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mixed reality adventures - artecLab - Universität Bremen

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artec Lab paper 7<br />

Laboratory for Art, Work and Techhnology<br />

Enrique-Schmidt-Straße 7 (SFG)<br />

28359 <strong>Bremen</strong><br />

<strong>mixed</strong> <strong>reality</strong><br />

<strong>adventures</strong><br />

Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews (Hg.)<br />

1


2<br />

Impressum<br />

<strong>artecLab</strong> paper 7<br />

Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews (Hg.), <strong>mixed</strong> <strong>reality</strong> <strong>adventures</strong><br />

Laboratory for Art, Work and Technology<br />

<strong>Universität</strong> <strong>Bremen</strong><br />

Enrique-Schmidt-Straße 7 (SFG)<br />

D-28359 <strong>Bremen</strong><br />

www.arteclab.uni-bremen.de/publications/paper<br />

Redaktion: Bernd Robben<br />

ISSN 1860-9953<br />

Copyright © <strong>artecLab</strong>-paper, <strong>Bremen</strong><br />

Satz und Herstellung im Eigenverlag<br />

<strong>Bremen</strong> 2005


Bernd Robben<br />

Ralf Streibl<br />

Alfred Tews<br />

Mixed Reality Adventures<br />

3


das ist der Befehl zum Schauen, die Auf-<br />

miraforderung das Sehen zu sehen, von einem<br />

festen oder von verschiedenen Standpunkten aus. Oder<br />

von nirgendwo?<br />

das ist das Wunder des Bildes, in einem<br />

miramedialen Raum etwas zu sehen, was dort<br />

nicht ist, an dem man sich nie satt sehen kann.<br />

das ist die Schaulust. Wer sie befriedigen<br />

mirawill, geht in die Höhle der Felsmalereien,<br />

der Theaterhäuser, der Kinos oder der imaginären 3D-<br />

Welten.<br />

das ist das einmalige Erlebnis des gemeinsa-<br />

miramen Sehens gehörter Bilder in einer Umgebung<br />

der Finsternis, eine Zumutung für die Sinne im<br />

Hörspiel.<br />

mira das ist Theorie, also Einsicht, aber auch<br />

Show, also ein Symposion, mit anderen<br />

Worten ein sinnliches Gelage mit Sinn.<br />

Unter dem Motto „mira“ und der Überschrift „Mixed Reality<br />

Adventures“ fand in <strong>Bremen</strong> im Oktorber ein Symposium<br />

statt, das eine Film- und Vortragsreihe im Kino 46<br />

und eine aufwändige Cave-Installation im Lichthaus am<br />

Pier 2 umfasste. Cave steht dabei für Höhle, aber auch<br />

für „Computer Animated Virtual Environment“.<br />

Wir dokumentieren die Vorträge des Symposiums, die<br />

sich mit dem Thema von Schein und Wirklichkeit in den<br />

unterschiedlichen Medien des Theaters, des Kinos und<br />

in Mixed Reality Installationen auseinander setzten.<br />

Alle Vortragsmanuskripte wurden nur hier und da um<br />

Literaturangaben ergänzt, aber nur wenig verändert. Sie<br />

haben also eher den Stil einer mündlichen Rede als den<br />

eines schriftlichen Textes. Zum Teil haben wir auch die<br />

anschließenden Diskussionen dokumentiert, wenn sie<br />

inhaltlich neue Aspekte beigetragen haben.<br />

<strong>Bremen</strong>, August 2005<br />

Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews<br />

5


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Alfred Tews & Bernd Robben<br />

Legenden vom Ende der KinoZeit – Ein fingiertes Gespräch 9<br />

Bernd Robben<br />

Höhlen – Ein assoziativer Bildessay 13<br />

Willi Bruns<br />

Schein und Wirklichkeit in Mixed Reality – Technische Möglichkeiten Grenzen und Risiken 27<br />

Peter Lüchinger<br />

Schein und Wirklichkeit im Theater 35<br />

Hans-Jürgen Wulff<br />

WeltenWandererWelten – Mögliche Realitäten im Kino 55<br />

Ralf Streibl<br />

Ich bin meine eigene Welt – Schöpfungen zwischen Konstruktion und Illusion 67<br />

Melanie Johänning & Simon Meyborg<br />

Virtuelle Höhlen: CAVE – eine Grenzerfahrung der Sinne 83<br />

Programm des Symposiums 86<br />

Pressespiegel 91<br />

7


LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT<br />

Ein fingiertes Gespräch<br />

Alfred Tews & Bernd Robben<br />

BR: Hat das Kino noch eine Zukunft?<br />

AT: Zukunft ist immer jetzt. Es ist durchaus angebracht,<br />

sich über mediale Perspektiven fürs 3. Jahrtausend<br />

Gedanken zu machen. Ausgehend von der Devise „Der<br />

Film (das bewegte Bild) ist das wichtigste künstlerische<br />

Medium“ beschäftigen wir uns mit Utopien im Film und<br />

neue Medien. Die gute alte Film-Welt hat Konkurrenz<br />

bekommen. Virtuelle Welten, virtual actors - heißt das<br />

Zauberwort, das die Tore zu einer neuen Dimension aufsprengt.<br />

BR: Ist das das Ende von Film, Kunst Künstler und Realität?<br />

Was hat es deiner Meinung nach auf sich mit<br />

diesen künstlichen, teilweise interaktiven drei - und<br />

mehrdimensionalen Welten? Verschwinden die Grenzen<br />

zwischen Realität und Fiktion? Oder war „Virtual“ nur<br />

der ultimative Trend am Übergang der Jahrtausende,<br />

Ich hörte einen Kuckuck rufen<br />

Und blickte in seine Richtung,<br />

Aus der sein Ruf kam.<br />

Was sah ich da?<br />

Bloß den bleichen Mond am Morgenhimmel.<br />

Das Orakel vom Berge; Philip K. Dick<br />

der letzte hohle Hype für Medienphilosophen, die heute<br />

schon wieder überholt sind?<br />

AT: Wenn Bilder, Klänge und Texte erst einmal digitalisiert<br />

sind, scheint mir alles möglich zu sein. Der Kampf<br />

mit den Widersprüchen zwischen dem, was wir von<br />

unseren Medien verlangen, und dem, was sie zu leisten<br />

imstande sind, ist zuende. Oder er ist gegenstandslos<br />

geworden. In der analogen Welt gab es scharfe Grenzen:<br />

Man konnte ein Stück Holz oder eine Gitarre nur zu<br />

dem veranlassen, was ihnen zu tun möglich war. In der<br />

digitalen Welt gibt es keine dinglichen Grenzen: Alles<br />

ist nur eine Frage der Speicherkapazität, der Prozessorgeschwindigkeit<br />

und der Kommunikations-Bandbreite.<br />

Die digitale Revolution vollendet die geistige Revolution,<br />

die vor Jahrtausenden begonnen hat, als jemand<br />

erstmals mit Farbe auf Stein malte. Der Beginn, die<br />

9


LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT<br />

10<br />

natürliche Welt zu abstrahieren, um eine Idee daraus<br />

zu machen.<br />

BR: Welche Phantasie entwickelst du da? Muss ich die<br />

ins Spiel gebrachte Endzeit-Legende des Kinos für wahr<br />

nehmen. Oder konkret nachgefragt:<br />

Wird das Celluloid verschwinden und damit die Kinos?<br />

Wird es keine Film-Regisseure im klassischen Sinne mehr<br />

geben? Sind alle Experimente des Films schon gemacht?<br />

Verschwindet das Narrative aus dem bewegten Bild? Wird<br />

jeder ein „actor“ mit eigener Kamera? Wird eine digitale<br />

Internet-Individual-Audience die Cinema-Audience<br />

ablösen? Werden die Schauspieler überflüssig?<br />

AT: Banal geantwortet: Nein!<br />

BR: Jetzt wirst du plötzlich sehr wortkarg. Das muss du<br />

für mich etwas plastischer ausdrücken. Wie kann ich mir<br />

die Geschichte vorstellen?<br />

AT: Retro-aktiviert: Von der Steinzeitmalerei - oder Platons<br />

Interpretation des Höhlenschattens als erste Erkennung/Erkenntnis<br />

einer Virtuellen Welt bis hin zu UBIK =<br />

ubique (lat. überall) oder ubiquity (Allgegenwart). „ It‘s<br />

moving - its alive - its alive! Now I know what it feels to<br />

be god!” Die Sehnsucht – „the brain of a dead man waiting<br />

to live again in a body I made with my own hands”<br />

– und die Warnung liegen beieinander. Der Lehrling<br />

träumt vom Schaffen neuen, künstlichen Lebens und hat<br />

seinen mehr moralisch denkenden Lehrer wissenschaftlich<br />

längst überrundet. Die Geschichte von Frankenstein<br />

nach dem Roman von Mary Shelley Wollstonecraft ist<br />

der bedeutende Schritt in der Filmgeschichte, das Motiv<br />

vom Künstlichen Menschen als definitives Muster vorzulegen.<br />

Weitere Beispiele für in Romanen oder Erzählungen<br />

angedachte und dann filmisch-technologisch gewordene<br />

Film-Realitäten sind: der Schachautomat in Ambrose<br />

Bierce Erzählung „Moxon`s Master“, die Roboter in Karel<br />

Capeks Drama „R.U.R.“, Isaacs Asimovs SF-Geschichten<br />

„I,Robot“ mit den Robotergesetzen, Retortenkinder in<br />

Aldous Huxleys „Brave New World“, der mechanische<br />

Hausgehilfe in Gilbert Chestertons „the Invisible Man“,<br />

der Homunculus, von dem schon Goethe berichtet oder<br />

Laurence Sterne in „Tristam Shandy“, H.G.Wells erfundene<br />

Halbwesen in „The Island of Dr. Moreau“, der Golem<br />

des Rabbi Loew, Androiden in Philip K. Dick‘s „Do Androids<br />

Dream of electric sheep?“ Dies sind nur einige Beispiele<br />

und sie stehen für eine Kino-Zeit von 1910-1980.<br />

BR: Geht 1980 eine Film-Epoche zuende?<br />

AT: Mit Der Kino-Zeit des „Blade Runners“ beginnt praktisch,<br />

sich die Idee des „virtuellen Reality“/Actors“<br />

durchzusetzen“ – zunächst nur als filmisches Ab-Bild<br />

wie in dem zu früh auf dem Markt geschmissenen „TRON“<br />

von Steven Lisberger (1982), „Videodrome“(David Cronenberg,<br />

1982, als Sonderfall des Übertritts zwischen<br />

materieller und Virtueller Welt, dann in Produktionen wie<br />

„The Lawnmower Man“ (Brett Leonard, 1992, nach einer<br />

Kurzgeschichte von Stephen King), „Virtuosity“ (ebenfalls<br />

Brett Leonard, 1995), „Johnny Mnemonic“(Robert<br />

Longo, 1995, nach einer Kurzgeschichte von William<br />

Gibson, dem Erfinder des Cyberpunk).<br />

Max Headroom ist der erste virtuelle Star in der<br />

bewegten Bilderwelt. Ein Computermensch, der eine TV-<br />

Show moderiert und dabei ein undenkbares Eigenleben<br />

entwickelt.


Nach einer Kurzgeschichte des Cyberspace-Autors William<br />

Gibson aus dem Jahre 1980 entstand der Film<br />

„Johnny Mnemonic“(1995). Der Fim spielt im 21.Jahrhundert,<br />

wo Wirtschaftkonzerne die Weltherrrschaft<br />

übernommen haben und die Datennetze kontrollieren.<br />

Datenschmuggel ist ein subversives Vergehen, gegen das<br />

die „LoTeks“ verschwörerisch angehen. Johnny ist einer<br />

dieser Schmuggler, der Daten von Beijing nach Newark<br />

bringt und in seinem Gehirn einen Chip implantiert hat,<br />

mit dessen Hilfe er die Daten und Bilder an den Wächtern<br />

vorbeischmuggelt. Schließlich erleidet der Computer<br />

in seinem Kopf einen Overflow und droht ihn selbst<br />

zu vernichten. Wie in den meisten dieser Filme sieht die<br />

künstliche Wirklichkeit um so faszinierender aus, wie die<br />

„wirkliche“ Wirklichkeit unbewohnbar geworden ist!<br />

BR: Künstliche Welten faszinieren, weil die reale Welt<br />

nicht mehr zu ertragen ist?<br />

AT: „In dieser Phase der Filmgeschichte trat neben die<br />

Angst erzeugende Phantasie eines künstlichen Menschen<br />

in einer wirklichen Welt das genaue Gegenbild: der wirkliche<br />

Mensch, der sich in einer künstlichen Realität verläuft.<br />

Erst als Eindringling, dann als Gefangener eines<br />

Labyrinths. Wieder führt uns indes die Angstvision in die<br />

alten Albträume zurück: Hänsel und Gretel verlaufen sich<br />

im Cyberwald. Und wir sind nicht mehr eins, begegnen<br />

unseren eigenen Doppelgängern, spalten uns endlos,<br />

sind hier und woanders gleichzeitig. Das Eintauchen in<br />

die Cyberworld, das uns in so simplen Erzählungen wie<br />

TRON als schiere „Verwechslungen“ von Wirklichkeit und<br />

Simulation begegnete, ist nichts anderes als die elektronische<br />

Wiederkehr eines Syndroms, das wesentlich<br />

älter ist als jenes „Stendhal Syndrom“, von dem in Dario<br />

Argentos gleichnamigen Film (1994) die Rede ist: Georg<br />

Seeßlen spricht vom Eintauchen des Blicks in das Bild,<br />

das keine Rückkehr, keine Distanz mehr kennt.<br />

BR: Das heißt, wir sind in der virtuellen Welt gefangen?<br />

AT: Damit sind wir im Jahr 1998 angelangt, bei „MATRIX“.<br />

Mit MATRIX sind alle bisher in Filmen noch erkennbaren<br />

realen Grenzen endgültig aufgehoben. MATRIX hat die<br />

seit langem unwahrscheinlichste Geschichte, die zum<br />

Plot eines Science Fiction-Films wurde: Die Menschheit<br />

ist versklavt von intelligenten Maschinen, die ihre Energie<br />

aus menschlichen Embryonen ziehen, die in gigantischen<br />

Zuchtstationen gehalten werden. Man begegnet<br />

im Film einer der bislang radikalsten Ausformulierungen<br />

eines Phänomens, das seit einiger Zeit durchs Hollywood-Kino<br />

(und nicht nur dort) geistert: einer Art kollektiver<br />

Verschwörungsparanoia, in der sich ein tiefes<br />

Misstrauen gegenüber der Welt, wie wir sie kennen, artikuliert.<br />

Die Umsetzung folgt gnadenlos den Gesetzen<br />

des Unterhaltungskinos – und hat funktioniert, wie man<br />

an Filmen wie Lara Croft, Final Fantasy, A.I., Resident<br />

Evil und so weiter sieht.<br />

BR: Worin liegt das umwälzend Neue dieser Generation<br />

von Science Fiction-Filmen?<br />

AT: In der grenzüberschreitenden Art der Verknüpfung<br />

von virtuellen und wirklichen Welten: Der auslösende<br />

Skandal des Phantasmas vom künstlichen Parallel- und<br />

Nachmenschen beginnt etwa bei Cronenberg damit, dass<br />

ein Inneres nach außen tritt. So wird der Roboter mit<br />

seiner stählernen Haut, die Vollendung jenes Panzers,<br />

mit dem sich der Krieger seit Urzeiten vor allem semio-<br />

LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT<br />

11


LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT<br />

12<br />

logisch zu wappnen versucht, zu dem Wesen, das endgültig<br />

die Trennung von Innen und Außen zu seinem<br />

Bild gemacht hat: Einen Roboter/Computer/Avatar<br />

zu „öffnen“, heißt in der Regel in unserer Mythologie<br />

bereits, ihn zu töten. Georg Seeßlen hat diesen Wirkmechanismus<br />

ausführlich beschrieben.<br />

In den Filmen von David Cronenberg geschieht der<br />

Übertritt zwischen materieller und virtueller Wirklichkeit<br />

häufig und auf sehr heftiger Art und Weise. Die zweite<br />

Wirklichkeit tritt nicht nur in die Vorstellung, sondern<br />

ganz direkt ins Fleisch des Menschen wie in Filmen wie<br />

VIDEODROM (1982) oder „eXistenZ“ (1999), wo es um die<br />

Geburt des neuen Menschen als „MetaFlesh Game-Pod“<br />

geht. Hier kann die virtuelle WELT nur eine furchtbare<br />

Abbildung des Bekannten sein. So wie die Gespenster<br />

der Irrealität in der Wirklichkeit wüten, so wüten nun<br />

die Gespenster der Realität in den Traumreichen. Und<br />

Cronenberg geht in seinen Filmen an den Ursprung des<br />

Mythos zurück, zum „Grauen“ der Geburt, die sich aus<br />

der natürlichen Abfolge löst. So schafft sich der ‚artifizierende’<br />

Mann in VIDEODROM so etwas wie eine Vagina,<br />

und in „eXistenZ“ erschafft die Heldin ein Computerspiel,<br />

das die perfekte Simulation einer Gebärmutter ist,<br />

und vernabelt ihren „Sohn“ mit einem „Bioport“.<br />

In der Literatur gibt es dafür Vorläufer. Da ließe sich<br />

der Ubik von Philipp K. Dick zitieren: „Ich bin Ubik. Mich<br />

gabs schon, bevor es das Universum gab. Ich habe die<br />

Gestirne gemacht, ich habe die Welt erschaffen und den<br />

Raum, in dem es existiert. Ich lenke es hierhin, ich lenke<br />

es dorthin. Es bewegt sich nach meinem Willen, es tut,<br />

was ich sage. Ich bin das Kennwort, mein NAme wird<br />

nie ausgesprochen, mein NAme, den niemand kennt. Ich<br />

werde Ubik genannt, aber das ist nicht mein NAme. Ich<br />

bin. Ich werde immer sein.“<br />

Das ist doch die geniale Vorwegnahme der Philosophie<br />

des MATRIX-Universums anhand einer Phraseologie,<br />

welche die Eröffnung des Neuen Testaments von Johannes<br />

nachahmt und den Computer metaphorisch mit (dem<br />

christlichen) Gott gleichsetzt.<br />

Sic MATRIX! Die Dimension ist Gott! Avatar bezeichnet<br />

im Sanskrit eine göttliche Wesenheit, die menschliche<br />

Gestalt annimmt. In diesem Sinne sind Virtual Actors<br />

von heute die guten Geister von morgen, Schnittstellen<br />

zu einer autonomen Parallelwelt in einem selbstregelnden<br />

System.<br />

BR: Siehst du in derartigen virtuellen Welten von Caves<br />

und Avataren die künftige Kinowelt heraufziehen?<br />

AT: Wer weiß das schon genau. Alle Filme werden heute<br />

auch digital produziert. Für die Zukunft gilt auf jeden<br />

Fall: „Phantasy kills <strong>reality</strong>!“


HÖHLEN<br />

Ein assziativer Bildessay<br />

Bernd Robben<br />

„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal<br />

fielen mir die Augen, wenn kaum die Kerze ausgelöscht<br />

war, so schnell zu, daß ich keine Zeit mehr hatte zu<br />

denken: „jetzt schlafe ich ein.“ Und eine halbe Stunde<br />

später wachte ich über dem Gedanken auf, daß es nun<br />

Zeit sei, den Schlaf zu suchen; ich wollte das Buch fortlegen,<br />

das ich noch in den Händen zu haben glaubte, und<br />

mein Licht ausblasen; im Schlafe hatte ich unaufhörlich<br />

über das Gelesene weiter nachgedacht, aber meine<br />

Überlegungen waren seltsame Wege gegangen; es kam<br />

mir so vor, als sei ich selbst, wovon das Buch handelte:<br />

eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen Franz<br />

dem Ersten und Karl dem Fünften. Diese Vorstellung<br />

hielt zuweilen noch ein paar Sekunden nach meinem<br />

Erwachen an; meine Vernunft nahm kaum Anstoß an ihr,<br />

aber sie lag wie Schuppen auf meinen Augen und hinderte<br />

mich daran, Klarheit darüber zu gewinnen, daß<br />

das Licht nicht brannte. Dann wurde sie immer weniger<br />

greifbar, wie nach der Seelenwanderung die Gedanken<br />

einer früheren Existenz; … wenn ich mitten in der<br />

Nacht erwachte, wußte ich nicht, wo ich mich befand,<br />

ja im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war: ich<br />

hatte nur in primitivster Form das bloße Seinsgefühl,<br />

13


HOEHLEN<br />

14<br />

das ein Tier im Innern verspüren mag: ich war hilfloser<br />

ausgesetzt als ein Höhlenmensch; dann aber kam mir<br />

die Erinnerung - noch nicht an den Ort, an dem ich mich<br />

befand, aber an einige andere Stätten, die ich bewohnt<br />

hatte und an denen ich hätte sein können - gleichsam<br />

von oben zur Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen,<br />

aus dem ich mir selbst nicht hätte heraushelfen können;<br />

in einer Sekunde durchlief ich Jahrhunderte der Zivilisation,<br />

und aus vagen Bildern von Petroleumlampen<br />

und Hemden mit offenen Kragen setzte sich allmählich<br />

mein Ich in seinen originalen Zügen wieder von neuem<br />

zusammen.“ (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen<br />

Zeit 1, Frankfurt/M. 1981, S. 9ff)<br />

Am Beginn auf der „Suche nach der verlorenen Zeit“<br />

finden wir keinen Anfang, haben jedoch längst begonnen.<br />

Das Immer-schon-da-gewesene markiert eine<br />

unsichere Grenze. Mein Thema ist das erwachende<br />

Wirklichkeits-Bewusstsein. Und da bin ich - so Marcel<br />

Proust - meinen Erinnerungen hilflos wie ein Höhlenmensch<br />

ausgeliefert. Vom Traum soll ein Übergang zum<br />

Wirklichen bewusst werden. Das Wissen dieser Differenz<br />

von Traum und Wirklichkeit kann aber nicht erlebt, sondern<br />

nur erschlossen werden. Der Schlüssel kommt aus<br />

der Erinnerung. Und woher kommt die Erinnerung? Und<br />

worin besteht sie?<br />

Bertrand Russell befürchtet, dass die Erinnerung uns<br />

vormache, die Welt wäre erst vor fünf Minuten aus dem<br />

Nichts geschaffen. Ludwig Wittgenstein verspottet das<br />

Argument. Man könne die fünf Minuten auf eine reduzieren.<br />

Man lasse die Welt samt aller Erinnerung eben<br />

genau in dem Augenblick erstehen, da sie stattfinde.<br />

In seiner großen Studie über die Höhlenmetapher in der<br />

abendländischen Philosophie kommentiert Hans Blumenberg:<br />

„Einen Anfang der Zeit können wir nicht denken. Er<br />

läge schon in der Zeit. … In Hautnähe kommt das alles<br />

erst durch den fundamentalen Rang der Zeit für das<br />

Bewusstsein als ‚Erlebnisorgan‘: Kein Bewusstsein kann<br />

sich anfangend erleben. Nicht einmal beim alltäglichen<br />

Erwachen aus dem Schlaf ist jemals ein Augenblick der<br />

erste; erst recht sind Anfang des Lebens und Welteintritt<br />

der Geburt jeder Erlebbarkeit wesensmäßig entzogen,<br />

was auch immer davon Spur oder Trauma geblieben<br />

sein mag.“ (Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt/M.<br />

1989, S. 11)<br />

Und es bleibt im Unbewussten die tiefe Sehnsucht<br />

der Rückkehr in die Höhle des Mutterleibes. Diese Höhle<br />

hat mir Geborgenheit gespendet, bevor ich irgendetwas<br />

- oder gar mich selbst - wahrnehme. Das erste Wort<br />

bewussten Denkens liegt noch in weiter Ferne: Und doch<br />

ist schon etwas von mir da - in der Höhle.<br />

Am Anfang des Lebens steht nicht das Wort, sondern<br />

ich werde geboren aus dem Mutterleib. Aber - ist das,<br />

was da geboren wird ein „ich“? Wird aus ‚mir‘ nicht doch<br />

erst durch die Sprache ein ‚ich‘? Lauter nicht zu entscheidende<br />

Fragen!<br />

Auch menschheitsgeschichtlich kommt die Höhle<br />

vor der Sprache. Der Übergang vom Leben zum Erleben<br />

beginnt in der Höhle. Allerdings „ist der Mensch nicht,<br />

wie die Griechen glaubten, aus der Tiefe der Erde, aus<br />

ihren Höhlen ans Licht getreten. Vielmehr waren die<br />

Höhlen seine Zuflucht, die er suchte und bewohnte.“


(Hans Blumenberg, ebenda, S. 25) Wie lange es gedauert<br />

hat, bis er die Höhlen als seine bildlich erkennbar<br />

machte, wissen wir nicht wirklich. Genauso wenig kennen<br />

wir heute die Funktionen der Höhlenzeichnungen: Waren<br />

es praktische, magische, kultische?<br />

Klar ist nur: In der Höhle gelang es, Abwesendes anwesend<br />

zu machen. Beim Durchgang durch die Höhle wurde<br />

der Mensch das träumende Tier. „Im Schutz der Höhle,<br />

unter dem Gebot der Mütter … entstand die Phantasie.“<br />

(Hans Blumenberg, ebenda, S. 30) Statt die ewig<br />

langweiligen Erfolgsgeschichten der heimkehrenden<br />

Jäger immer wieder aufzuwärmen, war es das Privileg<br />

der Schwachen in der Höhle Zurückgebliebenen, in der<br />

Phantasie etwas auszumalen, ohne es zu erleiden. In der<br />

Höhle lässt sich die Kunst ausbilden, die Vorstellungskraft<br />

zu bannen und die Phantasie zu beflügeln.<br />

Aber der Schutz der Höhle ist ambivalent: Ihre Dunkelheit<br />

nährt auch „das Gefühl des Unheimlichen“, die<br />

„Vorstellung, der Augen beraubt zu werden“ (Sigmund<br />

Freud, Das Unheimliche, Studienausgabe Bd. IV, S. 253).<br />

Dunkle Schatten wirken bedrohlich.<br />

Deshalb müssen die Schatten gebannt und fixiert<br />

werden. Liegt im Bannen der menschlichen Schatten -<br />

im Nachzeichnen ihres Umrisses - der Ursprung der Malerei?<br />

Für Plinius den Älteren ist das bei aller Unsicherheit<br />

über ihren Anfang unbezweifelbar der Fall (Vgl. Victor<br />

I. Stoichita, Eine kurze Geschichte des Schattens, München<br />

1999, S. 7).<br />

Dagegen gibt es einen gewichtigen Einwand: Älter<br />

als gestalthafte Bilder sind die abstrakten Zeichen.<br />

Am Anfang aller Aufzeichnungen steht nicht die naive<br />

HOEHLEN<br />

15


HOEHLEN<br />

16<br />

Darstellung der Wirklichkeit. Erinnerungen bilden sich<br />

im Abstrakten, graben sich als Spuren ins Gedächtnis<br />

ein. Ihre ältesten, in Höhlen gefundenen Zeugnisse sind<br />

Kritzeleien und Graphismen. Schon bevor es Zahlwörter<br />

in der Sprache gibt, werden einfache Zahlzeichen<br />

in Knochen geritzt. Derartige makabre Zeugnisse des<br />

auf die Zukunft gerichteten theoretisch planenden Denkens<br />

- eingraviert in Gebeine - legen die Lebenden den<br />

Gestorbenen in die Höhle des Grabes. Wo auch immer<br />

der Anfang genau liegt. Sicher ist: Höhlen schaffen eine<br />

Erinnerungskultur und damit die Voraussetzung für ein<br />

reflektierendes Wirklichkeits-Bewusstsein.<br />

Wie Sie alle sicher schon erwarten, muss zum Thema<br />

Wirklichkeits-Bewusstsein das berühmteste Höhlengleichnis<br />

der westlichen Philosophiegeschichte kommen.<br />

Lauschen wir Platos Aufzeichnungen. Sokrates erzählt:<br />

„Stelle dir vor: Da befinden sich Menschen in einem<br />

unterirdischen höhlenartigen Gehäuse. Nach oben zum<br />

Licht hin verläuft ein langer Gang an der Höhle entlang.<br />

In dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an<br />

Schenkeln und Nacken. Sie können sich nicht von der<br />

Stelle bewegen und nur vor sich hin blicken. Die Köpfe<br />

zu wenden, verwehrt ihnen die Fesselung. Licht fällt auf<br />

sie von einem Feuer, das oberhalb und rückwärtig entfernt<br />

von ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den<br />

Gefesselten liegt etwas höher ein Weg, an dem entlang<br />

du dir ein Mäuerchen vorstellen mußt, wie die Gaukler<br />

Schranken zwischen sich und den Zuschauern aufrichten,<br />

um über diesen ihre Kunststücke vorzuführen.<br />

Ich sehe es vor mir, sagte (Glaukon).<br />

Dann stelle dir weiter vor, wie an diesem Mäuerchen


entlang Leute allerlei Gebilde tragen, die über das Mauerwerk<br />

hinausragen. Es sind steinerne wie hölzerne Darstellungen<br />

von Menschen und Tieren sowie mancherlei<br />

andere Kunstformen. Die Vorführer dieser Gebilde mögen<br />

sich wohl unterhalten, einige werden still sein.<br />

Von einem wunderlichen Bild erzählst du und von<br />

wunderlichen Gefangenen, sagte (Glaukon).<br />

Aber doch ganz ähnlich uns, sagte ich. Menschen in<br />

dieser Lage haben, das wirst du zugeben, von sich selbst<br />

und voneinander seit jeher keine andere Kenntnis als<br />

durch die Schatten, die das Feuer auf die Höhlenwand<br />

vor ihnen, wirft.<br />

Wie sonst, sagte er, wenn sie durch Zwang auf Lebenszeit<br />

die Köpfe unbewegt halten müssen?<br />

Was aber sehen sie von den Gebilden, die hinter ihnen<br />

vorgeführt werden? Etwas anderes (als deren Schatten)?<br />

Was sonst?<br />

Könnten sie nun miteinander erörtern, was sie da<br />

sehen, würden sie es nicht auch deiner Meinung nach<br />

für das Seiende selbst halten?<br />

Es bleibt ihnen nichts anderes übrig.“<br />

Mit dieser ziemlich brutalen Schilderung des Zwangscharakters<br />

der Höhle ist das Höhlengleichnis noch<br />

nicht zuende. Plato öffnet die Höhle, um die Differenz<br />

zwischen Denken und Wahrnehmung bewusst zu machen.<br />

Traue dem Schein nicht, so lautet seine Botschaft:<br />

Dichter und Maler täuschen uns mit ihren Kunstwerken.<br />

Die sophistischen Philosophen fallen auf sie rein.<br />

Wahre Erkenntnis lässt sich mit den getäuschten Sinnen<br />

nicht erfahren. Das Wahre und Gute findet sich in der<br />

Sphäre der Ideen, welche der Philosoph ans Licht bringt.<br />

Wer die Welt erleuchtet im Licht der Ideen sieht, wird<br />

zunächst geblendet sein. Geht der so Aufgeklärte gar<br />

in das Dunkle der Höhle zurück, so wird man ihm nicht<br />

glauben und ihn wegen seiner frevelhaften Äußerungen<br />

über den Charakter der Wirklichkeit - genau wie Sokrates<br />

- mit dem Tode bedrohen.<br />

Der kritische Einwand gegen Sokrates und Plato lautet:<br />

Das Licht der Idee ist nur eine andere blendende Metapher.<br />

Aus der Höhle der Zeichen von Dichtern und Künstlern<br />

gibt es kein Entkommen. Wirklichkeits-Bewusstsein<br />

hat die Welt nie direkt, sondern nur vermittelt. Und wie<br />

unterscheiden wir die Wirklichkeit dann vom Traum?<br />

Ungefähr 2000 Jahre nach Plato, hält der Beginn des<br />

Winters einen anderen Philosophen in einer anderen<br />

Höhle, in einer Ofenstube eingeschlossen, in der er alle<br />

Muße hatte, sich mit seinen Gedanken zu beschäftigen.<br />

Am Martinsabend 1619 gerät René Descartes beim<br />

Grübeln in höchste Erregung. Natürlich ist es Nacht, als<br />

ihn die Phantome von Träumen bedrängen:<br />

Immer wenn er aufwacht, die Studierstube wieder<br />

erkennt und über seinen Traum nachdenken will, schläft<br />

er wieder ein. Schließlich beschert ihm der Traum ein<br />

Wörterbuch und die Frage, welchen Lebensweg er einschlagen<br />

soll. Immer wenn er im Wörterbuch nachschlagen<br />

will, fehlen die entsprechenden Stellen. Die Träume<br />

in der Studierstube deutet Descartes als Botschaft. Sein<br />

Leben lang wird er nachdenken über das Wahre und Falsche.<br />

Auf der Suche nach der evidenten Wahrheit kommen<br />

die Zweifel an den Sinnen. Fast alles fällt der Fiktion<br />

HOEHLEN<br />

17


HOEHLEN<br />

18<br />

zum Opfer: die innere und äußere Sinneserfahrung. Auch<br />

die Mathematik bietet keine letzte Gewissheit. Und Descartes<br />

beschließt:<br />

„Jetzt schließe ich meine Augen, stopfe meine Ohren<br />

zu, rufe alle Sinne zurück und tilge ebenfalls alle Abbilder<br />

körperlicher Dinge aus meinem Denken oder erachte<br />

sie wenigstens wegen ihres eitlen Truges für nichts, weil<br />

das andere schwerlich möglich ist; indem ich aber mit<br />

mir alleine spreche und mich genauer anschaue, versuche<br />

ich allmählich mir selber bekannter und vertrauter<br />

zu werden.“ (zitiert nach Rainer Specht, Descartes,<br />

Reinbeck bei Hamburg 2001, S. 86)<br />

„Täusche mich, wer immer kann, er wird doch nie<br />

bewirken, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich<br />

ich etwas bin. … Das Denken ist, nur dies kann man mir<br />

nicht entwinden; ich bin, ich existiere, ist gewiß. Wielange<br />

aber? Nun, solange ich denke.“ (ebenda, S. 88f)<br />

Für das Wirklichkeits-Bewusstsein zählt letztendlich nur<br />

das Denken.<br />

Der zentrale Punkt bei Descartes ist der Dualismus<br />

zwischen der Welt des Bewusstseins und der materiellen<br />

Welt, zwischen der Seele und dem Körper. Aus der Vorstellung<br />

der Dualität von Körper und Geist ergibt sich<br />

das Problem, wie sich die beiden zueinander verhalten.<br />

Descartes zeichnet ein Funktionsbild und erklärt:<br />

Im mittleren Gehirnventrikel schwebt die Zirbeldrüse<br />

(H), welche die umgebenden Animalgeister zu steuern<br />

vermag. Die kleinen Kreise sind die Endungen der Nervenschläuche,<br />

durch welche die Drüse Animalgeister in<br />

die Muskeln transportiert, um sie aufzublähen.


„Durch Empfindungen … belehrt mich die Natur, daß<br />

ich in meinem Körper nicht wie ein Kapitän in seinem<br />

Schiffe weile, sondern so überaus enge mit ihm verbunden<br />

und gleichsam vermischt bin, daß ich mit ihm eine<br />

Einheit bilde; andernfalls würde ich nämlich, da ich nicht<br />

anderes bin als ein denkendes Ding, bei einer Verletzung<br />

des Körpers keinen Schmerz empfinden, sondern diese<br />

Verletzung mit meinem bloßen Verstande wahrnehmen,<br />

so wie ein Kapitän es mit dem Auge wahrnimmt, wenn<br />

etwas an seinem Schiffe bricht.“ schreibt Descartes<br />

(ebenda, S. 125).<br />

Der moderne Philosoph positioniert den Menschen in<br />

der Höhle seines Denkens, in den Spalten des Geistes.<br />

Offensichtlich folgen daraus philosophische Schwierigkeiten<br />

mit der Positionierung des Körpers.<br />

Statt diesen vergeistigten philosophischen Schwierigkeiten<br />

weiter nachzugehen, befrage ich zum Thema des<br />

Wirklichkeits-Bewusstsein die Techniker, also Künstler,<br />

Designer, Ingenieure.<br />

Der moderne Künstler Filipo Brunelleschi hat dem<br />

meditierenden Menschen schon über ein Jahrhundert<br />

vor Descartes eine Höhle voller Harmonie gebaut. Mit<br />

einem revolutionär neuen Konstruktionsverfahren - der<br />

Errichtung eines riesigen Gewölbes ohne Lehrgerüste<br />

und Hilfskonstruktionen - schafft er in Florenz eine Kirchenkuppel<br />

mit einer mystischen Athmosphäre. Diese ist<br />

genau geplant, die Wirkung von diffusem und gedämpften<br />

Licht päzise vorherbestimmt.<br />

Hier steht der Mensch im Mittelpunkt der Höhle. Seine<br />

Sicht auf die Welt ist berechnet, nach den Erfordernissen<br />

der perspektivischen Darstellung. Die von Brunelleschi<br />

HOEHLEN<br />

19


HOEHLEN<br />

20<br />

gefundenen Regeln perspektivischer Projektion prägen<br />

von nun an den Blick.<br />

Um in den Bildnissen der Kuppel - von Vasari und Zuccari<br />

- Szenen von realistischer Wirklichkeit zu sehen,<br />

muss der Betrachter sich selbst in die richtige Position<br />

begeben. Wenn er sich an den adäquaten Platz stellt,<br />

dann taucht er meditierend ein in eine mystische Athmosphäre<br />

des Geheimnisses von Innen und Außen. Er<br />

empfindet den Bildraum als real gegenwärtig.<br />

Dieser etwa 1475 entstandene Holzschnitt ist die<br />

erste bekannte Darstellung einer ganzen Stadt als<br />

autonomes Kunstwerk, die kein Phantasiegebilde ist.<br />

Er basiert auf einer Konstruktion, die sich die Möglichkeiten<br />

der Perspektive zu Kontrolle und Korrektur der<br />

direkten Beobachtung nach der Natur zunutze macht<br />

und die Topografie zur Überprüfung des planimetrischen<br />

und volumetrischen Aufbaus. Um die Stadt Florenz hervorzuheben,<br />

hat der Zeichner einen erhöhten Aussichtspunkt<br />

gewählt. Die mathematisch konstruierte Ansicht<br />

rückt die Kuppel von Brunelleschi in den Mittelpunkt<br />

der Stadt.<br />

Auf das perspektivisch konstruierten Tafelbild ist<br />

unser Auge inzwischen so trainiert, dass es sich auf den<br />

richtigen Standpunkt positioniert, ohne dass wir den<br />

Körper zum richtigen Standpunkt bewegen.. Das Bild<br />

hat sich in „ein Fenster verwandelt, durch das wir in<br />

den Raum hindurchzublicken glauben“ (Erwin Panofsky,<br />

Die Perspektive als symbolische Form, in: ders., Aufsätze<br />

zur Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin<br />

1992, S. 99). Die korrekte geometrische Konstruktion<br />

stellt das Bild als einen planen Durchschnitt durch die


sogenannte Sehpyramide vor. Angeblich geben die Sehstrahlen<br />

objektiv die Lage der Bildpunkte vor, welche<br />

korrespondierende Punkte in der Wirklichkeit repräsentieren..<br />

Um die Gestaltung eines völlig rationalen, d.h.<br />

unendlich stetigen und homognen Raumes zu gewährleisten,<br />

werden stillschweigend zwei wesentliche Voraussetzungen<br />

gemacht:<br />

Erstens, dass wir nur mit einem völlig fixierten unbeweglichem<br />

Auge sehen, zweitens dass der ebene Durchschnitt<br />

durch die Sehstrahlen als adäquate Wiedergabe<br />

des Sehbildes gelten darf (vgl. ebenda S. 101).<br />

Seit Jahrhunderten leben wir in der Höhle der perspektivischen<br />

Repräsentation. Unser Blick ist fixiert.<br />

Fotorealistische Darstellungen repräsentieren für uns<br />

die Wirklichkeit. Wir schauen sie auf kunstvollen Tafelbildern<br />

bzw. heute eher auf den chemisch fixierten<br />

Hochglanzabbildungen der Illustrierten, dem gemeinen<br />

Fenster zur Welt-Anschauung.<br />

Dieses einfache Verhältnis der Repräsentation der<br />

Wirklichkeit, das den Betrachter immer außerhalb positioniert,<br />

verkompliziert sich in den neuen technischen<br />

Höhlenbildern.<br />

Als die auf der rechten Seite abgebildete Installation<br />

1974 in Köln aufgestellt werden soll, schreibt der Künstler<br />

Num June Paik an an den Ausstellungsleiter Wulf<br />

Herzogenrath:<br />

„I got a very good idea, which is simple, inexpensive,<br />

yet very beautiful. For the opening night and one more<br />

day, I will become a „LIVING BUDDHA“ myself, watching<br />

also TV. Therefore there will be two Buddhas watching<br />

TV, one is the old wooden Buddha, the other is myself.“<br />

HOEHLEN<br />

21


HOEHLEN<br />

22<br />

Nachdruck verboten<br />

Das Bild wird selbst-reflexiv. Denken Sie also einen<br />

Augenblick darüber selbst. Wer nicht selbst denken kann<br />

oder mag, möge einige Gedenksekunden für John Cage<br />

einlegen.<br />

Das Bild beerdigen, das heißt, ein Bild zu schaffen.<br />

Das Bild ist gerade das, was visuell in der Leere<br />

übrig bleibt. Es legt den Grund offen, zieht sich zurück<br />

und uns hinein. Im Akt des Blicks treffen Trauer und<br />

Begehren zusammen. Und dann haben wir es mit einer<br />

Phantasmatik der Zeit zu tun. In der Höhle erstrahlen<br />

Bewegungs- und Zeitbilder. Ab jetzt befinden wir uns in<br />

der Höhle des kinematischen technischen Bildes.<br />

Die normalen Ordnungen perspektivischer Repräsentation<br />

werden gerade durch die Instrumente zum<br />

Verschwinden gebracht, deren Zweck eine technische<br />

Verbesserung der Wiedergabe der Wirklichkeit ist. Sie<br />

formen künstliche Höhlen, in denen wir wie die Fliege<br />

im Glas gefangen sind. Optik kreiert die Sichtweisen, die<br />

sie zu beschreiben vorgibt. Künstliche Perspektive und<br />

Belichtung und künstliche Beleuchtung schaffen neue<br />

Ordnungen der Sichtbarkeit. Durch die Vermischung<br />

von Wissenschaft und Kunst werden komplexe Vorgänge<br />

nicht nur dargestellt, sondern auch erst produziert. Mit<br />

der Camera Obscura beginnt das Zeitalter der Sehmaschinen<br />

und Medienkultur. Nicht der homogene Blick<br />

durch ein Fenster ist hier möglich, sondern das Starren<br />

auf den Bildschirm. Zunehmend wird nicht ein Abbild,<br />

wie es in der Welt aussieht, sondern ein Vorbild, wie die<br />

Welt zu sehen ist, in die Wohnzimmer gestrahlt. Und die<br />

Bilder der Sehmaschinen behaupten immer ein objekti-


ves, nach wissenschaftlichen Regeln produziertes Weltbild<br />

zu liefern.<br />

Seitdem es möglich ist, Bilder im Zehntel-Sekunden-<br />

Takt zu schießen, sehen wir den Körper, wie wir ihn<br />

vorher nie gesehen haben. Solche Bewegungsstudien im<br />

Geiste der Naturfreunde-Bewegung bilden das Material<br />

für Frederick Winslow Taylors wissenschaftliche Begründung<br />

der Arbeitsteilung. Technische Vorbilder ermöglichen<br />

die effektive kapitalistische Ausbeutung und<br />

Organisation der Arbeit.<br />

Aber die neckischen Körper-Bilder sind auch der erste<br />

Schritt für die Erbauung der Höhlen, in denen man den<br />

tristen Arbeitsalltag vergessen kann, für die modernen<br />

Höhlen der Illusion. Gemeint ist natürlich das Kino. Nur<br />

noch Dogmatiker glauben, dass es die Aufgabe des Kinos<br />

sei, die Wirklichkeit abzubilden. Aber über die Montage<br />

von Zeit- und Bewegungsbildern werden hier - im Kino<br />

- Berufenere als ich sicher noch Fundierteres sagen.<br />

Ich werfe stattdessen einen Blick in verschiedene<br />

andere Höhlen des technisch produzierten und programmierten<br />

Bildes.<br />

„Der Schoß ist zu einem Operationsgebiet geworden:<br />

So wie über ihn gesprochen wird, so wie seine Überwachung,<br />

Verteidigung und Versorgung geplant wird, …<br />

ist das Werden „unter dem Herzen der Frau“ zu einem<br />

öffentlichen Prozeß gemacht worden. Die secreta mulierum<br />

sind zu einem Gelände geworden, auf dem gesehen,<br />

eingegriffen, entschieden werden kann.“ diagnostiziert<br />

die Historikerin Barbara Duden.<br />

Der Blick ist schamlos geworden. Vor Leornardo da<br />

Vinci galt es noch als ein Verbrechen, Leichen zu sezie-<br />

HOEHLEN<br />

23


HOEHLEN<br />

24<br />

ren. Heute ist es ein anstößiges Schauspiel, sie als<br />

Körper-Welten zur Schau zu stellen. Inzwischen geht der<br />

Blick weit unter die Haut, tiefer als jedes Seziermesser,<br />

tiefer auch als Röntgenstrahlen. Programmierte Bilder<br />

machen Gene sichtbar und manipulierbar.<br />

Die technischen Bilder sind keine Abbilder, sondern<br />

visuell realisierte Modelle oder Datenverdichtungengen.<br />

Bilder, die wir von atomaren Vorgängen haben, beruhen<br />

nicht auf einer optischen, sondern im Falle der Rastersondenmikroskopie<br />

auf einer „taktilen“ Erfassung der<br />

Oberfläche von Atomen oder im Falle der Magnetresonanzspektroskopie<br />

auf einer Aufzeichnung der Frequenz<br />

der Präzessionsbewegung des Kernspins. Erst am Schluss<br />

werden die Daten in Bilder übersetzt und in Relation<br />

gebracht zu anderen wissenschaftlichen Darstellungen,<br />

zum Beispiel zu chemischen Formeln. Ob die Sache so<br />

ausssieht, wie die Bilder sie uns zeigen, ist eine unsinnige<br />

Frage. Denn außer den technischen Bildern gibt es<br />

hier nichts zu sehen. Atome sind unsichtbar. Erst technische<br />

Verfahren in den Höhlen der wissenschaftlichen<br />

Laboratorien produzieren die Schatten für den auf diese<br />

Weise fixierten Blick.<br />

Zwischen dem Auge des Astronomen und der Galaxie,<br />

die er beobachten will, liegt ein ganzes Areal verketteter<br />

Apparaturen, die die ursprüngliche Information Schritt<br />

für Schritt auswählen, transformieren und übersetzen,<br />

bis sie schließlich als eine visuelle Konfiguration das<br />

Auge des Betrachters erreicht:<br />

Satelliten, Spiegelanlagen, Teleskoplinsen, Fotovorrichtungen,<br />

Abtastgeräte, Übertragunsgeräte und vor<br />

allem Computerprogramme. Am Ende stehen bildförmig


präsentierte Daten, als Kitsch für Kalender oder als Rohmaterial<br />

für die Interpretation der Experten der Astronomie.<br />

Programmierte Bilder liefern aber weit mehr als statische<br />

Visualisierungen. Sie stellen Simulationen der<br />

theoretischen Modelle zur Verfügung, mit denen eine<br />

virtuelles Probehandeln möglich wird.<br />

Wer heute etwas wissen und verstehen will, kann den<br />

Höhlen also nicht entfliehen. Kritikfähigkeit heißt, die<br />

Höhlen wahrzunehmen. Man darf sich nicht blenden<br />

lassen durch die Bilder. Auf der Suche nach der Wirklichkeit,<br />

die sie abbilden, wird man nur Leere finden.<br />

Man muss begreifen, wie die Bilder das Wirklichkeits-<br />

Bewusstsein konstrieren, lernen ihre Beziehungen<br />

zueinander zu sehen.<br />

Seit den steinzeitlichen Höhlen hat sich scheinbar<br />

nicht so viel oder doch alles verändert. Zahlen<br />

und Bilder und Wörter werden zusammengebracht. Sie<br />

schaffen Erinnerungen und Wirklichkeitsbewusstsein.<br />

Aber in den heutigen Höhlen der Virtualität werden sie<br />

neu komponiert, programmiert und prozessiert. In der<br />

Komplexität der prozessierenden technischen Übersetzungen<br />

lässt sich das, was wir wissen können, präziser<br />

als jemals zuvor aufschreiben. Es wird programmiert.<br />

Programmiertes Wissen, dessen Darstellung die prozessierende<br />

Logik des Computers generiert, wird paradoxerweise<br />

auch anschaulicher oder verführerischer:<br />

Filmbilder mögen uns erschrecken oder faszinieren.<br />

Aber sie laufen doch außerhalb von uns auf der Leinwand.<br />

Wir schauen ihnen auf dem Sessel sitzend zu.<br />

In einer avancierten Form der heutigen programmier-<br />

ten Höhle, dem CAVE, dem Computer Animated Virtual<br />

Environment, taucht der Betrachter dagegen ein in die<br />

Höhlenbilder. Mit seinen Aktionen werden - Computer<br />

gesteuert - die Ansichten generiert, die er gerade<br />

durchfahren und erleben will. In einer Mixed Reality<br />

Umgebung wird die erlebte virtuelle Welt in dem Augenblick<br />

erschaffen, in dem sie erlebt wird - worüber Wittgenstein<br />

sich so lustig machte. Wie das wirkt, kann man<br />

nicht erzählen. Das muss man erleben.<br />

HOEHLEN<br />

25


SCHEIN UND WIRKLICHKEIT IN MIXED REALITY<br />

Technische Möglichkeiten, Grenzen und Risiken<br />

Willi Bruns<br />

InformatikerInnen sind Gestaltende und Erlebende von<br />

Schein, von Zeichenwelten, prozessierenden Zeichen. Sie<br />

erleben die Leichtigkeit der Zeichen (F. Nake), aber sie<br />

gehen auch mit der Nachdrücklichkeit von Materie um.<br />

Ausgangspunkte unserer Forschungen und Entwicklungen<br />

in artec waren<br />

1. die als Ironie der Automation bezeichnete Feststellung<br />

von Lisanne Bainbridge (1983):<br />

der Designer versucht den Bediener von Maschinen zu<br />

Die höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darin eine<br />

gewisse Affinität miteinander, dass beide nur das Reelle suchen, und für<br />

den bloßen Schein gänzlich unempfindlich sind.<br />

Nur durch die unmittelbare Gegenwart eines Objektes in den Sinnen wird<br />

jene aus ihrer Ruhe gerissen, und nur durch Zurückführung seiner Begriffe<br />

auf Tatsachen der Erfahrung wird der letztere zur Ruhe gebracht;<br />

mit einem Wort, die Dummheit kann sich nicht über die Wirklichkeit erheben<br />

und der Verstand nicht unter der Wahrheit stehen bleiben.<br />

Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe<br />

von Briefen, 26. Brief<br />

eliminieren, überlässt ihm aber die Aufgaben, die er<br />

selbst nicht verstanden hat oder automatisieren kann,<br />

2. die von Böhle und Milkau (1988) in industriesoziologischen<br />

Studien erkundete einseitige Orientierung<br />

von Maschinenbauern an objektivierenden Perspektiven<br />

von Maschinennutzung unter Vernachlässigung ebenso<br />

wichtiger subjektivierender Perspektiven,<br />

3. die Bedeutung physikalisch gegenständlicher Modellierung<br />

als Ergänzung zu virtuellen Modellen und digitaler<br />

Simulation, die wir in Industrieprojekten erfuhren.<br />

27


MIXED REALITY<br />

Abb. 1<br />

Kugel hinter einer Wand<br />

28<br />

Abb. 2<br />

Kugel vor einer Wand<br />

Abb. 3<br />

Elastischer Stoß zweier Kugeln<br />

Abb. 4<br />

Eine magische Wand<br />

Abb. 5<br />

Reale Kugel (rot)<br />

und virtuelle Kugel (grün)<br />

Unsere Konsequenz daraus ist der Versuch, eine ausgewogene<br />

Arbeit (mit objektivierenden und emphatischen<br />

Anteilen) in automatisierten Systemen dadurch zu unterstützen,<br />

dass wir Konzepte für eine Systementwicklung<br />

verfolgen, die eben diese Ausgewogenheit auch schon<br />

in der Entwicklungsphase von Maschinen und Systemen<br />

unterstützt. Dies könnte gelingen, wenn Ingenieure und<br />

Künstler zusammen gebracht werden. Ingenieurwissenschaft<br />

stärkt die rationale, Kunst die komplementäre<br />

Perspektive. Uns interessiert die Frage, wie wir durch<br />

experimentelles Spielen in gemischten Welten, denen<br />

der Realität und denen des Scheins, Mixed Reality, einen<br />

neuen Zugang zur Sicht auf Mensch-Maschine Interaktionen<br />

und zum Systemdesign bekommen können.<br />

TECHNISCHE MÖGLICHKEITEN VON MIXED REALITY<br />

Hinter dem vom Computer über seine Ein-Ausgabegeräte<br />

vermittelten Schein stehen programmierte Verhaltensmodelle,<br />

die mehr oder weniger genau die uns bekannten<br />

physikalischen Gesetze repräsentieren. Sie reichen<br />

von Animationen, in denen trickfilmartig Einzelbilder so<br />

erzeugt werden, dass sie den Eindruck einer Bewegung<br />

vermitteln, ohne dass hinter der Bilderzeugung ein im<br />

Rechner formalisiertes physikalisches Gesetz steht, bis<br />

zu Simulationen, die auf der Basis möglichst genauer<br />

physikalischer Repräsentanz bestimmter ausgewählter<br />

Phänomene beruht. Sind diese bei der Simulation immer<br />

erfolgenden Abstraktionen (Konzentration auf ausgewählte<br />

Phänomene, Vernachlässigung anderer) für die<br />

Nutzer der Simulationssysteme nicht mehr einsichtig, so<br />

kann ein Verlust an Urteilskraft eintreten, der eine Ver-<br />

wechselung von Simulation und Realität begünstigt. Die<br />

unendliche Vielfalt von Zeichen, die ein realer Prozess<br />

vermitteln kann, lässt sich nicht auf einen Rechner übertragen.<br />

Abb. 1-4 zeigen jeweils eine Kugel hinter und<br />

vor einer Wand. Ein aufmerksamer Betrachter könnte aus<br />

den statischen Bildern folgern, dass im ersten Bild keine<br />

Kugel hinter der Wand sein kann, weil man ja keinen<br />

Schatten sieht. Würde er die dynamische Simulation vorgespielt<br />

bekommen, so würde er sehen, wie ein Kugelbild<br />

von rechts auf die Wand zu fliegt, hinter ihr verschwindet<br />

und nach einem bestimmten Zeitintervall auf der linken<br />

Seite mit gleicher Geschwindigkeit weiterfliegt. Seine<br />

Beobachtungen wären in einem Widerspruch, aber letztendlich<br />

würde er sich wohl entscheiden, den fehlenden<br />

Schatten als Abstraktion oder fehlende Beleuchtung zu<br />

interpretieren und eine kontinuierliche Bewegung einer<br />

Kugel anzunehmen. Dasselbe Erscheinungsbild wäre<br />

aber auch durch einen elastischen Stoss einer bewegten<br />

Kugel auf eine ruhende Kugel gleicher Masse hinter der<br />

Wand zu erzeugen (Abb.3). Es stellt sich die Frage, ob<br />

diese Fortsetzung eines physikalischen Phänomens (der<br />

ankommenden Kugelmasse) nicht auch in einer durch<br />

den Computer vermittelten Weise über eine trennende<br />

Wand hinaus, wie in Abb. 5 dargestellt, erfolgen kann.<br />

Dieses ist in der Tat möglich, indem der Impuls der eingehenden<br />

Kugel gemessen und dann gespeichert wird<br />

und auf der anderen Seite ein entsprechender Impuls<br />

mit einer neuen Kugel erzeugt wird. Diese technische<br />

Möglichkeit lässt sich nun in vielfältiger Weise für eine<br />

Durchdringung von Realität und Virtualität nutzen. Eine<br />

virtuelle Kugel (grün) trifft auf eine virtuelle Trennwand


und der computergesteuerte versteckte Mechanismus<br />

generiert eine reale Kugel (rot), die mit gleichem Impuls<br />

aus einer realen Wand fliegt. Diese Lösung kommt einer<br />

Idee sehr nahe, die schon von dem Computergraphik<br />

Pionier Sutherland (1965) geäußert wurde: „The ultimate<br />

display would, of course, be a room within which<br />

the computer can control the existence of matter …. a<br />

bullet displayed in such a room would be fatal.”<br />

Unsere Forschung und Lehre beschäftigt sich mit technischen<br />

Möglichkeiten und Grenzen dieser Verdoppelung<br />

und Fortsetzung von physikalischen Phänomenen in<br />

Schein und umgekehrt.<br />

BREMER STUDENTEN SPIELEN MIT SCHEIN UND WIRKLICHKEIT<br />

Es sollen vier Projekte vorgestellt werden, die von Studentinnen<br />

und Studenten der Bremer Studiengänge<br />

Informatik, Digitale Medien und Kulturwissenschaft<br />

durchgeführt wurden: Theater der Maschinen, Sensoric<br />

Garden, Mixed Reality Stages, Wedding Rehearsal in<br />

Cybertown und Mixed Reality Caves.<br />

Theater der Maschinen<br />

Diese Theaterinszenierung thematisierte die Auseinandersetzung<br />

zwischen<br />

einem Avatar, einer Holzmarionette<br />

zwei Robotern, einem Robot-Schauspieler und<br />

einem Cellisten<br />

um die Frage:<br />

Wer kontrolliert wen in einem Mensch-Machine System<br />

oder welchen Spielraum haben Menschen und Maschinen<br />

in einem hochtechnisierten System?<br />

MIXED REALITY<br />

29


MIXED REALITY<br />

30<br />

Der Cellist spielte mit großer Hingabe ein klassisches<br />

Stück nach der Partitur des Komponisten. Der auf eine<br />

Leinwand projizierte Avatar bewegte sich, interaktiv von<br />

seinem Designer gesteuert, nach dieser Musik und steuerte<br />

gleichzeitig über ein Programm die Bewegungen<br />

einer Holzmarionette, die an einem Servo-Motor-Gerüst<br />

hing (Abb. 8-12). Als die künstlichen Figuren begannen<br />

ein gewisses unabhängiges Eigenleben zu zeigen, wurde<br />

der Cellist über Handy aufgefordert, die Steuerung des<br />

Avatars und der Marionette über einen Sensorgalgen zu<br />

übernehmen. Daraus entwickelte sich eine Szene mit<br />

Auftritten weiterer Maschinen , die dem Zuschauer die<br />

Interpretationsmöglichkeiten eröffnete, der Cellist kontrolliere<br />

die Maschinerie oder er sei selbst kontrolliert<br />

von ihr.<br />

Sensoric Garden<br />

Dieses Projekt METHEA (Medien und Theater) setzte<br />

sich mit dem Erleben in realen und virtuellen Welten<br />

auseinander. Höhepunkt des Projekts waren nächtliche<br />

Installationen Sensoric Garden in der gleichzeitig stattfindenden<br />

Rosenausstellung „A rose is a rose is a ...“<br />

auf dem ehemaligen Theaterberg anlässlich der 200-<br />

Jahrfeier der Bremer Wallanlagen.<br />

Diese Installationen kreisten um eine Skulptur von<br />

Gerhard Marks, die als virtuelle Figur erwachte und mit<br />

der die Besucherinnen interagieren konnten.<br />

Aegina, Erwachen einer Skulptur<br />

Tempel der Philosophen unter Feuer und Wasser<br />

Flirt-Bank, Treffen mit Aegina<br />

Klaviatur, Tanz oder Komposition


Flirt-Bank<br />

Klaviatur Philosophen-Tempel<br />

Mixed Reality Stages<br />

In diesem Projekt wurden zukünftige Formen von Theaterbühnen<br />

und Aufführungstechniken erkundet.<br />

Wedding Rehearsal in Cybertown<br />

Gegenstand dieser kleinen Theateraufführung waren<br />

unterschiedliche Handlungs- und Kommunikationsbeziehungen<br />

bei der Vermischung von realer Bühne, virtueller<br />

Bühne im Cyberspace, realen und virtuellen Schauspielern<br />

und Zuschauern, die örtlich anwesend im Aufführungsraum<br />

oder verteilt im Internet waren. Es wurde das<br />

verrückte Stück einer durcheinander geratenen Hochzeitsprobe<br />

gespielt. 18 studentische Akteure steuerten<br />

jeweils über PCs ihre selbst entworfenen Avatare in<br />

einem Cyberraum im Internet und agierten gleichzeitig<br />

miteinander in physischer Präsenz untereinander und<br />

mit den real anwesenden Zuschauern im realen Aufführungsraum.<br />

Mixed Reality Caves<br />

Drei parallele Projekte beschäftigten sich mit unterschiedlichen<br />

Konzepten der räumlich geschlossenen<br />

Bildprojektion von 3D-Phantasiewelten, die über Sensorik<br />

und Aktorik steuerbar waren.<br />

MIXED REALITY<br />

31


MIXED REALITY FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN<br />

32<br />

Neben den vorgestellten spielerisch performativen<br />

Erkundungen der Möglichkeiten von Mixed Reality<br />

beschäftigt uns deren Anwendung in neuen Formen<br />

- von Kooperation,<br />

- von Systementwicklung,<br />

- von Lernumgebungen,<br />

- und von darstellender und bildender Kunst.<br />

Welche Möglichkeiten bietet diese Technik für die Ingenieursausbildung?<br />

Bezogen auf die von Böhle & Milkau<br />

geforderten Dimensionen der Ingenieursbildung können<br />

wir folgendes Potenzial erkennen:<br />

• objektive, wissenschaftlich-technische Dimension<br />

- Verständnis von augmented <strong>reality</strong> (angereicherter<br />

Realität)<br />

- Grundlagen und Perspektiven von <strong>mixed</strong> <strong>reality</strong><br />

- Grenzen und Widersprüche der Automation<br />

- Stärken und Schwächen formaler Methoden<br />

• subjektive Dimension<br />

- Auseinandersetzung mit Freiheit und Zwang- menschen-zentrierte<br />

Entwicklungsperspektiven<br />

- Expressivität und Performanz<br />

- Erkundung von Spiel versus Zweckrationalität<br />

Grenzen der Durchdringung von Realität und Virtualität<br />

sind:<br />

- Begrenzte Kenntnisse und Fähigkeiten in der Erkennung<br />

und Erzeugung physikalischer Phänomene,<br />

- die zeitliche Dynamik von Sensor-Aktor-Prozessor<br />

Kopplungen und Übertragungen im Netz,<br />

- Manipulationstechniken und gesellschaftliche<br />

Normen<br />

Gefahren und Chancen der Durchdringung sind:<br />

- Verlust/Gewinn von Realitätssinn<br />

- Aufspaltung/Verbindung von Wirklichkeit und<br />

Schein<br />

- Zerstreuung/Integration von Persönlichkeit<br />

- Verlust/Gewinn an Urteilskraft<br />

- Manipulierbarkeit/Standfestigkeit


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VDI, Düsseldorf.<br />

MIXED REALITY<br />

33


SCHEIN UND WIRKLICHKEIT IM THEATER<br />

Peter Lüchinger<br />

Schönen guten Abend,<br />

ach es ist ja noch Tag. Was ist eigentlich für eine Zeit<br />

draußen, was ist für eine Zeit drinnen? Draussen ist<br />

es hell, hier drin ist es dunkel. Ein spannender Unterschied.<br />

Ich bin Schauspieler bei der bremer shakespeare<br />

company und wurde vor zwei Monaten gefragt, ob ich<br />

einen Vortrag bei dieser Veranstaltung halten könnte,<br />

„na klar mache ich“ und ich habe zugesagt. Aber ein<br />

Schauspieler, wie ich, kann keine Vorträge schreiben, er<br />

kann eigentlich nur Texte vortragen, sein Wissen weitergeben,<br />

weiter erzählen. Dieses Wissen hat sehr viel mit<br />

dem Autor Shakespeare zu tun. Die bremer shakespeare<br />

company, der Name sagt es, beschäftigt sich, segnet<br />

sich mit diesem Autor. Ich werde gleich eine Textstelle<br />

vortragen, und danach könnten wir feststellen: Das war<br />

der Vortrag, in diesem Text wird eigentlich schon alles<br />

zum Thema Schein und Wirklichkeit gesagt, alles gesagt,<br />

was das Theater zur Scheinwirklichkeit macht. Aber ich<br />

soll einen Vortrag halten so werde ich anschliessend,<br />

zwei, drei Thesen aufstellen. Ob das gesagte wahr ist,<br />

das zu bewerten, überlasse ich Ihnen.<br />

Prolog aus Heinrich V.<br />

Oh wären wir erleuchtet wie mit Feuer<br />

den hellsten Himmel voller Phantasie<br />

zu wölben über diesem Bühnenkönigreich,<br />

mit Prinzen als Figuren und Monarchen,<br />

das brodelnde Spektakel anzuschaun!<br />

Dann käm der kreigerische Heinz, ganz wie er war,<br />

im Helm des Mars zurück, und ihm bei Fuß,<br />

wie Doggen angeleint, jauln Hunger, Schwert und<br />

Feuer,<br />

auf Beute lauernd. Doch verzeiht, Ihr Edlen,<br />

dem seichten, unentfachten Geist, der´s wagt,<br />

auf dieses klägliche Gerüst zu bringen<br />

solch grossen Gegenstand. Kann dieser Hühnerstall<br />

die Weite Englands fassen? Dürfen wir<br />

in dieses O aus Holz die Truppen zwängen,<br />

die eine Welt erschüttern bei Azincourt?<br />

Verzeiht: kann nicht die schiefe, kleine Zahl<br />

auf einem Zettel für Millionen stehn?<br />

So laßt uns, Ziffern dieser grossen Summe,<br />

heut abend Eure Phantasie entfachen!<br />

35


THEATER<br />

36<br />

Ergänzt, was bei uns fehlt, in Eurem Kopf.<br />

Zerlegt in tausend Teile einen Mann<br />

und formt aus ihm ein Heer.<br />

Glaubt, reden wir von Pferden, sie zu sehen,<br />

wie sie mit stolzen Hufen Spuren prägen,<br />

denn Eure Phantasie krönt unsere Könige;<br />

tragt sie von hier nach dort, springt in der Zeit,<br />

und kürzt so das Geschehen von dreizehn Jahrn<br />

zum Stundenglas. Gewährt, in diesem Lichte,<br />

uns, als dem Chorus, Zutritt zur Geschichte.<br />

Wie ich schon sagte, das ist der Prolog aus einem Stück<br />

von William Shakespeare, aus Heinrich V. Dieser kleine<br />

Text enthält eigentlich alles. Das Theater kann nur leben,<br />

wenn eine Grundvereinbarung funktioniert, d.h. wenn<br />

der Zuschauer und der Mensch oben, der sich Schauspieler<br />

nennt, sich entführen, verführen lassen wollen. Und<br />

dazu braucht es die Phantasie. Eine Frage, die ich nicht<br />

beantworten kann: „Was benötigt man für die Phantasie?“<br />

oder „Wie gross, wie mächtig ist unsere Phanstasie?<br />

Ist sie etwas, was wir Menschen in uns tragen,<br />

angeboren ist, genetisch kulturell vererbt oder was auch<br />

immer?“ Oder „Brauchen wir Lebenserfahrung, Lebenseindrücke<br />

um unsere Phantasie anreichern zu können?“<br />

Also, was war zuerst, das Huhn oder das Ei, das Ei oder<br />

das Huhn? In diesem Punkt bin ich mir nicht sicher. Ich<br />

weiß nur: Jeder Mensch trägt in sich eine überbordende<br />

Phantasie. Das zeigt sich auch in unseren Träumen. Und<br />

die Phantasie wird, wenn etwas anregendes z. Bsp. auf<br />

einer Bühne dargestellt, angeklickt. Einmal angeregt,<br />

sprudelt sie immer weiter. Sie speist sich aus sich selber<br />

weiter fort. So bleibt nun eine weitere Frage zu klären:<br />

Warum machen wir eigentlich Theater? Was wollen die<br />

Menschen im Theater? Warum kehren die Menschen<br />

öfters an diesen Ort zurück? Hier, in diesem Raum ist es<br />

doch wunderbar. Hier befinden wir uns einem Kino. Ins<br />

Kino gehen wir um neue Geschichten zu erfahren, neue<br />

Welten zu sehen. Aber das Kino ist „nur“ die moderne<br />

Fortsetzung des Theaters.<br />

Warum gehen wir dann noch ins Theater? Shakespeare<br />

hat vor 400 Jahren gelebt, hat 37 Stücke geschrieben.<br />

Und die spielen wir heute immer noch, warum? Was<br />

ist das, was die Zuschauer, ins Theater zieht? Warum<br />

wollen sie „Romeo und Julia“ sehen, hören? Eigentlich<br />

kennt doch jeder den Inhalt des Stücks. Ein Grossteil der<br />

Zuschauer kommt ins Theater und weiß: Am Ende dieses<br />

Stückes stirbt die Julia wie auch Romeo. Der Zuschauer<br />

weiß es vorher. Und er geht trotzdem ins Theater und<br />

guckt sich die Geschichte vielleicht zum wiederholten<br />

Male an. Er hat das Wissen, über die Geschichte des<br />

Stückes.<br />

Ich glaube, während einer Theatervorstellung – und<br />

der Zuschauer kann es, miterleben, wenn es gut ist<br />

– etwas wie ein kollektives Vergessen stattfindet. Die<br />

ausserhalb des Theaters liegende Gegenwart wird allmählich<br />

ausgeblendet. Man kann einen leichten Eintritt<br />

finden in diese Gefühlswelt und man kann gleichzeitig<br />

mit den Figuren leben. Das heißt, das Wissen, das<br />

Bewusstsein, die persönliche Welt des Zuschauers wird<br />

auf gewisse Weise ausgeschaltet. Man fängt an, den<br />

Augenblick mitzuleben, mitzufühlen, mit den Figuren


oben auf der Bühne, aber auch mit den Zuschauern. Dafür<br />

muss man eine gewisse Phantasieleistung erzeugen und<br />

sich verführen lassen und sich ihr, der Phantasie „hingeben“.<br />

Und sich verführen lassen, das haben wir alle mal<br />

gelernt, respektive wir haben es nicht gelernt, sondern<br />

wir haben es alle ganz einfach gelebt, als etwas selbstverständliches.<br />

Als Kinder haben wir alle gespielt. Und<br />

irgendwann hat man uns das weggenommen, haben wir<br />

es uns selber weggenommen, das Spielen. Was machen<br />

wir, wenn wir spielen?<br />

Und da sind wir wieder bei der Frage? Warum gehen<br />

wir ins Theater? Beim Spielen können wir alles machen,<br />

was wir wollen. Wir können eine Rolle annehmen und<br />

jemand anderer sein. Ich kann sagen: „Ich bin König.“<br />

und setze mir eine Krone auf. Und wenn sie mir glauben,<br />

dass ich König bin, dann bin ich ein König. Doch wenn<br />

Sie sagen, sie glauben die Krone funktioniert nicht, du<br />

bist immer noch der gleiche wie ohne Krone, dann bin<br />

ich kein König. Bei Kindern funktioniert diese Transformation<br />

leicht. Sie fragen nicht nach der Wahrheit.<br />

Bei Shakespeare ist es ähnlich spannend. Shakespeare<br />

hat in seine Stücke viele Behauptungen, Unwahrheiten<br />

gesetzt. Zum Beispiel „Romeo und Julia“ – Spielort ist<br />

Verona in Italien. Shakespeare reiste nie nach Italien.<br />

Aber er hat ein Stück geschrieben über Italien. Heute<br />

verbindet man „Romeo und Julia“ immer mit Italien,<br />

aber keiner weiß, wie es damals ausgesehen hat. Auch<br />

Shakespeares Zuschauer konnte nicht wissen, wie Verona<br />

ausgesehen hat, wie man in Verona lebte. So verführt<br />

uns Shakespeare mit seiner „Lüge“ nach Italien. In England<br />

zu Shakespeares Zeit muss es ein großes Interesse<br />

geweckt haben, ein Stück über Italien zu sehen, ein Liebesdrama<br />

zu sehen, das in Italien stattfindet. Das heißt<br />

verkürzt: Die haben Reisekosten gespart. Weil sie nicht<br />

reisen konnten, haben sie es sich vorgestellt: Ach so<br />

könnte das ausgesehen haben in Italien. Die lieben vielleicht<br />

so in Italien. Aber im Erleben dieser italienischen<br />

Welt kommen sie natürlich auch mit ihrer eigenen Welt<br />

in Berührung. „Das ist vielleicht ein Liebesdrama, was<br />

eventuell auch in England, in meiner Welt so stattfinden<br />

könnte“. So wird der fremde Ort gleichzeitig zum Ort der<br />

Nähe, die geographische Distanz fällt weg, die Phantasie<br />

baut sich die Brücken.<br />

Zu Shakespeares Zeit, vor 400 Jahren, war England<br />

eine Weltmacht gewesen. Die ersten Schiffe aus fernen<br />

Ländern sind zurückgekehrt, mit Wilden, mit Schwarzen<br />

an Bord. Shakespeare verarbeitet diesen großen Wandel<br />

gleich in einem Stück: Der Sturm. Er hat auf der Bühne<br />

einen politischen Diskurs gestartet, über das Fremde,<br />

über die Unterdrückung, über die Rache,über die Gnade,<br />

etc. doch er lässt das Stück in einer fiktiven Welt spielen,<br />

auf einer Insel. Es gibt keine Anhaltspunkte über<br />

ihre wirkliche Existenz. Die Insel liegt sozusagen im Nirgendwo.<br />

Das heißt, Shakespeare hat die Leute wiederum<br />

entführt in ein fremdes Land, in eine unbekannte Welt,<br />

mittels ihrer Phantasie. Doch dieses Mal ist es nur „noch<br />

„ eine Insel, alles ist erfunden, der Zuschauer hat keine<br />

Anhaltspunkte, keine Vergleichsmöglichkeiten mehr.<br />

Shakespeare hat sein Drama auf dieser Insel aufspielen<br />

lassen. Er zieht die Zuschauer in diese Welt und am Ende<br />

entlässt er sie wieder aus dieser Welt in ihre eigene Welt.<br />

Zu seiner Zeit muss das sehr gut funktioniert haben. Nur<br />

THEATER<br />

37


THEATER<br />

38<br />

am Rande, diese „Inselwelt“ fand auf einer leeren Bühne<br />

statt, kein Bühnenbild, keine Hilfsmittel.<br />

Diese „Einfachheit“ ist das, was bei uns heute nicht<br />

mehr so einfach funktionieren kann. Wir sind Bildermenschen<br />

geworden. Weil wir Fernsehen haben, glauben<br />

wir nicht mehr an diese einfache Welt der Verführung.<br />

Im Film meinen wir meistens die Realität zu sehen. Die<br />

Bilder vermitteln uns eine fiktive Wahrheit. Wir wollen<br />

der Realität nahe kommen mit Hilfe der Bilder.<br />

Und das kann das Theater nicht. Es ist eine Illusion<br />

zu glauben, dass das Theater etwas mit der Realität<br />

zu tun hat. Theater kann sehr viel transportieren. Es<br />

kann Emotionen transportieren. Die sind natürlich<br />

real, aber ein Theaterstück ist eine Komprimierung von<br />

einer Geschichte, von Emotionen. In zwei Stunden kann<br />

man ein ganzes Leben erzählen, kann man fünf Weltuntergänge<br />

erzählen. Das kann man alles machen. Der<br />

Zuschauer geht mit. Er geht in dieser neuen Realität auf<br />

und akzeptiert diese ander Welt. Aber trotzdem erkennen<br />

wir, wenn wir unten sitzen, unsere eigene Realität<br />

wieder – in dieser gespielten Realität. Man muss sich<br />

das überlegen.<br />

Um auf Shakespeare zurückzukommen. Sie kennen<br />

vielleicht das Globe Theater, haben gesehen, was das<br />

Globe Theater ist: Es ist ein rundes Theater, ein runder<br />

Holzbau. Wenn wir heute von Theaterbauten reden, dann<br />

sprechen wir meistens von der Guckkastenbühne. Selbst<br />

hier, dieses Kino. ist eine klassische Guckkastenbühne,<br />

eigentlich so wie man das Theater kennt. Das gab es bei<br />

Shakespeare nicht. Es gab nur eine Plattform, die als<br />

Bühne diente, nach drei Seiten offen. Warum die Platt-<br />

form? Damit man alles sehen kann. Eigentlich braucht<br />

man auch die erhöhte Plattform nicht. Es ist nur eine<br />

physikalische Möglichkeit, besser gesehen zu werden.<br />

Und auf dieser Plattform hat er all seine Welten erzählt.<br />

Die ganze Welt ist eine Bühne oder auf dieser Bühne<br />

kann die ganze Welt dargestellt werden. Es gab keine<br />

Bühnenbilder. Es gab nichts. Und trotzdem gibt es eine<br />

Möglichkeit, dieses leere Bühne zu füllen. Mit Worten<br />

eine Welt zu bauen. Die Zuschauer mit Worten zu führen,<br />

zu verführen! Mit Worten, sprich Phantasie eine Welt<br />

zu formen, zu gestalten. Wir nennen das im Theater die<br />

Wortkulisse. Aber die funktioniert ebenfalls nur, wenn<br />

der Zuschauer mitgeht.<br />

Wieder auf’s Kind zurück: Wenn sie nicht glauben, das<br />

jemand, der eine Krone trägt, ein König ist, dann funktioniert<br />

die Verabredung nicht. Weiter muss man sich<br />

vorstellen: Sie haben bei Tageslicht gespielt. Es war taghell.<br />

Und heute? Wir gehen ins Theater, das Licht geht<br />

aus, das Kunstlicht geht an. Das hat mit verzaubern tun.<br />

Aber damals, die Leute haben sich im Tageslicht verzaubern<br />

lassen, sie konnten alles sehen und trotzdem haben<br />

sie im Theaterstück eine neue Welt entdeckt. Zu Shakespeares<br />

Zeit gab es eine Zensur. Shakespeare hat viele<br />

Königsdramen geschrieben, politische Stücke, Stücke<br />

über Macht, Machtzerfall, Stücke wo Könige aufsteigen<br />

aber auch fallen. Politischer Zündstoff. Das wäre, wie<br />

wenn wir heute schreiben würden: Bush ist gestürzt<br />

worden! Ein König wird gestürzt, ein König kann aber<br />

nicht gestürzt werden aus Sicht der Zensur – es gab ja<br />

nur einen König – also wenn in einem Stück ein König<br />

gestürzt wird, stürzt folglich der König von England. Das


sind politisch unheimlich brisante Themen. Shakespeare<br />

verstand es aber die Botschaft so zu vermitteln, dass die<br />

Zensur im freies Spiel liess. Was machte Shakespeare um<br />

die Zensur zu umgehen, er verlegte die Stücke dreihundert<br />

Jahre zurück. Das heißt nun: Die Menschen haben<br />

einen Teil ihrer politischen Realität, ihrer politischen<br />

Wünsche entdecken können. Trotz dieser zeitlichen<br />

Distanz scheint es für die Zuschauer trotzdem spannend<br />

gewesen zu sein. Wenn wir heute in den Nachrichten<br />

was über Bush sehen, finden wir es doof, wir meinen er<br />

macht seinen Job jämmerlich und gefährlich, denn er hat<br />

sein Volk in den Krieg getrieben. Wir fällen ein schnelles<br />

Urteil aber das bringt wenig. Viel spannender ist es,<br />

wenn man eine Figur in die Ferne rückt und sagt:<br />

„Ach so! Es hat schon einmal so eine Realität gegeben.<br />

Es hat schon mal solche Kriege gegeben. Irgendwie<br />

sind die ganz ähnlich, wie unsere Kriege heute.“<br />

Eine unbekannte Geschichte muss man aufmerksamer<br />

verfolgen. Wir entdecken einen immerwährenden Machtmechanismus,<br />

sind dabei aber nicht der Gegenwart<br />

verpflichtet. Wir können über unsere eigene Realität<br />

hinausschauen. Wir sehen eine Realität, die wir nicht<br />

kennen und meinen doch eine „wahre“ Geschichte zu<br />

sehen. Es geht nicht darum, ob das historisch stimmt.<br />

Es ist ja alles eine Behauptung, eine Fiktion, eine Erfindung<br />

des Autors. Es wird also eine historische Realität<br />

dargestellt, die eine Realität sein könnte, eine wirklich<br />

stattgefundene Realität.<br />

Wichtig war auch, dass die Zuschauer gerne sehen wollten,<br />

wie der König, neben seinem Amt, als Mensch lebt.<br />

Bei Shakespeare gibt es Figuren auf der Bühne, die die<br />

gleiche Neugier haben – heute sehen wir das teilweise<br />

im politischen Kabarett. Wir nennen das: die Untersicht.<br />

Das Volk guckt dem König bei seinem Leben zu! Theater<br />

kann uns somit etwas zeigen, was man sonst nicht<br />

sehen kann: Wie lebt der König? Ach der König hat auch<br />

Probleme. Er ist auch „nur“ ein Mensch, er hat Angst.<br />

er hat Panik. Er flüchtet. Er kann umgebracht werden.<br />

Er kann sterben. Was wusste man sonst vom König. Er<br />

lebt im Palast. Der ist aber verschlossen. Im Theater<br />

kann man Wände, Räume öffnen. Man muss sich das vor<br />

400 Jahren vorstellen. Ich weiss, dass ist so naiv, doch<br />

ich liebe die naive Sicht auf die Dinge. Heute mit dem<br />

Fernsehen kommt man überall rein und sagt: „Ach so<br />

sieht das aus. Danke!“ Man kriegt schnell ein Bild geliefert<br />

und dann meint man zu wissen wie es aussieht. Der<br />

Zuschauer muss sich nicht mehr aktiv beteiligen, alle<br />

Fragen werden mit dem Bild beantwortet, es entsteht<br />

eine scheinbare Klarheit. Es ist schade, dass wir diese<br />

fertigen überbordenden Bilder haben. Vielleicht spüren<br />

Sie es: Ich bin natürlich ein Verehrer vom Theater. Im<br />

Theater kann man noch lügen. Im Theatersind die vorgestellten<br />

Bilder meistens grösser als die Realität, mindestens<br />

bleiben sie nicht an der Oberfläche haften.<br />

Welche Funktion hat das Theater noch zu leisten?<br />

– Unterhaltung! Das ist wahrscheinlich einer von den<br />

Ursprünge des Theaters, des Spielens. Und Unterhaltung,<br />

unterhalten, heißt lachen, Heiterkeit und Leichtigkeit<br />

hervorrufen. – der Clown ist dafür der beste Beweis...<br />

Warum lacht man über den Clown? Man sieht einen Menschen<br />

in einer tiefen Not. Man fiebert mit und hofft,<br />

er kann sein Problem lösen. Aber er kann das Problem<br />

THEATER<br />

39


THEATER<br />

40<br />

nicht lösen. Man fängt an zu lachen über ihn, über sein<br />

Missgeschick. Nicht über das, womit er uns unterhalten<br />

will. Wir lachen über seine Not, seinen Kampf im Dschungel<br />

des Lebens bestehen zu können. Zum Beispiel: Ein<br />

Clown will unbedingt auf diese Bühne hochkommen. Er<br />

kommt aber nicht hoch, ein normaler einfacher Vorgang<br />

wird für ihn zum Desaster. Und irgendwann verstehen wir<br />

seine Not und fiebern mit ihm mit. Hoffentlich schafft<br />

er es! Jedoch jedes seiner Missgeschicke bringt uns zum<br />

Lachen. Wir sind einem Menschen nicht böse, dass der<br />

dümmer ist als wir, sondern wir sehen, spüren eine Verwandtschaft<br />

mit ihm. „So könnten wir vielleicht auch<br />

einmal sein“ Das Lachen befreit uns davon. Und er tut es<br />

für uns, weil wir sind ja nicht so. Und da sind auch schon<br />

wieder beim Kind gelandet. Kinder mögen es, über das<br />

Missgeschick zu lachen. Das Theater ist keine moralische<br />

Anstalt. Man darf über jemand lachen. Das ist auch Ziel<br />

und Zweck und ein Sinn des Theaters, die Menschen zur<br />

Freude zu bringen und nicht (nur) um aufzuklären.<br />

Und das ist sowieso – im Nebensatz – ein Problem<br />

von uns, dass wir immer denken: Theater soll etwas mit<br />

Bildung oder mit Bilden zu tun haben. Der Beruf heißt<br />

Schau-Spieler. Wir spielen Theater. Es heißt nicht so<br />

etwas wie Hör-Saal oder so ähnlich, sondern es geht um<br />

Spiel. Und das Schauspielen ist ein Handwerk. Das kann<br />

man lernen.<br />

Da würde ich gern mal etwas versuchen. Was macht<br />

eigentlich ein Schauspieler aus? Es gab schon einen<br />

amerikanischen Präsidenten, der Schauspieler war. War<br />

der nun wirklich Präsident oder hat er den Präsidenten<br />

gespielt, also Rolle sozusagen? Das wäre eine wichtige<br />

Frage. Aber wir wollen weitergehen. Vielleicht können<br />

wir mal ein Experiment machen. Möchte jemand mitspielen!<br />

Kommen Sie doch mal!<br />

Ein Zuschauer wird auf die Bühne gebeten: Es beginnt<br />

ein Versuch, in dessen Verlauf dieser Aufgaben erhält.<br />

Es heißt Adventure, das folgende Experiment. So. Sie<br />

sind ein vollkommen normaler Mensch. Und ich auch.<br />

Lacher aus dem Publikum<br />

Stellen wir uns mal nebeneinander. Hier stehen wir<br />

nun, sozusagen. - Privat, nein eher halb privat. Und sie<br />

gucken sich das jetzt an. Sie denken: Den habe ich jetzt<br />

eine Viertelstunde reden hören. Sie haben sich ein inneres<br />

Bild von mir gemacht. Was ist das für einer? Warum<br />

redet der so? Warum bewegt er sich so? Ihn kennen Sie<br />

noch nicht. Aber jetzt fangen Sie an, auch über ihn ein<br />

Bild zu machen, wollen ihn erfassen. Privat könnten wir<br />

hier so stehen, aber wir sind auf einer Bühne, wir sind<br />

beide sozusagen öffentlich.<br />

Jetzt machen wir was Anderes. Ich geben Ihnen jetzt<br />

eine Aufgabe. Ich stelle sie mir auch, mir zuerst:<br />

Das ist eine Bühne. Die Bühne hat eine Begrenzung.<br />

Sie ist so und so groß. Und nun versuche ich neutral<br />

über die Bühne zu gehen. Und Sie machen das auch,<br />

neutral über die Bühne gehen. Ich überquere jetzt die<br />

Bühne neutral.<br />

Peter Lüchinger geht über die Bühne.<br />

Jetzt machen Sie das auch.<br />

Versuchsperson geht über die Bühne.


Ich habe das Wort neutral nicht gross betont. Frage an<br />

die Zuschauer: Was haben Sie gesehen? Was hat jeder<br />

einzelne von Ihnen gesehen? Neutral? Sie haben ‚neutral’<br />

gesehen? Echt? – Dann waren wir richtig gut.<br />

Gelächter im Publikum<br />

Jetzt fangen wir mit der Schauspielerei an. Das neutrale<br />

war eigentlich auch schon Schauspielerei. Aber wir üben<br />

das jetzt mal. Ganz ruhig, immer neutral bleiben! Sagen<br />

Sie mir ein Gefühl!<br />

Müde.<br />

Gut.<br />

Peter Lüchinger geht müde über die Bühne.<br />

Was haben Sie gesehen? Sie dürfen reden. – Müde? alt?<br />

lustlos?<br />

Aus dem Publikum:<br />

langsam ... langweilig ... fertig ... erschöpft.<br />

Peter Lüchinger:<br />

Also: Jeder sieht etwas Anderes. Der Auftrag war ja nur<br />

müde über die Bühne zu gehen. Ich kann das gar nicht<br />

„wahr“ spielen. Müde. Bei einem schlechten Theater<br />

würde müde so aussehen:<br />

Peter Lüchinger gähnt mit Betonung.<br />

Das ist nicht müde. Das ist ein blödes Ausstellen, ein<br />

Klischee von müde. Das ist ein vorgefertigtes Bild erfüllen.<br />

Das ist nicht Theater.<br />

Und zur Versuchsperson gewandt:<br />

Jetzt kommen Sie dran. Versuchen Sie das auch mal.<br />

Müde über die Bühne zu gehen.<br />

Was passiert während ich spreche: Er ist auf der Bühne<br />

und denkt, er muss jetzt etwas machen, etwas darstellen.<br />

Es fängt schon an: Bühnenstress!<br />

Das ist normal. Den habe ich auch als Schauspieler.<br />

Das ist normal. Denn auf der Bühne fehlt auf einmal<br />

alles. Es fehlt unser soziales Umfeld. Sie haben keinen<br />

Stuhl, keine Anhaltspunkte mehr. So leer ist es hier<br />

oben. Es gucken Tausende Augen, na ja, es sind nicht<br />

Tausende, achtzig etwa. Achtzig Augen auf sie. Und man<br />

denkt. „Oh Gott! Die sehen alle Fehler.” So geht es mir<br />

auch. Das gleiche Gefühl habe ich auch.<br />

So jetzt versuche wir zusammen mal etwas:Stellen Sie<br />

sich vor, sie sehen da vorne, ... aber schön langsam ...<br />

sie gucken da hin. Jetzt sehen Sie noch eine schwarze<br />

Wand, die Rückwand vom Kino. Da oben sind die Filmprojektoren,<br />

die Projektionslöcher. Und jetzt stellen Sie<br />

sich vor, langsam, sie sehen ein Meer. Es ist wunderbar<br />

warm: dreißig Grad. Sie hören das Rauschen. Sie entdekken<br />

ein Schiff, ganz weit draußen. Das fährt von links<br />

nach rechts. Sie würden gerne auf dem Schiff sein. ...<br />

Und jetzt sehen Sie einen wunderschönen Sonnenuntergang,<br />

über dem Meer ... Und jetzt stellen Sie Sich vor,<br />

Sie sind etwa fünfzehn, nee zehn Jahre alt. ... Sie, der<br />

sich dieses Meer anguckt. Schauen Sie alles nochmals<br />

an, das Schiff, den Sonnenuntergang....So. Danke!<br />

Verhaltene Lacher im Publikum, das Peter Lüchinger<br />

dann befragt:<br />

THEATER<br />

41


THEATER<br />

42<br />

Was haben Sie gesehen? Wenn ich das jetzt nicht gesagt<br />

hätte, wenn Sie meine Worte nicht gehört hätten. Hat<br />

sich bei ihm etwas verändert?<br />

Wie und was hat sich verändert? Er hat ja nichts dargestellt.<br />

– Die Phantasie hat ihm den Ausdruck gegeben.<br />

Seine Vorstellung hat ihn zu diesem Ausdruck gebracht.<br />

Sie sehen, es ist nichts Kompliziertes, das Schauspielen.<br />

Das ist unser Beruf. Eigentlich ist genau das Schauspielerei.<br />

Das heißt hohe Konzentration auf diese Bilder,<br />

auf die imaginierten Bilder. Die da unten, die wissen ja<br />

nicht, was sie sich vorstellen. Aber sie interpretieren<br />

den Ausdruck. Mit zehn, fünfzehn, da waren sie noch<br />

jung. Und das ist ein Geheimnis: Die müssen die ja nicht<br />

wissen, dass sie längst fünfzig sind.<br />

Gelächter im Publikum<br />

Menschenskind, fünfzehn. Da strahlen Sie. Da war das<br />

Leben noch leicht, locker. Was anderes. Jetzt arbeiten<br />

wir mal an Kälte.<br />

Jetzt stehen wir hier auf dieser leeren Bühne, normale<br />

Raumtemperatur. Wir haben nichts, keine Requisiten,<br />

keine Kostüme, wie Handschuhe, nichts. So nun kommt<br />

die Anleitung zum Lügen. Stellen Sie Sich vor: Es wird<br />

kalt. Im schlechten Theater macht man dann so.<br />

Peter Lüchinger reibt sich die Hände.<br />

Aber stellen Sie sich einfach mal vor, was passiert wenn<br />

es kalt ist. Es ist kühl. Um Gottes Willen. Man fängt an<br />

zu frieren. Die Vorstellungskraft macht, dass wir frieren.<br />

Und irgendwie wird man immer kleiner. Man zieht<br />

sich zusammen. Dann zeigt man das vielleicht auch,<br />

indem man sich gegen die Kälte wehrt. Man fängt an zu<br />

handeln, man will ja nicht frieren. Man will es eigentlich<br />

warm haben. Und schon erzählen wir eine kleine<br />

Geschichte. Denkpause! – Nun weiss jeder unten: Auf<br />

dieser leeren Bühne, in unserem Raum hier oben, ist<br />

es kalt. Aber tatsächlich sehen wir noch einen grauen<br />

Boden, eine graue Wand. Aber irgendwann glauben Sie:<br />

Der hat wirklich ein Problem, der hat wirklich kalt, sie<br />

fühlen mit der Person oben mit, sie glauben die kleinen<br />

Geschichte über die Kälte …<br />

Lacher im Publikum<br />

und nun können wir die Geschichte noch weiterführen,<br />

es liegen Steine auf dem Boden, spitze Steine: „Aua,<br />

aua.“ Alles tut weh. So einfach ist es. Wieder von den<br />

Kindern ausgehen! So einfach könnte es sein, wenn<br />

nicht der Autor uns ... Ach vielen Dank!<br />

Peter Lüchinger verabschiedet die Versuchsperson.<br />

So einfach könnte es sein, wenn der Autor nicht so viel<br />

vorgäbe, eine komplexe Geschichte. Das Stück ist eine<br />

Partitur, die so viel hintereinander an Emotionalität,<br />

Brüchen, Gegensätzen usw. komprimiert. Bisher haben<br />

wir schön langsam gearbeitet. Das waren noch einfache<br />

Geschichten. Jedoch eine Partitur vom Autor gibt dem<br />

Schauspieler eine völlig fremde Welt vor. Der Schauspieler<br />

muss mit seiner Figur in diese Welt eintreten. Er muss<br />

sie mit Hilfe seiner Phantasie erforschen. Das Stück ist<br />

eine klare Vorgabe und die Schauspieler müssen all diese<br />

Vorgaben so erfüllen, dass die Zuschauer alll die „Lügen“<br />

glauben.


Ich werde jetzt noch einen Text vorlesen: Eine Anleitung<br />

zum Theater spielen.<br />

Es gibt ein Stück. Das heißt: Der Sommernachtstraum.<br />

Da gibt es die Handwerker. Und das ist meiner Meinung<br />

nach eine der besten Anleitungen fürs Theaterspielen.<br />

Hier kann man hören, wie Shakespeare sich „sein“ Theater<br />

vorstellte. Sie müssen ganz naiv zuhören.<br />

Zum Inhalt: In diesem Stück sollen Handwerker eine<br />

Theaterstück zu Aufführung bringen, sie sollen Theaterspielen:<br />

Sommernachtstraum<br />

Die Handwerker treffen sich zu einer Probe. Zweite<br />

Szene.<br />

Szenenanfang, Zettelt tritt auf, die anderen sind schon<br />

da.<br />

Zettel: Sind wir alle da?<br />

Squenz: Pünktlich wie die Mauer. Und hier ist ein<br />

exquisiter Platz für die Probe. Dieser grüne Fleck ist<br />

unsere Bühne, der Hagedornbusch die Garderobe;<br />

und wir wollens mit Aktion machen, wie wirs machen<br />

wollen vorm Herzog.<br />

(Die müssen Theater spielen vorm Herzog.)<br />

Zettel: Das sind Sachen in dieser Komödie von Pyramus<br />

und Thisbel, die werden nie gefallen. Erst mal, Pyramus<br />

muss ein Schwert ziehen, um sich umzubringen, was<br />

die Ladies nicht vertragen können. Was sagen Sie dazu?<br />

Handwerker dazwischen: Das müssen wir weglassen, das<br />

ist ein heikler Punkt.<br />

Zettel: Kein Stück: ich hab eine Idee, die alles in Lot<br />

bringt. Schreiben Sie mir einen Prolog: und im Prolog<br />

soll in etwa stehen, dass wir keinen Schaden anrichten<br />

wollen mit unseren Schwertern; und dass Pyramus<br />

nicht echt umgebracht wird; und um noch besser versicherter<br />

zu sein, sagen Sie ihnen, dass ich, Pyramus,<br />

micht Pyramus bin, sondern Zetter der Weber. Das wird<br />

ihnen die Furcht wegnehmen.<br />

Squenz: Gut, dann kommt so ein Prolog.<br />

Handwerker. Also, da haben wir noch ein anderes Problem.<br />

Einen Löwen. Werden die Damen nicht Angst<br />

kriegen vor dem Löwen?<br />

Zettel: Wir können doch einen Löwen nicht unter die<br />

Ladies bringen. Das ist ja ein höchst erschreckliche<br />

Sache. Denn es gibt nicht noch einmal so ein grässliches<br />

Raubwild wie einen Löwen. Ich sage da nur:<br />

Aufgepasst! Da sagt ein anderer: Wir müssen einen weiteren<br />

Prolog schreiben, dass er kein Löwe ist. Nein, wir<br />

müssen seinen Namen nennen und sein halbes Gesicht<br />

muss durchkucken durch den Hals vom Löwen. Und er<br />

muss selber durchbrechen und sagen etwa des Inhalts<br />

gemäss: „Ladies“, oder „zarte Ladies“, - „ich möchte<br />

Sie bitten“ - , oder „ich möchte Sie ersuchen“,- oder<br />

„ich möchte Sie beschwören, sich nicht zu fürchten,<br />

nicht zu zittern, mein Leben für Ihrs. Wenn sie glaubten,<br />

ich wäre als Löwe hergekommen, tät mir das für<br />

mein Leben leid. Nein: ich bin nicht so was; ich bin<br />

ein Mensch wie jeder andere Mensch“. Und dann soll er<br />

seinen Namen nennen und Ihnen klipp und klar sagen:<br />

Er ist Span, der Tischler.<br />

Squenz: Na gut, meinetwegen. Aber da sind noch zwei<br />

THEATER<br />

43


THEATER<br />

44<br />

harte Sachen, nämlich: wie bringt man das Mondlicht<br />

in das Zimmer? Denn ihr wißt, Pyramus und Thisbe<br />

treffen sich bei Mondlicht.Ja gut, also machen wir das<br />

auch noch, diesen Prolog.<br />

Handwerker: Scheint der Mond in der Nacht, wo wir das<br />

Spiel spielen?<br />

Zettel: Ein Kalender, ein Kalender! Nein in der Nacht<br />

scheint der Mond nicht. Na gut! Dann könnten wir doch<br />

folgendes machen: Wir machen einen Fensterflügel vom<br />

großen Saal auf, wo wir spielen. Und dann kann der<br />

Mond durch das Fenster hereinscheinen.<br />

Oder, sagt der Zettel, denn das ist ein ganz kluger, es<br />

kommt einer rein mit Dornbusch und Laterne und sagt:<br />

Er präsentiert und bekörpert die Person des Mondscheins.<br />

Dann ist noch eine Sache: Wir brauchen eine Mauer im<br />

großen Saal; denn Pyramus und Thispe – sagt die Fabel<br />

– sprechen durch den Ritz von einer Mauer. Handwerker<br />

dazwischen rufend: Also eine Mauer kriegen wir da nie<br />

rein. Das ist ja unmöglich.<br />

Zettel: Gut dann muss irgendein Mann die Mauer vorstellen.<br />

Und er soll etwas Mörtel und etwas Leim oder<br />

etwas Putz an sich dran haben. Das bedeutet Mauer.<br />

Und er soll seine Finger hinhalten – so – das ist dann<br />

das Loch und durch diese kleine Klinze sollen Pyramus<br />

und Tispe flüstern.<br />

So hat sich Shakespeare Theater vorgestellt. Die Frage,<br />

die da aufgezeigt wird, ist: Wie kann man ein großes<br />

Drama auf diese kleine Bühne bringen? Mit Mauer, mit<br />

Mond etc., etc. Shakespeare hat die Regieanweisungen<br />

mitgeliefert. Wenn man es so wie die Handwerker macht,<br />

dann ist es schon lustig und interessant.<br />

Aber versuchen wir, noch weiter zu kommen. Im Theater<br />

geht es neben vielem auch noch um die emotionalen<br />

Zustände von Figuren. Und da geht es natürlich um<br />

Worte, die diese transportieren müssen.<br />

Was wir in der heutigen Zeit oft machen, wenn wir<br />

einen emotionalen Zustand beschreiben müssen, so<br />

sagen wir: Mir geht es schlecht. Ich fühle mich Scheisse<br />

... Wir meinen in einem Satz alles ausgedrückt zu haben.<br />

Das heißt, wir haben nicht mehr die sprachliche Fähigkeit,<br />

unsere inneren Gefühle mit Worten nach außen zu<br />

tragen.<br />

Um diese innere Welt zu zeigen, bedient sich ein guter<br />

Autor wie Shakespeare Metaphern, um beim Zuschauer<br />

etwas auslösen zu können: Diese Aufgewühltheit, die<br />

Zerrissenheit oder die Angst. Es gilt, die ganze Emotionalität<br />

einer Figur so an den Zuschauer zu bringen,<br />

dass mit dem Gesprochenen auch die ganze Gefühlswelt<br />

aufgezeigt wird. Und Gefühle sind meistens viel grösser<br />

und stärker als wir denken. Sie können auf die unterschiedlichsten<br />

Weisen in Worte gefasst werden. Würde<br />

wir es heutig, umgangssprachlich veräussern, wären alle<br />

Theaterstücke von sehr kurzer Dauer. Um das zu erklären,<br />

lese ich einen Teil einer Szene aus König Lear vor, in<br />

der ein König am Ende ist und nicht mehr weiter weiß.<br />

Heutig gesprochen, „es geht ihm schlecht“<br />

Was macht er? Der König geht aufs Land, in die Natur,<br />

und fängt an die Natur herauszufordern. Und er schreit.


Blast Stürme, sprengt die Backen! Rast! Blast!<br />

Ihr Katarakte und Orkane, speit:<br />

Ertränkt die Kirchtürme, ersäuft die Wetterhähne!<br />

Ihr schwefligen, gedankenschnellen Blitze,<br />

Vorreiter eichenspaltender Donnerkeile,<br />

Versengt mein weisses Haupt! Du, allerschütternder<br />

Donner,<br />

Schlag diese feiste, runde Erde platt!<br />

Zertrümmer jede Gußform der Natur;<br />

Auf einen Schlag vernichte jeden Samen,<br />

Aus dem der undankbare Mensch entsteht!..<br />

Furz deine Därme leer!<br />

Kotz Feuer! Rülps, piss Regen!<br />

Regen, Donner, Wind und Feuer, sind nicht meine Töchter.<br />

Euch Elemente schimpf ich nicht unmenschlich.<br />

Euch gab ich nie ein Königreich.<br />

Euch nannt ich niemals Kinder.<br />

Ihr schuldet mir nicht Demut.<br />

Also schüttet eure fürchterlich Lust herab.<br />

Hier stehe ich: ein armer, schwacher und verhasster<br />

Greis.<br />

Was würden Sie sagen, wenn Sie so was hören? Wie geht<br />

es diesem Menschen? Da hört man doch eine hochgradige<br />

Verzweiflung. Das heißt: Er wünscht, dass er vom<br />

Donner erschlagen wird. Da ist eine erbärmliche Ausweglosigkeit,<br />

das Leben soll nicht weiter gehen. Was Shakespeare<br />

auch behauptet, ist, dass man mit dem Himmel<br />

reden kann. Kann man mit dem Himmel reden? Wer sitzt<br />

da oben? Mit Gott kann man reden. Man kann die Ele-<br />

mente anrufen. Man kann alles aus sich rausholen, um<br />

einen inneren Zustand zu zeigen. Und er sitzt am Ende<br />

seines Ausbruchs da, erschöpft, erniedrigt und sagt:<br />

Aber eigentlich passiert ja nichts. Mein Flehen nach dem<br />

Ende wird nicht erfüllt, die Natur erfüllt meinen Wunsch<br />

nicht, ich muss weiterleben. Und sie haben in diesem<br />

kurzen Text die extreme Seelenlage dieser Figur mitgekriegt,<br />

erfassen können. Oder nicht? Bis jetzt waren es<br />

nur die Worte? Wenn nun noch das ganze Spiel dazukommt,<br />

wird es noch ein bisschen aufregender. wahrscheinlich<br />

auch noch ein bisschen erschütternder.<br />

Was gibt es noch im Theater, das die Lüge unterstützt?<br />

Die Schauspielerei haben wir berührt und auch geübt.<br />

Was noch? Ja, wir können uns noch verkleiden, was sehr<br />

beliebt ist und auch eine grosse Lust macht. Ich, als<br />

Schauspieler, kann jemand anderer sein, mit meinem<br />

Äusseren, mit meinem Kostüm, mit meinen Gesten. Ich<br />

kann einen anderen Menschen imitieren. Beispiel: Ich<br />

kann alt werden, kann mir die Haare grau machen. Und<br />

wenn ich das gut mache dann glauben Sie mir, dass ich<br />

alt bin. Und da haben wir die nächste Lüge. Man kann<br />

auch - was wir bei der Shakespeare Company teilweise<br />

machen – das Geschlecht wechseln, als Mann eine Frau<br />

spielen oder umgekehrt. Und auch dass kann man glauben,<br />

vorausgesetzt die Grundverabredung stimmt, dass<br />

Sie mir glauben wollen. Wenn nicht, dann habe ich, der<br />

Schauspieler, keine Chance.<br />

Eine kleine Geschichte – weil wir heute im Kino sind:<br />

Wir hatten mal ein Stück in unserem Spielplan, das<br />

hieß Comedian Harmonists. Da haben wir folgendes versucht:<br />

THEATER<br />

45


THEATER<br />

46<br />

Im Kino werden viele Geräusche nachträglich eingespielt,<br />

produziert von einem Geräuschmacher. Das weiß<br />

der Zuschauer aber nicht, sondern wir sehen uns den<br />

Film an und denken: Super! Da schießen sie in echt. Da<br />

laufen sie real die Treppen hoch, etc. Wir glauben den<br />

Geräuschen, die wir hören. Und weil wir einen Geräuschemacher<br />

kannten, haben wir ihn gefragt, ob er uns<br />

mal zeigen kann, wie es Film zu und hergeht, wie diese<br />

Geräusche produziert werden.<br />

Es gibt ein Film von Wim Wenders: Lisbon story. In<br />

diesem Film wird die Arbeit eines Geräuschemachers teilweise<br />

gezeigt. Das heißt, mit dem Inhalt dieser kleinen<br />

Kiste des Geräuschmachers, nur ein Reisekoffer voller<br />

„Instrumente, kann man eine ganze Bilderwelt auf die<br />

Bühne, ich meine in einen Film, stellen. Und wenn Sie<br />

wüssten, wie das geht, dann sagen Sie: Ach Gott, das ist<br />

es. So einfach ist das. Mit so einfachen Mitteln erzeugt<br />

er diese Geräsuche.<br />

Aber das heißt auch: Unser Ohr will das glauben, was<br />

es sieht. Und es verbindet die beiden Eindrücke, Wahrnehmungen<br />

und sagt: Stimmt. Richtig. Das ist Regen.<br />

Wie macht man das Geräusch von Regen? Mit alten Filmrollen,<br />

entrollt, und einfach ein bisschen drehen, mit<br />

den Fingern drin rumwühlen. Das können Sie zu Hause<br />

mal üben, geht auch mit alten Tonbändern und gleich<br />

haben sie die Illusion: Das ist Regen. Sie koppeln zum<br />

Geräusch ein Bild von Regen hinzu. Oder – was hatten<br />

wir noch? Feuerwerk. Sehr beliebt. Ein Feuerwerk geht<br />

so: ein Ballon, aus dem man plötzlich Luft austreten<br />

lässt, durch die Öffnung, die man mit den Fingern auseinanderzieht.<br />

Peter Lüchinger macht die entstehenden Geräusche mit<br />

dem Mund nach.<br />

Dazu muss natürlich auf der Bühne etwas gespielt<br />

werden. Wenn ich dann noch an einem aufgeblasenen<br />

Ballon zupfe …<br />

Peter Lüchinger macht die entstehenden Geräusche<br />

wieder mit dem Mund nach.<br />

Dann denken Sie, es mache in der Ferne Bumm! Bumm!<br />

Jedenfalls, wenn es funktioniert. Sehr beliebt sind<br />

auch Schritte. Im Film sind diese Geräusche meistens<br />

nachvertont, wegen den verschiedenen Distanzen zur<br />

Kamera, sprich Zuschauer. Schritte sind eigentlich ein<br />

einfaches Geräusch, man nimmt ein Holztäfelchen und<br />

macht darauf die Schritte mit realen Schuhen, wie wenn<br />

man gehen würde. Man bleibt aber am Orte stehen. Jeder<br />

Schuhe erzeugt einen anderen Sound. Mit wechselnden<br />

Rhytmen kann man jemand rennen lassen oder Treppen<br />

steigen lassen etc.<br />

Das ist unheimlich spannend, wie das Hörspiel gestern.<br />

Wir könnten jeztzt das Licht ausmachen und anfangen,<br />

Geräusche zu erzeugen. Bei Ihnen würde sofort der<br />

Wunsch entstehen, die Geräusche zu dechiffrieren. Wir<br />

wollen herausfinden: Was könnte das sein? Da wir eine<br />

Antwort finden wollen, spekulieren wir. Wir überlegen,<br />

was könnte es sein. Wir gleichen das nicht real erzeugte<br />

Geräusch mit unserer Erinnerung ab und finden dadurch<br />

eine scheinbare Realität.<br />

Und so oder ganz ähnlich funktioniert Theater. Wir<br />

bauen aus den verschiedenen Eindrücke von der Bühnenwelt<br />

eine eigene Welt zusammen.


Was brauchen wir noch für das Theater, um der Lüge<br />

einen Ausdruck zu geben? Wir hatten schon die Kostüme,<br />

die Bühne, Schauspieler, kommt noch das Licht – das<br />

ist aber etwas Modernes. Mit Licht haben wir unendlich<br />

viele neue Möglichkeiten dazu gekriegt. Wir können das<br />

Geschehen wegzaubern oder wir können mit Licht etwas<br />

abgrenzen, betonen etc. Aber das wäre schon wieder ein<br />

neues Feld. Also lassen wir es bei diesem. Viel mehr<br />

brauchen wir nicht fürs Theater.<br />

Um dem Autor gerecht zu werden: Zum Abschluss noch<br />

ein Monolog:<br />

Die ganze Welt ist eine Bühne,<br />

Und alle Fraun und Männer nichts als Spieler.<br />

Sie haben ihren Auftritt, ihren Abgang,<br />

Und jeder spielt im Leben viele Rollen.<br />

Die Akte sieben Alter. Akt eins: der Säugling,<br />

der kreischt und kotzt im Arm der Amme.<br />

Dann, quengelig, der Schüler mit dem Ranzen,<br />

Mit frischen Morgenblick, kriecht wie ne Schnecke<br />

Zur Schule, widerwillig. Dann, der Verliebte,<br />

Seufzt wie ein Ofen, herzzereissend, Reime<br />

Aufs Haar der Geliebten. Dann, Soldat,<br />

Voll fremder Flüche, bärtig wie ein Panther,<br />

Kitzlig in Ehre, hitzig, blitzschnell in Streit,<br />

Sucht er die Seifenblase Ruhm selbst noch<br />

In der Kanonenmündung. Dann, der Richter,<br />

Schön rund der Bauch, gut mit Kapaun gefüttert,<br />

Gestrengen Blicks, den Bart korrekt gestutzt,<br />

Voll klüger Sprüche, platten Fallbeispielen,<br />

So spielt er seine Rolle. Sechstes Alter,<br />

Neues Fach: der hagere Greis im Jugendwahn<br />

Die Brille auf der Nase, Geld im Strumpf,<br />

Die jugendliche Hose, gut geschont,<br />

Ne Welt zu weit für seine Schrumpelschenkel,<br />

Und seine kräftge Männerstimme kippt<br />

Zurück zum kindischen Diskant, fistelt<br />

Und piepst wie dieser. Letzte Szene: Ende<br />

Des seltsam-wechselvolln Historienspiels;<br />

Die zweite Kindheit, völliges Vergessen,<br />

Kein Zahn, kein Auge, kein Geschmack, kein gar nichts.<br />

Danke.<br />

(Jacques aus „Wie es euch gefällt“ von W. Shakespeare)<br />

Wenn Sie Fragen haben, über die vorgetragenen<br />

Thesen, bitte, fragen Sie. War Alles so schlüssig? – Ja?<br />

Frage:<br />

Bisher haben Sie viel über Phantasie gesprochen. Wie<br />

versteht ein Schauspieler die Phantasie? Was ist die<br />

Phantasie für Sie?<br />

Antwort Peter Lüchinger:<br />

Darüber habe ich am Anfang gesprochen. Was war zuerst<br />

da, das Ei oder das Huhn? Ich denke: Es gibt so etwas<br />

wie eine kollektive gesellschaftliche Phantasie, die wir<br />

weiter vererben über Generationen. Die Menschheit<br />

THEATER<br />

47


THEATER<br />

48<br />

gibt eine Grundphantasie weiter als Muster, die wir alle<br />

dechiffrieren können. Und dann werden uns viele Dinge<br />

in der Kindheit erlebnisfähig angezogen. Aber dann gibt<br />

es noch das Unbewusste. Das Unbewusste ist etwas, das<br />

man einfach anzapfen müsste. Dann beginnt die große<br />

Kunst, wenn man eine Möglichkeit findet, diese Unbewusste<br />

materialisieren zu können. Phantasie hat jeder<br />

Mensch. Und jeder einzelne hat eine hunderprozentige<br />

Phantasie.<br />

Doch wie mache ich die Phantasie sichtbar, fassbar?<br />

Nur – was ist der Unterschied zwischen Denken und<br />

Phantasie? Wo liegt die Wahrnehmung. Wie nehme ich<br />

etwas wahr? Die Kunst des Schauspielers ist auch, die<br />

Phantasie, die ihn überkommt, verbalisieren zu können.<br />

Das ist die Kunst. Ein Musiker macht es mit Musik. Der<br />

andere macht es mit dem Schreiben. Und wir Schauspieler<br />

sind so ein Zwischending. Wir haben ja nichts. Wir<br />

haben nur unsere blöden beschränkten Körper. Der ist<br />

unser Instrument. Wir haben die Stimme, mit der wir<br />

Worte intonieren können. Und wenn die Phantasie ganz<br />

stark ist, dann nimmt das Instrument sie auch an. Aber<br />

man muss die Phantasie orten können. Denn sonst deckt<br />

sie ihren Wirt total zu. Das ist ein wahnsinniger Trip.<br />

Ein große Problem der Theaterkunst ist: Wir müssen uns<br />

reproduzieren können. Im Gegensatz zum Film. Beim<br />

Film spielt der Schauspieler, dann wird es aufgenommen<br />

und dann ist der Vorgang festgehalten. Im Theater<br />

müssen wir üben, wir müssen es wiederholbar machen.<br />

Wir müssen die Emotionalität, den körperlichen Ausdruck,<br />

etc. oft wiederholen können, frei und offen aber<br />

doch präzise. Für sich allein ist das noch einfach. Aber<br />

dann kommt noch ein Kollege mit auf die Bühne. Der<br />

stört dann schon. Dann kommen drei auf die Bühne, das<br />

macht es noch schwieriger, dass Sie den Ausdruck als<br />

etwas völlig normales, als etwas jetzt gelebtes ablesen<br />

können. Und es muss als etwas geformtes ablesbar<br />

sein. Sonst wäre es eine Selbstdarstellung. Das ist der<br />

ganz große Unterschied. Ich stelle meine Phantasie der<br />

Figur zur Verfügung. Zum Beispiel: Wenn ich den Hamlet<br />

spiele, und ich weiss ich der Hamlet begeht einen Mord<br />

dann kann ich als friedliebender Schauspieler nicht<br />

kommen und sagen: Ich kann niemand umbringen. Wenn<br />

ich das sage, dann kann ich eigentlich den Hamlet nicht<br />

spielen. Das heißt: Meine Phantasie muss mir zeigen, wie<br />

ich einen Mord mache. Ich muss ja nicht jemand umgebracht<br />

haben, um das spielen zu können. So naiv darf<br />

man sich das nicht vorstellen. Als Schauspieler muss ich<br />

die Fähigkeit haben, so genau spielen zu können, wie es<br />

wäre. wenn man das und das tut. Dann kann ich es noch<br />

variieren. Aber Sie müssen mir das glauben. Deswegen<br />

ist die Frage: Was glauben Sie mir? Vielfach sagen die<br />

Leute im Theater: Wenn die Pistole so aussieht, dann<br />

kann er damit ja niemand umbringen. Das ist aber nur<br />

das äußere Zeichen. Und wenn es das gewesen ist, ist<br />

man als Schauspieler immer ein bisschen enttäuscht<br />

und denkt: Scheiße, jetzt haben sie nur das gesehen.<br />

Den Glauben will man woanders erzeugen. Den will man<br />

eigentlich hier erzeugen.<br />

Peter Lüchinger zeigt auf seine Stirn.<br />

Wenn das klappt, dann waren wir relativ gut auf der<br />

Bühne.


Frage:<br />

Du hast ja mehrfach betont, dass du uns auf der Bühne<br />

immer wieder gern anlügst. Mir erscheint das ein bisschen<br />

wie Kokettieren. Ich finde gerade das Spannende,<br />

dass ich mich im Theater nie angelogen fühle. Ich gehe<br />

gern ins Theater und fühle mich nie belogen, sondern<br />

für mich ist Theater eine Einladung. Wo ich tagtäglich<br />

belogen werde und das auch so wahrnehme, das ist tatsächlich<br />

im Fernsehen. Die Bilder lügen mich wesentlich<br />

eher an als das Theater. Das Theater ist für mich eine<br />

Einladung.<br />

Antwort Peter Lüchinger:<br />

Heute sind wir viel auf das Lügen gekommen. Ich wollte<br />

eigentlich auf etwas Anderes hinaus. Wir haben da oben<br />

die Bühne. Die Bühne ist doch auch die politische Bühne.<br />

Wenn man zum Beispiel diesen ganzen Wahlkampf sieht,<br />

dann denkt man: Das sind ja zwei wahnsinnig schlechte<br />

Schauspieler. Da liegt das Problem. Den Gedanken<br />

müsste man weiter diskutieren. Die Bilder, die wir über<br />

das Fernsehen kriegen, sind ja auch keine realen Bilder.<br />

Das, was ich hier erzähle, ist nichts Neues. Eigentlich<br />

steht da nur ein Politiker. Das ist sein Beruf. Nur wie<br />

man diesen Beruf ausführt, dass sollte er üben. Wenn er<br />

schon Millionen von Menschen führen will und soll, dann<br />

sollte er doch bitte auch dafür Geld investieren, dass er<br />

eine gute Ausbildung erhält. Der Politiker soll mich auch<br />

unterhalten. Wir haben ja das Gefühl: Wir wählen einen<br />

Politiker und mit dem Politiker wählen wir auch noch<br />

eine Person. Also wählen wir auch den Menschen Schröder.<br />

Dem ist aber nicht so. Der Gewählte ist der Herr<br />

Bundeskanzler, der den Namen Schröder trägt. Wenn<br />

wir gute Schauspieler sind, können wir den sehr schnell<br />

nachspielen. Der hat eine Funktion und eine festgelegte<br />

Verantwortung auszufüllen. Das ist es, was ihn ausmacht.<br />

Aber das, was wir sehen und hören und wahrnehmen<br />

ist nicht das, was einen Politiker ausmacht. Wenn<br />

man Schröder sieht, kommt nichts Neues dazu, außer<br />

dass bei ihnen noch der Reflex hinzukommt: Oh Gott, oh<br />

Gott schon wieder! Er lebt nicht. Der Politiker hat ein<br />

ganz großes Problem. Er kann oder darf keine Unmittelbarkeit<br />

herstellen. Joschka konnte das früher teilweise,<br />

spontan reagieren, spontan reden. Im Theater erlügen<br />

wir die Spontaneität. Wenn wir auf die Bühne gehen,<br />

tun wir so, als ob wir das Stück noch nicht kennten. Aber<br />

wir wissen ja schon das Ende. Aber wir gaukeln Ihnen<br />

vor: Ich habe keine Ahnung, was im fünften Akt passiert.<br />

Das nenne ich die kokettierte Lüge. Das Schöne<br />

ist: Sie machen Sie auch mit. Das ist ganz wichtig. Das<br />

funktioniert in der Politik aber nicht. Spontane Gefühle<br />

darf man nicht zeigen, weil ja alles aufgezeichnet wird.<br />

Und dann wäre es im Bild und Ton festgehalten: Da hat<br />

er einen falschen Satz gesagt. Da kann eine ganze Welt<br />

zugrunde gehen. Diese Angst ist was völlig absurdes,<br />

sie engt ein, macht alles tödlich klein. Ich finde es toll,<br />

wenn Leute ins Theater gehen. Denn ich finde zu lügen<br />

etwas Tolles. Also nur auf der Bühne lügen! Im Leben<br />

sollten Sie ganz ehrlich sein!<br />

Frage:<br />

Eine Frage direkt hinterher: Gehört nicht das schlechte<br />

Spiel von Bush und Kerry zu dieser Art von Bühnenin-<br />

THEATER<br />

49


THEATER<br />

50<br />

szenierung dazu? Kürzlich ging ja durch die Presse – im<br />

zweiten Gespräch zwischen Bush und Kerry im Fernsehen<br />

glaube ich – im dritten Programm ist das als der<br />

Billy Vanilly der Weltpolitik charakterisiert worden – das<br />

ganze schlechte Schauspiel liest das anders aus, nämlich<br />

dass er eine Marionette ist, dass er ferngelenkt ist. Das<br />

es da auch noch Leute gibt, die eigentlich auch kommunikative<br />

Macht haben. Das macht ihn zu einer Art<br />

von Gliederpuppe in diesen Fernsehszenen. Also was ich<br />

meine: Ist schlechtes Schauspiel nicht ein Hinweis auf<br />

Realität. Also nicht von Illusion, die du so stark betont<br />

hast, was ich auch richtig finde. – Wie du das gemacht<br />

hast, fand ich einfach toll. Das sei nebenbei gesagt. –<br />

Schlechtes Schauspiel ist ein Indikator dafür: Dieses ist<br />

nicht Bühne. Wenn man im Fernsehen Reality TV-Shows<br />

sieht. Zum Beispiel die Fahndungssendung im ZDF, die<br />

am Freitagabend läuft. Da kann man nicht hingucken.<br />

Das ist gruselig, was da an Schauspiel abgeliefert wird.<br />

Aber möglicherweise dient genau dieses schlechte<br />

Schauspiel zur Authentifizierung, dass wir es hier nicht<br />

mit einer Illusionen schaffenden Bühne zu tun haben,<br />

sondern mit etwas, das auf die Realität bezogen ist.<br />

Das ist die erst Frage und eine zweite, die ich anschließen<br />

möchte ...<br />

Antwort Peter Lüchiner:<br />

Nicht zwei auf einmal. Ich bin Schauspieler. Ich kann<br />

mir keine Texte merken. Also: Wenn man wieder ein<br />

Shakespeare-Stück nimmt ... Shakespeare ist unheimlich<br />

gemein in seinen Stücken. Er zeigt den Politiker,<br />

wie wir ihn nicht mal sehen können. Shakespeare ist<br />

so brutal. Und Bush ist in gleicher Weise brutal. Die<br />

Bilder, die wir kriegen, lösen aber diese Brutalität nicht<br />

mehr aus, die dahinter steckt. Vielleicht noch die Fakten<br />

lösen sie aus. Mal aus dem Nähkästchen: Wenn wir in<br />

der Bremer Shakespeare Company Stücke ansetzen wie<br />

wir das gerade haben, wie König Johann. Es interessiert<br />

niemanden. Aber dennoch ist es fünf mal spannender,<br />

zwei Stunden irgendeinen Deppen – welchen auch immer<br />

– im Theater anzuschauen, weil hier die Geschichte komprimiert<br />

ist und Abgründe aufgetan werden. Was wir bei<br />

diesen Fernseh-Inszenierungen sehen, ist schlussendlich<br />

nur: Langeweile. Einfach die Überbrückung der tiefen<br />

Langeweile der Menschen. Ist das eine Antwort?<br />

Nachfrage:<br />

Ja, aber da ist ja noch die zweite Frage. Ich möchte auch<br />

noch mal auf die Cave-Installationen zurückkommen. Du<br />

hast den Illusionsaspekt sehr stark dargestellt. Das ist<br />

in der Geschichte der Künste etwas ganz Altes. Etwa das<br />

Trompe-l’æil in der bildenden Kunst, seit der Barockzeit<br />

bis heute. Je mehr an Illusionierung angeboten und je<br />

mehr der Zuschauer aufgesogen wird, desto mehr von<br />

der beabsichtigten Wirkung! Die Bereitschaft von Seiten<br />

des Zuschauers, sich zur Illusion verführen zu lassen,<br />

ist vorhanden. Sie tauchen ein in den Jurassic-Parc, in<br />

eine fingierte Realität. Im Theater – mehr als im Kino<br />

– sind wir konfrontiert mit einem Problem, dass wir<br />

Filmwissenschaftler Doppelwahrnehmung nennen: Ich<br />

sehe dich, wie du den Hamlet spielst. Aber ich sehe auch<br />

dich. Also ich sehe Hamlet und den Schauspieler beide<br />

gleichzeitig. Oder im Kino sehe ich: Das ist eine wun-


derbare illusionäre Landschaft. Ich sehe die Landschaft<br />

und gleichzeitig, das ist ein Bild. Das ist nicht 3D. Das<br />

ist Fläche. Es basiert auf einer Projektion. Wie gehst<br />

du mit dieser Tatsache um? Gehört es nicht auch zum<br />

Programm des Theaters, immer wieder diese Figur des<br />

Schauspielers zu ergründen. Um es deutlich zu machen.<br />

Nehmen wir zum Beispiel ein Brecht. Brecht sagt: Es<br />

geht nicht um die Illusion. Es wird etwas aufgeführt und<br />

es soll spürbar werden, das ist abstrakt. Es geht eigentlich<br />

nicht darum, dass der Schauspieler sich maximal in<br />

den Hamlet versenkt.<br />

Antwort Peter Lüchinger:<br />

Ich glaube, nein, der Schauspielr muss sich nicht immer<br />

weiter ergründen. In einem gewissen Alter habe ich auch<br />

so gedacht. Dann hatte ich das Privileg, andere Kulturen<br />

kennen zu lernen. Bei denen ist der Schauspieler viel mehr<br />

ein Erzähler, ein Geschichtenerzähler. Und der Erzähler<br />

– etwa in Afrika – fängt an, eine Geschichte zu erzählen.<br />

Dabei springt er von einer Figur zur anderen. Je mehr er<br />

vom Märchen erzählt, desto mehr führt er einen in diese<br />

Welten, und er als Erzähler ist am Ende gar nicht mehr<br />

da. Das ist auch mein Wunsch im Theater, dass ich hinter<br />

der Figur verschwinde. Ich bin nur Instrument. Wenn<br />

ich Instrument sein kann – emotional, seelisch und körperlich<br />

– und das der Figur zur Verfügung stellen kann,<br />

wenn ich wie bei dem Mord von Hamlet meine Phantasie<br />

zur Verfügung stelle und ich nur noch Haut und Knochen<br />

bin, dann kommt man als Schauspieler viel weiter. Denn<br />

ich überwinde das Ego-Gefühl. Aber das ist ein Problem,<br />

wenn wir in der heutigen Zeit nur noch von Schauspie-<br />

ler mit Namen oder nur von den Regisseuren reden. Das<br />

ist das Gesetz des Marktes. Wer so etwas will, soll er<br />

halt ins Theater gehen und sagen, da waren der und der<br />

Schauspieler. Also die Frage scheint mir nicht zu sein,<br />

ob ein Schauspieler gut oder schlecht ist, sondern ob<br />

wir ihm sein Spiel glauben. Theater soll nicht bewerten<br />

werden, sondern berühren. Das hat wohl etwas mit Alter<br />

zu tun. Wenn wir älter werden, werden wir auch demütiger<br />

gegenüber fremden Menschen, also gegenüber den<br />

Figuren. Nehmen wir als Schauspieler Hamlet. Na Hamlet<br />

ist der größte von allen. Aber das ist eigentlich egal.<br />

Hamlet, wie ein Diener, führt ein hundert prozentiges<br />

reiches Leben. Einen Diener zu spielen ist genau gleich<br />

wichtig wie den Hamlet. Im Stück selbst funktioniert<br />

Hamlet nur über den Diener. Die gehören zusammen.<br />

Die gehören in ihrer Welt zusammen. Auch ein Diener<br />

hat ein hundert prozentiges Leben. Das darzustellen,<br />

ist eine wahnsinnige Aufgabe. Der isst, hat Hunger,<br />

hat Bedürfnisse, hat Träume, Sehnsüchte. Und die sind<br />

genau dieselben wie die von Hamlet. Hamlet redet ein<br />

bisschen mehr. Aber das macht keinen Unterschied. Das<br />

macht keinen Unterschied dafür, ob wir als Schauspieler<br />

die Aufgabe erfüllen können. Wenn Schauspieler Urteile<br />

fällen: Das sind im Stück die kleinen Rollen, das sind<br />

die großen Rollen, dann ist eigentlich auch das schon<br />

falsch.<br />

Frage:<br />

Ich habe auch eine Frage zum Thema Illusion, die man<br />

im Theater glaubt. Könnte der Florifant in einem Theaterstück<br />

mitspielen, also eine virtuelle künstliche Figur,<br />

die in der Dschungel-Cave-Installation existiert? Könnte<br />

THEATER<br />

51


THEATER<br />

52<br />

eine solche Figur auf die Bühne springen und mitspielen?<br />

Ein solches programmiertes Wesen wäre ja mehr als<br />

Kulisse. Denn es hat ein vom Programmierer implementiertes<br />

Eigenleben wie die Tiere im Jurassic Parc. Ginge<br />

auch das? Ließe sich so lügen? Oder zersprengt solch ein<br />

Szenario das Theaterspiel. Wäre das interessant.<br />

Antwort Peter Lüchinger:<br />

Ich kenne die Installation noch nicht. Ich werde sie<br />

erst morgen sehen. Ob das interessant ist, entscheidet<br />

der Zuschauer. Wir haben ja meistens ein Brett vor dem<br />

Kopf und denken: Alles ist toll, was wir machen. Aber<br />

wenn der Zuschauer gelangweilt nach Hause geht, war<br />

es nichts. Nehmen wir die Tiere im Jurassic Parc. Was<br />

ist der Trick. Die Schauspieler machen die Tiere zu Menschen.<br />

Das ist eine Projektion. Wir geben ihnen ein Verhalten.<br />

Und der Zuschauer dechiffriert es. Deswegen ist<br />

es kein Problem. Wenn wir es akzeptieren, können wir<br />

mit Schachteln spielen. Man muss dem Zuschauer einen<br />

guten Einstieg geben, damit er das verstehen kann.<br />

Danach erzeugt man eine Konflikt, dadurch wiederum<br />

Emotionalität: Zwei Schachteln, eine rote und eine<br />

grüne können miteinander streiten. Das ist der Böse,<br />

das ist der Gute. Irgendwann lesen sie das ab. Und jeder<br />

sieht dabei etwas Anderes. Aber verbindend denken Sie:<br />

Die haben Streit. Nur glaube ich, alles kann man nicht<br />

miteinander vermischen. Wir machen gerade eine Erfahrung.<br />

Wir haben ein Stück mit Masken gemacht. ....<br />

Frage:<br />

Das passt vielleicht gut im Anschluss. Ich glaube, es ist<br />

alles eine Frage der Verabredung. Und die ist bei den<br />

Neuen Medien noch offen. Denn die Zuschauer wissen<br />

noch nicht, welche Verabredungen getroffen werden<br />

sollen. Aber bei Eurem Stück mit den Masken, diesem<br />

Wintermärchen, sehr zu empfehlen übrigens, wissen sie<br />

es. Das ist ein Stück, da haben Sie außer den Masken<br />

als Requisite nur Licht und einen Stuhl. So kam es mir<br />

jedenfalls vor. Ich war völlig fasziniert, dass so ein kleines<br />

weißes Pappschiffchen, das irgendwie wackelt, in<br />

mir Vorstellungen von Titanik und Wahnsinn und von See<br />

auslöst. Ich weiß nicht, was Ihr Euch da traut. Aber<br />

ich habe gespürt: Alle Zuschauer glauben das. Da ist<br />

wirklich nur so ein kleines weißes Pappschiffchen. Und<br />

genauso kann der Florifant aus seiner Welt raus und mit<br />

Life-Geschichten interagieren. Die Frage ist nur: Wissen<br />

alle um die Verabredung? Wo ist der Einstieg? Ich war<br />

ja auch in der Cave-Installation. Und die Frage ist: Wie<br />

komme ich da hinein?<br />

...Einwurf Peter Lüchinger: Das ist ganz wichtig.<br />

... Fortsetzung Frage:<br />

Irgendwo muss der Anfangspunkt und das Agreement<br />

sein: Wir sind jetzt drin. Wenn wir drin sind, dann ist viel<br />

egal. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass wir bestimmte<br />

Erwartungen an verschiedene Medien haben. So ist das<br />

im Kino ja auch. Wenn ich zum Beispiel viel Hollywood-<br />

Mainstream-Kino anschaue, und dann wieder anfange,<br />

70er Jahre Fassbinder-Filme zu kucken. Dann denke ich:<br />

Mein Gott ist der langsam. Das liegt an meinen Erfahrungen<br />

mit dem Kino, und diese Erfahrungen muss man<br />

mit einbeziehen, was die Weiterentwicklung der Neuen<br />

Medien angeht.


Antwort Peter Lüchinger:<br />

Ich möchte noch einmal auf die Masken zurückkommen.<br />

Deren Magie kann man nicht erklären. Ich bin gar nicht,<br />

ja absolut nicht esoterisch. Aber wir haben jetzt vier<br />

Monate mit Masken gearbeitet. Wir haben die Masken<br />

selber gebaut. Und Masken sind einfach nur geformte<br />

Pappe. Vier Schichten Pappe und drei Schichten Farbe<br />

drüber.<br />

Man guckt schaut der Maske zu und man weiß das. Das<br />

ist nur Pappe, und trotdem sieht man diese Pappe sich<br />

bewegen. Was sie bewegt – keine Ahnung! Aber wir<br />

wissen, die Pappe ist nicht beweglich. Die ist hart. Aber<br />

das Tolle ist, dass sie sich bewegt.<br />

Ich – der Zuschauer – bringe sie zur Bewegung.<br />

Ich bewege sie, weil die Figuren auf der Bühne eine<br />

Geschichte erzählen und diese Geschichte einen Ausdruck<br />

hat und auf einmal sieht man die Gesichter lachen,<br />

weinen etc. Das Tolle ist, dass das Pappgesicht bei 300<br />

gelacht hat.<br />

Da treffen wir Menschen uns beim Urtümlichen. Theater<br />

ist etwas Urtümliches. Das ist ja alles modern, was<br />

ihr hier im Kino oder mit den virtuellen Welt macht.<br />

Wir, im Theater, sind noch Dinosaurier. Theater ist Dinosaurier.<br />

Wir sind nicht modern. Theater wird eigentlich<br />

immer nach den gleichen Gesetzen ablaufen. Man kommt<br />

auf die Bühne und erzählt eine Geschichte. Und irgendwann<br />

ist sie fertig. Und dann ist der Abend aus. Das<br />

kann man nicht ändern. Das ist ja das Problematische,<br />

dass Theater immer mehr versucht, dem Film näher zu<br />

kommen. Das ist aber nicht interessant. Film ist Film,<br />

und Theater soll Theater bleiben.<br />

Frage:<br />

Nur eine kleine Bemerkung. Ich muss da hinein gehen,<br />

ja das ist wichtig. Aber man muss noch tiefer gehen.<br />

Dein Stichwort Phantasie führt da auf die richtige Spur.<br />

Wir haben in der experimentellen Filmforschung Hinweise<br />

darauf, dass wir schon bei ... Also wenn wir völlig<br />

abstrakte Displays, etwa bei kleinen Dreiecken und größeren<br />

Vierecken, die sich irgendwo hin und her bewegen,<br />

dass wir dann sofort so etwa wie Intentionalitätsattributionen<br />

– so nennt sich das – hinzufügen, also wir<br />

unterstellen: Die wollen etwas, die haben miteinander<br />

zu tun. Die interagieren miteinander. Die lieben sich.<br />

Die fürchten sich. Also lauter Prozesse letzten Endes<br />

auf der Bühne, ohne dass irgendein Kontext zugesetzt<br />

worden wäre.<br />

Einwurf Peter Lüchinger: Ohne jeden Kontext? Echt?<br />

Fortsetzung Frage:<br />

Ohne jeden Kontext! Schon da funktioniert diese Unterstellung.<br />

Das ist natürlich verrückt. Und deshalb sage<br />

ich. Du hast da den Königsweg.<br />

Antwort Peter Lüchinger:<br />

Wenn du das so sagst, ist ja noch viel spannender. Ja wir<br />

wollen das sehen, weil die uns entlasten. Wir wollen da<br />

reinträumen. Wir wollen sehen, dass die einen Konflikt<br />

haben, denn ich haben ihn dann nicht mehr, weil ich bei<br />

deren Konflikt bin.<br />

Frage:<br />

Nicht der große Ausdruck, nicht das „over-acting“, sondern<br />

gerade die Abwesenheit des Ausdrucks macht even-<br />

THEATER<br />

53


THEATER<br />

54<br />

tuell den Körper des Schauspielers lesbar als besonders<br />

ausdrucksintensiv?<br />

Antwort Peter Lüchinger:<br />

Das ist der Austausch. Das wichtigste am Schauspieler<br />

sind die Augen. Wenn Sie das Auge nicht sehen, dann<br />

ist es sehr schwierig, dass Sie den Schauspieler fassen<br />

können.


WELTEN WANDERER WELTEN<br />

Mögliche Realitäten im Kino<br />

Hans-Jürgen Wulff<br />

Ausgehend von der Annahme, daß Fiktionen darauf aufruhen,<br />

daß sie mögliche Welten (in einem logischen,<br />

epistemologischen und pragmatischen Sinne) hervorbringen,<br />

gilt es zu zeigen, daß<br />

(1) die Doppelwahrnehmung, daß mögliche und reale<br />

Welt gleichzeitig exitieren, zur Wahrnehmung fingierter<br />

möglicher Welten wesenhaft dazugehört. Außerdem ist<br />

zu zeigen, daß<br />

(2) dann, wenn die Fiktion mehrere mögliche Welten<br />

umfaßt, diese nicht nur in ein logisches, sondern auch<br />

in ein semantisches Verhältnis zueinander gesetzt sind.<br />

Darum sind mögliche Welten wissensbasiert, beziehen<br />

ihre Versatzstücke nicht nur aus der (ersten) Realität,<br />

sondern auch aus den Welten, die in den Künsten als<br />

(sekundäre) mögliche Welten hervorgebracht werden.<br />

(3) Darum nutzen Weltenwechsel, die im Film dargestellt<br />

sind, das Wissen von Zuschauern um mögliche<br />

Welten einschließlich der Art und Weise, wie sie in den<br />

darstellenden Künsten dargestellt sind, und inszenieren<br />

den Wechsel der Realitäten unter Umständen auch als<br />

Wechsel des semiotischen Modus der Darstellung.<br />

1. Fiktionale Filme entwerfen mögliche Welten<br />

Eine der vielleicht elementarsten Leistungen des<br />

Zuschauers bei der Rezeption von Filmen ist der Aufbau<br />

einer inneren Repräsentation eines zusammenhängenden<br />

Raumes, in dem die Szene spielt. Ein beliebiges<br />

Beispiel: Howard Hawks‘ RED RIVER (1948) erzählt<br />

davon, wie eine Viehherde zur Eisenbahnstation getrieben<br />

wird; es entsteht eine Rivalität zwischen dem Vater<br />

und dem adoptierten Sohn, die am Ende beigelegt wird.<br />

Dabei entfaltet sich das fiktive Universum der Welt des<br />

Westens, der Lust an offenen Räumen, der moralischen<br />

Begründung des Verhaltens der Figuren, ihrer Lebensstile<br />

und -entwürfe, oft monatelang von Frauen getrennt.<br />

Eine Western-Realität eben.<br />

Dass Geschichten „mögliche Welten“ ausbilden,<br />

ist ebenso evident wie rätselhaft. Worin besteht die<br />

erzählte Welt, was sind ihre Ingredienzien? Wie bezieht<br />

sie sich auf die Welt des Zuschauers? Korrespondiert sie<br />

mit den anderen Welten der Fiktionen, und wenn ja -<br />

wie?<br />

55


KINO<br />

56<br />

In der Filmtheorie hat sich die Bezeichnung Diegese<br />

für die Weltvorstellung, die eine Fiktion anbietet, seit<br />

Souriau eingebürgert. Der Begriff dient als Bezeichnung<br />

der raumzeitlichen Beziehungen der erzählten Welt,<br />

als Bezeichnung ihrer modellhaften Einheit, als räumlich-zeitliches<br />

Universum der Figuren bzw. Charaktere<br />

gebraucht. In dieser Bedeutung wurde der Begriff erstmals<br />

in der Filmtheorie verbreitet: Souriau (1948, 1953)<br />

kontrastierte die „Diegese“ der repräsentierten Welt<br />

von den medialen Mitteln, in denen die Repräsentation<br />

erfolgt; für ihn ist diégèse die Menge der vom Film<br />

behaupteten Denotationen (Souriau 1953, 7). Seither<br />

hat das Konzept internationale Verbreitung gefunden.<br />

Es wurde in der Filmtheorie von Metz aufgegriffen und<br />

zu einem Grundelement einer Signifikationslehre des<br />

Films (Metz 1972, 137ff). Im Sinne der erzählten Welt<br />

wird Diegese heute allgemein „als Inbegriff der Sachverhalte,<br />

deren Existenz von der Erzählung behauptet<br />

oder impliziert wird, angesehen. Die erzählte Welt kann<br />

dabei homogen oder heterogen, stabil oder instabil,<br />

möglich oder unmöglich sein“ (so Gfrereis 1999, 38). Ihr<br />

kommt ein eigener Raum und eine eigene Zeit zu.<br />

Es ist aber nötig, die erzählte Welt genauer zu bestimmen.<br />

Sie besteht aus vier miteinander koordinierten<br />

Teilschichten: Sie ist physikalische Welt, Wahrnehmungswelt,<br />

soziale Welt und moralische Welt gleichzeitig.<br />

Auf allen Ebenen kann sie eigenständig sein, von<br />

der äußeren Alltagswelt abweichen. Im einzelnen:<br />

(1) Sie ist eine physikalische Welt und hat physikalische<br />

Eigenschaften (Schwerkraft, Konsistenz etc.).<br />

Meist ist die Physik der erzählten Welt in Übereinstim-<br />

mung mit der Physik der äußeren Welt der Zuschauer.<br />

Ausnahmen gibt es vor allem im Fantasy-Film. Ein Beispiel<br />

ist der Geisterfilm GHOST - NACHRICHT VON SAM<br />

(USA 1995, Jerry Zucker): Die Welt der Geister und die<br />

Welt der Menschen unterstehen hier zwei verschiedenen<br />

Physiken. Die Geister sind immateriell, sie durchgehen<br />

die materielle Welt.<br />

(2) Sie ist als Wahrnehmungswelt der Figuren konzeptualisiert.<br />

Gemeinhin nehmen sie gemeinsam wahr. Es<br />

sind aber Fälle denkbar, daß die Figuren den Wahrnehmungsraum<br />

nicht vollständig teilen - manche können<br />

Geister sehen, andere nicht. Ein neueres Beispiel ist THE<br />

SIXTH SENSE (1999, M. Night Shyamalan). Es ist also<br />

möglich, daß die im Bild einheitliche Realität tatsächlich<br />

aus zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsrealitäten<br />

besteht.<br />

(3) Sie ist die soziale Welt der Figuren, die in einem<br />

als gemeinsam unterstellten Rahmen von Normen,<br />

Regeln über die Angemessenheit von Verhalten, Vorstellungen<br />

über Verpflichtungen und Ziemlichkeiten, Dinge<br />

des Glaubens und des Genießens handeln. Und sie teilen<br />

oft Strategien, als gemeinsam akzeptierbare Sinnhorizonte<br />

auszuhandeln. Manchmal geraten soziale Welten<br />

durcheinander, wenn etwa Figuren mittels Zeitreise in<br />

eine ihnen fremde soziale Welt geraten oder Reisende<br />

in einer ihnen zutiefst fremden sozialen Realität angelangen.<br />

(4) Sie ist schließlich eine moralisch eigenständige<br />

Welt. Zwar bildet die dargestellte Wertewelt meist die<br />

äußeren Wertehorizonte des Zuschauers ab, aber sie ist<br />

mannigfaltigen Einflüssen ausgesetzt: denen der beson-


deren Handlung; denen des Genres; denen der abgebildeten<br />

Zeit und Gesellschaft.<br />

Die mögliche Welt eines Films (seine Diegese) ist umfassender<br />

und länger geltend als die Geschichte, die in<br />

dieser Welt spielt - die Geschichte endet, die Bedingungen<br />

der erzählten Welt gelten aber weiter (Aumont et<br />

alii 1992, 90). Darum ist es möglich, Fortsetzungen zu<br />

drehen, neue Geschichten in einem einmal etablierten<br />

diegetischen Raum anzusiedeln. Die Geschichte und das<br />

diegetische Universum bedingen einander. Ist die erstere<br />

eine besondere Ausfaltung der diegetischen Welt, steht<br />

letztere ihr als Welt, die eine solche Geschichte ermöglicht,<br />

gegenüber (ähnlich Aumont et alii 1992, 90).<br />

Nun ist die mögliche Welt eines Films nicht nur durchlässig,<br />

sondern auch fragil. Sie ist durchlässig, weil<br />

Figuren einer anderen Ebene der möglichen Welt auftauchen<br />

können - da verirrt sich der Erzähler in die erzählte<br />

Welt, da tritt eine Figur aus der erzählten Welt heraus<br />

(wie im Theater einer an die Rampe tritt) und kommentiert<br />

das Geschehen. Eine Reihe Diffeenzierungen<br />

sind heute üblich. Figuren, die derselben diegetischen<br />

Wirklichkeit zugehören, nennt man isodiegetisch. Daneben<br />

lassen sich eine extradiegetische (alle Ereignisse,<br />

die außerhalb der erzählten Welt lokalisiert sind), eine<br />

intradiegitische oder einfach diegetische (alle Ereignisse,<br />

die zur erzählten Welt gehören) sowie eine metadiegetische<br />

Ebene unterscheiden (zu letzterer gehören<br />

alle Aussagen, die diegetische Elemente im Rahmen der<br />

Narration selbst lokalisieren). Und die erzählte Welt ist<br />

fragil, weil Mikrophone ins Bild hängen, der Filmstreifen<br />

ist zerschrammt, die Projektion ist unscharf. Dann<br />

wird die erzählte Welt greifbar als eine fingierte Realität,<br />

als „Welt zweiter Ordnung“, die ihre Faszination<br />

nur im Raum des Kinos und für die Dauer der Vorführung<br />

ausüben kann.<br />

In eine diegetische Welt können andere Diegesen<br />

eingebettet werden. Träume, andere Erzählungen etc.<br />

werden aber als neue diegetische Räume markiert, so<br />

daß der Fortschritt von einer Diegese in eine andere<br />

immer bewußt bleibt. Zahlreiche Interaktionen und<br />

Brüche („infractions“) zwischen unterschiedlichen<br />

diegetischen Rahmen sind möglich. So kann ein eigentlich<br />

extradietischer Erzähler in die diegetische Welt<br />

intervenieren. Man denke an die Reisen, die der Hund,<br />

der den phantastischen Geschichten des Rahmen-Erzählers<br />

fasziniert zuhört, in Jim Hensons THE STORYTELLER<br />

in die erzählte Welt unternimmt. Diese Brüche werden<br />

manchmal Metalepsis genannt.<br />

Jeden Falls greift das Branigansche Paradox der<br />

Diegese: Jedes Element, das mit der diegetischen Wirklichkeit<br />

nicht kompatibel ist (Mikrofone z.B.), zerstört<br />

nicht etwa den Raum der Diegese und läßt den Zuschauer<br />

zur primären Realität zurückkehren, sondern eröffnet<br />

einen neuen diegestischen Rahmen (so Anderson 1996,<br />

120-125). Gelegentlich öffnet das nondiegetische Element<br />

die Darstellung zum ästhetischen Programm des<br />

Films. So ist in Lars von Triers IDIOTEN gelegentlich<br />

eine zweite Kamera im Bild - der Illusionscharakter ist<br />

gebrochen, aber der Spielcharakter der Inszenierung<br />

sowie der sozialpsychologisch-realistische Anspruch des<br />

KINO<br />

57


KINO<br />

58<br />

Spiels tritt dafür um so stärker in den Mittelpunkt der<br />

Wahrnehmung.<br />

2. Zuschauer erbringen synthetisierende Leistungen<br />

Gerade die Brüchigkeit der Diegese weist darauf hin,<br />

daß sie nicht passiv hingenommen, sondern aktiv konstruiert<br />

wird (so auch Casebier 1991, 105). Das macht<br />

sich z.B. daran fest, daß ein Element diegetisch sein<br />

kann, ohne im Bild oder Ton repräsentiert zu sein. Dominique<br />

Château weist auf die durch die Geschichte und<br />

die Handlungen der Akteure induzierte Vorstellung des<br />

Monsters in manchen Horrorfilmen hin, das man nicht<br />

oder erst am Ende der Geschichte zu Gesicht bekommt<br />

(zit. n. Stam/Burgoyne/Flitterman-Lewis 1992, 38f).<br />

Auch abwesende Figuren wie den Katelbach aus Roman<br />

Polanskis CUL-DE-SAC (1966) könnte man hier nennen:<br />

Das Diegetische umfaßt mehr als das, was das Bild<br />

zeigt. Die Vorstellung einer möglichen Welt ist das Produkt<br />

einer synthetischen Leistung, die in der Aneignung<br />

des Textes erbracht wird. Sie ist eines der formalen Ziele<br />

der Rezeption - den diegetischen Raum der Erzählung zu<br />

generieren und zu durchdringen, die inneren Plausibilitäts-<br />

und Wahrscheinlichkeitsmaße der erzählten Welt<br />

aufzubauen etc. Zum Verstehen der Geschichte ist es<br />

unabdingbar, die Kondition der Diegese als Voraussetzung<br />

der Narration zu akzeptieren.<br />

Meist erfolgt das Diegetisieren „durch die dargestellten<br />

Mittel hindurch“, als Interpretation dessen, wovon<br />

die Rede ist - davon absehend, daß es im Text nur in<br />

besonderer Art und Weise in Erscheinung tritt. Für die<br />

Figurensynthese z.B. wird von der Tasache, daß sie<br />

farbig oder schwarzweiß abgebildet sind, meist abgesehen<br />

- die Figur, die Humphrey Bogart gerade darstellt,<br />

weiß nicht, daß sie schwarzweiß zu sehen ist, und<br />

der Zuschauer weiß auch nicht, daß Humphrey Bogart<br />

tatsächlich einen lila Anzug trug, um die geforderten<br />

Grauwerte zu erzeugen. Kinorezeption findet in einer<br />

grundsätzlichen Doppelwahrnehmung statt - so sehr der<br />

Zuschauer sich auch mit der erzählten Geschichte identifizieren<br />

mag, so sehr ist er sich der Tatsache, daß er<br />

im Kino ist, bewußt. Jedes Lachen des Nachbarn, die<br />

Lampe über dem Notausgang, Äußerungen des eigenen<br />

Leibes gehören zum Kino. Das Phantasieren, Imaginieren,<br />

Simulieren der Geschichte und der zu ihr gehörenden<br />

möglichen Welt gehören zur Fiktion. Beides ist als<br />

Bewußtseinstatsache immer bewußt. Phänomenologisch<br />

ausgedrückt: Diegetische Realitäten sind imaginäre<br />

semantische Enklaven in der Realität von Zuschauern,<br />

die nur abgeblendet, aber nicht aufgegeben wird. Mögliche<br />

Welt der Erzählung oder Diegese bezeichnen so eine<br />

imaginierte Bezugsgröße des Bewußtseins, die zur Filmerfahrung<br />

dazugehört.<br />

Obwohl die Entfaltung des diegetischen Universums<br />

immer bruchstückhaft und selektiv ist, bemüht sich der<br />

Zuschauer, eine homogenisierte semantische Welt zu<br />

entwerfen. In der Regel wird davon ausgegangen, daß<br />

sie harmonisch aufgebaut ist, also keine Widersprüche<br />

zwischen Elementen auftreten. Der Zuschauer ist<br />

aber nicht unschuldig, er kennt sich im Kino aus und<br />

weiß, daß Genres Familien ähnlicher Erzählwelten sind.<br />

Das läßt sich an einfachen Beispielen illustrieren. Eine


Geschichte spiele in der Welt der schlesischen Bergarbeiter,<br />

um 1880, im Milieu der kleinen Leute. Da wird die<br />

Gegenwelt der „Fabrikanten“ evoziert, auch wenn nie<br />

von ihnen die Rede war. Und wenn einer fliehen will, um<br />

ein anderes und besseres Leben zu führen, wird er nach<br />

„Amerika“ aufbrechen, weil Amerika zu unserem Wissen<br />

über die Handlungswelten am Ende des vergangenen<br />

Jahrhunderts gehört, es ist der Flucht- und Hoffnungsort.<br />

Die erzählte Welt umfaßt ganze Kontinente, die in<br />

der Erzählung nie erwähnt wurden, weil das Erzählte in<br />

einem Horizont steht, der das Erzählte und das Gewußte<br />

integriert. Spielt die Geschichte in Rußland, ist der Ort<br />

der Hoffnung vielleicht „Sibirien“ - weil der Wissens-<br />

Horizont von Rußland mit anderen Elementen erfüllt<br />

ist als Schlesien. Doch nicht nur die subjektive, sondern<br />

auch die objektive Welt ist am Rande der Diegese<br />

immer mitgegeben. Wenn einer aus dem Berliner Kiez<br />

eine Urlaubsreise nach Mallorca gewinnt, sind wir nicht<br />

überrascht - sondern können Mallorca in der erzählten<br />

Welt (sie ähnelt unserer Alltagswelt) wie aber auch in<br />

der Bedeutungswelt unterbringen - Mallorca ist die Insel<br />

des Massentourismus etc. Horizontwissen ist historisch<br />

sensibel. Eine Geschichte spielt im England des 12. Jahrhunderts.<br />

„Amerika“ ist im Horizont dieser Welt nicht<br />

enthalten. Aufschlußreich sind auch Geschichten des<br />

„Weltenwechsels“ wie z.B. Ein Yankee aus Connecticut<br />

an König Artus‘ Hofe. Weltenwechsel ist eigentlich Horizontwechsel<br />

resp. die Amalgamierung von Horizonten.<br />

Die erzählte Welt ist im engeren Sinne die Welt der<br />

individuellen Fakten. Die diegetische Welt wird aber<br />

sowohl von individuellen Fakten wie von Gesetzen,<br />

Regeln, Geboten und Verboten, Stilistiken KINO und ähnlich<br />

Überindividuellem ausgemacht. Der Zuschauer vermittelt<br />

zwischen beiden Ebenen, leitet im Idealfall das<br />

Überindividuelle aus dem Besonderen ab. Truffauts<br />

Zukunftsfilm FAHRENHEIT 451 (1966): Die Regelungen<br />

des Tagesablaufs, die Tätigkeiten, die Verstrickungen<br />

und Irritationen, in die die Figuren geraten - all das<br />

muß der Zuschauer aus dem Dargebotenen gewinnen.<br />

Am Ende ist er initiiert, er könnte im Idealfall eine<br />

Geschichte erzählen, die in der Fahrenheit-Welt spielt.<br />

In diesem Sinne ist Kino eine Schule der Phantasie -<br />

weil der Zuschauer gezwungen ist, die Erzählwelten der<br />

Geschichten auf der Leinwand vor seinem inneren Auge<br />

nachzubilden.<br />

3. Krieg und Nachbarschaft der Welten<br />

Das bis heir angedeutete Spiel mit möglichen Realitäten<br />

ist in hohem Maße ein formales Vergnügen, in das<br />

der Zuschauer eintreten kann. Fiktionen sind „bewußte<br />

Virtualitäten“; Zuschauer treten in einen Prozeß ein, in<br />

dem die primäre Realität des Zuschauerleibes in Geltung<br />

bleibt. So sehr das Kino auch Illusionsmaschine war und<br />

sein wollte und heute anstrebt, neue Qualitäten des<br />

Illusionismus zu erreichen, so sehr ist doch die Doppelbindung<br />

des Zuschauers konstitutiv für das Kino.<br />

Oft ist das Spiel der Realitätsebenen, -stufen und -<br />

formen im Kino selbst Thema gewesen. Da existieren<br />

magische Löcher in andere Wirklichkeiten, auf Inseln<br />

sind Parallelwelten entstanden oder erhalten geblieben,<br />

durch Sternentore kann man Zeiten und Planeten fast<br />

KINO<br />

59


KINO<br />

60<br />

nach Belieben wechseln. Gerade im Kontrast und Konflikt<br />

der möglichen Welten werden die formalen Qualitäten<br />

des Spiels „eine Fiktion verstehen“ greifbar. Werden in<br />

einer Fiktion zwei mögliche Realitäten hervorgebracht,<br />

bestehen rein formal vier verschiedene Möglichkeiten<br />

der Juxtaposition der beiden:<br />

(1) Äquivalenz, Gleichberechtigung der beiden Welten<br />

(W1~W2); es gibt Übergänge und Brücken zwischen<br />

beiden;<br />

(2) Determination und Kontrolle der einen durch die<br />

andere Realität (W2 = f(W1)); ein berühmtes Beispiel<br />

ist Fasinders WELT AM DRAHT (1973), der von einer Welt<br />

erzählt, in der die Protagonisten entdecken, daß sie<br />

Simulationen in einer höheren, ihnen bislang unbekannten<br />

Realität sind;<br />

(3) Einbettungen der Realitäten (W1{W2}W1); die<br />

eine bildet eine Enklave in der anderen; dazu rechnen<br />

alle Imaginationen wie Träume, Visionen, Phantasien<br />

etc.;<br />

(4) Sequenz bzw. Ablösung der einen durch die andere<br />

Realität (W1 > W2); ein Extremfall ist Ken Russells Film<br />

ALTERED STATES (1980), in dem die äußere Realität in<br />

einem Wassertank-Experiment ganz gegen eine neue,<br />

halluzinierte und nur vom Subjekt hervorgebrachte Realität<br />

ausgetauscht wird.<br />

Komplizierter wird die Überlegung, wenn man nach den<br />

semantischen Grundlagen fragt, die den Kontrast zweier<br />

Welten in der Fiktion fundieren. Hier scheint es nötig,<br />

poetologische Grundlagen zu bemühen. Zuallererst wird<br />

dem Jetzt des Zuschauers (oder einer Darstellung, die<br />

klar das „Jetzt“ abbildet) eine andere Realität entge-<br />

gengestellt, seien sie positive, negative oder gleichberechtigte<br />

Gegenwelten (Utopien = gute Orte, Dystopien<br />

= schlechte Orte, Heterotopien = andere Orte). Sodann<br />

beziehen sich manche Doppelrealitäten auf die Medien-<br />

und Genre-Realitäten, auf Kino-Wirklichkeiten, aber<br />

auch auf die Tätigkeit des Geschichtenerzählens selbst;<br />

immer geht es dabei darum, reflexiv mit „Realitätenwissen“<br />

umzugehen. Es gibt schließlich magische und<br />

märchenartige Realitäten, die unmittelbar an das Jetzt<br />

angrenzen. Und es ist sogar denkbar, in der sozialen<br />

Gegenwart selbst in andere Realitäten einzutreten - weil<br />

Realität als „soziale Realität“ relativ, nicht allgemein<br />

verbindlich ist und weil soziale Realitäten, die wenig<br />

miteinander zu schaffen haben, in unmittelbarer Nachbarschaft<br />

koesistieren können. Im Überblick:<br />

1. Utopien, Dystopien und Heterotopien<br />

eingeführt als literarischer Topos: Utopia (Thomas<br />

Morus); Die Insel Felsenburg (Johann-Gottfried Schnabel);<br />

meist Inseln, die abgeschottet von der Restwelt<br />

existieren<br />

1.1 Inseln<br />

Beispiel: HERR DER FLIEGEN (1993, 1990);<br />

Als Sonderfall - die Republik eines „irren wissenschaftlers“<br />

(mad scientist): Die Insel des Dr. Moreau (1933,<br />

1977, 1996)<br />

1.1.1 verborgene Realitäten<br />

Beispiel: LOST HORIZON (1937) - eine pazifistische<br />

Republik im Himalaya; Beispiel: THE LOST WORLD (1925,<br />

1960, 1993) - abgelegene Insel oder Hochpülateau, auf<br />

dem Dinosaurier überlebt haben; erinnert sei außerdem


an die diversen Atlantis-Inseln, die in Fabel und Film<br />

behandelt worden sind<br />

1.2 zufällige Sonderlagen: Flugzeugabstürze, Katastrophenfilme<br />

Flugzeugabstürze und dergleichen mehr konfrontieren<br />

die Akeure meist nur kurzfristig mit anderen Lebensbedingungen;<br />

es geht meist um Prüfungen der Adaptionsfähigkeit,<br />

um Tugenden wie Mut und Verantwortung<br />

etc.<br />

1.3 systematische Sonderlagen: Lagerfilme<br />

Lager und Gefängnisse können einerseits so etwas sein<br />

wie innergesellschaftliche Asyle, in denen Sonderbedingungen<br />

herrschen, andererseits bilden sie auch<br />

Rückzugsräume, die das Individuum schützen vor den<br />

Bedrohungen durch die Realität schützen; ein Beispiel<br />

für das letztere Motiv ist Georges Franjus Film LA TÊTE<br />

CONTRE LES MURS (1959)<br />

1.4 Simulationen und induzierte Sonderlagen<br />

Beispiel: DAS EXPERIMENT (2001) - nach dem Muster der<br />

Stanford-Experimente gehen Versuchspersonen in einem<br />

Gefängnis eine Sonder-Kondition des Zusammenlebens<br />

ein; manchmal wird „von innen her“ entdeckt, daß die<br />

Welt, in der die Akteure leben, eine simulierte Welt ist;<br />

ein Beispiel ist THE TRUMAN SHOW (1998), in der der<br />

Protagonist in einer gigantischen Seifenoper-Simulation<br />

leben<br />

2. reflexive Formen<br />

2.1 Kino-Fiktionen<br />

Beispiel: PURPLE ROSE OF CAIRO (1985) - eine junge Frau<br />

betritt die Welt auf der Leinwand; ähnlich ist auch LAST<br />

ACTION HERO (1993), in dem eine „goldene Eintrittkarte“<br />

das Betreten der Filmfiktion gestattet<br />

2.2 Erzählen als realitätenschaffende Geste<br />

Beispiel: JIM HENSON‘S THE STORYTELLER (1987), in dem<br />

der Erzähler bzw. sein Hund in der erzählten Geschichte<br />

auftaucehn<br />

2.3 Bilder begehen<br />

Beispiel: KUROSAWA‘S DREAMS (1990), in dem ein Museumsbesucher<br />

sich in die Bilder van Goghs verirrt<br />

2.4 versehentlicher Medienwechsel als Realitätswechsel<br />

Beispiel: AMAZON WOMEN ON THE MOON (1987), in dem<br />

sich ein Fernsehzuschauer mittels der Fernbedienung<br />

ins Fernsehprogramm verirrt; ähnlich auch LADRI DI<br />

SAPPONETTE (1989)<br />

3. magische Formen<br />

Beispiel: TIME BANDITS (1981)<br />

4. Innergesellschaftliche Realitäten; Lebenswelten<br />

Beispiel: METIN (1979), in dem eine sechsjährige Berlinerin<br />

als Türkin die Sommerferien in Berlin verbringt<br />

und die Stadt in einer ganz neuen Weise erlebt;<br />

Beispiel: IL MARCHESE DE GRILLO (1981), in dem ein<br />

Marquis und ein Kohlenhändler die Rollen tauschen und<br />

die soziale Realität der Napoleon-Zeit aus zwei ganz<br />

unterschiedlichen Persektiven erfahren.<br />

4. Von Krähen im Bild und Krähen im Flug<br />

Zur letzten These: Weltenwechsel, die im Film dargestellt<br />

sind, nutzen das Wissen von Zuschauern um mögliche<br />

Welten gleich in zweierlei Art und Weise - als Wissen<br />

KINO<br />

61


KINO<br />

62<br />

um die inneren Bestimmungselemente der erzählten<br />

Welt, aber auch als Wissen um die Art und Weise, wie<br />

sie in den darstellenden Künsten gemeinhin dargestellt<br />

ist. Sie inszenieren den Wechsel der Realitäten auch als<br />

Wechsel des semiotischen Modus der Darstellung. Ein<br />

Beispiel sei die schon erwähnte „Krähen-Episode“ aus<br />

Kurosawas Film DREAMS (1990).<br />

Sie beginnt in einem Museum. Ein junger Japaner<br />

besichtigt Bilder von van Gogh, interessiert, aber von<br />

erkennbarer Unruhe. Er greift schließlich zu seiner<br />

Staffelei, als wolle er sich zum Gehen wenden, bleibt<br />

noch einmal nachdenklich vor einem Gemälde stehen.<br />

Der Umschnitt zeigt die Landschaft des Bildes als reale<br />

Landschaft, der Rahmen ist verschwunden, die Grenzen<br />

des Bildes sind die Grenzen der Leinwand, am Beginn<br />

noch unbewegt, dann aber animiert. Die Waschfrauen<br />

am Fluß bewegen sich, ein Wagen rollt über die Brücke.<br />

Der japanische Betrachter läuft auf die Frauen zu, fragt<br />

nach van Gogh - und sie weisen ihn in die Felder, warnen<br />

ihn noch einmal, van Gogh sei im Irrenhaus gewesen.<br />

Über ein gemähtes Feld hinweg erreicht der Japaner<br />

schließlich den Maler, der einen Skizzenblock in der<br />

Hand hält, ohne große Beachtung des Hinzugekommenen<br />

vom „Licht“ stammelt und daß er malen müsse. Auf<br />

den Kopfverband angesprochen, erzählt er, er habe am<br />

Morgen ein Selbstporträt versucht, nur das Ohr sei nicht<br />

gelungen, da habe er es abgeschnitten. Mit größter Eile<br />

rafft er seine Sachen zusammen, läßt den japanischen<br />

Gast stehen. Der zaudert kurz, eilt dann hinter van Gogh<br />

hinterher. Es ist nun aber keine realistische Landschaft


mehr, durch die er van Gogh hinterherläuft, sondern es<br />

sind Landschaftsskizzen van Goghs, Landschaften in<br />

grobem Umriß, ohne die Feinheiten der photographischrealistischen<br />

Abbildung, in hartem Farbkontrast hintereinandermontiert.<br />

Van Gogh verschwindet schließlich<br />

im Hintergrund des letzten photographischen Bildes der<br />

Zeit, die der Agent-Betrachter „im Bild“ verbringt. Der<br />

Maler stört noch einige Krähen auf, die zunächst lebendig<br />

in diesem filmischen Bild zu sehen sind, man hört<br />

ihr Geschrei - und die dann in ein Gemälde van Goghs<br />

übergehen, das ein Kornfeld mit auffliegenden Krähen<br />

zeigt. Der Japaner ist wieder im Museum, er nimmt verstört<br />

die Mütze ab.<br />

Man könnte meinen, die Episode sei eine Allegorie<br />

über die Illusionskraft des Kinos. Die Figur ist in das<br />

Bild heineingegangen, hat nach dem Maler gesucht, ihn<br />

getroffen und am Ende doch keine Realität gefunden.<br />

Das erste Bild, in dem der Übergang von der äußeren<br />

Welt des Museums in die innere Welt der van-Goghschen<br />

Bilder geschah, ist ein Photo, das zwischen Landschaft<br />

und Gemälde lokalisiert ist. Es zeigt lebende Menschen,<br />

eine Wagen mit einem wirklichen Pferd. Aber die Steine,<br />

aus denen sie gebaut ist, weisen Farben und eine graphische<br />

Gestalt auf, die nicht einer Wirklichkeit, in der<br />

man sich bewegen könnte, sondern dem Bild van Goghs<br />

zugehören. Kann man „in ein Bild hineingehen“ und dort<br />

etwas anderes finden als das Bild selbst? Ist das Bild<br />

nur eine Abbildung, möglicherweise eine mechanische<br />

Reproduktion? Oder ist es eine semiotische Transformation<br />

des Vorfilmischen in eine andere Realität oder Realitätsstufe<br />

hinein?<br />

KINO<br />

63


KINO<br />

64<br />

Das Motiv des „Ins-Bild-Gehens“ ist mehrfach auch in<br />

der Filmtheorie aufgetaucht: Balázs erzählt die folgende<br />

Legende: „Einst lebte ein alter Maler, der ein herrliches<br />

Landschaftsbild schuf. Darauf wand sich durch ein<br />

reizendes Tal ein Pfad, schlang sich um einen hohen<br />

Berg, hinter dem er schließlich verschwand. Dem Maler<br />

gefiel sein Bild so gut, daß ihn die Sehnsucht packte.<br />

Er ging in sein Bild hinein und folgte dem Pfad, den er<br />

selbst gemalt hatte. Er wanderte immer weiter in die<br />

Tiefe des Bildes, dann verschwand er hinter dem Berg<br />

und kam nie mehr zum Vorschein“ (1972, 40). Balázs<br />

deutet die Geschichte als Allegorie für die Neigung des<br />

Films, den Zuschauer an einen anderen Ort zu versetzen.<br />

Keine Selbstentdeckung, keine Spiegelung des Subjekts,<br />

sondern ein Verschwinden und Aufgehen des Subjekts in<br />

der Fiktion: Die gleiche Episode wird auch bei Kracauer<br />

(1973, 224) als Bild des Kontrollverlustes des Zuschauers<br />

erzählt, die er angesichts des „Banns“ erfährt, den<br />

der Gegenstand, den das Bild zeigt, ausübt. Der Illusionsfähigkeit<br />

des Bildes (oder des Films) tritt die Illusionssehnsucht<br />

des Betrachters (oder Zuschauers) zur<br />

Seite. Das Eintreten in virtuelle Realitäten erscheint so<br />

gebunden an den Wunsch, den Realtätenwechsel imaginierend<br />

zu vollziehen.<br />

Doch helfen diese rezeptionsästhetischen Bemerkungen<br />

beim Verständnis des Geschehens in DREAMS nicht<br />

weiter. Hier scheint die Begehung des Bildes viel eher<br />

einem semiotischen Abenteuer zu ähneln als einem<br />

Wollens- oder gar Sehnsuchtsmotiv zu folgen. Das erste<br />

Filmbild der Episode zeigt das Bild van Goghs als Bild;<br />

das zweite nimmt das Bild als Filmbild. Das erste zeigt<br />

das Bild in seinem Rahmen, an seinem Platz im Museum,<br />

auf den Betrachter wartend, für ihn bereitgestellt. Das<br />

zweite zeigt das Bild als Kinobild, die Leinwand ist<br />

gefüllt, einen Rahmen gibt es nicht. Der Beginn des<br />

Bildes wirkt für einen Moment wie eingefroren, dann<br />

aber zieht das Leben der Akteure ein - und es erscheint<br />

der Horizont von Bewegung, von Zeit und von Handlung.<br />

Beide Bilder stehen zwischen malerischer Erfindung und<br />

mechanischer Abbildung. Beide verweisen nicht so sehr<br />

auf ein semantisches Moment Das-ist-gewesen!, das die<br />

Bilder der Photographie auszuzeichnen scheint und das<br />

sie aus dem Fluß von Bewegung und Geschehen herausbricht<br />

(Bazin 1967), sondern vielmehr auf eine mögliche<br />

Szene und damit auf eine Handlungswelt, in der man sich<br />

bewegen könnte. Man könnte der Photographie anlasten,<br />

sie könne nur das reproduzieren, was außerhalb ihrer<br />

schon existiere, und als Kunstform lasse sie sich allein<br />

durch das Wie, nicht aber durch das Was bestimmen. Das<br />

changierende Bild aus Kurosawas Film sagt ganz anderes,<br />

deutet darauf hin, daß das, was das Bild zeigt, nicht<br />

auf einer Wirklichkeits-, sondern einer Möglichkeitsform<br />

beruht! Es verweist nicht auf ein Szenario selbst, sondern<br />

auf eine Stilisierung, wie man sie auch im Theater<br />

oder eben in der Malerei finden könnte.<br />

Noch ist das erste Bild eine Mélange zwischen den<br />

beiden Bildformen - aber die Landschaften werden<br />

unähnlicher, Bild und Filmbild treten auseinander. Die<br />

Bilder entstammen nicht mehr einem realistischen<br />

Impuls, sondern mischen die Bildmodelle der Skizze<br />

und des photographischen Bildes - gleich in zweierlei<br />

Hinsicht. Zum einen läuft das photographische Bild


des japanischen Betrachters in den überdimensionalen,<br />

riesigen Skizzen herum, jedes Bild enthält beide Bild-<br />

Arten. Und zum zweiten stehen die Skizzen im Kontext<br />

einer filmischen Sequenz aus photographischen Bildern<br />

- auch das akzentuiert den Unterschied. Zweifacher Kontrast<br />

- darum fällt die Differenz so ins Auge. Noch das<br />

erste Bild zwischen malerischem und filmischem Bild<br />

hatte ähnliche Bildfundamente für beide Affinitäten zu<br />

den Kunstgattungen, beide waren dem Prinzip einer an<br />

das Photographische gemahnenden Ähnlichkeit gebunden<br />

(zu den bildtheoretischen Grundlagen vgl. Wulff<br />

1993). Das ändert sich rabiat, wenn die Episode die realistische<br />

Grundebene aufgibt. Die Vorstellung der möglichen<br />

Welt, in der die Suche des Japaners lokalisiert ist,<br />

ist nicht mehr nur die einer realen Welt wie die, in der<br />

wir leben, sondern umfaßt einen Filter, der die Realität<br />

als ganz anders erscheinen läßt als wie wir sie gewöhnt<br />

sind. Kann dieses die Wahrnehmungswelt der Akteure<br />

sein? Kann es sich um eine soziale oder gar eine moralische<br />

Welt handeln? Oder ist die van-Gogh-Welt idiosynkratisch,<br />

unverallgemeinerbar, nicht als Handlungswelt<br />

der Akteure denkbar? Letzteres sei zumindest in Zweifel<br />

gezogen - eine ganze Reihe von Animations- und Kinderfilmen<br />

zeigen, daß auch zur Skizze reduzierte Welten als<br />

mögliche Handlungswelten genutzt werden können.<br />

Es geht in Kurosawas Film um etwas anderes. Es sind<br />

Landschaftsskizzen, durch die der Held läuft (im photographischen<br />

Bild, per blue-box-Verfahren von der George<br />

Lucas gehörenden Firma Industrial Light and Magic in<br />

das van Gogh entlehnte Grundbild eingemischt), und<br />

Landschaften sind per se begehbar, allein weil sie als<br />

„Landschaften“ erkennbar sind. Und der Film behauptet<br />

zudem, daß das filmische Bild sich nicht im baren Wirklichkeitsverweis<br />

erschöpft, sondern in weitere Kontexte<br />

der Signifikation eingelassen ist.<br />

(1) Es ist Teil eines Stils, einer besonderen visuellen<br />

Art, darzustellen; und dieser Stil kann seine Ursprünge<br />

natürlich in der Malerei haben.<br />

(2) Es ist Element von filmischem Kontext, und es<br />

lohnt, genauer in die „Krähen“-Episode hineinzusehen.<br />

Da behauptet van Gogh, er sei getrieben von diesem<br />

Licht, wie eine Maschine - und das farbige Bild des Malers<br />

ist mit einer Schwarzweiß-Aufnahme einer Lokomotive<br />

unterschnitten, so, wie wir sie aus dem russischen Montagekino<br />

kennen. Auch die Musik wechselt, als sollte<br />

der intertextelle Rückverweis intensiviert werden. Und<br />

die Schattenbilder der Krähen, die das Landschaftbild<br />

am Ende überlagern, erinnern deutlich an die erst nach<br />

den eigentlichen Filmaufnahmen in die Filmbilder eingestanzten<br />

Vogelsilhouetten aus Hitchcocks THE BIRDS,<br />

als ein Bild, das nur realistisch wirkt, es aber keinesfalls<br />

(von der Produktionsseite als Photo) ist.<br />

(3) Es ist schließlich dem kulturellen Kontext des Kinos<br />

und der Künste zugehörig - und daß der berühmte Maler<br />

van Gogh von einem berühmten Filmregisseur (nämlich<br />

Martin Scorsese) gespielt wird, trägt sicher eine eigene<br />

Information über die Mischung der signifikativen und<br />

kulturellen Sphären.<br />

Mögliche Welten im Kino sind wissensbasiert. Und die<br />

semiotische Maschine des Kinos ist dazu in der Lage,<br />

Wissen der unterschiedlichsten Arten miteinander zu<br />

KINO<br />

65


KINO<br />

66<br />

verbinden, es in einer wie Zauber anmutenden Prozedur<br />

zu amalgamieren und Neues hervorzubringen.<br />

Literatur<br />

Anderson, Joseph D. (1996) The <strong>reality</strong> of illusion. An ecological<br />

approach to cognitive film theory. Carbondale/<br />

Edwardsville: Southern Illinois University Press.<br />

Aumont, Jacques [...] (1992) Aesthetics of film. Austin, Tex.:<br />

University of Texas Press (Texas Film Studies Series.).<br />

Balázs, Béla (1972) Der Film. Werden und Wesen einer neuen<br />

Kunst. Wien: Globus.<br />

Bazin, Andre (1967) The Ontology of the Photographic<br />

Image. In seinem: What Is Cinema? Berkeley: University<br />

of California Press, pp. 9-16.<br />

Casebier, Allan (1991) Film and Phenomenology. Toward a<br />

realist theory of cinematic representation. Cambridge<br />

[...]: Cambridge University Press, pp. 105-112 (Cambridge<br />

Studies in Film.).<br />

Gfrereis, Heike (Hrsg.) (1999) Grundbegriffe der Literaturwissenschaft.<br />

Stuttgart/Weimar: Metzler (Sammlung<br />

Metzler. 320.).<br />

Kracauer, Siegfried (1973) Theorie des Films. Die Errettung<br />

der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt: Suhrkamp (Siegfried<br />

Kracauer. Schriften. 3.).<br />

Metz, Christian (1972) Semiologie des Films. München: Fink.<br />

Souriau, Etienne (1948) La structure de l‘univers filmique et<br />

le vocabulaire de la filmologie. In: Revue de Filmologie<br />

7/8, pp. 231-240.<br />

Souriau, Etienne (1953) Préface zu seinem L‘Univers Filmique.<br />

Paris: Flammarion, pp. 5-10.<br />

Stam, Robert / Burgoyne, Robert / Flitterman-Lewis, Sandy<br />

(1992) New vocabularies in film semiotics. Structuralism,<br />

post-structuralism and beyond. London/New<br />

York: Routledge (Sightlines.).<br />

Wulff, Hans J. (1993) Bilder und imaginative Akte. Ein Beitrag<br />

zur Theorie ikonischer Zeichen. In: Zeitschrift<br />

für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 38,2,<br />

pp. 185-205.


ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />

Schöpfungen zwischen Konstruktion und Illusio<br />

Ralf E. Streibl<br />

„Wildeste Spekulationen – gewiß; die Science Fiction<br />

hat nichts dagegen, belächelt zu werden von Fachleuten<br />

– solange sie von ihnen gelesen wird.“<br />

Wolfgang Jeschke (1995, S.75)<br />

In seinem Beitrag über Schein und Wirklichkeit im Theater spricht Peter<br />

Lüchinger viel über Phantasie. Phantasie ist auch vonnöten, um sich auf<br />

den folgenden Text einzulassen. Denn er basiert auf einem Vortrag, der um<br />

viele kurze Filmausschnitte herum konzipiert war. Die Vielschichtigkeit von<br />

Bewegtbild und Ton eines Filmes widersetzt sich dem papiernen Medium<br />

– nur eine Annäherung ist möglich. Und so wird der vorliegende Text eine<br />

Reihe erzählter Filmsequenzen beinhalten, die – vielleicht und hoffentlich<br />

– in den Köpfen der Leserinnen und Leser Vertrautes oder auch Unvertrautes<br />

entstehen lassen. Wer die zitierten Filme kennt, möge mir manche<br />

Ungenauigkeiten in den Beschreibungen verzeihen, wer sie nicht kennt,<br />

mag es als eine Phantasie-Übung betrachten, sich anhand der Beschreibungen<br />

Szenen und Sequenzen vorzustellen und diese vielleicht irgendwann<br />

später beim Ansehen des entsprechenden Filmes mit dem dort gezeigten<br />

Ablauf zu vergleichen. Auch dies könnte als eine besondere Form konstruktiver<br />

Schöpfung im Sinne des Titels dieses Beitrages betrachtet werden. 1<br />

Die gebaute Welt von Truman<br />

1 Beim Vortrag im Rahmen des MIRA-Symposiums<br />

konnten übrigens aus technischen<br />

Gründen die Filmausschnitte ebenfalls<br />

nicht gezeigt werden – sie wurden dort<br />

nur erzählt. Die interessierte und engagierte<br />

Diskussion nach dem Vortrag gibt<br />

mir jedoch die Hoffnung, dass diese Form<br />

der Vermittlung dieser illustrierenden<br />

und assoziativen Elemente auch in einer<br />

schriftlichen Fassung gelingen könnte.<br />

67


ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />

68<br />

Werbung<br />

Im Fernsehfilm VIDEOPOLY ODER DUPONTS<br />

VERSCHWINDEN (1985) sieht man Herrn<br />

Dupont einen Werbespot betrachten. Der Chef<br />

des Fernsehsenders TVM, Dr. Moorckz (Hans<br />

Korte), bewirbt darin ein neues interaktives<br />

Angebot: „Ein Traum wird wahr: Flieger hätt’ ich werden<br />

können, Seemann, Astronaut... Dabeisein! Selber riechen<br />

und fühlen! Das neue Spiel VIDEOPOLY von TV Moorckz<br />

macht’s möglich. Modernste Fernsehtechnologie kombiniert<br />

mit der neuesten Computertechnik lässt Sie 1 zu 1<br />

am Weltgeschehen teilnehmen!“<br />

Zu Beginn des Filmes WESTWORLD sehen wir<br />

einen Fernsehbericht. Ein Interviewer befragt<br />

mit dem Mikrofon in der Hand begeisterte<br />

Besucher eines völlig neuen Freizeitparks,<br />

in dem man hautnah in die Welt der antiken Römer, in<br />

die des Mittelalters oder in den „Wilden Westen“ eintauchen<br />

kann. Der Besucher, den er momentan vor dem<br />

Mikrofon hat, kommt euphorisch heraus. In „Westworld“<br />

erlebte er real, wovon er schon immer geträumt hatte: Er<br />

wurde in Schießereien und Prügeleien verwickelt (ohne<br />

dass ihm etwas zustieß, natürlich!) und zeigt sich im<br />

Interview davon absolut begeistert. Auf die Nachfrage<br />

des Interviewers nach der Realitätsnähe des Szenarios<br />

schwärmt er davon, wie absolut echt alles wirke und dass<br />

man kaum glauben könne, dass die Akteure in dem Park<br />

Roboter seien. Der Reporter wendet sich in die Kamera<br />

und fasst zusammen: „The robots at Westworld are there<br />

to serve you and they give you the most unique vacation<br />

experience of your life!“<br />

Im Film TOTAL RECALL sehen wir einen Mann<br />

namens Douglas Quaid (Arnold Schwarzenegger)<br />

in einen Zug steigen. Im Wagen läuft<br />

auf einer Vielzahl von Bildschirmen eine Werbesendung,<br />

die zunehmend sein Interesse<br />

findet: Die Firma „Recall“ verkauft virtuelle Erinnerungen.<br />

Man kann so eine Urlaubsreise haben, die man in<br />

Wirklichkeit nicht gemacht hat. Die Erinnerung daran<br />

bekommt man bei „Recall“ ins eigene Gehirn übertragen<br />

und kann – so das Werbeversprechen – endlich dem<br />

mörderischen, langweiligen Alltag entfliehen und ihn<br />

gegen Abenteuer eintauschen, die man sonst nie hätte<br />

erleben können. „Come to Recall Inc.! For you can buy<br />

the memory of your ideal vacation cheaper, safer and<br />

better than the real thing. So don’t let life pass you by.<br />

Call Recall!“<br />

1. Teil: Freizeit<br />

Phantasie und Technik<br />

Was haben diese drei Sequenzen gemeinsam? Sie zeigen<br />

drei neue Formen von Freizeitgestaltungen, charakteri-


siert durch das Ausleben von Wünschen, Träumen und<br />

Sehnsüchten. WESTWORLD (1973), VIDEOPOLY (1985) und<br />

TOTAL RECALL (1990) setzen jeweils beim Ausbruch aus<br />

dem Alltag und der täglichen Routine an. Dem Phänomen<br />

„Freizeit“ und dem, was Menschen darunter verstehen<br />

und daraus machen, kann man sich auf vielfältige Weise<br />

nähern, z.B. historisch, politisch, psychologisch, kulturell<br />

etc. (vgl. Karst 1987). Eine wichtige Betrachtungsweise<br />

ist sicherlich die wirtschaftliche: Freizeit dient<br />

heute nicht nur der Wiederherstellung der Arbeitskraft.<br />

Die ganze Freizeitindustrie basiert auf der Erkenntnis,<br />

dass sich das Streben von Menschen neben der Regeneration<br />

vor allem auch der Kompensation des Alltags<br />

widmet. Diese Bedürfnisse lassen sich zur Steigerung<br />

eigener Umsätze und Gewinne vielfältig kanalisieren.<br />

Dies zeigen beispielsweise auch die Werbeprospekte von<br />

Reiseveranstaltern, die Angebote von Abenteuer- und<br />

Freizeitparks und ähnliches. Trotz vielfältiger Angebote<br />

bleiben Bedürfnisse jedoch oft unbefriedigt, wie Schulze<br />

herausstellt: „Im Moment der Erfüllung entsteht bereits<br />

die Frage, was denn nun als nächstes kommen soll, so<br />

dass sich Befriedigung gerade deshalb nicht mehr einstellt,<br />

weil die Suche nach Befriedigung zur Gewohnheit<br />

geworden ist“ (1993, S.65). Wünsche, Träume, Sehnsüchte<br />

– wir wollen das haben oder können, was wir<br />

(bisher) nicht haben oder können. Und wir wollen natürlich<br />

das, was andere haben oder können!<br />

Den Ausbruch aus dem Alltag und der gewohnten Realität<br />

finden wir als Motiv nicht nur in utopischen Filmen.<br />

Es gibt viele weitere Beispiele, in denen die Akteure<br />

im Film eine Möglichkeit finden, ihre Realität zu verän-<br />

dern oder zu verlassen. Denken wir beispielsweise an<br />

folgende Szene aus MARY POPPINS (1964):<br />

Der Straßenmaler Bert (Dick van Dyke) hat<br />

einige Bilder auf den Fußweg gezeichnet, als<br />

Mary Poppins (Julie Andrews) mit den beiden<br />

von ihr betreuten Kindern vorbeikommt. Mit<br />

ihrer Hilfe springen sie alle in eines der Bilder hinein<br />

und landen in einer phantastischen Welt: Es ist eine<br />

Welt, nach der man sich sehnen kann, eine Welt, in der<br />

vieles möglich ist, was in Wirklichkeit nicht machbar ist<br />

– eine wahre Wunscherfüllungswelt: Wir besteigen die<br />

Karussellpferde, die ihre Kreisbahn verlassen, und reiten<br />

in die weite Welt.<br />

Wie schön, wenn man einen Straßenmaler hat, der<br />

solch zauberhafte Bilder malen kann und wie schön,<br />

wenn eine hilfreiche Mary Poppins dafür sorgt, dass<br />

man in diese Bilder hineinspringen kann. Der Mut zur<br />

Phantasie öffnet hier die Türen zu neuen Erfahrungen.<br />

Doch ist das ein zeitgemäßer Weg? Um auf dem Weg<br />

der Phantasie in meine Träume einzutauchen und mich<br />

mit meinen Wünschen und Sehnsüchten zu beschäftigen,<br />

muss ich die Chance haben, meine eigenen Träume<br />

zu erkunden. Die heutige Freizeitindustrie zeigt ebenso<br />

wie die anfangs zitierten Werbeutopien, dass eine<br />

andere Entwicklung entgegensteht: Träume, Wünsche<br />

und Sehnsüchte sind ein ökonomisches Gut, welches es<br />

zu gestalten gilt. Medial verbreitete und reproduzierte<br />

Werte und Begehren tragen auch hier zu einer Standardisierung<br />

– und Verarmung – bei. Und sie schaffen einen<br />

Markt. Bereits heute gibt es Modetrends bezüglich der<br />

ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />

Mit Mary Poppins auf der Reise<br />

durch eine gemalte Welt<br />

69


ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />

2 Vielen Dank an Peter König für<br />

das diesbezügliche anregende<br />

Gespräch während des MIRA-<br />

Symposiums.<br />

70<br />

Zwei Duelle mit Gunslinger<br />

Freizeitgestaltung und für viele ist es wichtig, auch in<br />

diesem Bereich „in“ zu sein.<br />

Was also tun mit den so erzeugten und unerfüllten<br />

Wünschen und Begierden? Die Antwort der modernen<br />

Gesellschaft ist klar: Wir finden eine technische Lösung<br />

für dieses Problem. Technik erleichtert uns in vielfältiger<br />

Weise den Arbeitsalltag – wer von uns ist nicht dankbar<br />

für die Erfindung der Waschmaschine? Autos als wahre<br />

Zaubermaschinen beschleunigen uns zu ungeahntem<br />

Tempo. Wir kommen damit nicht nur überall hin, sondern<br />

das Auto selbst wird zur Wohlfühl-Welt. Es ist Transportmittel,<br />

Lebensraum, Schutzschild und Ausdruckssymbol<br />

in einem. „Jede Maschine ist eine Wunschmaschine, eine<br />

Angstmaschine oder beides zusammen“, schreibt Peter<br />

Krieg (1990, S.44) im Begleitbuch zur Videoausgabe<br />

seiner eindrucksvollen dokumentarischen Provokation<br />

MASCHINENTRÄUME (1988).<br />

Der Mensch entwickelt sich selbst durch neue technische<br />

Erfindungen. „(…) und indem er dann die Maschine<br />

perfektioniert, perfektioniert er sich selbst: mit dem<br />

Fernrohr kann er besser sehen, mit dem Auto kann er<br />

schneller oder komfortabler fahren“ (Bammé et al. 1983,<br />

S.17). Liegt es dann vor diesem Hintergrund nicht nahe<br />

darüber nachzudenken, auch die menschliche Phantasie<br />

zu technisieren?<br />

Schon immer haben uns Medien jeglicher Art – Bücher,<br />

Bilder, Filme – bei der Entwicklung unserer Träume und<br />

Sehnsüchte geholfen. Wenn wir ein Buch lesen, projizieren<br />

wir etwas in das Gelesene hinein. Es entsteht etwas<br />

in unserem Kopf. Sind es Bilder, die in dem Text vorgegeben<br />

sind? Sind es Bilder, die von uns selbst kommen?<br />

Sind es wirklich Bilder – oder sind es nur Beschreibungen<br />

oder Ideen von Bildern? 2 Das, was wir an Wünschen<br />

oder Sehnsüchten im Zusammenhang mit Medien erleben<br />

oder aus Medien präsentiert bekommen: sind das unsere<br />

Träume? Oder sind es Träume, zu denen wir gelockt oder<br />

verführt werden? Sind es Einladungen – ähnlich dem,<br />

was auf der Bühne im Theater passiert? Oder sind es<br />

vorgegebene Drehbücher, die wir nur noch abarbeiten<br />

dürfen?<br />

MIT LEIB UND SEELE HINEIN INS ABENTEUER!<br />

Kehren wir nun wieder zurück zu dem mit unzähligen<br />

humanoiden Robotern ausgestatteten Freizeitpark<br />

WESTWORLD. Stürzen wir uns als aktiv handelnde Person<br />

in ein wirkliches Abenteuer: Der „Wilde Westen“ ruft…<br />

In einem originalgetreu wirkenden Saloon<br />

unterhalten sich zwei junge Männer, die erstmals<br />

den Vergnügungspark besuchen. Der<br />

eine beklagt sich gerade bei seinem Freund,<br />

wie seltsam er sich vorkäme, kostümiert in solch einer<br />

Kulisse zu stehen, als er von hinten angerempelt wird.<br />

Der schwarz gekleidete Revolverheld Gunslinger (Yul<br />

Brynner) geht weiter an die Bar, als wäre nichts gewesen.<br />

Der Freund des solcherart Gestoßenen drängt ihn,<br />

sich zu wehren und den Kampf zu suchen – es kommt<br />

zum Duell. Der Schwarzgekleidete stellt sich in Position<br />

und sagt mit sonorer Stimmer: „Your move…“<br />

– beide ziehen, Gunslinger fällt – von Kugeln durchsiebt<br />

– blutüberströmt nach hinten, dann wird sein lebloser<br />

Körper aus dem Saloon herausgeschleppt. Die beiden


Besucher unterhalten sich anschließend an der Bar:<br />

„Pretty realistic, ha?“ – „Listen, are you sure he was a<br />

...?“ – „Oh, you don’t really think you shot anybody, do<br />

you?“ Die erste Verunsicherung im Gesicht des Schützen<br />

löst sich langsam und es legt sich ein vorsichtiges,<br />

erwartungsvolles Lächeln über seine Gesichtszüge, als<br />

er antwortet: „Wow!!“<br />

In einer späteren Einstellung sieht man in den unterirdischen<br />

Serviceräumen des Parks den deaktivierten<br />

Roboter Gunslinger bei der Wartung. Die Gesichtsabdekkung<br />

wird geöffnet, darunter kommen diverse technische<br />

Bauteile zum Vorschein.<br />

Freizeitparks der heutigen Art locken mit Abenteuer,<br />

Thrill und Erfahrungen, die man sonst nicht macht.<br />

Wir werden dabei häufig auch in unserer Körperlichkeit<br />

gefordert – auf Achterbahnen oder in Katapulten. Die<br />

Roboter in WESTWORLD stellen die direkte Fortschreibung<br />

in Form einer Art physischen Wirklichkeitsersatzes<br />

dar. Sie erzeugen ein rundum stimmiges Szenario<br />

und erscheinen als bewegliche Schießbuden, an denen<br />

wir unsere Sensumotorik messen und trainieren können.<br />

Durch ihre Programmierung sollen sie zu perfekten Animateuren<br />

werden – besser als in jedem Club-Urlaub. Der<br />

automatisierte Freizeitpark ist wesentlicher Teil eines<br />

Übergangs der Freizeitparks, wie wir sie heute kennen,<br />

zu einem virtuellen Freizeitpark.<br />

UMWELT ALS SIMULIERTE SINNESTÄUSCHUNG<br />

Bei der Vorstellung eines virtuellen Freizeitparks werden<br />

möglicherweise viele, die die eine oder andere Folge der<br />

Nachfolgeserien und -filme der originalen Star-Trek-Serie<br />

gesehen haben, an das „Holo-Deck“ denken. Diese wunderbare<br />

Einrichtung ist eigentlich ein komplett leerer<br />

Raum an Bord, in dem programmgesteuert künstliche<br />

Realitäten nach Wunsch erzeugt werden können. Als<br />

Besucher kann man diese Simulationen betreten und mit<br />

den simulierten Personen interagieren. Die fortgeschrittenen<br />

technischen Möglichkeiten erlauben dabei auch<br />

die Integration physischen Erlebens: Ich kann mich auf<br />

einen simulierten Stuhl setzen, über eine simulierte<br />

Wurzel stolpern oder die Anstrengung beim Besteigen<br />

eines Berges verspüren. Die Simulationen können selbst<br />

entwickelt oder modifiziert werden, was dem Ausleben<br />

eigener Träume und Phantasien viel Spielraum lässt (und<br />

gleichzeitig den Drehbuchschreibern der Serien einen<br />

unglaublichen Fundus bietet). Greifen wir zur Illustration<br />

einen kleinen Filmausschnitt aus dem Kinofilm STAR<br />

TREK: GENERATIONS (1994) heraus:<br />

Wir sehen ein altes Segelschiff mit Namen<br />

Enterprise auf hoher See. An Bord – in der<br />

Zeit angemessenen Marineuniformen – befindet<br />

sich die Brückenmannschaft des Raumschiffs<br />

U.S.S. Enterprise (The next generation). Anlass<br />

dieses Treffens ist die Feier der Beförderung von Lt.<br />

Cmdr. Worf. Man hat sich eine kleine Besonderheit ausgedacht:<br />

Um sich einen Hut – als symbolisches neues<br />

„Rangabzeichen“ – zu ergattern, soll er auf einer weit<br />

über Bord ragenden Planke balancieren und nach oben<br />

springen, um den Hut zu greifen. Vor dem Versuch hört<br />

man den ersten Offizier Riker zu Captain Picard sagen:<br />

„Das schafft er nie! Hat noch keiner geschafft!“ – Nach-<br />

ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />

„Computer: Entferne die Planke!“<br />

71


ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />

72<br />

Der „Woozy“-Helm im Test<br />

dem Worf mitsamt dem Hut wieder sicher auf der Planke<br />

gelandet ist, merkt Picard an, man solle nie einen Klingonen<br />

unterschätzen. Daraufhin gibt Riker das Kommando:<br />

„Computer! Entferne die Planke!“, woraufhin<br />

sich diese in Nichts auflöst und der verblüfft dreinblikkende<br />

Worf unter dem Gelächter der ganzen Mannschaft<br />

senkrecht nach unten ins Wasser stürzt. Picards Rüge an<br />

seinen ersten Offizier: „Das heißt ‚Zieht die Planke ein!’,<br />

nicht ‚Entferne die Planke…’!“<br />

DIE SINNE SIND DIE FENSTER ZUR WELT<br />

Ganzkörperliche Simulationen wie das beschriebene<br />

Holo-Deck sind nur eine Utopie zur Wunscherfüllung.<br />

Eine andere Idee – in leicht abgewandelten Formen in<br />

vielen technischen Utopien zu finden – ist die direkte<br />

Stimulation der Sinneswahrnehmung. Hierzu – ausgewählt<br />

aus der Fülle möglicher Beispiele – als Beispiel<br />

eine kurze Sequenz aus dem phantastischen Film TOYS<br />

(1992), in welchem der Fabrikerbe Leslie Zevo (Robin<br />

Williams) den Missbrauch der Spielzeugfabrik seines<br />

Vaters durch das Militär verhindern will.<br />

Leslie Zevo betätigt sich als Spieleerfinder.<br />

Er hat ein neues Gerät entwickelt, welches<br />

Bilder, Klänge und Gerüche direkt auf die Sinnesorgane<br />

überträgt. Seine Schwester Alsatia<br />

(Joan Cusack) testet das Gerät – man sieht sie mit einem<br />

eigentümlichen, helmähnlichen Gerät auf dem Kopf und<br />

einer Schlauchleitung zur Nase herumschwanken und -<br />

wackeln. Sie durchlebt eine virtuelle Wildwasserfahrt,<br />

es macht ihr augenscheinlich riesigen Spaß. Auf die<br />

anschließende Frage ihres Bruders, wie sie sich fühle,<br />

antwortet sie: „Woozy!“ – Sein Kommentar: „Oh, that’s a<br />

great name: The Woozy-Helmet!“<br />

Der Computerwissenschaftler Ray Kurzweil prognostiziert<br />

in seinem 1999 verfassten Bestseller „Homo<br />

S@apiens“ für das Jahr 2019, dass diverse Virtual-Reality-Gerätschaften<br />

sowie das „allumfassende taktile<br />

Environment“ (2001, S.319) in guter Qualität überall zur<br />

Verfügung ständen und sowohl zu Kommunikations- als<br />

auch zu Unterhaltungszwecken genutzt werden. zehn<br />

Jahre später, 2029, sollen dann brauchbare Zugänge zum<br />

menschlichen Gehirn mit hoher Bandbreite sowie eine<br />

Vielzahl neuronaler Implantate zur Verbesserung von<br />

Wahrnehmung und Gedächtnis zur Verfügung stehen.<br />

EMPFUNDENE VIRTUALITÄT ...<br />

Gehen wir in diesem Sinne von der direkten Stimulation<br />

der Sinnesorgane noch einen Schritt weiter direkt<br />

zum Gehirn. In BRAINSTORM (1983) wird eine Apparatur<br />

beschrieben, die in der Lage ist, über Ableitung von<br />

Hirnströmen die Erlebnisse von Menschen – Wahrnehmungen,<br />

Emotionen und physische Reaktionen – systematisch<br />

aufzuzeichnen und später anderen Personen zu<br />

übertragen, so dass diese sie ganzheitlich nacherleben<br />

können.<br />

Eine Gruppe potentieller Interessenten<br />

bekommt das Gerät vorgeführt – sie sitzen<br />

verkabelt gemeinsam in einem Raum. Ihre<br />

Augen sind geöffnet, doch ihr Blick geht ins<br />

Leere. Die Übertragung überlagert die echte Umgebung.


Sie fahren Achterbahn, sind im Eiskanal, surfen, fliegen<br />

zwischen Wolkenkratzern, im Grand Canyon und über die<br />

Niagara-Fälle. Sie zeigen leichte körperliche Reaktionen<br />

– hier ein Lächeln, dort bewegen sich die Körper im<br />

Gleichtakt passend zu den empfundenen Bewegungen.<br />

Doch was unterscheidet eigentlich die in TOYS oder<br />

BRAINSTORM skizzierten Möglichkeiten der Freizeitgestaltung<br />

vom rezeptiven Umgang mit Second-Hand-<br />

Abenteuern in Film und Fernsehen, wie wir sie heute<br />

kennen? Zwar wird postuliert, dass die sensorische oder<br />

cerebrale Stimulation die heute meist bestehenden<br />

Begrenzungen auf den visuellen und auditiven Kanal 3<br />

durchbrechen kann, doch ist dies wirklich ein zentraler<br />

qualitativer Unterschied? Hier wie dort haben die Empfänger<br />

keine eigenen Handlungsmöglichkeiten – sie sind<br />

passive Rezipienten eines vorgefertigten Abenteuers.<br />

Anders sieht es im Holo-Deck oder im Roboter-Freizeitpark<br />

aus, wo eigene Aktivität und Interaktionen nicht<br />

nur möglich, sondern für den Verlauf des Freizeitabenteuers<br />

notwendig sind. Doch auch dort wird es – ebenso<br />

wie bei den heutigen Computerspielen – Grenzen in den<br />

Handlungsspielräumen geben: die Rigidität der Interaktionsmöglichkeiten<br />

ist dabei sowohl von der Komplexität<br />

der zugrunde liegenden Modelle als auch von der Güte<br />

der zugrunde liegenden Programmierung abhängig.<br />

Die bislang genannten Ansätze und auch die einfache<br />

Rezeption von Filmen haben einen wichtigen<br />

Aspekt gemeinsam: Die Nutzerinnen und Nutzer erleben<br />

die Inhalte in einem bewussten Informationsverarbeitungsprozess.<br />

Die von verschiedenen Sinnesorganen<br />

erfassten Wahrnehmungseindrücke (bei BRAINSTORM<br />

ersetzt durch direkte cerebrale Stimulation) werden vor<br />

dem Hintergrund eigener Erinnerungen und Erfahrungen<br />

bewertet und verarbeitet. Aufgrund unterschiedlicher<br />

Vorerfahrungen wird dies bei jedem Menschen zu unterschiedlichem<br />

Erleben und Erinnern des so vermittelten<br />

Geschehens führen.<br />

Gleichzeitig ist diese Verarbeitung der realen, stimulierten<br />

oder dem Gehirn vorgegaukelten Sinneseindrücke<br />

relevant in Bezug auf die Frage einer Doppelperspektive:<br />

4 Im Kino kann ich mich sowohl mit Protagonisten<br />

im Film identifizieren und erlebe mich doch zugleich<br />

auch als Zuschauer im Kinosaal. Es scheint eine weit verbreitete<br />

Sehnsucht zu geben, diese Doppelperspektive<br />

verlassen und voll und ganz in das Medium eintauchen<br />

zu können. Dies gilt zum einen für die Rezipienten, zum<br />

anderen scheint das aber auch ein wesentlicher Antrieb<br />

für Entwickler im Virtual-Reality-Bereich zu sein: Das<br />

Erleben künstlicher Wirklichkeiten soll immer authentischer<br />

werden – und dies gilt gleichermaßen für die Entwicklung<br />

militärischer Flugsimulatoren wie für einfache<br />

Unterhaltungsanwendungen zum Heimgebrauch. 5<br />

Die Sehnsucht nach dem Aufheben der Grenze zwischen<br />

der eigenen Person und dem Erlebten würde – konsequent<br />

weitergedacht – eine Vereinigung des Ich mit dem<br />

Außen (von der anderen Person bis zur Welt an sich)<br />

bedeuten, wie sie beispielsweise von William Gibson<br />

schon 1984 in Neuromancer beschrieben wurde. 6 Paradigmatisch<br />

wurde diese Vereinigung 1992 im Film THE<br />

LAWNMOWER MAN (dt.: Der Rasenmähermann) in einer<br />

für die damalige Zeit visuell beeindruckenden Sequenz<br />

in Szene gesetzt: In einem Cyberspace verschmelzen<br />

Odorama: Wird<br />

im Film die Zahl<br />

gezeigt, rubbeln<br />

die Zuschauer<br />

das Duftfeld auf<br />

der Karte frei.<br />

3 Natürlich will ich die vielen witzigen bis ambitionierten<br />

Versuche (beispielsweise mit „Odorama“-Dufteintrittskarten<br />

zum Freirubbeln wie bei John Water’s<br />

POLYESTER von 1981 oder die auf physischer Stimulation<br />

basierenden Motion-Ride-Kinos) hier keinesfalls<br />

unterschlagen, doch handelt es sich dabei immer noch<br />

um Ausnahmen oder Experimente und keine breiten<br />

Regelangebote.<br />

4 Ich danke Hans-Jürgen Wulff für seine diesbezüglichen<br />

Diskussionsbeiträge und Anmerkungen im MIRA-<br />

Symposium.<br />

5 Eine spannende Ausnahme gibt es: Bei den immer<br />

wieder aufflammenden gesellschaftlichen Diskussionen<br />

über die Frage der Wirkungen von „Ego-Shootern“<br />

und anderen gewalthaltigen Computerspielen fällt<br />

auf, dass die Spieler hinsichtlich postulierter negativer<br />

Auswirkungen für sich gerade das Vorhandensein<br />

einer „Doppelperspektive“ reklamieren: Sie wären<br />

sich jederzeit der Spielsituation bewusst und eine<br />

Vermischung von Spiel und Realität sei damit unmöglich,<br />

lautet ein oft vorgetragenes Argument (vgl. auch<br />

Streibl 1996).<br />

6 Im Rahmen des MIRA-Symposiums fand eine beeindruckende<br />

Aufführung des von Radio <strong>Bremen</strong> produzierten<br />

Hörspiels „Neuromancer“ (Gibson 2003) in<br />

einem dunklen Kinosaal statt.<br />

73


ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />

Technisches Equipment und verschmelzendes Erleben im Cyberspace<br />

74<br />

die virtuellen Repräsentationen eines Mannes und einer<br />

Frau miteinander – Ausdruck der Sehnsucht nach der<br />

ultimativen körperlichen Vereinigung? Es ist spannend,<br />

dass dieser scheinbar vollständige Vereinigungsakt erst<br />

durch Weglassen bzw. virtuelles Verlassen der realen<br />

Körper möglich wird (vgl. auch Laszig 1998). Doch noch<br />

eine andere „Verschmelzung“ ist zu beobachten. Gezeigt<br />

wird die unbegrenzte Macht im Cyberspace: Als eigener<br />

Schöpfer kann er die Welt dort frei und autonom<br />

gestalten. Und so liegt darin gleichzeitig der Nährboden<br />

für Dominanz, Gewalt und Missbrauch. Die Vereinigung<br />

mit dem Anderen wird abgelöst von dem Wunsch nach<br />

Beherrschung und Unterwerfung des Anderen.<br />

Doch kehren wir von derartigen Allmachtsphantasien<br />

nun wieder zurück zur Frage, ob und auf welche Weise die<br />

Freizeitgestaltung technisch optimiert werden könnte.<br />

... ERINNERTE REALITÄT<br />

Die künstliche Stimulation der Sinnesorgane oder des<br />

Gehirns führt zu einem Erleben der vermittelten Inhalte<br />

im Augenblick der Induktion. Gleichzeitig bleibt jedoch<br />

das Bewusstsein, dass die Erfahrungen sekundär vermittelt<br />

sind. Aber wenn wir unsere Wünsche und Sehnsüchte<br />

wirklich ausleben wollen – möchten wir da gleichzeitig<br />

noch wissen, dass wir uns selbst betrogen und die Erlebnisse<br />

oder Erinnerungen fremder Menschen nur kopiert<br />

haben? Wenn man das ernst meint, muss das Ziel sein,<br />

die Doppelperspektive, die eine Erinnerung als falsche<br />

und gekaufte Erlebnisse abqualifizieren könnte, herauszunehmen.<br />

Was wäre also, wenn man nicht nur an fremden Wahrnehmungen<br />

und Erinnerungen teilhaben könnte, sondern<br />

diese direkt so übertragen könnte, dass sie Teil<br />

der eigenen Erinnerungen werden? Basierend auf einer<br />

Kurzgeschichte von Philip K. Dick zeigt der Film TOTAL<br />

RECALL, wie das ablaufen könnte:<br />

Douglas Quaid interessiert sich für den Kauf<br />

einer Erinnerung an einen Marsaufenthalt. Er<br />

besucht Recall Inc. und ein Firmenvertreter<br />

informiert ihn über Preise und Konditionen:<br />

„First of all, Doug, let me tell you: when you go Recall,<br />

you get nothing but first-class memories. (...)“ – „But<br />

how real does it seem?“ – „As real as any memory in your<br />

head!“ – „Come on, don’t bullshit me...“ – „I’m telling<br />

you, Doug, your brain will not know the difference! And<br />

that’s guaranteed – or your money back!“ – Quaid bucht<br />

daraufhin zwei Wochen Mars. Und er entscheidet sich<br />

noch für ein Zusatzmodul, welches die Erinnerung mit<br />

einer Identität als Agent in geheimer Mission versieht.<br />

Dem ganzen liegt offenkundig ein unglaublich mechanistisches<br />

Menschenbild zugrunde. Schon bei BRAIN-<br />

STORM erscheint es möglich, das Gehirn vollständig von<br />

den natürlichen Außenreizen abzuschotten, so dass eine<br />

Übertragung der gespeicherten Sequenzen ohne störende<br />

Interferenzen durch die Sensorik des Körpers möglich<br />

ist. TOTAL RECALL geht noch einen Schritt weiter. Erinnerungen<br />

auf Bestellung werden quasi als vorgefertigte<br />

Module in das Gedächtnis übertragen. Die Phase der<br />

Verarbeitung realer oder medial vermittelter Sinnesreize<br />

entfällt. Da das menschliche Gedächtnis jedoch nicht


auf Speicherblocks basiert, die nach Belieben einfach<br />

hinzugefügt werden können, sondern vor allem von<br />

einer Vernetzung neuer Erfahrungen und Erlebnisse mit<br />

altem und vertrautem Wissen beruht, wären statt neuer<br />

Urlaubserinnerungen wohl eher psychische Probleme zu<br />

erwarten, erst recht, wenn meine gekaufte Urlaubserinnerung<br />

mir eine Identität vorgaukelt, die nichts mit mir<br />

zu tun hat. Gerade der Wegfall der Doppelperspektive<br />

würde hier vermutlich zu einem großen Problem führen:<br />

Ich identifiziere mich nicht – zu Unterhaltungszwecken<br />

– zeitweise mit jemand anderem (und bin mir dessen<br />

bewusst und kann jederzeit wieder herausspringen),<br />

sondern ich entwickle künstlich Ansätze zu einer multiple<br />

Persönlichkeit.<br />

ZU RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN FRAGEN SIE IHREN INFORMATI-<br />

KER ODER PSYCHOLOGEN …<br />

Also Suche nach der Erfüllung von Wünschen, Träumen,<br />

Sehnsüchten zum einen, zum anderen das Streben nach<br />

Selbstverwirklichung und Allmacht – doch was passiert,<br />

wenn etwas schief geht? Was geschieht, wenn etwas<br />

nicht so funktioniert, wie es funktionieren sollte? Viele<br />

der genannten Filme thematisieren die Unsicherheit<br />

und Fehleranfälligkeit der Technik oder deren möglichen<br />

Missbrauch. Sie befassen sich mit vorher nicht bedachten<br />

Rahmenbedingungen und unerwünschten Nebeneffekten<br />

beim Einsatz.<br />

Im Film WESTWORLD sehen wir erneut ein<br />

Duell derselben zwei Besucher des Freizeitparks<br />

mit dem mittlerweile reparierten Guns-<br />

linger. Die beiden kommen eine Straße entlang gegangen<br />

und erblicken den schwarzgekleideten Revolverhelden.<br />

Fast schon genervt („Come on, not now! Not you again!<br />

It’s too early…“) stellt sich einer von beiden zum Kampf<br />

– und wird von Gunslingers Kugel getroffen. Er blickt<br />

ungläubig auf das hervorquellende Blut und ruft seinem<br />

Begleiter zu: „I’m shot!“, bevor eine zweite Kugel ihn<br />

endgültig fällt. Sein Begleiter kann und will es erst gar<br />

nicht glauben, doch als er das vorher Undenkbare realisiert,<br />

flieht er vor dem herannahenden Gunslinger. Die<br />

Techniker und Betreiber des Parks haben mit Entsetzen<br />

das Geschehen an ihren Monitoren verfolgt und versuchen<br />

den Park zu deaktivieren – doch vergeblich: „We<br />

have no control over the robots at all...“<br />

In TOTAL RECALL begleiten wir Quaid, der<br />

seine virtuelle Marstour gebucht hat, in das<br />

Labor, wo ihm die entsprechende Erinnerung<br />

künstlich induziert werden soll. Er legt sich<br />

in die Maschine, der Prozess beginnt. Doch plötzlich<br />

kommt ein Notruf aus dem Labor. Der herbeieilende<br />

Recall-Manager stellt fest, dass der Mann sich panisch<br />

zu befreien versucht. Quaid wehrt sich nach Kräften<br />

handgreiflich gegen die Labortechniker, die ihn nur mit<br />

einer großen Dosis Beruhigungsmittel bändigen können<br />

– offenkundig ist bei der Übertragung etwas schief<br />

gegangen…<br />

In BRAINSTORM erleidet eine Frau einen<br />

Herzinfarkt. Da sie an das Aufzeichnungsgerät<br />

angeschlossen ist, wird ihr Sterben aufge-<br />

ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />

Wenn die Übertragung einer Erinnerung nicht ganz problemlos ist...<br />

75


ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />

7 An dieser Stelle sei die Anmerkung<br />

erlaubt, dass in BRAINSTORM, in THE<br />

LAWNMOWER MAN und vielen weiteren<br />

Filmen das militärische Interesse an<br />

neuen technischen Entwicklungen herausgestellt<br />

wird. Auch in Wirklichkeit<br />

war über lange Zeit das Militär wesentlicher<br />

Impuls- und Geldgeber für Entwicklungen<br />

in der Computertechnik. Zwar<br />

stehen mittlerweile zivile Anforderungen<br />

und Anwendungen deutlicher im Vordergrund,<br />

doch ist bis heute ein hohes<br />

Interesse des Militärs an neuen Technologien<br />

erkennbar (vgl. u.a. Bickenbach,<br />

Keil-Slawik, Löwe, Wilhelm 1985; Eurich<br />

1991; Streibl 2003).<br />

76<br />

zeichnet. Als später jemand anderes diese Aufzeichnung<br />

eingespielt bekommt, stirbt er ebenfalls. 7<br />

Zugegeben, die hier als Beispiele ausgewählten<br />

„Nebenwirkungen“ waren (aus dramaturgischen Gründen)<br />

recht drastischer Art. Künstliche Wirklichkeiten<br />

– egal ob sie eher klassischen Medien entstammen oder<br />

zum Bereich der sogenannten „Virtual Reality“ gezählt<br />

werden können – können sich jedoch auch etwas subtiler<br />

auswirken. Sie können Einfluss auf unsere Sicht von<br />

der Welt haben. Und davon soll im zweiten Teil dieses<br />

Beitrages die Rede sein.<br />

2. Teil: Weltbilder<br />

In seiner kurzen Geschichte „Der Blick vom Turm“ erzählt<br />

Günter Anders die Geschichte einer Mutter, die von<br />

einem hohen Turm aus ganz unten ihren Sohn erspäht<br />

– er wirkt wie ein Spielzeug, ist aber doch eindeutig<br />

erkennbar an der Farbe des Mantels. Sie sieht, wie diese<br />

kleine Figur von einem ebenfalls wie ein Spielzeug wirkenden<br />

Lastwagen überfahren wird. Als Menschen sie<br />

vom Turm hinabgeleiten wollen, ruft sie, sie wolle nicht<br />

hinunter gehen: „Unten wäre ich verzweifelt!“ (Anders<br />

1984, S.7).<br />

Wie sehen wir die Welt, wie nehmen wir unsere Umwelt<br />

wahr?<br />

IM FOKUS DER KAMERA<br />

Truman ahnt nicht, dass sein ganzes Leben<br />

nichts anderes ist als eine gigantische Fernsehsendung,<br />

DIE TRUMAN SHOW (1998), die<br />

weltweit Millionen von Zuschauern vor den Schirm lockt.<br />

Als er eines Morgens wie immer zur Arbeit geht, hört<br />

er plötzlich ein pfeifendes Geräusch. Aus dem blauen<br />

Himmel kracht neben ihm ein Scheinwerfer auf den<br />

Boden. Truman springt auf die Seite und ist irritiert.<br />

(…)<br />

Etwas später sehen wir Truman im Auto sitzen und<br />

durch die Stadt fahren. Er hört Radio. Plötzlich kommt<br />

es zu einer Störung, die Frequenz verschiebt sich und im<br />

Autoradio werden Regieanweisungen für die Fernsehsendung<br />

empfangen: Wir hören – gemeinsam mit Truman –<br />

die Beschreibung seiner Route in Echtzeit. Immer wenn<br />

er abbiegt, werden die Statisten in der entsprechenden<br />

Straße auf diese Weise vorgewarnt. Truman ist irritiert.<br />

Als die Regie den Fehler bemerkt, wird umgehend die<br />

Frequenz gewechselt.<br />

Wie wirklich ist Trumans Wirklichkeit? Es handelt<br />

sich um ein künstlich gebautes Szenario – alle wissen<br />

davon, nur Truman nicht. Der voyeuristische Blick auf<br />

Menschen im Alltag oder in Ausnahmesituationen und<br />

die diesbezügliche mediale Inszenierung sind filmisch<br />

immer wieder eindrucksvoll thematisiert worden. Einige<br />

Beispiele:<br />

LA DECIMA VITTIMA (1965, dt.: Das zehnte Opfer)<br />

zeigt uns eine tödliche Menschenjagd vor laufender<br />

Kamera, während die Regie versucht, Werbung in dem<br />

dramatischen Geschehen zu platzieren.<br />

Ein ähnliches Szenario – wie „Das zehnte Opfer“<br />

basiert es auf einer Kurzgeschichte von Robert Sheckley<br />

– bildete auch den Hintergrund einer Aufsehen erregenden<br />

deutschen Fernsehproduktion nach einem Drehbuch


von Wolfgang Menge. DAS MILLIONENSPIEL (1970) ist<br />

eine Show, in der ein Kandidat für die Dauer von einer<br />

Woche einer Bande professioneller Killer entkommen<br />

muss, um zu gewinnen. 8 Flucht und Jagd des Kandidaten<br />

werden von 20 Kamerateams gefilmt und von Showmaster<br />

Thilo Uhlenhorst (Dieter Thomas Heck) im Fernsehen<br />

präsentiert. Immer wieder werden die aktuellen<br />

Einschaltquoten durchgegeben. Angesiedelt wurde diese<br />

bissige Mediensatire damals zehn Jahre in der Zukunft,<br />

also im Jahr 1980. Dass das Szenario nicht allzu futuristisch<br />

ist, belegten jedoch die zahlreichen Zuschauerreaktionen<br />

bei der Erstausstrahlung im Oktober 1970:<br />

Tausende Zuschauer waren von der Echtheit der Darstellung<br />

überzeugt und protestierten in Anrufen gegen die<br />

Brutalität des Spiels. Und gleichzeitig bewarben sich 25<br />

Zuschauer schriftlich beim Sender als Kandidaten für die<br />

Show (WDR 2002).<br />

In LA MORT EN DIRECT (1980, dt.: Der gekaufte Tod)<br />

spielt Romy Schneider eine Frau, der gesagt wurde, dass<br />

sie nicht mehr lange zu leben hat. Ein Mann (Harvey<br />

Keitel), dem eine Kamera versteckt ins Auge implantiert<br />

wurde, erhält die Aufgabe, ihr Sterben zu dokumentieren.<br />

Gemeinsam ist den genannten Filmen die Vermischung<br />

von scheinbarer Wirklichkeit und medialer Inszenierung.<br />

Angesichts der derzeitigen Entwicklungen hinsichtlich<br />

Reality-Shows und Pseudo-Dokumentationen im Fernsehen<br />

scheinen die Szenarien dieser Filme heute nicht<br />

mehr so weit hergeholt.<br />

„Der große positive Gedanke der Dystopien von Orwells<br />

‚Big Brother’ und seinen zahllosen Varianten war es, dass<br />

die Subjekte des kontrollierenden, sadistischen Voyeurismus<br />

‚die anderen’ seien, eine Verschwörung der Unmenschen,<br />

ein wahnsinniger Zukunftsstaat. In Filmen wie LA<br />

MORT EN DIRECT beginnen wir immerhin zu ahnen, dass<br />

diese Ordnung von Subjekten und Objekten der allfälligen<br />

Beobachtung nicht aufrecht zu erhalten ist. Der Durchschnittsmensch<br />

selber ist es, der seinesgleichen ausspionieren,<br />

überwachen, beobachten will, vom Anfang bis zum<br />

Ende; Big Brother ist Jedermann“ (Seeßlen & Jung 2003,<br />

S.726).<br />

WIE WIRKLICH IST DIE WIRKLICHKEIT?<br />

Es ist reizvoll, bei interaktiven Spielen nicht nur die<br />

Aktivität des Spielens zu betrachten, sondern sich<br />

einmal genauer mit den jeweils speziell geschaffenen,<br />

künstlichen Spielwelten auseinanderzusetzen. Gleiches<br />

gilt für Simulationsprogramme und ihre Parameter.<br />

Sowohl Computerspiele als auch simulierte Welten sind<br />

dankbare Themen für Filme. Auch hier seien kurz einige<br />

Beispiele genannt:<br />

Im Disney-Film TRON (1982) legt sich ein Entwickler<br />

von Computerspielen mit seinem ehemaligen Chef<br />

und dessen „Master Control Program“ an. Im Zuge der<br />

Streitigkeiten wird er digitalisiert und in die Welt der<br />

Programme hineingezogen. Er landet auf dem „Spieleraster“.<br />

Programme leben und agieren dort als Personen.<br />

Sie haben eine eigene Religion – sie glauben an ihren<br />

„User“.<br />

DER ZAUBERKASTEN (1990) ist eine skurrile deutsche<br />

Produktion, die mehrere mediale Ebenen reizvoll und<br />

geschickt miteinander verknüpft: Micha, ein zehnjähri-<br />

ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />

8 Dieselbe Kurzgeschichte war übrigens<br />

auch Vorlage für den französischen Film<br />

LE PRIX DU DANGER von 1983. Ein von<br />

einer Menschenjagd als Spielshow begeistertes<br />

Medienpublikum findet sich ferner<br />

1987 auch in RUNNING MAN.<br />

77


Douglas Hall entdeckt das Ende der<br />

(simulierten) Welt<br />

78<br />

Allegra stöpselt das Spiel „eXistenZ“ am<br />

Bio-Port in Teds Rücken ein.<br />

Neo erwacht in der Wirklichkeit und sieht<br />

die Nährbottiche<br />

ges computerbegeistertes Mädchen, programmiert aus<br />

Langeweile ihren Nachbarn, den Buchhalter Schroeder<br />

in ein Computerspiel und eine Fernsehsendung hinein.<br />

Fortan vermischen sich die drei Ebenen Realität, Fernsehkrimi<br />

und Computerspiel und beeinflussen sich<br />

gegenseitig.<br />

In EXISTENZ (1999) von David Cronenberg vermischen<br />

sich im Zusammenhang mit einem interaktiven Spiel die<br />

Realitätsebenen immer mehr.<br />

Eine komplexe Gesellschaftssimulation ist Gegenstand<br />

in WELT AM DRAHT (1973) von Rainer Werner Fassbinder<br />

sowie in dem von Roland Emmerich produzierten Remake<br />

THE THIRTEENTH FLOOR (1999). Die Filme basieren auf<br />

dem Roman „Simulacron-3“ des amerikanischen Autors<br />

Daniel F. Galouye (1965). Von zentraler Bedeutung im<br />

Zusammenhang mit einem Mordfall scheint eine zu Forschungszwecken<br />

in Computern erschaffene künstliche<br />

Welt zu sein. Es handelt sich um eine Gesellschaftssimulation<br />

bestehend aus verschiedenen Individuen, in die<br />

sich die Entwicklerinnen und Entwickler mittels technischer<br />

Hilfsmittel zeitweise hineinbegeben können,<br />

um die von ihnen geschaffene Welt zu erforschen. Doch<br />

wie sich zeigt gibt es auch einen Weg in die andere<br />

Richtung. Als einer der simulierten Charaktere erkennt,<br />

dass er in einer Simulation lebt und einen der Entwickler<br />

stellen kann, fordert er ihn auf, ihm die Realität zu<br />

zeigen. Im weiteren Verlauf zeigt sich, dass die Welt der<br />

Entwickler ebenfalls eine Simulation ist, geschaffen von<br />

einer anderen Gesellschaft. In mancherlei Hinsicht kann<br />

man in dem vor 40 Jahren geschriebenen Roman eine<br />

Übertragung von Platons Höhlengleichnis in die Welt der


Computer und Informationstechnik sehen, lange bevor<br />

von „Virtual Reality“ die Rede war.<br />

Die Idee der Welt als künstlich geschaffene Simulation<br />

wurde mit großem Publikumserfolg 1999 in THE MATRIX<br />

ein weiteres Mal aufgegriffen. Maschinen gaukeln hier<br />

den von ihnen in Nährbottichen gehaltenen Menschen<br />

eine künstliche Realität vor. Der Hacker Neo (Keanu<br />

Reeves) muss sich der Frage stellen, ob er die Gelegenheit<br />

ergreifen will, die wahre Natur seiner Wirklichkeit<br />

zu erkennen und zu durchdringen. Was ist besser: die<br />

bittere Wahrheit der Realität oder die ablenkende Illusion?<br />

Immer wieder wird eine zentrale Frage aufgeworfen:<br />

Was ist eigentlich, wenn wir gar nicht wissen, dass wir in<br />

einer Simulation, in einer künstlichen Welt leben? Und<br />

was macht es mit uns, wenn wir wissen, dass unsere<br />

Wirklichkeit nicht die wirkliche Wirklichkeit ist? Zumindest<br />

nicht die einzig mögliche …<br />

Paul Watzlawick formulierte im Rahmen eines<br />

Gesprächs über den Konstruktivismus einmal: „Die Wissenschaft<br />

konstruiert Weltbilder, die eine Periode lang das<br />

Denken der Menschen unerhört befruchten. Dann kommt<br />

es zu einer Phase der Erschöpfung ihrer Möglichkeiten, und<br />

das hat das Entstehen eines neuen Paradigmas zur Folge“<br />

(Watzlawick & Kreuzer 1988, S.38).<br />

Wenn wir die Frage nach der Realität unserer Wirklichkeit<br />

noch weiter abstrahieren, führt sie uns dazu, darüber<br />

nachzudenken, was der Sinn unserer Existenz und<br />

unseres Handelns ist. Eine allgemeingültige Antwort auf<br />

diese Frage werde ich hier verständlicherweise schuldig<br />

bleiben. Und die individuelle Antwort mag jede Lese-<br />

Neo kann Kugeln ausbremsen<br />

ICH BIN MEINE EIGENE WELT<br />

79


ICH BIN MEINE EIGENE WELT rin und jeder Leser in der eigenen Welt für sich selbst<br />

finden.<br />

80<br />

Am Ende von Trumans Welt<br />

„Good afternoon, good evening, and good night!“<br />

Suchen wir jetzt den Ausgang.<br />

AUSGANG<br />

In der wirklichen Realität (?) angekommen fragt Douglas<br />

Hall in THE THIRTEENTH FLOOR: „Wo bin ich?“.<br />

In EXISTENZ lautet am Ende die offene Frage:<br />

„Sind wir noch im Spiel?“<br />

Truman ist auf ein Schiff gestiegen und segelt<br />

darauf immer weiter in Richtung Horizont<br />

– solange, bis sich der Bug des Schiffes in eine Wand<br />

bohrt. Die bemalte Kuppel ist die Begrenzung seiner<br />

Welt, die Himmelsschale der TRUMAN SHOW.<br />

Im Holo-Deck des Raumschiffes Enterprise ruft<br />

Captain Picard: „Ausgang!“ – Inmitten der Welt,<br />

in der er sich befindet, mitten auf dem Deck eines über<br />

das Meer fahrenden alten Segelschiffes, bildet sich<br />

ein Tor, auf dessen anderer Seite man den sterilen Flur<br />

des Raumschiffes erkennen kann. Er geht durch das Tor<br />

hinaus in seine andere Welt.<br />

Truman findet in der seine Welt begrenzenden<br />

Wand eine Tür mit der Aufschrift „Exit“. Er spricht<br />

noch kurz mit seinem „Schöpfer“, dem Regisseur der<br />

weltweit übertragenen TRUMAN SHOW, dessen Stimme<br />

vom Regieraum im Zenit der Himmelskuppel zu ihm herunterschallt.<br />

Er verabschiedet sich von ihm – und der<br />

ganzen Welt der Zuschauer – mit den Worten: „In case<br />

I don‘t see ya: good afternoon, good evening, and good<br />

night!“ und geht hinaus.<br />

Und schlussendlich:<br />

Der Gärtner Chance (Peter Sellers), ein Mann in den<br />

besten Jahren, muss in dem Film BEING THERE (1979)<br />

das Haus, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat, in<br />

dem er den Garten gepflegt und ansonsten ferngesehen<br />

hat, verlassen. Der alte Mann, dem das Haus gehörte, ist<br />

gestorben. Chance steht vor der Tür, er öffnet sie – und<br />

das erste Mal in seinem Leben geht er hinaus in die Welt.<br />

Er trägt eine Fernbedienung mit sich.<br />

Chance vor der Tür


Verzeichnis der zitierten Filme<br />

Being There (dt.: Willkommen, Mr. Chance): USA/Großbritannien/<br />

Deutschland/Japan 1979; R: Hal Ashby<br />

Brainstorm (dt.: Projekt Brainstorm): USA 1983; R: Douglas Trumbull<br />

La decima vittima (dt.: Das zehnte Opfer: Italien/Frankreich 1965;<br />

R: Elio Petri<br />

eXistenZ (dt.: eXistenZ): Kanada/Großbritannien/Frankreich 1999;<br />

R: David Cronenberg<br />

The Lawnmower Man (dt.: Der Rasenmähermann): Großbritannien/<br />

USA/Japan 1992; R: Brett Leonard<br />

Mary Poppins (dt.: Mary Poppins): USA 1964; R: Robert Stevenson<br />

Maschinenträume: Deutschland 1988; R: Peter Krieg<br />

The Matrix (dt.: Matrix): USA 1999; R: Andy Wachowski, Larry<br />

Wachowski<br />

Das Millionenspiel: Deutschland 1970; R: Tom Toelle<br />

La mort en direct (dt.: Der gekaufte Tod): Frankreich/Deutschland/<br />

Großbritannien 1980; R: Bertrand Tavernier<br />

Polyester (dt.: Polyester): USA 1981; R: John Waters<br />

Le prix du danger (dt.: Kopfjagd – Preis der Angst): Frankreich/<br />

Jugoslawien 1983 ; R: Yves Boisset<br />

The Running Man (dt.: Running Man): USA 1987; R: Paul Michael<br />

Glaser<br />

Star Trek: Generations: USA 1994; R: David Carson<br />

The Thirteenth Floor (dt: The 13th Floor): D/USA 1999; R: Josef<br />

Rusnak<br />

Total Recall (dt.: Total Recall): USA 1990; R: Paul Verhoeven<br />

Toys (dt.: Toys): USA 1992; R: Barry Levinson<br />

Tron (dt.: Tron): USA/Taiwan 1982; R: Steven Lisberger<br />

The Truman Show (dt.: Die Truman Show): USA 1998; R: Peter Weir<br />

Videopoly oder Duponts Verschwinden: Schweiz 1985; R: Walter<br />

Deuber, Peter Stierlin<br />

Welt am Draht: D 1973; R: Rainer Werner Fassbinder<br />

Westworld (dt.: Westworld): USA 1973; R: Michael Crichton<br />

Der Zauberkasten: Deutschland 1990; R: Peter Henning<br />

81


Ich bin meine eigene Welt<br />

82<br />

Literatur<br />

Anders, G. (1984): Der Blick vom Turm. 2. Aufl. München: C.H.Beck.<br />

Bammé, A.; Feuerstein, G.; Genth, R.; Holling, E.; Kahle, R.; Kempin,<br />

P. (1983): Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen. Grundrisse<br />

einer sozialen Beziehung. Reinbek: Rowohlt.<br />

Bickenbach, J.; Keil-Slawik, R.; Löwe, M.; Wilhelm, R. (Hrsg.)<br />

(1985): Militarisierte Informatik. Marburg/Berlin: Schriftenreihe<br />

Wissenschaft und Frieden (BdWi / FIFF).<br />

Eurich, C. (1991): Tödliche Signale: die kriegerische Geschichte der<br />

Informationstechnik von der Antike bis zum Jahr 2000. Frankfurt/M.:<br />

Luchterhand.<br />

Galouye, D.F. (1965): Welt am Draht. München: Goldmann.<br />

Gibson, W. (1984): Neuromancer. New York: Ace Books.<br />

Gibson, W. (2003): Neuromancer. Hörspiel. Regie: A. Behrens. Produktion:<br />

H. Rink / Radio <strong>Bremen</strong>. 3 CDs, 212 Minuten. Berlin:<br />

Der Audio Verlag.<br />

Jeschke, W. (1995): Cyberpunk, die kybernetische Aufrüstung des<br />

Menschen und die Zukunft der menschlichen Evolution. In:<br />

Steinmüller, K.; Schattschneider, P. (Hrsg.): Science Fiction.<br />

Werkzeug oder Senso einer technisierten Welt? Passau: Erster<br />

Deutscher Fantasy Club e.V., S. 63-75.<br />

Karst, U.V. (1987): Freizeit – Daten, Fakten, Hintergründe. In: Engholm,<br />

B.; Hafemann, M.; Reisch, L.; Schlüpen, D. (Hrsg.): Die<br />

Zukunft der Freizeit. Weinheim: Beltz, S.52-90.<br />

Krieg, P. (1990): Maschinenträume (Mythen der Moderne III).<br />

Begleitbuch zum gleichnamigen Videofilm. Frankfurt/M.: Zweitausendeins.<br />

Kurzweil, R. (2001): Homo S@piens. Leben im 21. jahrhundert. Was<br />

bleibt vom Menschen?.3. Auflage. München: Econ.<br />

Laszig, P. (1998): Deus ex Multimedia - Körperlichkeit im digitalen<br />

Raum. In: Psychoanalyse im Widerspruch , 10 (19), S.93-98.<br />

online: http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~iy0/institut/widerspr/w19.htm<br />

(Abruf: 22.8.2005)<br />

Schulze, G. (1993): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der<br />

Gegenwart. 4. Aufl. Frankfurt: Campus.<br />

Seeßlen, G.; Jung, F. (2003): Science Fiction. Grundlagen des populären<br />

Films. Marburg: Schüren.<br />

Streibl, R.E. (1996): Spielend zum Sieg. Krieg im Computerspiel –<br />

Krieg als Computerspiel. Informatik-Forum, 10 (4), S. 203-214.<br />

Streibl, R.E. (2003): Information Warfare. Krieg in den Netzen – und<br />

darüber hinaus. In: Wissenschaft & Frieden, 21 (3), S.23-26.<br />

Watzlawick, P.; Kreuzer, F. (1988): Die Unsicherheit unserer Wirklichkeit.<br />

Ein Gespräch über den Konstruktivismus. München:<br />

Piper.<br />

WDR (2002): Das Millionenspiel – Webfeature. http://online.wdr.de/<br />

online/computer/tagestipp/getstream.php?urlfwd=$id$6002


VIRTUELLE HÖHLEN<br />

CAVE — eine Grenzerfahrung der Sinne<br />

Melanie Johänning & Simon Meyborg<br />

Wir sind das studentische Projekt MicaDo aus dem Fachbereich<br />

Informatik der <strong>Universität</strong> <strong>Bremen</strong> und möchten<br />

im Folgenden unsere Arbeit, die im Mira-Symposium<br />

ihren Abschluss fand, vorstellen.<br />

Die Aufgabe unseres viersemestrigen Projektes unter<br />

der Leitung von Prof. Dr.-Ing. Friedrich-Wilhelm Bruns<br />

war es, einen Cave zu bauen und diesen mit einer<br />

Anwendung zu versehen. Dazu gehörte die Entwicklung<br />

der Software zur Rechnersteuerung, die Erstellung einer<br />

dreidimensionalen virtuellen Welt, die Entwicklung<br />

eines oder mehrerer Eingabegeräte zur Interaktion und<br />

die dazugehörigen Schnittstellen.<br />

Cave bedeutet Computer Animated Virtual Environment<br />

und ist eine Konstruktion, die es ermöglicht, den<br />

Benutzer in eine virtuelle, dreidimensionale Illusionswelt<br />

zu versetzen. Durch eine beispielsweise aus vier<br />

oder mehr Leinwänden bestehende Konstruktion erhält<br />

man einen begehbaren Raum, der den Benutzer komplett<br />

umgibt und in die Welt integriert. Die grafischen Daten,<br />

die auf die Leinwände projiziert werden, können von<br />

dem Benutzer interaktiv kontrolliert und beeinflusst<br />

werden. Der Benutzer befindet sich dadurch nicht mehr<br />

in der reinen Beobachterrolle. Er erhält den Eindruck,<br />

sich in einer virtuellen Welt zu bewegen. Eine häufige<br />

Anwendung in einem Cave ist die Simulation, wie zum<br />

Beispiel eine Flugsimulation oder Motorradsimulation,<br />

wobei der Benutzer in einem Cave ein größeres Blickfeld<br />

als bei gewöhnlichen Simulationen bekommt und so<br />

seine gesamte Umgebung wahrnehmen kann.<br />

Wir entwickelten eine Dschungelwelt, die Schnecken,<br />

Schildkröten, Spinnen, Säbelzahntiger und eine Eigenkreation<br />

namens Florifant beherbergt. Diese Kreaturen<br />

bewegen sich völlig eigenständig durch die erschaffene<br />

Welt. Sie verfolgen dabei abhängig von ihrer Gemütslage<br />

verschiedene Absichten wie Essen, Trinken, Schlafen<br />

oder Interesse am Cave-Besucher. Dieser steht auf einem<br />

rechteckigen, realen Floß, neben dem sich an jeder Seite<br />

ein Sensorgraben befindet. Mit dem Stab, den er in der<br />

Hand hält, kann er durch Abstoß- und Ruderbewegungen<br />

innerhalb der Gräben durch die Welt navigieren.<br />

Die Fahrt auf Land ist ihm genauso gestattet wie auf<br />

dem Wasser. In der anderen Hand hält der Besucher eine<br />

Fernbedienung. Mit ihr kann er mit den Kreaturen des<br />

Dschungels interagieren. Umherlaufende Tiere können<br />

83


Ein ausführlicher Projektbericht<br />

ist als „<strong>artecLab</strong><br />

paper 4“ erschienen. Eine<br />

Papier-Fassung kann im<br />

<strong>artecLab</strong> angefordert<br />

werden, eine pdf-Version<br />

steht als download bereit<br />

unter:<br />

www.arteclab.unibremen.de/paper<br />

84<br />

angelockt oder weggescheucht werden. Schlafende Tiere<br />

lassen sich mit ihr wecken. Hat der Besucher das Gefühl,<br />

die Gewalt über das Floß zu verlieren, befindet sich auf<br />

der Fernsteuerung noch eine Bremse. Um das Raumgefühl<br />

des Caves zu erhöhen, gibt es einen dreidimensionalen<br />

Sound, so dass der Benutzer hört, wenn sich eine<br />

Kreatur hinterrücks nähert.<br />

PROJEKTVERLAUF<br />

Teil des Hauptstudiums der Informatik an der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Bremen</strong> ist es über die Dauer von vier Semestern in<br />

einem Projekt zu arbeiten. Dabei werden von Arbeitsgruppen<br />

aus dem Fachbereich verschieden Themen<br />

angeboten. Die Vorschläge decken das gesamte Spektrum<br />

der Informatik ab und jeder Student hat somit die<br />

Möglichkeit sich in gewissen Bereichen zu spezialisieren.<br />

Das Projekt MicaDo reicht beispielsweise von Sensorik/Aktorik,<br />

Grafik, über Künstliche Intelligenz bis hin<br />

zu gestalterischen Elementen.<br />

Unser Arbeitsvorhaben einen Mixed Reality Cave zu<br />

entwickeln gingen wir zunächst völlig offen an. Wir hielten<br />

uns gegenseitig Vorträge, um uns über die Möglichkeiten,<br />

die ein solches Vorhaben mit sich bringt, klar zu<br />

werden. Unser ersten kleineren Ideen testeten wir an<br />

einem Prototypen, den wir nach zwei Monaten bereits<br />

konstruiert hatten. Dabei handelte es sich um drei<br />

Bettlaken, die wir als Projektionsflächen an die Decke<br />

hingen und durch Holzlatten am unteren Ende spannten.<br />

Durch diese drei unabhängigen Flächen, konnten wir mit<br />

verschiedenen Blickwinkeln experimentieren, wobei wir<br />

zu dem Entschluss kamen unser Endprodukt mit sechs


Leinwänden auszustatten, um den Cave möglichst kreisnah<br />

zu konstruieren.<br />

Das Projektziel wollten wir auf einer einwöchigen<br />

Reise nach Dänemark finden, die sich dem ersten Semester<br />

anschloss. Wir entschieden uns für eine phantasievolle<br />

Welt, in der Lebewesen untereinander und mit dem<br />

Besucher interagieren können.<br />

Nachdem dieses grobe Szenario entworfen war, konkretisierten<br />

wir in Untergruppen die verschiedenen<br />

Aspekte, wie die Gestaltung der Navigation, der künstlichen<br />

Intelligenz und die Erschaffung der Kreaturen sowie<br />

das Sound und Leveldesign. Jede dieser Gruppen konnte<br />

dabei relativ autark arbeiten und ihre eigenen Wünsche<br />

umsetzen. Wer beispielsweise handwerklich tätig werden<br />

wollte, konnten dies genauso tun wie jemand der gerne<br />

programmiert oder künstlerisch tätig ist.<br />

Somit war das Ziel unseres Projektes mehr ein im<br />

Machen Erreichtes als ein im Vorhinein Gestecktes.<br />

Mit dem alljährlichen Projekttag an der <strong>Universität</strong><br />

am 09.07.2004 endete das eigentliche Projekt. Wir präsentierten<br />

zusammen mit allen anderen Projekten, die<br />

zeitgleich mit uns begonnen hatten, die Ergebnisse der<br />

vergangenen zwei Jahre. Hauptsächlich waren dort nur<br />

Studenten, Professoren und Mitarbeiter, sowie Freunde<br />

und Verwandte zugegen. Da wir mit unserem Mixed Reality<br />

Cave sehr zufrieden waren und die Besucher begeisterten,<br />

blickten wir mit großer Freude auf das geplante<br />

Mira-Symposium im Oktober, in dessen Rahmen wir<br />

unseren Cave der breiten Öffentlichkeit öffneten. Dabei<br />

war es uns ein Anliegen das gängige Klischee des Informatikers<br />

als Eigenbrötlers zu korrigieren und zu zeigen,<br />

dass viel mehr als nur Computer hinter dem Begriff<br />

Informatik steckt.<br />

Rückblickend lässt sich der oftmals schwergängigen<br />

Projektarbeit, sowie der späteren erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit<br />

durch Mira sehr viel Positives abgewinnen.<br />

Wir haben gelernt uns in einer großen Gruppe zu<br />

organisieren und zielgerichtet zu arbeiten, was eine gute<br />

Vorbereitung auf das spätere Berufsleben bedeutet.<br />

85


PROGRAMM<br />

86<br />

mira-Symposion:<br />

Seh-Erlebnisse<br />

im Theater, im Kino, in virtuellen Welten<br />

Do. 28.10.<br />

Neuromancer 18.00<br />

Alfred Behrens, Hörspiel nach William Gibson<br />

prod. von Holger Rink (NordWestRadio/WDR), 180 Min.<br />

Neuromancer machte Gibson mit einem Schlag als visionären<br />

Science Fiction Schriftsteller von Rang berühmt. Von Gibson<br />

stammt die Wortschöpfung „Cyberspace“, mit ihm beginnt die<br />

literarische Ära der „Cyberpunks“, die Beschreibung einer anarchistischen<br />

und chaotischen Hackerszene. Gibson genießt unter<br />

den Anhängern der Cyber-Literatur längst Kultstatus. Der Titel<br />

ist eine Zusammenziehung aus den Silben Neuro (Nerven) und<br />

Romancer (Phantast, Träumer).<br />

Fr. 29.10.<br />

Schein und Wirklichkeit in Mixed Reality 17.00<br />

Technische Möglichkeiten, Grenzen und Risiken<br />

Vortrag: Prof. Willi Bruns, Informatik, Uni <strong>Bremen</strong><br />

Es wird aufgezeigt, welche technische Möglichkeiten und Grenzen<br />

es gibt, reale und virtuelle Welten zu mischen. Nützliche<br />

und unterhaltsame Anwendungen werden vorgestellt. „Wenn der<br />

Schein wild wird nach Gestalt, wird er den Spiegel zum Bersten<br />

bringen.“ (Botho Strauß, 1999)<br />

Höhlen 18.00<br />

Ein assoziativer Bildessay<br />

Vortrag: Bernd Robben, Informatik Uni <strong>Bremen</strong><br />

Am Anfang ist die Höhle, nicht das Wort. Das Zeitalter der technischen<br />

Produzierbarkeit übersetzt sie ins CAVE, das Computer<br />

Animated Virtual Environment. Um solche Verhältnisse aufzuklären,<br />

muss man die Höhlen wahr - nehmen.<br />

Computer - Art 1 20.30<br />

USA 2003, SigGraph-Filme<br />

Eine Auswahl der besten computeranimierten Kurz- und Experimentalfilme<br />

von der SigGraph 2003, der weltweit größten Messe<br />

für Computer-Grafik.<br />

Kairo 22.30<br />

Japan 2001, Regie: Kiyoshi Kurosawa, 112 Min.,OmU<br />

Mysteriöse Todesfälle in Tokyo scheinen in Zusammenhang mit<br />

einer sonderbaren Website zu stehen - unglaublich fesselnder,<br />

beklemmender Thriller, wobei der Titel übersetzt soviel wie<br />

Stromkreislauf heißt.


Sa. 30.10.<br />

Virtuelle Höhlen 15.30<br />

CAVE — eine Grenzerfahrung der Sinne<br />

Informatik-Studenten der Uni <strong>Bremen</strong> stellen den von ihnen<br />

gebauten und programmierten Mixed Reality Cave vor, das im<br />

Lichthaus am Pier 2 installiert ist.<br />

Schein und Wirklichkeit im Theater 16.00<br />

Vortrag: Peter Lüchinger, Bremer Shakespeare Company<br />

Sind wir aus dem Stoff, aus dem die (T)Räume sind? Was gibt dem<br />

Zuschauer den Eindruck, dass auf der leeren Bühne Leben stattfindet?<br />

Lässt sich der Zuschauer auch durch Sprache manipulieren?<br />

Ich bin meine eigene Welt ... 17.00<br />

Schöpfungen zwischen Konstruktion und Illusion<br />

Vortrag: Ralf E. Streibl, Uni <strong>Bremen</strong>, Informatik<br />

Wunscherfüllung oder Albtraum, Allmacht oder Ohnmacht,Selbstverwirklichung<br />

oder Flucht: Die Ver-Wirklichung künstlicher Welt-<br />

Sichten in Science-Fiction-Filmen wird nach zugrunde liegenden<br />

Ängsten, Hoffnungen und Mythen durchleuchtet.<br />

WeltenWandererWelten 18.30<br />

Mögliche Realitäten im Kino<br />

Vortrag: Hans-Jürgen Wulff, Uni Kiel, Medienwissenschaften<br />

„Inseln“ oder „Utopien“ haben verschiedene Realitäten denkbar<br />

werden lassen. Hinzu kamen Subjektivitäten wie „Träume“ oder<br />

„Wahnvorstellungen“. Mitte des letzten Jahrhunderts kam die<br />

Simulation ins Bilder-Denken, jetzt die Möglichkeit der Schaffung<br />

„virtueller Welten“.<br />

Computer - Art 2 19.30<br />

A 2002-03, Ars Electronica<br />

Die Ars Electronica in Linz ist das renommierteste Festspiel für<br />

elektronische Filmkunst. Gezeigt wird eine Auswahl von Kurzfilmen<br />

der Preisträger von 2002 und 2003.<br />

Cube 22.30<br />

CAN 1997, Regie: Vincenzo Natali, 91 Min., OF<br />

Sechs Personen erwachen aus ihrem Alltagsleben in einem tödlichen<br />

Irrgarten-Würfel, aus dem es kein Entrinnen zu geben<br />

scheint. Ein SF-Thriller, nichts für Klaustrophobiker und andere<br />

sensible Gemüter<br />

CAN 1997, Regie:François Girard, 60 Min<br />

So. 31.10.<br />

Yo Yo Ma: The Sound of the Carceri 18.00<br />

Aus den alten Stichen der Carceri von Piranesi wird im Computer<br />

eine 3-D-Welt. Yo Yo Ma wird mit seinem Cello in diese Welt<br />

platziert und virtuell eingepasst.<br />

Science Fiction 20.30<br />

D 2003, Regie: Franz Müller, 112 Min., Erstaufführung<br />

Im Motivations-Worksphop wird klar: Jürgen kann nocht nicht<br />

mal eine Tür aufmachen! Als es dann doch schafft, sind alle Teilnehmer<br />

vergessen. Frisches deutsches Kinovergnügen, in dem<br />

Räume und Türen den phantastischen Plot bestimmen.<br />

Weitere Filme im Rahmen von mira:<br />

Brasil Fr. 24.9. und Sa. 25.9. 20.30<br />

GB 1984, Regie: Terry Gilliam, 142 Min.<br />

Tote Fliege im Schreibmaschinengetriebe –<br />

wie ein Buchhalter die Realität verändert<br />

Briefe eines Toten So. 10.10. um 20.30<br />

UdSSR 1986, Regie: Konstantin Lopuschnanskij<br />

Durch einen Computerfehler tritt die atomare<br />

Katastrophe ein, die Erdoberfläche ist<br />

unbewohnbar. Endzeitfilm, in dem ein Wissenschaftler<br />

per Brief an seinen Sohn eine<br />

Vision zum Weiterleben entwickelt.<br />

Panic Room Fr. 22.10. und Sa. 23.10.<br />

um 22.30<br />

USA 2002, Regie: David Fincher, 110 Min.<br />

Ein vierstöckiges Wohnhaus in Manhattan,<br />

ein Überfall, ein „safe room“?<br />

Moebius Mo. 1.11. und Di. 2.11.<br />

um 18.00<br />

Arg 1996, Regie: Studentenkollektiv Universidad de Cine, 88 Min., OmU<br />

Ein junger Mathematiker soll das rätselhafte<br />

Verschwinden einer U-Bahn klären.<br />

Ein spannender, vielschichtiger und verblüffend<br />

konstruierter Thriller: Moebius<br />

meets Borges und Kafka<br />

87


88<br />

mira-Installation<br />

Mixed Reality Cave<br />

Cave bedeutet Computer Animated Virtual Environment: eine Höhle, die zwei<br />

Realitäten verbindet. Lassen Sie sich mit allen Sinnen in einen virtuellen<br />

Dschungel versetzen. Auf einem realen Floß können sie die vom Rechner<br />

erzeugte Welt erkunden. Die im medialen Urwald lebenden Tiere kommunizieren<br />

untereinander, beinflussen sich gegenseitig und lassen sich durch Ihre<br />

Gegenwart anlocken oder verscheuchen.<br />

Den Cave realisierten Informatik-Studenten des Projekts micado der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Bremen</strong>.<br />

Vernissage: Sa. 23. 10. um 15.00 Uhr<br />

- Eröffnungsrede von Wilfried Müller, Rektor der <strong>Universität</strong> <strong>Bremen</strong><br />

- Einführung in Mixed Reality Caves durch die Studenten<br />

- Musik von Joachim Heintz, Atelier Neue Musik<br />

- Eröffnung des Caves<br />

Finissage: So. 31.10. um 11.30 Uhr<br />

- Lesung: Seh-Erlebnisse zum Hören, Peter Lüchinger, Bremer Shakespeare Company<br />

Lichthaus am Pier 2<br />

Sa. 23.10. - So. 31.10


Die Mitglieder des Projekts<br />

micado:<br />

armstrong afropezi<br />

jasper arndt<br />

henning burow<br />

michael dippold<br />

johannes goos<br />

katja graupner<br />

jan hövelmann<br />

melanie johänning<br />

hans-christoph jakobeit<br />

stephan leinweber<br />

simon meyborg<br />

florian pantke<br />

bernd robben<br />

lars struss<br />

oliver vahjen<br />

anne virnich<br />

alexander walschik<br />

sven werner<br />

89


PRESSESPIEGEL<br />

91


PRESSESPIEGEL<br />

92


KREISZEITUNG<br />

93


WESER-KURIER, 23. OKOBER 2004<br />

94


Das <strong>artecLab</strong>:<br />

bildet eine experimentelle Gruppe von Wissenschaftlern, Ingenieuren<br />

und Künstlern.<br />

Wir analysieren und erproben formale und nicht-formale Methoden der<br />

Modellierung, Produktion und Simulation.<br />

Wir konstruieren sensorisierte Computer-Umgebungen und erforschen<br />

neue Formen der Mensch-Maschine-Interaktion.<br />

Wir experimentieren mit der Vermischung von realen und virtuellen<br />

Welten an der Grenze zwischen maschineller Funktion und menschlicher<br />

Phantasie.<br />

Wir sind Grenzgänger auf den Gebieten Kunst, Arbeit und Technik: Art,<br />

Work and Technology.<br />

Der Mixed Reality Ansatz eröffnet neue Sichtweisen.<br />

Wir modellieren mit realen Gegenständen, die eine reiche sinnliche<br />

Erfahrung mit der Widerspenstigkeit realer Phänomene vermitteln.<br />

Wir formen virtuelle Gegenstände, die vielfältige Übersetzungen zwischen<br />

konkreten und abstrakten Sichtweisen realisieren.<br />

Wir bauen Schnittstellen und Interfaces, die komplexe Verhältnisse<br />

zwischen der realen Welt der physischen Gegenstände und der virtuellen<br />

Informationswelt erfahrbar machen.<br />

Die Computer-Wissenschaften und ihre mathematischen Grundlagen<br />

haben eine eigene Ästhetik.<br />

Wir verstehen Ästhetik als Balance zwischen sinnlicher Erfahrung und<br />

verstandesmäßiger Durchdringung der uns umgebenden Phänomene.<br />

Wir haben das Ziel, eine spielerische Erfahrung der Mensch-Maschine-<br />

Beziehung zu ermöglichen - auch jenseits der Grenzen von Rationalität,<br />

Nützlichkeit oder Effizienz.<br />

Wir verfolgen gleichzeitig einen partizipatorischen und sozial verpflichteten<br />

Ansatz.<br />

97


98<br />

<strong>artecLab</strong> Paper<br />

1. Jörg Richard, F. Wilhelm Bruns, Mensch und<br />

Maschine im Spielraum - Technische Praxis<br />

und Ästhetische Erfahrung<br />

2. F. Wilhelm Bruns, Hyperbonds - Applications<br />

and Challenges<br />

3. Yong-Ho Yoo, Energy Interface for Mixed<br />

Reality Design<br />

4. Micado,Projektbericht des studentischen<br />

Projekts micado zu Mixed Reality Caves<br />

5. Micarpet,Projektbericht des studentischen<br />

Projekts micarpet zu Mixed Reality Caves<br />

6. Micasa,Projektbericht des studentischen<br />

Projekts micasa zu Mixed Reality Caves<br />

7. Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews,<br />

Mixed Reality Adventures, Bericht vom Symposium<br />

im Kino 46<br />

8. Daniel Cermak-Sassenrath, Martin<br />

Faust,Computerspiele

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