />
ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />
„Computer: Entferne die Planke!“<br />
71
ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />
72<br />
Der „Woozy“-Helm im Test<br />
dem Worf mitsamt dem Hut wieder sicher auf der Planke<br />
gelandet ist, merkt Picard an, man solle nie einen Klingonen<br />
unterschätzen. Daraufhin gibt Riker das Kommando:<br />
„Computer! Entferne die Planke!“, woraufhin<br />
sich diese in Nichts auflöst und der verblüfft dreinblikkende<br />
Worf unter dem Gelächter der ganzen Mannschaft<br />
senkrecht nach unten ins Wasser stürzt. Picards Rüge an<br />
seinen ersten Offizier: „Das heißt ‚Zieht die Planke ein!’,<br />
nicht ‚Entferne die Planke…’!“<br />
DIE SINNE SIND DIE FENSTER ZUR WELT<br />
Ganzkörperliche Simulationen wie das beschriebene<br />
Holo-Deck sind nur eine Utopie zur Wunscherfüllung.<br />
Eine andere Idee – in leicht abgewandelten Formen in<br />
vielen technischen Utopien zu finden – ist die direkte<br />
Stimulation der Sinneswahrnehmung. Hierzu – ausgewählt<br />
aus der Fülle möglicher Beispiele – als Beispiel<br />
eine kurze Sequenz aus dem phantastischen Film TOYS<br />
(1992), in welchem der Fabrikerbe Leslie Zevo (Robin<br />
Williams) den Missbrauch der Spielzeugfabrik seines<br />
Vaters durch das Militär verhindern will.<br />
Leslie Zevo betätigt sich als Spieleerfinder.<br />
Er hat ein neues Gerät entwickelt, welches<br />
Bilder, Klänge und Gerüche direkt auf die Sinnesorgane<br />
überträgt. Seine Schwester Alsatia<br />
(Joan Cusack) testet das Gerät – man sieht sie mit einem<br />
eigentümlichen, helmähnlichen Gerät auf dem Kopf und<br />
einer Schlauchleitung zur Nase herumschwanken und -<br />
wackeln. Sie durchlebt eine virtuelle Wildwasserfahrt,<br />
es macht ihr augenscheinlich riesigen Spaß. Auf die<br />
anschließende Frage ihres Bruders, wie sie sich fühle,<br />
antwortet sie: „Woozy!“ – Sein Kommentar: „Oh, that’s a<br />
great name: The Woozy-Helmet!“<br />
Der Computerwissenschaftler Ray Kurzweil prognostiziert<br />
in seinem 1999 verfassten Bestseller „Homo<br />
S@apiens“ für das Jahr 2019, dass diverse Virtual-Reality-Gerätschaften<br />
sowie das „allumfassende taktile<br />
Environment“ (2001, S.319) in guter Qualität überall zur<br />
Verfügung ständen und sowohl zu Kommunikations- als<br />
auch zu Unterhaltungszwecken genutzt werden. zehn<br />
Jahre später, 2029, sollen dann brauchbare Zugänge zum<br />
menschlichen Gehirn mit hoher Bandbreite sowie eine<br />
Vielzahl neuronaler Implantate zur Verbesserung von<br />
Wahrnehmung und Gedächtnis zur Verfügung stehen.<br />
EMPFUNDENE VIRTUALITÄT ...<br />
Gehen wir in diesem Sinne von der direkten Stimulation<br />
der Sinnesorgane noch einen Schritt weiter direkt<br />
zum Gehirn. In BRAINSTORM (1983) wird eine Apparatur<br />
beschrieben, die in der Lage ist, über Ableitung von<br />
Hirnströmen die Erlebnisse von Menschen – Wahrnehmungen,<br />
Emotionen und physische Reaktionen – systematisch<br />
aufzuzeichnen und später anderen Personen zu<br />
übertragen, so dass diese sie ganzheitlich nacherleben<br />
können.<br />
Eine Gruppe potentieller Interessenten<br />
bekommt das Gerät vorgeführt – sie sitzen<br />
verkabelt gemeinsam in einem Raum. Ihre<br />
Augen sind geöffnet, doch ihr Blick geht ins<br />
Leere. Die Übertragung überlagert die echte Umgebung.
Sie fahren Achterbahn, sind im Eiskanal, surfen, fliegen<br />
zwischen Wolkenkratzern, im Grand Canyon und über die<br />
Niagara-Fälle. Sie zeigen leichte körperliche Reaktionen<br />
– hier ein Lächeln, dort bewegen sich die Körper im<br />
Gleichtakt passend zu den empfundenen Bewegungen.<br />
Doch was unterscheidet eigentlich die in TOYS oder<br />
BRAINSTORM skizzierten Möglichkeiten der Freizeitgestaltung<br />
vom rezeptiven Umgang mit Second-Hand-<br />
Abenteuern in Film und Fernsehen, wie wir sie heute<br />
kennen? Zwar wird postuliert, dass die sensorische oder<br />
cerebrale Stimulation die heute meist bestehenden<br />
Begrenzungen auf den visuellen und auditiven Kanal 3<br />
durchbrechen kann, doch ist dies wirklich ein zentraler<br />
qualitativer Unterschied? Hier wie dort haben die Empfänger<br />
keine eigenen Handlungsmöglichkeiten – sie sind<br />
passive Rezipienten eines vorgefertigten Abenteuers.<br />
Anders sieht es im Holo-Deck oder im Roboter-Freizeitpark<br />
aus, wo eigene Aktivität und Interaktionen nicht<br />
nur möglich, sondern für den Verlauf des Freizeitabenteuers<br />
notwendig sind. Doch auch dort wird es – ebenso<br />
wie bei den heutigen Computerspielen – Grenzen in den<br />
Handlungsspielräumen geben: die Rigidität der Interaktionsmöglichkeiten<br />
ist dabei sowohl von der Komplexität<br />
der zugrunde liegenden Modelle als auch von der Güte<br />
der zugrunde liegenden Programmierung abhängig.<br />
Die bislang genannten Ansätze und auch die einfache<br />
Rezeption von Filmen haben einen wichtigen<br />
Aspekt gemeinsam: Die Nutzerinnen und Nutzer erleben<br />
die Inhalte in einem bewussten Informationsverarbeitungsprozess.<br />
Die von verschiedenen Sinnesorganen<br />
erfassten Wahrnehmungseindrücke (bei BRAINSTORM<br />
ersetzt durch direkte cerebrale Stimulation) werden vor<br />
dem Hintergrund eigener Erinnerungen und Erfahrungen<br />
bewertet und verarbeitet. Aufgrund unterschiedlicher<br />
Vorerfahrungen wird dies bei jedem Menschen zu unterschiedlichem<br />
Erleben und Erinnern des so vermittelten<br />
Geschehens führen.<br />
Gleichzeitig ist diese Verarbeitung der realen, stimulierten<br />
oder dem Gehirn vorgegaukelten Sinneseindrücke<br />
relevant in Bezug auf die Frage einer Doppelperspektive:<br />
4 Im Kino kann ich mich sowohl mit Protagonisten<br />
im Film identifizieren und erlebe mich doch zugleich<br />
auch als Zuschauer im Kinosaal. Es scheint eine weit verbreitete<br />
Sehnsucht zu geben, diese Doppelperspektive<br />
verlassen und voll und ganz in das Medium eintauchen<br />
zu können. Dies gilt zum einen für die Rezipienten, zum<br />
anderen scheint das aber auch ein wesentlicher Antrieb<br />
für Entwickler im Virtual-Reality-Bereich zu sein: Das<br />
Erleben künstlicher Wirklichkeiten soll immer authentischer<br />
werden – und dies gilt gleichermaßen für die Entwicklung<br />
militärischer Flugsimulatoren wie für einfache<br />
Unterhaltungsanwendungen zum Heimgebrauch. 5<br />
Die Sehnsucht nach dem Aufheben der Grenze zwischen<br />
der eigenen Person und dem Erlebten würde – konsequent<br />
weitergedacht – eine Vereinigung des Ich mit dem<br />
Außen (von der anderen Person bis zur Welt an sich)<br />
bedeuten, wie sie beispielsweise von William Gibson<br />
schon 1984 in Neuromancer beschrieben wurde. 6 Paradigmatisch<br />
wurde diese Vereinigung 1992 im Film THE<br />
LAWNMOWER MAN (dt.: Der Rasenmähermann) in einer<br />
für die damalige Zeit visuell beeindruckenden Sequenz<br />
in Szene gesetzt: In einem Cyberspace verschmelzen<br />
Odorama: Wird<br />
im Film die Zahl<br />
gezeigt, rubbeln<br />
die Zuschauer<br />
das Duftfeld auf<br />
der Karte frei.<br />
3 Natürlich will ich die vielen witzigen bis ambitionierten<br />
Versuche (beispielsweise mit „Odorama“-Dufteintrittskarten<br />
zum Freirubbeln wie bei John Water’s<br />
POLYESTER von 1981 oder die auf physischer Stimulation<br />
basierenden Motion-Ride-Kinos) hier keinesfalls<br />
unterschlagen, doch handelt es sich dabei immer noch<br />
um Ausnahmen oder Experimente und keine breiten<br />
Regelangebote.<br />
4 Ich danke Hans-Jürgen Wulff für seine diesbezüglichen<br />
Diskussionsbeiträge und Anmerkungen im MIRA-<br />
Symposium.<br />
5 Eine spannende Ausnahme gibt es: Bei den immer<br />
wieder aufflammenden gesellschaftlichen Diskussionen<br />
über die Frage der Wirkungen von „Ego-Shootern“<br />
und anderen gewalthaltigen Computerspielen fällt<br />
auf, dass die Spieler hinsichtlich postulierter negativer<br />
Auswirkungen für sich gerade das Vorhandensein<br />
einer „Doppelperspektive“ reklamieren: Sie wären<br />
sich jederzeit der Spielsituation bewusst und eine<br />
Vermischung von Spiel und Realität sei damit unmöglich,<br />
lautet ein oft vorgetragenes Argument (vgl. auch<br />
Streibl 1996).<br />
6 Im Rahmen des MIRA-Symposiums fand eine beeindruckende<br />
Aufführung des von Radio <strong>Bremen</strong> produzierten<br />
Hörspiels „Neuromancer“ (Gibson 2003) in<br />
einem dunklen Kinosaal statt.<br />
73
ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />
Technisches Equipment und verschmelzendes Erleben im Cyberspace<br />
74<br />
die virtuellen Repräsentationen eines Mannes und einer<br />
Frau miteinander – Ausdruck der Sehnsucht nach der<br />
ultimativen körperlichen Vereinigung? Es ist spannend,<br />
dass dieser scheinbar vollständige Vereinigungsakt erst<br />
durch Weglassen bzw. virtuelles Verlassen der realen<br />
Körper möglich wird (vgl. auch Laszig 1998). Doch noch<br />
eine andere „Verschmelzung“ ist zu beobachten. Gezeigt<br />
wird die unbegrenzte Macht im Cyberspace: Als eigener<br />
Schöpfer kann er die Welt dort frei und autonom<br />
gestalten. Und so liegt darin gleichzeitig der Nährboden<br />
für Dominanz, Gewalt und Missbrauch. Die Vereinigung<br />
mit dem Anderen wird abgelöst von dem Wunsch nach<br />
Beherrschung und Unterwerfung des Anderen.<br />
Doch kehren wir von derartigen Allmachtsphantasien<br />
nun wieder zurück zur Frage, ob und auf welche Weise die<br />
Freizeitgestaltung technisch optimiert werden könnte.<br />
... ERINNERTE REALITÄT<br />
Die künstliche Stimulation der Sinnesorgane oder des<br />
Gehirns führt zu einem Erleben der vermittelten Inhalte<br />
im Augenblick der Induktion. Gleichzeitig bleibt jedoch<br />
das Bewusstsein, dass die Erfahrungen sekundär vermittelt<br />
sind. Aber wenn wir unsere Wünsche und Sehnsüchte<br />
wirklich ausleben wollen – möchten wir da gleichzeitig<br />
noch wissen, dass wir uns selbst betrogen und die Erlebnisse<br />
oder Erinnerungen fremder Menschen nur kopiert<br />
haben? Wenn man das ernst meint, muss das Ziel sein,<br />
die Doppelperspektive, die eine Erinnerung als falsche<br />
und gekaufte Erlebnisse abqualifizieren könnte, herauszunehmen.<br />
Was wäre also, wenn man nicht nur an fremden Wahrnehmungen<br />
und Erinnerungen teilhaben könnte, sondern<br />
diese direkt so übertragen könnte, dass sie Teil<br />
der eigenen Erinnerungen werden? Basierend auf einer<br />
Kurzgeschichte von Philip K. Dick zeigt der Film TOTAL<br />
RECALL, wie das ablaufen könnte:<br />
Douglas Quaid interessiert sich für den Kauf<br />
einer Erinnerung an einen Marsaufenthalt. Er<br />
besucht Recall Inc. und ein Firmenvertreter<br />
informiert ihn über Preise und Konditionen:<br />
„First of all, Doug, let me tell you: when you go Recall,<br />
you get nothing but first-class memories. (...)“ – „But<br />
how real does it seem?“ – „As real as any memory in your<br />
head!“ – „Come on, don’t bullshit me...“ – „I’m telling<br />
you, Doug, your brain will not know the difference! And<br />
that’s guaranteed – or your money back!“ – Quaid bucht<br />
daraufhin zwei Wochen Mars. Und er entscheidet sich<br />
noch für ein Zusatzmodul, welches die Erinnerung mit<br />
einer Identität als Agent in geheimer Mission versieht.<br />
Dem ganzen liegt offenkundig ein unglaublich mechanistisches<br />
Menschenbild zugrunde. Schon bei BRAIN-<br />
STORM erscheint es möglich, das Gehirn vollständig von<br />
den natürlichen Außenreizen abzuschotten, so dass eine<br />
Übertragung der gespeicherten Sequenzen ohne störende<br />
Interferenzen durch die Sensorik des Körpers möglich<br />
ist. TOTAL RECALL geht noch einen Schritt weiter. Erinnerungen<br />
auf Bestellung werden quasi als vorgefertigte<br />
Module in das Gedächtnis übertragen. Die Phase der<br />
Verarbeitung realer oder medial vermittelter Sinnesreize<br />
entfällt. Da das menschliche Gedächtnis jedoch nicht
auf Speicherblocks basiert, die nach Belieben einfach<br />
hinzugefügt werden können, sondern vor allem von<br />
einer Vernetzung neuer Erfahrungen und Erlebnisse mit<br />
altem und vertrautem Wissen beruht, wären statt neuer<br />
Urlaubserinnerungen wohl eher psychische Probleme zu<br />
erwarten, erst recht, wenn meine gekaufte Urlaubserinnerung<br />
mir eine Identität vorgaukelt, die nichts mit mir<br />
zu tun hat. Gerade der Wegfall der Doppelperspektive<br />
würde hier vermutlich zu einem großen Problem führen:<br />
Ich identifiziere mich nicht – zu Unterhaltungszwecken<br />
– zeitweise mit jemand anderem (und bin mir dessen<br />
bewusst und kann jederzeit wieder herausspringen),<br />
sondern ich entwickle künstlich Ansätze zu einer multiple<br />
Persönlichkeit.<br />
ZU RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN FRAGEN SIE IHREN INFORMATI-<br />
KER ODER PSYCHOLOGEN …<br />
Also Suche nach der Erfüllung von Wünschen, Träumen,<br />
Sehnsüchten zum einen, zum anderen das Streben nach<br />
Selbstverwirklichung und Allmacht – doch was passiert,<br />
wenn etwas schief geht? Was geschieht, wenn etwas<br />
nicht so funktioniert, wie es funktionieren sollte? Viele<br />
der genannten Filme thematisieren die Unsicherheit<br />
und Fehleranfälligkeit der Technik oder deren möglichen<br />
Missbrauch. Sie befassen sich mit vorher nicht bedachten<br />
Rahmenbedingungen und unerwünschten Nebeneffekten<br />
beim Einsatz.<br />
Im Film WESTWORLD sehen wir erneut ein<br />
Duell derselben zwei Besucher des Freizeitparks<br />
mit dem mittlerweile reparierten Guns-<br />
linger. Die beiden kommen eine Straße entlang gegangen<br />
und erblicken den schwarzgekleideten Revolverhelden.<br />
Fast schon genervt („Come on, not now! Not you again!<br />
It’s too early…“) stellt sich einer von beiden zum Kampf<br />
– und wird von Gunslingers Kugel getroffen. Er blickt<br />
ungläubig auf das hervorquellende Blut und ruft seinem<br />
Begleiter zu: „I’m shot!“, bevor eine zweite Kugel ihn<br />
endgültig fällt. Sein Begleiter kann und will es erst gar<br />
nicht glauben, doch als er das vorher Undenkbare realisiert,<br />
flieht er vor dem herannahenden Gunslinger. Die<br />
Techniker und Betreiber des Parks haben mit Entsetzen<br />
das Geschehen an ihren Monitoren verfolgt und versuchen<br />
den Park zu deaktivieren – doch vergeblich: „We<br />
have no control over the robots at all...“<br />
In TOTAL RECALL begleiten wir Quaid, der<br />
seine virtuelle Marstour gebucht hat, in das<br />
Labor, wo ihm die entsprechende Erinnerung<br />
künstlich induziert werden soll. Er legt sich<br />
in die Maschine, der Prozess beginnt. Doch plötzlich<br />
kommt ein Notruf aus dem Labor. Der herbeieilende<br />
Recall-Manager stellt fest, dass der Mann sich panisch<br />
zu befreien versucht. Quaid wehrt sich nach Kräften<br />
handgreiflich gegen die Labortechniker, die ihn nur mit<br />
einer großen Dosis Beruhigungsmittel bändigen können<br />
– offenkundig ist bei der Übertragung etwas schief<br />
gegangen…<br />
In BRAINSTORM erleidet eine Frau einen<br />
Herzinfarkt. Da sie an das Aufzeichnungsgerät<br />
angeschlossen ist, wird ihr Sterben aufge-<br />
ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />
Wenn die Übertragung einer Erinnerung nicht ganz problemlos ist...<br />
75
ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />
7 An dieser Stelle sei die Anmerkung<br />
erlaubt, dass in BRAINSTORM, in THE<br />
LAWNMOWER MAN und vielen weiteren<br />
Filmen das militärische Interesse an<br />
neuen technischen Entwicklungen herausgestellt<br />
wird. Auch in Wirklichkeit<br />
war über lange Zeit das Militär wesentlicher<br />
Impuls- und Geldgeber für Entwicklungen<br />
in der Computertechnik. Zwar<br />
stehen mittlerweile zivile Anforderungen<br />
und Anwendungen deutlicher im Vordergrund,<br />
doch ist bis heute ein hohes<br />
Interesse des Militärs an neuen Technologien<br />
erkennbar (vgl. u.a. Bickenbach,<br />
Keil-Slawik, Löwe, Wilhelm 1985; Eurich<br />
1991; Streibl 2003).<br />
76<br />
zeichnet. Als später jemand anderes diese Aufzeichnung<br />
eingespielt bekommt, stirbt er ebenfalls. 7<br />
Zugegeben, die hier als Beispiele ausgewählten<br />
„Nebenwirkungen“ waren (aus dramaturgischen Gründen)<br />
recht drastischer Art. Künstliche Wirklichkeiten<br />
– egal ob sie eher klassischen Medien entstammen oder<br />
zum Bereich der sogenannten „Virtual Reality“ gezählt<br />
werden können – können sich jedoch auch etwas subtiler<br />
auswirken. Sie können Einfluss auf unsere Sicht von<br />
der Welt haben. Und davon soll im zweiten Teil dieses<br />
Beitrages die Rede sein.<br />
2. Teil: Weltbilder<br />
In seiner kurzen Geschichte „Der Blick vom Turm“ erzählt<br />
Günter Anders die Geschichte einer Mutter, die von<br />
einem hohen Turm aus ganz unten ihren Sohn erspäht<br />
– er wirkt wie ein Spielzeug, ist aber doch eindeutig<br />
erkennbar an der Farbe des Mantels. Sie sieht, wie diese<br />
kleine Figur von einem ebenfalls wie ein Spielzeug wirkenden<br />
Lastwagen überfahren wird. Als Menschen sie<br />
vom Turm hinabgeleiten wollen, ruft sie, sie wolle nicht<br />
hinunter gehen: „Unten wäre ich verzweifelt!“ (Anders<br />
1984, S.7).<br />
Wie sehen wir die Welt, wie nehmen wir unsere Umwelt<br />
wahr?<br />
IM FOKUS DER KAMERA<br />
Truman ahnt nicht, dass sein ganzes Leben<br />
nichts anderes ist als eine gigantische Fernsehsendung,<br />
DIE TRUMAN SHOW (1998), die<br />
weltweit Millionen von Zuschauern vor den Schirm lockt.<br />
Als er eines Morgens wie immer zur Arbeit geht, hört<br />
er plötzlich ein pfeifendes Geräusch. Aus dem blauen<br />
Himmel kracht neben ihm ein Scheinwerfer auf den<br />
Boden. Truman springt auf die Seite und ist irritiert.<br />
(…)<br />
Etwas später sehen wir Truman im Auto sitzen und<br />
durch die Stadt fahren. Er hört Radio. Plötzlich kommt<br />
es zu einer Störung, die Frequenz verschiebt sich und im<br />
Autoradio werden Regieanweisungen für die Fernsehsendung<br />
empfangen: Wir hören – gemeinsam mit Truman –<br />
die Beschreibung seiner Route in Echtzeit. Immer wenn<br />
er abbiegt, werden die Statisten in der entsprechenden<br />
Straße auf diese Weise vorgewarnt. Truman ist irritiert.<br />
Als die Regie den Fehler bemerkt, wird umgehend die<br />
Frequenz gewechselt.<br />
Wie wirklich ist Trumans Wirklichkeit? Es handelt<br />
sich um ein künstlich gebautes Szenario – alle wissen<br />
davon, nur Truman nicht. Der voyeuristische Blick auf<br />
Menschen im Alltag oder in Ausnahmesituationen und<br />
die diesbezügliche mediale Inszenierung sind filmisch<br />
immer wieder eindrucksvoll thematisiert worden. Einige<br />
Beispiele:<br />
LA DECIMA VITTIMA (1965, dt.: Das zehnte Opfer)<br />
zeigt uns eine tödliche Menschenjagd vor laufender<br />
Kamera, während die Regie versucht, Werbung in dem<br />
dramatischen Geschehen zu platzieren.<br />
Ein ähnliches Szenario – wie „Das zehnte Opfer“<br />
basiert es auf einer Kurzgeschichte von Robert Sheckley<br />
– bildete auch den Hintergrund einer Aufsehen erregenden<br />
deutschen Fernsehproduktion nach einem Drehbuch
von Wolfgang Menge. DAS MILLIONENSPIEL (1970) ist<br />
eine Show, in der ein Kandidat für die Dauer von einer<br />
Woche einer Bande professioneller Killer entkommen<br />
muss, um zu gewinnen. 8 Flucht und Jagd des Kandidaten<br />
werden von 20 Kamerateams gefilmt und von Showmaster<br />
Thilo Uhlenhorst (Dieter Thomas Heck) im Fernsehen<br />
präsentiert. Immer wieder werden die aktuellen<br />
Einschaltquoten durchgegeben. Angesiedelt wurde diese<br />
bissige Mediensatire damals zehn Jahre in der Zukunft,<br />
also im Jahr 1980. Dass das Szenario nicht allzu futuristisch<br />
ist, belegten jedoch die zahlreichen Zuschauerreaktionen<br />
bei der Erstausstrahlung im Oktober 1970:<br />
Tausende Zuschauer waren von der Echtheit der Darstellung<br />
überzeugt und protestierten in Anrufen gegen die<br />
Brutalität des Spiels. Und gleichzeitig bewarben sich 25<br />
Zuschauer schriftlich beim Sender als Kandidaten für die<br />
Show (WDR 2002).<br />
In LA MORT EN DIRECT (1980, dt.: Der gekaufte Tod)<br />
spielt Romy Schneider eine Frau, der gesagt wurde, dass<br />
sie nicht mehr lange zu leben hat. Ein Mann (Harvey<br />
Keitel), dem eine Kamera versteckt ins Auge implantiert<br />
wurde, erhält die Aufgabe, ihr Sterben zu dokumentieren.<br />
Gemeinsam ist den genannten Filmen die Vermischung<br />
von scheinbarer Wirklichkeit und medialer Inszenierung.<br />
Angesichts der derzeitigen Entwicklungen hinsichtlich<br />
Reality-Shows und Pseudo-Dokumentationen im Fernsehen<br />
scheinen die Szenarien dieser Filme heute nicht<br />
mehr so weit hergeholt.<br />
„Der große positive Gedanke der Dystopien von Orwells<br />
‚Big Brother’ und seinen zahllosen Varianten war es, dass<br />
die Subjekte des kontrollierenden, sadistischen Voyeurismus<br />
‚die anderen’ seien, eine Verschwörung der Unmenschen,<br />
ein wahnsinniger Zukunftsstaat. In Filmen wie LA<br />
MORT EN DIRECT beginnen wir immerhin zu ahnen, dass<br />
diese Ordnung von Subjekten und Objekten der allfälligen<br />
Beobachtung nicht aufrecht zu erhalten ist. Der Durchschnittsmensch<br />
selber ist es, der seinesgleichen ausspionieren,<br />
überwachen, beobachten will, vom Anfang bis zum<br />
Ende; Big Brother ist Jedermann“ (Seeßlen & Jung 2003,<br />
S.726).<br />
WIE WIRKLICH IST DIE WIRKLICHKEIT?<br />
Es ist reizvoll, bei interaktiven Spielen nicht nur die<br />
Aktivität des Spielens zu betrachten, sondern sich<br />
einmal genauer mit den jeweils speziell geschaffenen,<br />
künstlichen Spielwelten auseinanderzusetzen. Gleiches<br />
gilt für Simulationsprogramme und ihre Parameter.<br />
Sowohl Computerspiele als auch simulierte Welten sind<br />
dankbare Themen für Filme. Auch hier seien kurz einige<br />
Beispiele genannt:<br />
Im Disney-Film TRON (1982) legt sich ein Entwickler<br />
von Computerspielen mit seinem ehemaligen Chef<br />
und dessen „Master Control Program“ an. Im Zuge der<br />
Streitigkeiten wird er digitalisiert und in die Welt der<br />
Programme hineingezogen. Er landet auf dem „Spieleraster“.<br />
Programme leben und agieren dort als Personen.<br />
Sie haben eine eigene Religion – sie glauben an ihren<br />
„User“.<br />
DER ZAUBERKASTEN (1990) ist eine skurrile deutsche<br />
Produktion, die mehrere mediale Ebenen reizvoll und<br />
geschickt miteinander verknüpft: Micha, ein zehnjähri-<br />
ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />
8 Dieselbe Kurzgeschichte war übrigens<br />
auch Vorlage für den französischen Film<br />
LE PRIX DU DANGER von 1983. Ein von<br />
einer Menschenjagd als Spielshow begeistertes<br />
Medienpublikum findet sich ferner<br />
1987 auch in RUNNING MAN.<br />
77
Douglas Hall entdeckt das Ende der<br />
(simulierten) Welt<br />
78<br />
Allegra stöpselt das Spiel „eXistenZ“ am<br />
Bio-Port in Teds Rücken ein.<br />
Neo erwacht in der Wirklichkeit und sieht<br />
die Nährbottiche<br />
ges computerbegeistertes Mädchen, programmiert aus<br />
Langeweile ihren Nachbarn, den Buchhalter Schroeder<br />
in ein Computerspiel und eine Fernsehsendung hinein.<br />
Fortan vermischen sich die drei Ebenen Realität, Fernsehkrimi<br />
und Computerspiel und beeinflussen sich<br />
gegenseitig.<br />
In EXISTENZ (1999) von David Cronenberg vermischen<br />
sich im Zusammenhang mit einem interaktiven Spiel die<br />
Realitätsebenen immer mehr.<br />
Eine komplexe Gesellschaftssimulation ist Gegenstand<br />
in WELT AM DRAHT (1973) von Rainer Werner Fassbinder<br />
sowie in dem von Roland Emmerich produzierten Remake<br />
THE THIRTEENTH FLOOR (1999). Die Filme basieren auf<br />
dem Roman „Simulacron-3“ des amerikanischen Autors<br />
Daniel F. Galouye (1965). Von zentraler Bedeutung im<br />
Zusammenhang mit einem Mordfall scheint eine zu Forschungszwecken<br />
in Computern erschaffene künstliche<br />
Welt zu sein. Es handelt sich um eine Gesellschaftssimulation<br />
bestehend aus verschiedenen Individuen, in die<br />
sich die Entwicklerinnen und Entwickler mittels technischer<br />
Hilfsmittel zeitweise hineinbegeben können,<br />
um die von ihnen geschaffene Welt zu erforschen. Doch<br />
wie sich zeigt gibt es auch einen Weg in die andere<br />
Richtung. Als einer der simulierten Charaktere erkennt,<br />
dass er in einer Simulation lebt und einen der Entwickler<br />
stellen kann, fordert er ihn auf, ihm die Realität zu<br />
zeigen. Im weiteren Verlauf zeigt sich, dass die Welt der<br />
Entwickler ebenfalls eine Simulation ist, geschaffen von<br />
einer anderen Gesellschaft. In mancherlei Hinsicht kann<br />
man in dem vor 40 Jahren geschriebenen Roman eine<br />
Übertragung von Platons Höhlengleichnis in die Welt der
Computer und Informationstechnik sehen, lange bevor<br />
von „Virtual Reality“ die Rede war.<br />
Die Idee der Welt als künstlich geschaffene Simulation<br />
wurde mit großem Publikumserfolg 1999 in THE MATRIX<br />
ein weiteres Mal aufgegriffen. Maschinen gaukeln hier<br />
den von ihnen in Nährbottichen gehaltenen Menschen<br />
eine künstliche Realität vor. Der Hacker Neo (Keanu<br />
Reeves) muss sich der Frage stellen, ob er die Gelegenheit<br />
ergreifen will, die wahre Natur seiner Wirklichkeit<br />
zu erkennen und zu durchdringen. Was ist besser: die<br />
bittere Wahrheit der Realität oder die ablenkende Illusion?<br />
Immer wieder wird eine zentrale Frage aufgeworfen:<br />
Was ist eigentlich, wenn wir gar nicht wissen, dass wir in<br />
einer Simulation, in einer künstlichen Welt leben? Und<br />
was macht es mit uns, wenn wir wissen, dass unsere<br />
Wirklichkeit nicht die wirkliche Wirklichkeit ist? Zumindest<br />
nicht die einzig mögliche …<br />
Paul Watzlawick formulierte im Rahmen eines<br />
Gesprächs über den Konstruktivismus einmal: „Die Wissenschaft<br />
konstruiert Weltbilder, die eine Periode lang das<br />
Denken der Menschen unerhört befruchten. Dann kommt<br />
es zu einer Phase der Erschöpfung ihrer Möglichkeiten, und<br />
das hat das Entstehen eines neuen Paradigmas zur Folge“<br />
(Watzlawick & Kreuzer 1988, S.38).<br />
Wenn wir die Frage nach der Realität unserer Wirklichkeit<br />
noch weiter abstrahieren, führt sie uns dazu, darüber<br />
nachzudenken, was der Sinn unserer Existenz und<br />
unseres Handelns ist. Eine allgemeingültige Antwort auf<br />
diese Frage werde ich hier verständlicherweise schuldig<br />
bleiben. Und die individuelle Antwort mag jede Lese-<br />
Neo kann Kugeln ausbremsen<br />
ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />
79
ICH BIN MEINE EIGENE WELT rin und jeder Leser in der eigenen Welt für sich selbst<br />
finden.<br />
80<br />
Am Ende von Trumans Welt<br />
„Good afternoon, good evening, and good night!“<br />
Suchen wir jetzt den Ausgang.<br />
AUSGANG<br />
In der wirklichen Realität (?) angekommen fragt Douglas<br />
Hall in THE THIRTEENTH FLOOR: „Wo bin ich?“.<br />
In EXISTENZ lautet am Ende die offene Frage:<br />
„Sind wir noch im Spiel?“<br />
Truman ist auf ein Schiff gestiegen und segelt<br />
darauf immer weiter in Richtung Horizont<br />
– solange, bis sich der Bug des Schiffes in eine Wand<br />
bohrt. Die bemalte Kuppel ist die Begrenzung seiner<br />
Welt, die Himmelsschale der TRUMAN SHOW.<br />
Im Holo-Deck des Raumschiffes Enterprise ruft<br />
Captain Picard: „Ausgang!“ – Inmitten der Welt,<br />
in der er sich befindet, mitten auf dem Deck eines über<br />
das Meer fahrenden alten Segelschiffes, bildet sich<br />
ein Tor, auf dessen anderer Seite man den sterilen Flur<br />
des Raumschiffes erkennen kann. Er geht durch das Tor<br />
hinaus in seine andere Welt.<br />
Truman findet in der seine Welt begrenzenden<br />
Wand eine Tür mit der Aufschrift „Exit“. Er spricht<br />
noch kurz mit seinem „Schöpfer“, dem Regisseur der<br />
weltweit übertragenen TRUMAN SHOW, dessen Stimme<br />
vom Regieraum im Zenit der Himmelskuppel zu ihm herunterschallt.<br />
Er verabschiedet sich von ihm – und der<br />
ganzen Welt der Zuschauer – mit den Worten: „In case<br />
I don‘t see ya: good afternoon, good evening, and good<br />
night!“ und geht hinaus.<br />
Und schlussendlich:<br />
Der Gärtner Chance (Peter Sellers), ein Mann in den<br />
besten Jahren, muss in dem Film BEING THERE (1979)<br />
das Haus, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat, in<br />
dem er den Garten gepflegt und ansonsten ferngesehen<br />
hat, verlassen. Der alte Mann, dem das Haus gehörte, ist<br />
gestorben. Chance steht vor der Tür, er öffnet sie – und<br />
das erste Mal in seinem Leben geht er hinaus in die Welt.<br />
Er trägt eine Fernbedienung mit sich.<br />
Chance vor der Tür
Verzeichnis der zitierten Filme<br />
Being There (dt.: Willkommen, Mr. Chance): USA/Großbritannien/<br />
Deutschland/Japan 1979; R: Hal Ashby<br />
Brainstorm (dt.: Projekt Brainstorm): USA 1983; R: Douglas Trumbull<br />
La decima vittima (dt.: Das zehnte Opfer: Italien/Frankreich 1965;<br />
R: Elio Petri<br />
eXistenZ (dt.: eXistenZ): Kanada/Großbritannien/Frankreich 1999;<br />
R: David Cronenberg<br />
The Lawnmower Man (dt.: Der Rasenmähermann): Großbritannien/<br />
USA/Japan 1992; R: Brett Leonard<br />
Mary Poppins (dt.: Mary Poppins): USA 1964; R: Robert Stevenson<br />
Maschinenträume: Deutschland 1988; R: Peter Krieg<br />
The Matrix (dt.: Matrix): USA 1999; R: Andy Wachowski, Larry<br />
Wachowski<br />
Das Millionenspiel: Deutschland 1970; R: Tom Toelle<br />
La mort en direct (dt.: Der gekaufte Tod): Frankreich/Deutschland/<br />
Großbritannien 1980; R: Bertrand Tavernier<br />
Polyester (dt.: Polyester): USA 1981; R: John Waters<br />
Le prix du danger (dt.: Kopfjagd – Preis der Angst): Frankreich/<br />
Jugoslawien 1983 ; R: Yves Boisset<br />
The Running Man (dt.: Running Man): USA 1987; R: Paul Michael<br />
Glaser<br />
Star Trek: Generations: USA 1994; R: David Carson<br />
The Thirteenth Floor (dt: The 13th Floor): D/USA 1999; R: Josef<br />
Rusnak<br />
Total Recall (dt.: Total Recall): USA 1990; R: Paul Verhoeven<br />
Toys (dt.: Toys): USA 1992; R: Barry Levinson<br />
Tron (dt.: Tron): USA/Taiwan 1982; R: Steven Lisberger<br />
The Truman Show (dt.: Die Truman Show): USA 1998; R: Peter Weir<br />
Videopoly oder Duponts Verschwinden: Schweiz 1985; R: Walter<br />
Deuber, Peter Stierlin<br />
Welt am Draht: D 1973; R: Rainer Werner Fassbinder<br />
Westworld (dt.: Westworld): USA 1973; R: Michael Crichton<br />
Der Zauberkasten: Deutschland 1990; R: Peter Henning<br />
81
Ich bin meine eigene Welt<br />
82<br />
Literatur<br />
Anders, G. (1984): Der Blick vom Turm. 2. Aufl. München: C.H.Beck.<br />
Bammé, A.; Feuerstein, G.; Genth, R.; Holling, E.; Kahle, R.; Kempin,<br />
P. (1983): Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen. Grundrisse<br />
einer sozialen Beziehung. Reinbek: Rowohlt.<br />
Bickenbach, J.; Keil-Slawik, R.; Löwe, M.; Wilhelm, R. (Hrsg.)<br />
(1985): Militarisierte Informatik. Marburg/Berlin: Schriftenreihe<br />
Wissenschaft und Frieden (BdWi / FIFF).<br />
Eurich, C. (1991): Tödliche Signale: die kriegerische Geschichte der<br />
Informationstechnik von der Antike bis zum Jahr 2000. Frankfurt/M.:<br />
Luchterhand.<br />
Galouye, D.F. (1965): Welt am Draht. München: Goldmann.<br />
Gibson, W. (1984): Neuromancer. New York: Ace Books.<br />
Gibson, W. (2003): Neuromancer. Hörspiel. Regie: A. Behrens. Produktion:<br />
H. Rink / Radio <strong>Bremen</strong>. 3 CDs, 212 Minuten. Berlin:<br />
Der Audio Verlag.<br />
Jeschke, W. (1995): Cyberpunk, die kybernetische Aufrüstung des<br />
Menschen und die Zukunft der menschlichen Evolution. In:<br />
Steinmüller, K.; Schattschneider, P. (Hrsg.): Science Fiction.<br />
Werkzeug oder Senso einer technisierten Welt? Passau: Erster<br />
Deutscher Fantasy Club e.V., S. 63-75.<br />
Karst, U.V. (1987): Freizeit – Daten, Fakten, Hintergründe. In: Engholm,<br />
B.; Hafemann, M.; Reisch, L.; Schlüpen, D. (Hrsg.): Die<br />
Zukunft der Freizeit. Weinheim: Beltz, S.52-90.<br />
Krieg, P. (1990): Maschinenträume (Mythen der Moderne III).<br />
Begleitbuch zum gleichnamigen Videofilm. Frankfurt/M.: Zweitausendeins.<br />
Kurzweil, R. (2001): Homo S@piens. Leben im 21. jahrhundert. Was<br />
bleibt vom Menschen?.3. Auflage. München: Econ.<br />
Laszig, P. (1998): Deus ex Multimedia - Körperlichkeit im digitalen<br />
Raum. In: Psychoanalyse im Widerspruch , 10 (19), S.93-98.<br />
online: http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~iy0/institut/widerspr/w19.htm<br />
(Abruf: 22.8.2005)<br />
Schulze, G. (1993): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der<br />
Gegenwart. 4. Aufl. Frankfurt: Campus.<br />
Seeßlen, G.; Jung, F. (2003): Science Fiction. Grundlagen des populären<br />
Films. Marburg: Schüren.<br />
Streibl, R.E. (1996): Spielend zum Sieg. Krieg im Computerspiel –<br />
Krieg als Computerspiel. Informatik-Forum, 10 (4), S. 203-214.<br />
Streibl, R.E. (2003): Information Warfare. Krieg in den Netzen – und<br />
darüber hinaus. In: Wissenschaft & Frieden, 21 (3), S.23-26.<br />
Watzlawick, P.; Kreuzer, F. (1988): Die Unsicherheit unserer Wirklichkeit.<br />
Ein Gespräch über den Konstruktivismus. München:<br />
Piper.<br />
WDR (2002): Das Millionenspiel – Webfeature. http://online.wdr.de/<br />
online/computer/tagestipp/getstream.php?urlfwd=$id$6002
VIRTUELLE HÖHLEN<br />
CAVE — eine Grenzerfahrung der Sinne<br />
Melanie Johänning & Simon Meyborg<br />
Wir sind das studentische Projekt MicaDo aus dem Fachbereich<br />
Informatik der <strong>Universität</strong> <strong>Bremen</strong> und möchten<br />
im Folgenden unsere Arbeit, die im Mira-Symposium<br />
ihren Abschluss fand, vorstellen.<br />
Die Aufgabe unseres viersemestrigen Projektes unter<br />
der Leitung von Prof. Dr.-Ing. Friedrich-Wilhelm Bruns<br />
war es, einen Cave zu bauen und diesen mit einer<br />
Anwendung zu versehen. Dazu gehörte die Entwicklung<br />
der Software zur Rechnersteuerung, die Erstellung einer<br />
dreidimensionalen virtuellen Welt, die Entwicklung<br />
eines oder mehrerer Eingabegeräte zur Interaktion und<br />
die dazugehörigen Schnittstellen.<br />
Cave bedeutet Computer Animated Virtual Environment<br />
und ist eine Konstruktion, die es ermöglicht, den<br />
Benutzer in eine virtuelle, dreidimensionale Illusionswelt<br />
zu versetzen. Durch eine beispielsweise aus vier<br />
oder mehr Leinwänden bestehende Konstruktion erhält<br />
man einen begehbaren Raum, der den Benutzer komplett<br />
umgibt und in die Welt integriert. Die grafischen Daten,<br />
die auf die Leinwände projiziert werden, können von<br />
dem Benutzer interaktiv kontrolliert und beeinflusst<br />
werden. Der Benutzer befindet sich dadurch nicht mehr<br />
in der reinen Beobachterrolle. Er erhält den Eindruck,<br />
sich in einer virtuellen Welt zu bewegen. Eine häufige<br />
Anwendung in einem Cave ist die Simulation, wie zum<br />
Beispiel eine Flugsimulation oder Motorradsimulation,<br />
wobei der Benutzer in einem Cave ein größeres Blickfeld<br />
als bei gewöhnlichen Simulationen bekommt und so<br />
seine gesamte Umgebung wahrnehmen kann.<br />
Wir entwickelten eine Dschungelwelt, die Schnecken,<br />
Schildkröten, Spinnen, Säbelzahntiger und eine Eigenkreation<br />
namens Florifant beherbergt. Diese Kreaturen<br />
bewegen sich völlig eigenständig durch die erschaffene<br />
Welt. Sie verfolgen dabei abhängig von ihrer Gemütslage<br />
verschiedene Absichten wie Essen, Trinken, Schlafen<br />
oder Interesse am Cave-Besucher. Dieser steht auf einem<br />
rechteckigen, realen Floß, neben dem sich an jeder Seite<br />
ein Sensorgraben befindet. Mit dem Stab, den er in der<br />
Hand hält, kann er durch Abstoß- und Ruderbewegungen<br />
innerhalb der Gräben durch die Welt navigieren.<br />
Die Fahrt auf Land ist ihm genauso gestattet wie auf<br />
dem Wasser. In der anderen Hand hält der Besucher eine<br />
Fernbedienung. Mit ihr kann er mit den Kreaturen des<br />
Dschungels interagieren. Umherlaufende Tiere können<br />
83
Ein ausführlicher Projektbericht<br />
ist als „<strong>artecLab</strong><br />
paper 4“ erschienen. Eine<br />
Papier-Fassung kann im<br />
<strong>artecLab</strong> angefordert<br />
werden, eine pdf-Version<br />
steht als download bereit<br />
unter:<br />
www.arteclab.unibremen.de/paper<br />
84<br />
angelockt oder weggescheucht werden. Schlafende Tiere<br />
lassen sich mit ihr wecken. Hat der Besucher das Gefühl,<br />
die Gewalt über das Floß zu verlieren, befindet sich auf<br />
der Fernsteuerung noch eine Bremse. Um das Raumgefühl<br />
des Caves zu erhöhen, gibt es einen dreidimensionalen<br />
Sound, so dass der Benutzer hört, wenn sich eine<br />
Kreatur hinterrücks nähert.<br />
PROJEKTVERLAUF<br />
Teil des Hauptstudiums der Informatik an der <strong>Universität</strong><br />
<strong>Bremen</strong> ist es über die Dauer von vier Semestern in<br />
einem Projekt zu arbeiten. Dabei werden von Arbeitsgruppen<br />
aus dem Fachbereich verschieden Themen<br />
angeboten. Die Vorschläge decken das gesamte Spektrum<br />
der Informatik ab und jeder Student hat somit die<br />
Möglichkeit sich in gewissen Bereichen zu spezialisieren.<br />
Das Projekt MicaDo reicht beispielsweise von Sensorik/Aktorik,<br />
Grafik, über Künstliche Intelligenz bis hin<br />
zu gestalterischen Elementen.<br />
Unser Arbeitsvorhaben einen Mixed Reality Cave zu<br />
entwickeln gingen wir zunächst völlig offen an. Wir hielten<br />
uns gegenseitig Vorträge, um uns über die Möglichkeiten,<br />
die ein solches Vorhaben mit sich bringt, klar zu<br />
werden. Unser ersten kleineren Ideen testeten wir an<br />
einem Prototypen, den wir nach zwei Monaten bereits<br />
konstruiert hatten. Dabei handelte es sich um drei<br />
Bettlaken, die wir als Projektionsflächen an die Decke<br />
hingen und durch Holzlatten am unteren Ende spannten.<br />
Durch diese drei unabhängigen Flächen, konnten wir mit<br />
verschiedenen Blickwinkeln experimentieren, wobei wir<br />
zu dem Entschluss kamen unser Endprodukt mit sechs
Leinwänden auszustatten, um den Cave möglichst kreisnah<br />
zu konstruieren.<br />
Das Projektziel wollten wir auf einer einwöchigen<br />
Reise nach Dänemark finden, die sich dem ersten Semester<br />
anschloss. Wir entschieden uns für eine phantasievolle<br />
Welt, in der Lebewesen untereinander und mit dem<br />
Besucher interagieren können.<br />
Nachdem dieses grobe Szenario entworfen war, konkretisierten<br />
wir in Untergruppen die verschiedenen<br />
Aspekte, wie die Gestaltung der Navigation, der künstlichen<br />
Intelligenz und die Erschaffung der Kreaturen sowie<br />
das Sound und Leveldesign. Jede dieser Gruppen konnte<br />
dabei relativ autark arbeiten und ihre eigenen Wünsche<br />
umsetzen. Wer beispielsweise handwerklich tätig werden<br />
wollte, konnten dies genauso tun wie jemand der gerne<br />
programmiert oder künstlerisch tätig ist.<br />
Somit war das Ziel unseres Projektes mehr ein im<br />
Machen Erreichtes als ein im Vorhinein Gestecktes.<br />
Mit dem alljährlichen Projekttag an der <strong>Universität</strong><br />
am 09.07.2004 endete das eigentliche Projekt. Wir präsentierten<br />
zusammen mit allen anderen Projekten, die<br />
zeitgleich mit uns begonnen hatten, die Ergebnisse der<br />
vergangenen zwei Jahre. Hauptsächlich waren dort nur<br />
Studenten, Professoren und Mitarbeiter, sowie Freunde<br />
und Verwandte zugegen. Da wir mit unserem Mixed Reality<br />
Cave sehr zufrieden waren und die Besucher begeisterten,<br />
blickten wir mit großer Freude auf das geplante<br />
Mira-Symposium im Oktober, in dessen Rahmen wir<br />
unseren Cave der breiten Öffentlichkeit öffneten. Dabei<br />
war es uns ein Anliegen das gängige Klischee des Informatikers<br />
als Eigenbrötlers zu korrigieren und zu zeigen,<br />
dass viel mehr als nur Computer hinter dem Begriff<br />
Informatik steckt.<br />
Rückblickend lässt sich der oftmals schwergängigen<br />
Projektarbeit, sowie der späteren erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit<br />
durch Mira sehr viel Positives abgewinnen.<br />
Wir haben gelernt uns in einer großen Gruppe zu<br />
organisieren und zielgerichtet zu arbeiten, was eine gute<br />
Vorbereitung auf das spätere Berufsleben bedeutet.<br />
85
PROGRAMM<br />
86<br />
mira-Symposion:<br />
Seh-Erlebnisse<br />
im Theater, im Kino, in virtuellen Welten<br />
Do. 28.10.<br />
Neuromancer 18.00<br />
Alfred Behrens, Hörspiel nach William Gibson<br />
prod. von Holger Rink (NordWestRadio/WDR), 180 Min.<br />
Neuromancer machte Gibson mit einem Schlag als visionären<br />
Science Fiction Schriftsteller von Rang berühmt. Von Gibson<br />
stammt die Wortschöpfung „Cyberspace“, mit ihm beginnt die<br />
literarische Ära der „Cyberpunks“, die Beschreibung einer anarchistischen<br />
und chaotischen Hackerszene. Gibson genießt unter<br />
den Anhängern der Cyber-Literatur längst Kultstatus. Der Titel<br />
ist eine Zusammenziehung aus den Silben Neuro (Nerven) und<br />
Romancer (Phantast, Träumer).<br />
Fr. 29.10.<br />
Schein und Wirklichkeit in Mixed Reality 17.00<br />
Technische Möglichkeiten, Grenzen und Risiken<br />
Vortrag: Prof. Willi Bruns, Informatik, Uni <strong>Bremen</strong><br />
Es wird aufgezeigt, welche technische Möglichkeiten und Grenzen<br />
es gibt, reale und virtuelle Welten zu mischen. Nützliche<br />
und unterhaltsame Anwendungen werden vorgestellt. „Wenn der<br />
Schein wild wird nach Gestalt, wird er den Spiegel zum Bersten<br />
bringen.“ (Botho Strauß, 1999)<br />
Höhlen 18.00<br />
Ein assoziativer Bildessay<br />
Vortrag: Bernd Robben, Informatik Uni <strong>Bremen</strong><br />
Am Anfang ist die Höhle, nicht das Wort. Das Zeitalter der technischen<br />
Produzierbarkeit übersetzt sie ins CAVE, das Computer<br />
Animated Virtual Environment. Um solche Verhältnisse aufzuklären,<br />
muss man die Höhlen wahr - nehmen.<br />
Computer - Art 1 20.30<br />
USA 2003, SigGraph-Filme<br />
Eine Auswahl der besten computeranimierten Kurz- und Experimentalfilme<br />
von der SigGraph 2003, der weltweit größten Messe<br />
für Computer-Grafik.<br />
Kairo 22.30<br />
Japan 2001, Regie: Kiyoshi Kurosawa, 112 Min.,OmU<br />
Mysteriöse Todesfälle in Tokyo scheinen in Zusammenhang mit<br />
einer sonderbaren Website zu stehen - unglaublich fesselnder,<br />
beklemmender Thriller, wobei der Titel übersetzt soviel wie<br />
Stromkreislauf heißt.
Sa. 30.10.<br />
Virtuelle Höhlen 15.30<br />
CAVE — eine Grenzerfahrung der Sinne<br />
Informatik-Studenten der Uni <strong>Bremen</strong> stellen den von ihnen<br />
gebauten und programmierten Mixed Reality Cave vor, das im<br />
Lichthaus am Pier 2 installiert ist.<br />
Schein und Wirklichkeit im Theater 16.00<br />
Vortrag: Peter Lüchinger, Bremer Shakespeare Company<br />
Sind wir aus dem Stoff, aus dem die (T)Räume sind? Was gibt dem<br />
Zuschauer den Eindruck, dass auf der leeren Bühne Leben stattfindet?<br />
Lässt sich der Zuschauer auch durch Sprache manipulieren?<br />
Ich bin meine eigene Welt ... 17.00<br />
Schöpfungen zwischen Konstruktion und Illusion<br />
Vortrag: Ralf E. Streibl, Uni <strong>Bremen</strong>, Informatik<br />
Wunscherfüllung oder Albtraum, Allmacht oder Ohnmacht,Selbstverwirklichung<br />
oder Flucht: Die Ver-Wirklichung künstlicher Welt-<br />
Sichten in Science-Fiction-Filmen wird nach zugrunde liegenden<br />
Ängsten, Hoffnungen und Mythen durchleuchtet.<br />
WeltenWandererWelten 18.30<br />
Mögliche Realitäten im Kino<br />
Vortrag: Hans-Jürgen Wulff, Uni Kiel, Medienwissenschaften<br />
„Inseln“ oder „Utopien“ haben verschiedene Realitäten denkbar<br />
werden lassen. Hinzu kamen Subjektivitäten wie „Träume“ oder<br />
„Wahnvorstellungen“. Mitte des letzten Jahrhunderts kam die<br />
Simulation ins Bilder-Denken, jetzt die Möglichkeit der Schaffung<br />
„virtueller Welten“.<br />
Computer - Art 2 19.30<br />
A 2002-03, Ars Electronica<br />
Die Ars Electronica in Linz ist das renommierteste Festspiel für<br />
elektronische Filmkunst. Gezeigt wird eine Auswahl von Kurzfilmen<br />
der Preisträger von 2002 und 2003.<br />
Cube 22.30<br />
CAN 1997, Regie: Vincenzo Natali, 91 Min., OF<br />
Sechs Personen erwachen aus ihrem Alltagsleben in einem tödlichen<br />
Irrgarten-Würfel, aus dem es kein Entrinnen zu geben<br />
scheint. Ein SF-Thriller, nichts für Klaustrophobiker und andere<br />
sensible Gemüter<br />
CAN 1997, Regie:François Girard, 60 Min<br />
So. 31.10.<br />
Yo Yo Ma: The Sound of the Carceri 18.00<br />
Aus den alten Stichen der Carceri von Piranesi wird im Computer<br />
eine 3-D-Welt. Yo Yo Ma wird mit seinem Cello in diese Welt<br />
platziert und virtuell eingepasst.<br />
Science Fiction 20.30<br />
D 2003, Regie: Franz Müller, 112 Min., Erstaufführung<br />
Im Motivations-Worksphop wird klar: Jürgen kann nocht nicht<br />
mal eine Tür aufmachen! Als es dann doch schafft, sind alle Teilnehmer<br />
vergessen. Frisches deutsches Kinovergnügen, in dem<br />
Räume und Türen den phantastischen Plot bestimmen.<br />
Weitere Filme im Rahmen von mira:<br />
Brasil Fr. 24.9. und Sa. 25.9. 20.30<br />
GB 1984, Regie: Terry Gilliam, 142 Min.<br />
Tote Fliege im Schreibmaschinengetriebe –<br />
wie ein Buchhalter die Realität verändert<br />
Briefe eines Toten So. 10.10. um 20.30<br />
UdSSR 1986, Regie: Konstantin Lopuschnanskij<br />
Durch einen Computerfehler tritt die atomare<br />
Katastrophe ein, die Erdoberfläche ist<br />
unbewohnbar. Endzeitfilm, in dem ein Wissenschaftler<br />
per Brief an seinen Sohn eine<br />
Vision zum Weiterleben entwickelt.<br />
Panic Room Fr. 22.10. und Sa. 23.10.<br />
um 22.30<br />
USA 2002, Regie: David Fincher, 110 Min.<br />
Ein vierstöckiges Wohnhaus in Manhattan,<br />
ein Überfall, ein „safe room“?<br />
Moebius Mo. 1.11. und Di. 2.11.<br />
um 18.00<br />
Arg 1996, Regie: Studentenkollektiv Universidad de Cine, 88 Min., OmU<br />
Ein junger Mathematiker soll das rätselhafte<br />
Verschwinden einer U-Bahn klären.<br />
Ein spannender, vielschichtiger und verblüffend<br />
konstruierter Thriller: Moebius<br />
meets Borges und Kafka<br />
87
88<br />
mira-Installation<br />
Mixed Reality Cave<br />
Cave bedeutet Computer Animated Virtual Environment: eine Höhle, die zwei<br />
Realitäten verbindet. Lassen Sie sich mit allen Sinnen in einen virtuellen<br />
Dschungel versetzen. Auf einem realen Floß können sie die vom Rechner<br />
erzeugte Welt erkunden. Die im medialen Urwald lebenden Tiere kommunizieren<br />
untereinander, beinflussen sich gegenseitig und lassen sich durch Ihre<br />
Gegenwart anlocken oder verscheuchen.<br />
Den Cave realisierten Informatik-Studenten des Projekts micado der <strong>Universität</strong><br />
<strong>Bremen</strong>.<br />
Vernissage: Sa. 23. 10. um 15.00 Uhr<br />
- Eröffnungsrede von Wilfried Müller, Rektor der <strong>Universität</strong> <strong>Bremen</strong><br />
- Einführung in Mixed Reality Caves durch die Studenten<br />
- Musik von Joachim Heintz, Atelier Neue Musik<br />
- Eröffnung des Caves<br />
Finissage: So. 31.10. um 11.30 Uhr<br />
- Lesung: Seh-Erlebnisse zum Hören, Peter Lüchinger, Bremer Shakespeare Company<br />
Lichthaus am Pier 2<br />
Sa. 23.10. - So. 31.10
Die Mitglieder des Projekts<br />
micado:<br />
armstrong afropezi<br />
jasper arndt<br />
henning burow<br />
michael dippold<br />
johannes goos<br />
katja graupner<br />
jan hövelmann<br />
melanie johänning<br />
hans-christoph jakobeit<br />
stephan leinweber<br />
simon meyborg<br />
florian pantke<br />
bernd robben<br />
lars struss<br />
oliver vahjen<br />
anne virnich<br />
alexander walschik<br />
sven werner<br />
89
PRESSESPIEGEL<br />
91
PRESSESPIEGEL<br />
92
KREISZEITUNG<br />
93
WESER-KURIER, 23. OKOBER 2004<br />
94
Das <strong>artecLab</strong>:<br />
bildet eine experimentelle Gruppe von Wissenschaftlern, Ingenieuren<br />
und Künstlern.<br />
Wir analysieren und erproben formale und nicht-formale Methoden der<br />
Modellierung, Produktion und Simulation.<br />
Wir konstruieren sensorisierte Computer-Umgebungen und erforschen<br />
neue Formen der Mensch-Maschine-Interaktion.<br />
Wir experimentieren mit der Vermischung von realen und virtuellen<br />
Welten an der Grenze zwischen maschineller Funktion und menschlicher<br />
Phantasie.<br />
Wir sind Grenzgänger auf den Gebieten Kunst, Arbeit und Technik: Art,<br />
Work and Technology.<br />
Der Mixed Reality Ansatz eröffnet neue Sichtweisen.<br />
Wir modellieren mit realen Gegenständen, die eine reiche sinnliche<br />
Erfahrung mit der Widerspenstigkeit realer Phänomene vermitteln.<br />
Wir formen virtuelle Gegenstände, die vielfältige Übersetzungen zwischen<br />
konkreten und abstrakten Sichtweisen realisieren.<br />
Wir bauen Schnittstellen und Interfaces, die komplexe Verhältnisse<br />
zwischen der realen Welt der physischen Gegenstände und der virtuellen<br />
Informationswelt erfahrbar machen.<br />
Die Computer-Wissenschaften und ihre mathematischen Grundlagen<br />
haben eine eigene Ästhetik.<br />
Wir verstehen Ästhetik als Balance zwischen sinnlicher Erfahrung und<br />
verstandesmäßiger Durchdringung der uns umgebenden Phänomene.<br />
Wir haben das Ziel, eine spielerische Erfahrung der Mensch-Maschine-<br />
Beziehung zu ermöglichen - auch jenseits der Grenzen von Rationalität,<br />
Nützlichkeit oder Effizienz.<br />
Wir verfolgen gleichzeitig einen partizipatorischen und sozial verpflichteten<br />
Ansatz.<br />
97
98<br />
<strong>artecLab</strong> Paper<br />
1. Jörg Richard, F. Wilhelm Bruns, Mensch und<br />
Maschine im Spielraum - Technische Praxis<br />
und Ästhetische Erfahrung<br />
2. F. Wilhelm Bruns, Hyperbonds - Applications<br />
and Challenges<br />
3. Yong-Ho Yoo, Energy Interface for Mixed<br />
Reality Design<br />
4. Micado,Projektbericht des studentischen<br />
Projekts micado zu Mixed Reality Caves<br />
5. Micarpet,Projektbericht des studentischen<br />
Projekts micarpet zu Mixed Reality Caves<br />
6. Micasa,Projektbericht des studentischen<br />
Projekts micasa zu Mixed Reality Caves<br />
7. Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews,<br />
Mixed Reality Adventures, Bericht vom Symposium<br />
im Kino 46<br />
8. Daniel Cermak-Sassenrath, Martin<br />
Faust,Computerspiele