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Allgemeines Verwaltungsrecht Übungsunterlagen - Thomas Fleiner

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<strong>Allgemeines</strong> <strong>Verwaltungsrecht</strong><br />

<strong>Übungsunterlagen</strong><br />

Studienjahr 2007 / 2008<br />

Professor <strong>Thomas</strong> <strong>Fleiner</strong><br />

Professor Peter Hänni<br />

Professor Bernhard Waldmann


Modul I<br />

Inhaltsverzeichnis:<br />

Inhaltsverzeichnis III<br />

Literaturverzeichnis IX<br />

Einführung<br />

I. Die Verwaltung<br />

1. Aufgaben der Verwaltung<br />

2. Träger der Verwaltung<br />

II. Die Rechtsquellen des <strong>Verwaltungsrecht</strong>s<br />

1. Gesetz<br />

2. Verordnung<br />

3. Autonome Satzungen<br />

4. Staatsverträge<br />

5. Allgemeine Rechtsgrundsätze<br />

6. Gewohnheitsrecht<br />

7. Richterrecht<br />

III. Stellung des <strong>Verwaltungsrecht</strong>s im Rechtssystem<br />

1. <strong>Verwaltungsrecht</strong> – Verfassungsrecht<br />

BGE 125 II 417 PKK 1<br />

2. <strong>Verwaltungsrecht</strong> – Privatrecht<br />

BGE 129 III 161 / Raas 10<br />

BGE 109 Ia 76 / Sumvitg/Somvix 14<br />

3. <strong>Verwaltungsrecht</strong> – Strafrecht<br />

BGE 122 II 359 / Führerausweisentzug 19<br />

III


Modul II<br />

Modul III<br />

Modul IV<br />

IV. Grundsätze des Verwaltungshandelns<br />

1. Grundsatz der Gesetzmässigkeit<br />

BGE 127 V 431 / Heilbad 25<br />

Sachverhalte: 1. Numerus Clausus Basel 31<br />

2. Solothurner Grundbuchabgabe 33<br />

2. Öffentliches Interesse<br />

3. Verhältnismässigkeit<br />

4. Grundsatz von Treu und Glauben / Rechtsmissbrauch<br />

BGE 109 V 52 / Bärtschi 36<br />

BGE 127 II 49 / Aufenthaltsbewilligung 40<br />

Sachverhalt: Postbote 45<br />

5. Grundsatz der Rechtsgleichheit und Willkürverbot<br />

V. Anwendung des <strong>Verwaltungsrecht</strong>s<br />

1. Räumliche und zeitliche Geltung von <strong>Verwaltungsrecht</strong>ssätzen<br />

2. Auslegung und Lückenfüllung<br />

3. Ermessen<br />

BGE 115 Ib 163 / Lieferwagen 47<br />

BGE 106 Ia 1 / Irene Waeber 50<br />

Sachverhalt: IKEA-Lager 52<br />

IV


Modul V<br />

Modul VI<br />

Modul VII<br />

VI. Das Handeln der Verwaltung<br />

1. Die Verfügung<br />

A. Arten von Verfügungen<br />

Begriff der Verfügung<br />

BGE 109 Ib 253 / Umbenennung Poststelle 54<br />

Allgemeinverfügung<br />

ZBl 2004 218 / Paintball-Verbot 57<br />

Feststellungsverfügung<br />

VB.2000.00248 vom 29. August 2000 /<br />

Verein gegen Tierfabriken 61<br />

Nebenbestimmungen<br />

VB.2003.00336 vom 10. März 2004 /<br />

Mega-Poster 67<br />

Sachverhalte: 1. Liestaler Banntag 72<br />

2. Mehrfamilienhaus 73<br />

3. Schulweg 76<br />

4. Bankenkommission 78<br />

B. Form der Verfügung<br />

C. Verfahren auf Erlass von Verfügungen<br />

BGE 113 Ia 81 / Trüllikon 79<br />

Sachverhalt: Assistentenstelle 83<br />

D. Fehlerhaftigkeit und Änderungen von Verfügungen<br />

Nichtigkeit als Ausnahme<br />

VPB 67.94 / Präservative 84<br />

Widerruf von Verfügungen<br />

ZBl 2000 42 / Jakobsbrunnen 91<br />

Sachverhalte: 1. Gontenschwil 97<br />

2. Subventionsvergabe 99<br />

V


Modul VIII<br />

Modul X und IX<br />

E. Durchsetzung der Verfügung<br />

2. Der verwaltungsrechtliche Vertrag<br />

ZBl 1993 231 / Arkadenbau 101<br />

Sachverhalt: Hoffmann AG 105<br />

3. Schlichtes und informelles Verwaltungshandeln<br />

VII. <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege<br />

BGE 121 I 87 / Verein zur Föderung der<br />

Psychologischen Menschenkenntnis (VPM) 107<br />

BGE 120 Ia 321 / ökologisches Bauen 111<br />

1. Verwaltungsinterne Beschwerde &<br />

Beschwerde vor Bundesverwaltungsgericht<br />

B-2125/2006 / Nichtzulassung zum Zivildienst 116<br />

B-2214/2006 / Höhere Fachprüfung 123<br />

2. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten &<br />

Subsidiäre Verfassungsbeschwerde<br />

3. Revision<br />

BGE 133 I 185 (Subsidiäre Verfassungsbeschwerde) 132<br />

D-4949/2006 / Vollzug der Wegweisung - Revision 142<br />

Sachverhalte: 1. Familiennachzug 147<br />

2. Lotterie «Umwelt und Entwicklung» 150<br />

3. Waldabstand 152<br />

VI


Modul XI<br />

Modul XII<br />

VIII. Verwaltungsverhältnisse<br />

1. Bewilligungen<br />

2. Monopole und Konzessionen<br />

VPB 67.28 / UMTS Konzession 154<br />

BGE 127 II 69 / Wasserrechtskonzession<br />

aus dem 19. Jahrhundert 159<br />

3. Subventionen<br />

IX. Öffentliche Sachen und ihre Benutzung<br />

X. Polizei<br />

1. Begriff und Arten der öffentlichen Sache<br />

2. Nutzungsrechte an öffentlichen Sachen<br />

1. Polizeiaufgaben und Polizeigüter<br />

2. Polizeiliche Massnahmen<br />

3. Grundsätze des polizeilichen Handelns<br />

XI. Öffentliche Abgaben<br />

1. Arten und Bemessung von öffentlichen Abgaben<br />

2. Gesetzmässigkeit der öffentlichen Abgaben<br />

XII. Staats- und Beamtenhaftung<br />

ZBl 1991 212 / Gewässerschutz 158<br />

BGE 120 Ib 411 / Staatshaftung (spitalärztliche Tätigkeit) 172<br />

Sachverhalt:Vacherin Mont d’Or 176<br />

VII


Modul XIII<br />

XIII. Öffentlich-Rechtliche Beschränkungen des Eigentums<br />

1. Eigentumsgarantie<br />

2. Formelle Enteignung<br />

3. Materielle Enteigung<br />

Repetitorium (Selbststudium)<br />

Sachverhalte: 1. Logopädin 178<br />

2. Vereinigung Schweizer Weinhandel 180<br />

VIII


Literaturverzeichnis:<br />

Allgemeine Literatur<br />

FLEINER-GERSTER THOMAS, Grundzüge des allgemeinen und schweizerischen <strong>Verwaltungsrecht</strong>s,<br />

2. Aufl., Zürich 1980<br />

HÄFELIN ULRICH/MÜLLER GEORG/UHLMANN FELIX, <strong>Allgemeines</strong> <strong>Verwaltungsrecht</strong>, 5.<br />

Aufl., Zürich 2006<br />

KNAPP BLAISE, Précis de droit administratif, 4. Aufl., Basel/Frankfurt a.M. 1991<br />

KNAPP BLAISE, Grundlagen des <strong>Verwaltungsrecht</strong>s, deutschsprachige Ausgabe der 4.<br />

Aufl. des „Précis de droit administratif“ 2 Bde, Basel/Frankfurt a.M. 1992/1993<br />

TSCHANNEN PIERRE/ZIMMERLI ULRICH, <strong>Allgemeines</strong> <strong>Verwaltungsrecht</strong>, 2. Aufl., Bern<br />

2005<br />

Prozessrecht<br />

GYGI FRITZ, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983<br />

KÖLZ ALFRED/HÄNER ISABELLE, Verwaltungsverfaheren und <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege<br />

des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998<br />

ZIMMERLI ULRICH/KÄLIN WALTER/KIENER REGINA, Grundlagen des öffentlichen Verfahrensrechts,<br />

Bern 2004<br />

Revision Bundesrechtspflege<br />

HÄFELIN ULRICH/HALLER WALTER/KELLER HELEN, Bundesgericht und Verfassungsgerichtsbarkeit<br />

nach der Justizreform, Supplement zur 6. Auflage des "Schweizerischen Bundesstaatsrechts",<br />

Zürich 2006<br />

KARLEN PETER, Das neue Bundesgerichtsgesetz, Basel/Genf/München 2006<br />

RAUSCH HERIBERT, Öffentliches Prozessrecht auf der Basis der Justizreform, Zürich/Basel/Genf<br />

2005<br />

Ausländische Literatur<br />

Deutschland<br />

MAURER HARTMUT, <strong>Allgemeines</strong> <strong>Verwaltungsrecht</strong>, 14. Aufl., München 2002<br />

Frankreich<br />

CHAPUS RENE, Droit administratif général, 15. Aufl., 2 Bde., Paris 2001<br />

CHAPUS RENE, Droit du contentieux administratif, 11. Aufl., Paris 2004<br />

LONG MARCEAU/WEIL PROSPER/BRAIBANT GUY/DELVOLVE PIERRE/GENEVOIS BRUNO, Les<br />

grands arrêts de la jurisprudence administrative, 15. Aufl., Paris 2005<br />

Europa<br />

SCHWARZE JÜRGEN, Europäisches <strong>Verwaltungsrecht</strong>, Baden-Baden 2005<br />

IX


Fragen:<br />

1. Welchen Gesetzen sind welche in diesem Fall verwendeten verwaltungsrechtlichen<br />

Begriffe zuzuordnen?<br />

2. Wie ist der Fall aufgebaut? Erklären Sie die Logik des Aufbaus und der Systematik.<br />

3. Weshalb soll das Völkerrecht dem Landesrecht in diesem Fall vorgehen?<br />

4. Unter welchen Voraussetzungen sind für das Bundesgericht Präzedenzfälle bindend?<br />

5. Welche Rügen erhebt der Beschwerdeführer hinsichtlich der Verletzung der Meinungs<br />

äusserungsfreiheit?<br />

6. Welches sind die entscheidenden Probleme dieses Falles?<br />

---------<br />

<strong>Übungsunterlagen</strong> allgemeines <strong>Verwaltungsrecht</strong><br />

Modul I<br />

Stellung des <strong>Verwaltungsrecht</strong>s im Rechtssystem<br />

BGE 125 II 417 / Kurdische Arbeiterpartei PKK<br />

42. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 26. Juli 1999 i.S. A.<br />

gegen Schweizerische Bundesanwaltschaft, Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement<br />

und Schweizerischen Bundesrat (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)<br />

Art. 98 lit. a und Art. 100 Abs. 1 lit. a OG; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

gegen die Einziehung von Propagandamaterial der Kurdischen Arbeiterpartei.<br />

Mit dem Ergehen des Einziehungsentscheids entfällt das Interesse an der Anfechtung der<br />

diesem vorangehenden Beschlagnahme (E. 2).<br />

Die Einziehung von Propagandamaterial aus Gründen der äusseren und inneren Sicherheit berührt<br />

zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (E. 4b).<br />

Im Konfliktfall geht das Völkerrecht prinzipiell dem Landesrecht vor, insbesondere wenn die<br />

völkerrechtliche Norm dem Schutz der Menschenrechte dient. Gegen den Einziehungsentscheid<br />

des Bundesrats ist daher gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK; und entgegen Art. 98 lit. a<br />

und Art. 100 Abs. 1 lit. a OG die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig<br />

( E. 4c-e).<br />

- 1 -


Art. 55 BV; und Art. 10 EMRK; Art. 102 Ziff. 8- 10 BV; Art. 1 Abs. 2 des Bundesratsbeschlusses<br />

betreffend staatsgefährliches Propagandamaterial; Einziehung von Propagandamaterial<br />

aus Gründen der inneren und äusseren Sicherheit.<br />

Der Propagandabeschluss stellt zusammen mit Art. 102 Ziff. 8- 10 BV eine genügende gesetzliche<br />

Grundlage für einen schweren Eingriff in die Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit<br />

dar (E. 6).<br />

Die Einziehung von Schriften der Kurdischen Arbeiterpartei, die zur Durchsetzung ihrer Anliegen<br />

generell die Gewalt propagieren und auf in der Schweiz lebende Emigranten Druck erzeugen<br />

sollen, ist unter den gegebenen Umständen verhältnismässig (E. 7).<br />

Sachverhalt<br />

Die schweizerischen Zollbehörden stellten am 11. September 1997 in Riehen rund 88 kg<br />

Propagandamaterial der Kurdischen Arbeiterpartei PKK sicher, das an A. adressiert war. Das<br />

Material wurde der Schweizerischen Bundesanwaltschaft zur näheren Prüfung übergeben.<br />

Diese stellte fest, dass die sichergestellten Zeitschriften und Bücher die Gewalt als einzige<br />

Alternative gegen den "türkischen Terrorstaat" propagierten und darüber hinaus Mitglieder<br />

der türkischen Regierung diffamierten. Da die Verbreitung oder der Verkauf dieser Schriften<br />

die innere und äussere Sicherheit der Schweiz gefährden könnten, verfügte die Bundesanwaltschaft<br />

gestützt auf Art. 1 des Bundesratsbeschlusses betreffend staatsgefährliches Propagandamaterial<br />

vom 29. Dezember 1948 (Propagandabeschluss; SR-127, AS 1948 1282)<br />

am 15. Januar 1998 die Beschlagnahme des fraglichen Propagandamaterials. Diese Verfügung<br />

focht A. beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement an. Es entschied am 22.<br />

Juni 1998, das erhobene Rechtsmittel als Aufsichtsbeschwerde entgegenzunehmen und dieser<br />

keine Folge zu geben.<br />

Der Bundesrat ordnete am 26. Juni 1998 gestützt auf Art. 1 Abs. 2 des Propagandabeschlusses<br />

die Einziehung und damit die Vernichtung des beschlagnahmten Propagandamaterials<br />

an. Der als Rechtsgrundlage dienende Propagandabeschluss trat am 1. Juli 1998 ausser<br />

Kraft.<br />

A. hat zunächst gegen den Aufsichtsentscheid des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements<br />

vom 22. Juni 1998 und hierauf auch gegen den Einziehungsentscheid des Bundesrats<br />

vom 26. Juni 1998 eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht eingereicht<br />

und beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheide. Das Bundesgericht tritt<br />

auf die Beschwerde gegen den Entscheid des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements<br />

vom 22. Juni 1998 nicht ein und weist jene gegen den Einziehungsentscheid des<br />

Bundesrats vom 26. Juni 1998 ab<br />

aus folgenden Erwägungen:<br />

2.-- Die erste Beschwerde richtet sich gegen die Beschlagnahme des von den Zollbehörden<br />

sichergestellten Propagandamaterials. Inzwischen ist an die Stelle der Beschlagnahme jedoch<br />

der Einziehungsentscheid des Bundesrats vom 26. Juni 1998 getreten. Das Interesse des<br />

Beschwerdeführers an der Anfechtung der Beschlagnahme ist damit entfallen. Eine allfällige<br />

Kritik hat sich nun gegen den Einziehungsentscheid des Bundesrats zu richten. In der Tat hat<br />

der Beschwerdeführer ebenfalls den Bundesratsentscheid angefochten und die bereits gegen<br />

die Beschlagnahme erhobenen Rügen erneut vorgebracht. Unter diesen Umständen besteht<br />

- 2 -


vorliegend kein Anlass, ausnahmsweise vom Erfordernis eines aktuellen Interesses abzusehen<br />

(vgl. BGE 123 II 285 E. 4b und c S. 287 f.).<br />

Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Beschlagnahmeverfügung der Bundesanwaltschaft<br />

(Verfahren 1A.178/1998) ist daher mangels eines aktuellen Rechtsschutzinteresses<br />

nicht einzutreten.<br />

4.-- a) Entscheide des Bundesrats können grundsätzlich nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

beim Bundesgericht angefochten werden. Eine Ausnahme besteht nur bezüglich<br />

bundesrätlicher Verfügungen auf dem Gebiet des Dienstverhältnisses von Bundespersonal,<br />

soweit das Bundesrecht vorsieht, dass der Bundesrat als erste Instanz verfügt (Art. 98 Abs.<br />

1 lit. a OG; BGE 111 Ib 290 E. 1c S. 292). Vorliegend sind keine Fragen des Dienstverhältnisses<br />

von Bundespersonal streitig, so dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach der<br />

genannten Regelung nicht ergriffen werden kann. Dieses Rechtsmittel erscheint ausserdem<br />

auch deshalb unzulässig, weil der angefochtene Entscheid nach der bisherigen Praxis unter<br />

den Ausschlussgrund von Art. 100 Abs. 1 lit. a OG fällt (vgl. BGE 104 Ib 129 E. 1 S. 131).<br />

Nach Ansicht des Beschwerdeführers hat das Bundesgericht das erhobene Rechtsmittel<br />

gleichwohl zu beurteilen, da seinem aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK folgenden Anspruch auf eine<br />

gerichtliche Beurteilung des Einziehungsentscheids nur auf diese Weise Genüge getan werden<br />

könne. Sollte die vorliegende Streitsache zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen<br />

im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK berühren, so hätte der Beschwerdeführer in der Tat Anspruch<br />

auf eine Beurteilung durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht. Es ist daher<br />

zu prüfen, ob die umstrittene Einziehung in den Anwendungsbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK<br />

fällt.<br />

b) Der angefochtene Entscheid des Bundesrats hat die Einziehung und Vernichtung des durch<br />

die Zollbehörden sichergestellten Propagandamaterials zum Gegenstand. Er entzieht dem Berechtigten<br />

an den fraglichen Schriften das Eigentum und bewirkt einen empfindlichen Eingriff<br />

in vermögenswerte Rechte, die nach der Rechtsprechung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK erfasst<br />

werden (Urteile des EGMR i.S. Edition Périscope c. Frankreich vom 26. März 1992, Serie A,<br />

Band 234-B, Ziff. 40 und i.S. Raimondo c. Italien vom 22. Februar 1994, Serie A, Band 281<br />

A, Ziff. 43). Allerdings fragt sich, ob Eingriffe in vermögenswerte Rechte auch dann als zivilrechtlich<br />

im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gelten, wenn sie im Interesse der inneren und<br />

äusseren Sicherheit erfolgen. In der Lehre wird die Auffassung vertreten, dass solche Massnahmen<br />

der genannten Konventionsgarantie nicht unterstünden (RUTH HERZOG, Art. 6<br />

EMRK und kantonale <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege, Diss. Bern, 1995, S. 287 f; ANDREAS KLEY-<br />

STRULLER, Der Anspruch auf richterliche Beurteilung "zivilrechtlicher" Streitigkeiten im Bereich<br />

des <strong>Verwaltungsrecht</strong>s sowie von Disziplinar- und Verwaltungsstrafen gemäss Art. 6<br />

EMRK, AJP 1994 34; vgl. auch RAINER J. SCHWEIZER, Die schweizerischen Gerichte und<br />

das europäische Recht, ZSR 112/1993 II S. 677; ULRICH ZIMMERLI, EMRK und schweizerische<br />

<strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege, in: Aktuelle Fragen zur Europäischen Menschenrechtskonvention,<br />

1994, S. 56). So soll es sich selbst dann verhalten, wenn die Massnahmen zur Wahrung<br />

der inneren und äusseren Sicherheit in private Rechte wie das Eigentums- und Berufsausübungsrecht<br />

eingriffen (HERZOG, a.a.O., S. 288; differenzierter R. ERGEC, Le<br />

contrôle juridictionnel de l'administration dans les matières qui se rattachent aux rapports<br />

internationaux: actes de gouvernement ou réserve du pouvoir discrétionnaire? RDFDC (Revue<br />

de droit international et de droit comparé) 1986, p. 72-134; O. DUGRIP, L'applicabilité de<br />

l'article 6 de la CEDH aux juridictions administratives, RUDH 1991, S. 336 f., 345 f.). Zur<br />

Begründung wird darauf verwiesen, dass Streitigkeiten über Massnahmen der inneren und<br />

- 3 -


äusseren Sicherheit "actes de gouvernement" darstellten, die sich nicht für eine gerichtliche<br />

Überprüfung eigneten (vgl. hingegen amtliche Stellungnahme des Bundesrates im Fall Suisse<br />

c. Gouvernement français vor dem franz. Conseil d'Etat aus dem Jahre 1994 in RUDH 1994,<br />

S. 478 ff., insbes. S. 482-484 Ziff. 6-7).<br />

Zur Zeit liegen -- soweit ersichtlich -- keine Entscheide der Strassburger Organe vor, die<br />

Massnahmen zur inneren und äusseren Sicherheit eines Staates generell vom Anwendungsbereich<br />

von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ausschlössen. Vielmehr ist der Europäische Gerichtshof in<br />

einem Entscheid, der die Anordnung von Überwachungsmassnahmen aus Gründen der<br />

Staatssicherheit betraf, von der grundsätzlichen Anwendbarkeit von Art. 6 Ziff. 1 EMRK<br />

ausgegangen, wobei er allerdings offen liess, ob im konkreten Fall auf Art. 6 oder auf Art. 13<br />

EMRK abzustellen war (Urteil i.S. Klass c. Deutschland vom 6. September 1978, Serie A,<br />

Band 28, Ziff. 68 f., 71 und 75). Wenn nach diesem Entscheid derjenige, der nachträglich<br />

über die Durchführung von Überwachungsmassnahmen informiert wird, einen Anspruch auf<br />

gerichtlichen Rechtsschutz hat, muss dies auch für den Beschwerdeführer gelten, der sich in<br />

einer vergleichbaren Situation befindet. Gemäss Art. 6 Ziff. 1 Satz 2 EMRK können "Interessen<br />

der nationalen Sicherheit" lediglich den Ausschluss der Öffentlichkeit begründen, und<br />

Art. 15 EMRK gestattet nur, in Notstandsfällen gewisse in der Konvention vorgesehene Verpflichtungen<br />

ausser Kraft zu setzen. Das Bedürfnis nach Zugang zu einem Gericht kann jedenfalls<br />

nicht generell ausgeschlossen werden, wenn Massnahmen der inneren oder äusseren<br />

Sicherheit zur Diskussion stehen (vgl. Urteil des EGMR i.S. Tinnely & Sons Ltd u.a. und Mc<br />

Elduff u.a. c. Vereinigtes Königreich vom 10. Juli 1998, Rec. 1998-IV, S. 1633 ff., S. 1660-<br />

1663 Ziff. 72-79). Soweit solche Massnahmen direkt in vermögenswerte Rechte eingreifen,<br />

geht es nicht an, sie allein deshalb, weil sie "actes de gouvernement" darstellen, vom Anwendungsbereich<br />

von Art. 6 Ziff. 1 EMRK auszuschliessen. Der (nicht publizierte) Bericht der<br />

Europäischen Kommission für Menschenrechte, den das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement<br />

in der Vernehmlassung erwähnt (Bericht vom 26. November 1996 i.S. Sosyalist<br />

Parti c. Türkei, Beschwerde Nr. 21237/93), gibt ebenfalls keinen Anlass zu einer anderen<br />

Beurteilung. Im beurteilten Fall bildete die Einziehung des Vermögens der sozialistischen Partei<br />

gerade nicht Streitgegenstand, und Art. 6 Ziff. 1 EMRK wurde aus diesem Grund -- also<br />

mangels eines Eingriffs in ein vermögenswertes Recht -- als nicht anwendbar erachtet (vgl.<br />

Ziff. 110 des genannten Berichts). Im Unterschied dazu wird vorliegend jedoch in Vermögensrechte<br />

eingegriffen und gerade dies bildet Gegenstand der Streitigkeit, weshalb der genannte<br />

Entscheid nicht gegen, sondern für die Anwendbarkeit von Art. 6 Ziff. 1 EMRK<br />

spricht. Im Übrigen besteht auch deshalb kein Grund, einen Ausschluss vom Anwendungsbereich<br />

von Art. 6 Ziff. 1 EMRK anzunehmen, weil nach heutiger Auffassung die Möglichkeit,<br />

präventive Massnahmen gegen die Verbreitung politischer Propagandaschriften ergreifen zu<br />

können, nicht mehr als Erfordernis des Staatsschutzes im engeren Sinn erscheint. Das am 1.<br />

Juli 1998 in Kraft getretene Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit<br />

vom 21. März 1997 (BWIS; SR-120) sieht keine entsprechenden Regelungen vor<br />

(vgl. Botschaft des Bundesrats vom 7. März 1994, BBl 1994 II 1127 ff.). Die strafrechtlichen<br />

und die allgemeinen polizeilichen Mittel werden als genügend erachtet. So erklärt Art.<br />

275bis StGB ausländische Propaganda als staatsgefährlich und deshalb als strafbar, wenn sie<br />

auf den gewaltsamen Umsturz der verfassungsmässigen Ordnung der Eidgenossenschaft<br />

oder eines Kantons gerichtet ist. Die Verbreitung von Propagandaschriften, die Angriffe auf<br />

die politische Ordnung eines ausländischen Staates enthalten, untersteht den sich aus Art.<br />

296 StGB ergebenden Schranken. Auch wenn die vorliegend ins Auge gefasste Propaganda<br />

die strafrechtlichen Grenzen nicht überschreitet, kann sie gleichwohl die Aussenbeziehungen<br />

der Schweiz oder die Ordnung im Landesinnern beeinträchtigen, etwa indem sie Konflikte<br />

zwischen den davon betroffenen Emigrantengruppen hervorruft. Ihre Unterbindung dient daher<br />

dem Schutz polizeilicher Güter. Ausserdem wird die innere Ordnung vorliegend gegen<br />

- 4 -


Nachteile geschützt, die sich aus Angriffen auf einen fremden Staat ergeben können. Auf<br />

Grund dieser allgemeinen polizeilichen Zielsetzung erscheint es nicht angebracht, die fragliche<br />

Einziehung als "acte de gouvernement" zu qualifizieren, welcher der gerichtlichen Kontrolle<br />

gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK entzogen wäre. Wenn nach der Rechtsprechung die genannte<br />

Konventionsbestimmung auf die Beschlagnahme bzw. die Einziehung von Deliktsgut<br />

in einem Strafverfahren Anwendung findet (Urteil des EGMR i.S. Raimondo c. Italien vom 22.<br />

Februar 1994, Serie A, Band 281-A, Ziff. 42), gilt dasselbe auch für die vorliegende allein<br />

polizeilich motivierte Einziehung, zumal keine Gründe des Staatsschutzes ersichtlich sind, die<br />

einer gerichtlichen Überprüfung entgegenstünden.<br />

Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist demnach auf die vorliegende Streitsache anwendbar. Bei dieser Sachlage<br />

kommt der ebenfalls erhobenen Rüge der Verletzung von Art. 13 EMRK keine selbständige<br />

Bedeutung zu (Urteile des EGMR i.S. Brualla Gomez de la Torre c. Spanien vom 19. Dezember<br />

1997, Rec. 1997-VIII S. 2945 ff., S. 2957 Ziff. 41, und i.S. Tinnely & Sons Ltd u.a.<br />

c. Vereinigtes Königreich vom 10. Juli 1998, Rec. 1998-IV, S. 1633 ff. Ziff. 77, S. 1662 in<br />

fine). Diese Rechtsfolge gilt jedenfalls insoweit, als der angefochtene Beschluss in die Eigentumsrechte<br />

eingreift. Der Beschwerdeführer macht allerdings auch eine Verletzung seines<br />

Anspruchs auf freie Meinungsäusserung (Art. 10 EMRK) geltend. Diese Rüge fällt -- für sich<br />

allein betrachtet -- nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, sondern unter<br />

die Rechtsweggarantie gemäss Art. 13 EMRK. Ob deswegen die zuletzt genannte Bestimmung<br />

ebenfalls zum Zuge kommt, kann offen bleiben. Mit Blick auf die Anforderungen an<br />

den innerstaatlichen Rechtsmittelweg genügt die Feststellung, dass jedenfalls Art. 6 Ziff. 1<br />

EMRK auf die vorliegende Streitsache Anwendung findet (vgl. E. 4c).<br />

c) In seiner jüngsten Rechtsprechung hat das Bundesgericht verschiedentlich erklärt, dass<br />

sich die Eidgenossenschaft nicht unter Berufung auf inländisches Recht ihrer völkerrechtlichen<br />

Verpflichtungen entziehen könne. Das Landesrecht müsse daher in erster Linie völkerrechtskonform<br />

ausgelegt werden. Dementsprechend hat das Bundesgericht vereinzelt auch<br />

die Gesetzgebung über die Bundesrechtspflege auf ihre Vereinbarkeit mit den Garantien der<br />

EMRK überprüft und ihre Tragweite teilweise im Rahmen einer völkerrechtskonformen Auslegung<br />

neu bestimmt (BGE 120 Ib 136 E. 1 S. 138 ff; vgl. auch BGE 118 Ib 277 E. 3 S. 280<br />

f.).<br />

Nach Art. 98 lit. a und Art. 100 Abs. 1 lit. a OG kann das Bundesgericht die von Art. 6 Ziff.<br />

1 EMRK verlangte gerichtliche Kontrolle des angefochtenen Bundesratsentscheids nicht übernehmen.<br />

Es ist zwar denkbar, Art. 100 Abs. 1 lit. a OG restriktiver auszulegen als bisher<br />

(vgl. dazu BGE 121 II 248 E. 1a S. 251; 118 Ib 277 E. 2b S. 280; 104 Ib 129 E. 1 S. 131)<br />

und gegen Massnahmen, die nicht zum Staatsschutz im engeren Sinn (vgl. E. 4b) zählen, die<br />

Verwaltungsgerichtsbeschwerde zuzulassen. Doch entzieht sich Art. 98 lit. a OG, der die anfechtbaren<br />

Entscheide des Bundesrats abschliessend aufzählt, einer solchen völkerrechtskonformen<br />

Auslegung. Es liegt somit ein Konflikt zwischen einer Norm des nationalen Rechts<br />

und einer für die Schweiz verbindlichen staatsvertraglichen Regelung vor: Art. 98 lit. a OG<br />

schliesst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die angefochtene Verfügung des Bundesrats<br />

aus, während Art. 6 Ziff. 1 EMRK eine gerichtliche Überprüfung gebietet.<br />

d) Art. 114bis Abs. 3, der gleich wie Art. 113 Abs. 3 BV die Bundesgesetzgebung und die<br />

von der Bundesversammlung genehmigten Staatsverträge für das Bundesgericht für massgebend<br />

erklärt, enthält keine Lösung für den vorliegenden Konfliktfall (vgl. auch Art. 191 der<br />

neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 (nBV)). Es ist ausgeschlossen, zwei sich widersprechende<br />

Normen -- seien sie bundesgesetzlicher oder staatsvertraglicher Natur --<br />

- 5 -


zugleich anzuwenden. Der Konflikt ist vielmehr unter Rückgriff auf die allgemein anerkannten<br />

Grundsätze des Völkerrechts zu lösen (BGE 117 Ib 367 E. 2e S. 372 f.), die für die Schweiz<br />

als Völkergewohnheitsrecht verbindlich sind und zugleich geltendes Staatsvertragsrecht darstellen.<br />

So ist die Eidgenossenschaft gemäss Art. 26 des Wiener Übereinkommens über das<br />

Recht der Verträge. Diese völkerrechtlichen Prinzipien sind in der schweizerischen Rechtsordnung<br />

unmittelbar anwendbar (BGE 117 Ib 337 E. 2a S. 340) und binden nicht nur den<br />

Gesetzgeber, sondern sämtliche Staatsorgane (vgl. die gemeinsame Stellungnahme des Bundesamtes<br />

für Justiz und der Direktion für Völkerrecht vom 26. April 1989, VPB 53/1989 Nr.<br />

54 Ziff. 15 S. 420 ff.). Daraus ergibt sich, dass im Konfliktfall das Völkerrecht dem Landesrecht<br />

prinzipiell vorgeht (BGE 122 II 485 E. 3a S. 487; 122 II 234 E. 4e S. 239; 109 Ib 165<br />

E. 7b S. 173; 100 Ia 407 E. 1b S. 410; BGE 125 III 209 E. 6e in fine). Dies hat zur Folge,<br />

dass eine völkerrechtswidrige Norm des Landesrechts im Einzelfall nicht angewendet werden<br />

kann. Diese Konfliktregelung drängt sich umso mehr auf, wenn sich der Vorrang aus einer<br />

völkerrechtlichen Norm ableitet, die dem Schutz der Menschenrechte dient. Ob in anderen<br />

Fällen davon abweichende Konfliktlösungen in Betracht zu ziehen sind (vgl. z.B. BGE 99 Ib<br />

39 E. 4 S. 44 f.), ist vorliegend nicht zu prüfen. Dieses Ergebnis kann sich auf Präjudizien in<br />

der bundesgerichtlichen Rechtsprechung stützen (BGE 106 Ib 16 E. 1 S. 17; 107 Ib 68 E. 2<br />

S. 69; 119 V 171 E. 4b S. 178), die auch die Grundlage für Art. 5 Abs. 4 nBV bildete (vgl.<br />

BBl 1997 I, S. 134 f.). In Fällen, in denen das kantonale Recht die gebotene gerichtliche Beurteilung<br />

einer Streitsache nicht vorsieht, weist das Bundesgericht die kantonalen Behörden<br />

an, direkt gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK die zuständige Gerichtsinstanz zu bezeichnen<br />

(BGE 123 II 231 E. 7 S. 236; 121 II 219 E. 2c S. 222). Im vorliegenden Fall sind die Bundesbehörden<br />

verpflichtet, für die erforderliche richterliche Kontrolle zu sorgen. Dabei ist nicht<br />

ersichtlich, welche andere Behörde als das Bundesgericht diese Aufgabe übernehmen könnte.<br />

Umstände, die es nahe legen könnten, eine entsprechende Anpassung der Gesetzgebung abzuwarten,<br />

liegen nicht vor. Da das erwähnte neue Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung<br />

der inneren Sicherheit keine dem Propagandabeschluss entsprechende Regelung mehr<br />

vorsieht, entfällt von vornherein ein Anlass zu einer gesetzlichen Regelung des Rechtsschutzes<br />

in diesem Bereich. Das Bundesgericht muss daher direkt gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK<br />

auf die vorliegende Beschwerde eintreten, um eine Verletzung der Konventionsrechte zu verhindern.<br />

Es ist demzufolge die Zuständigkeit des Bundesgerichts zur Beurteilung der erhobenen Beschwerde<br />

zu bejahen. Da die genannte Konventionsbestimmung eine freie richterliche Überprüfung<br />

des Sachverhalts und der Rechtsfragen -- hingegen nicht eine Ermessenskontrolle --<br />

voraussetzt (BGE 120 Ia 19 E. 4c S. 30), ist das eingereichte Rechtsmittel als Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

entgegenzunehmen.<br />

e) Die Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, so dass auf die Beschwerde einzutreten ist.<br />

f) Der Beschwerdeführer stellt im Verfahren vor dem Bundesgericht keinen Antrag auf Durchführung<br />

einer öffentlichen Verhandlung. Da nach der Rechtsprechung eine öffentliche Verhandlung<br />

ausdrücklich oder zumindest konkludent verlangt werden muss, wenn wie vor dem<br />

Bundesgericht normalerweise in einem schriftlichen Verfahren entschieden wird (vgl. Art.<br />

112 OG), ist vorliegend von einem Verzicht auf dieses Recht auszugehen (BGE 121 I 30 E.<br />

5f S. 37 f; 122 V 47 E. 3a S. 55). Es sind auch keine wichtigen öffentlichen Interessen ersichtlich,<br />

welche die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gebieten würden.<br />

5.-- Der Bundesrat hat den angefochtenen Einziehungsentscheid als vertraulich bezeichnet<br />

und es deshalb abgelehnt, ihn dem Beschwerdeführer in der Originalfassung auszuhändigen<br />

- 6 -


und ihm Einsicht in die dazugehörigen Akten zu gewähren. Der Beschwerdeführer sieht darin<br />

eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäss Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 1<br />

EMRK.<br />

Der angefochtene Entscheid hat die Einziehung von Verschiedenem Propagandamaterial --<br />

nicht nur von dem an den Beschwerdeführer adressierten -- zum Gegenstand und betrifft die<br />

innere Sicherheit der Schweiz. Er wurde daher gestützt auf Art. 27 Abs. 1 lit. a VwVG als<br />

vertraulich klassiert. Der Beschwerdeführer wurde jedoch nicht nur über den Entscheid des<br />

Bundesrates informiert, sondern es wurde ihm mit Schreiben vom 14. September 1998 auch<br />

ein Auszug aus der Entscheidbegründung bekannt gegeben. Die Lektüre der dem Bundesgericht<br />

vorliegenden Originalfassung des Einziehungsentscheids und des ihm zu Grunde liegenden<br />

Antrags des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements zeigt, dass dem Beschwerdeführer<br />

im Schreiben vom 14. September 1998 alle wesentlichen Entscheidgründe<br />

mitgeteilt wurden und der Bundesrat sich auf keine weiteren Akten, in die der Beschwerdeführer<br />

keine Einsicht erhielt, stützte. Unter diesen Umständen war der Beschwerdeführer in<br />

der Lage, den Einziehungsentscheid sachgerecht anzufechten. Nach der Rechtsprechung<br />

kann in dieser Situation nicht von einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gesprochen<br />

werden (BGE 121 I 225 E. 2a S. 227).<br />

6.-- Der Beschwerdeführer macht geltend, die Einziehung des von den Zollbehörden sichergestellten<br />

Propagandamaterials stelle einen sehr schweren Eingriff in die Meinungsäusserungs-<br />

und Pressefreiheit dar, der einer Grundlage in einem formellen Gesetz bedürfe. Der<br />

Propagandabeschluss sei bloss eine Verordnung und daher keine genügende gesetzliche<br />

Grundlage für die angeordnete Einziehung. Ausserdem weise die darin enthaltene Regelung<br />

nicht die für schwere Grundrechtseinschränkungen erforderliche inhaltliche Bestimmtheit auf.<br />

Schliesslich vermöge sich der Propagandabeschluss heute nicht mehr auf das in Art. 102<br />

Ziff. 9 und 10 BV vorgesehene Polizeinotverordnungsrecht des Bundesrats zu stützen und sei<br />

deshalb nicht mehr anzuwenden.<br />

a) Der Propagandabeschluss stellt eine selbständige Verordnung des Bundesrats dar, die sich<br />

auf Art. 102 Ziff. 8- 10 BV abstützt. Der im Ingress ebenfalls als Rechtsgrundlage angeführte<br />

Art. 4 Abs. 2 des Postverkehrsgesetzes vom 2. Oktober 1924 ist mit dessen Ablösung<br />

durch das neue Postgesetz vom 30. April 1997 (PG; SR-783-0) am 1. Januar 1998 weggefallen.<br />

Der Beschwerdeführer bestreitet zu Recht nicht, dass der Bundesrat gestützt auf Art.<br />

102 Ziff. 8-10 Verordnungen erlassen darf (vgl. BGE 100 Ib 318 E. 3 S. 319 f; 64 I 365 E. 3<br />

S. 370 ff; DIETRICH SCHINDLER, Kommentar BV, Art. 102, Rz. 113 f., 127 und 163).<br />

Nach Ansicht des Beschwerdeführers sind jedoch mit dem Ende des Kalten Krieges die Gründe<br />

für die im Propagandabeschluss vorgesehene Beschlagnahme und Einziehung entfallen. Es<br />

bestehe dafür keinerlei Notwendigkeit mehr, da von einer Gefahr einer kommunistischen Unterwanderung<br />

der Schweiz nicht mehr gesprochen werden könne. Die Kompetenz des Bundesrats<br />

erstrecke sich aber nur auf den Erlass von Verordnungen zur Bewältigung konkreter<br />

ernsthafter Gefahrenlagen.<br />

Es trifft zu, dass die Veränderungen der weltpolitischen Lage in der letzten Zeit verschiedene<br />

Anpassungen der Bestimmungen über die innere und äussere Sicherheit der Eidgenossenschaft<br />

erforderten. Auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des bereits erwähnten neuen Bundesgesetzes<br />

über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit am 1. Juli 1998 ist nicht<br />

nur der Bundesratsbeschluss betreffend politische Reden von Ausländern vom 24. Februar<br />

1948 (Rednerbeschluss; SR-126), sondern in der Tat auch der Propagandabeschluss aufge-<br />

- 7 -


hoben worden. Dieser Schritt erfolgte jedoch nicht, weil überhaupt keine Gefährdungen der<br />

inneren und äusseren Sicherheit mehr auftreten könnten, sondern weil mit dem Erlass des<br />

neuen Gesetzes in diesem Bereich definitiv kein Raum mehr für verfassungsunmittelbares<br />

Verordnungsrecht besteht (Botschaft des Bundesrates zum genannten Gesetz vom 7. März<br />

1994, BBl 1994 II 1195). Die Aufhebung des Propagandabeschlusses belegt damit nicht,<br />

dass für die darin vorgesehene Einziehung schon vorher keinerlei Notwendigkeit mehr bestand.<br />

Der Beschwerdeführer verkennt, dass der Propagandabeschluss sich nicht nur gegen<br />

die kommunistische Unterwanderung wandte, sondern überhaupt gegen jegliche Gefährdungen<br />

der inneren und äusseren Sicherheit der Schweiz, also beispielsweise auch gegen solche<br />

durch rechtsextreme Schriften. Er diente damit bis zu seiner Aufhebung polizeilichen, aussen-<br />

und sicherheitspolitischen Zielen gemäss Art. 102 Ziff. 8- 10 BV. Von einem Wegfall der<br />

bundesrätlichen Kompetenz zu der im Propagandabeschluss getroffenen Regelung kann daher<br />

nicht gesprochen werden.<br />

b) Verordnungen, die der Bundesrat gestützt auf Art. 102 Ziff. 810 BV erlässt, bilden eine<br />

ausreichende Grundlage für Einschränkungen von Freiheitsrechten (BGE 100 Ib 318 E. 3 S.<br />

320; SCHINDLER, a.a.O., Rz. 123 und 165). Die angefochtene Einziehung bewirkt freilich<br />

einen schweren Eingriff in die Meinungsäusserungs(Art. 10 EMRK) und Pressefreiheit (Art.<br />

55 BV), der nach der Rechtsprechung einer Grundlage in einem formellen Gesetz bedarf (BGE<br />

124 I 40 E. 3b S. 42 f.). Der Propagandabeschluss stellt zwar für sich allein genommen kein<br />

solches Gesetz dar. Zusammen mit den Verfassungsbestimmungen, auf die er sich abstützt,<br />

bildet er jedoch eine genügende gesetzliche Grundlage für die umstrittene Massnahme. Dies<br />

ergibt sich zudem auch daraus, dass der Propagandabeschluss lediglich eine Konkretisierung<br />

der polizeilichen Generalklausel für bestimmte Gefährdungslagen bildet und gestützt auf die<br />

Letztere die Grundrechte auch ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage eingeschränkt werden<br />

dürfen (BGE 103 Ia 310 E. 3a S. 312; Entscheid der Europäischen Kommission für Menschenrechte<br />

vom 10. Oktober 1979 i.S. Rassemblement jurassien et Unité jurassienne c. Suisse,<br />

DR 17, S. 93 ff. Ziff. 6, auch publiziert in VPB 47/1983, Nr. 196 B, Ziff. 6 S. 594; s.<br />

auch Nr. 196 A, lit. b, S. 5 89-591).<br />

c) Die zuletzt genannte Funktion des Propagandabeschlusses erklärt auch die vom Beschwerdeführer<br />

ebenfalls gerügte geringe Bestimmtheit der getroffenen Regelung. Eine präzise<br />

Umschreibung des Propagandamaterials, das die innere oder äussere Sicherheit der Eidgenossenschaft<br />

zu gefährden geeignet ist, erscheint nicht möglich. Nach der Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs ist dem Gesetzgeber jedenfalls nicht<br />

verwehrt, bei der Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit allgemeine Begriffe zu verwenden,<br />

soweit eine nicht abstrakt erfassbare Vielfalt der zu ordnenden Sachverhalte oder<br />

das Bedürfnis nach einer sachgerechten Entscheidung im Einzelfall für eine gewisse Offenheit<br />

der fraglichen Norm sprechen (BGE 124 I 40 E. 3b S. 43; Urteil des EGMR i.S. Goodwin c.<br />

Vereinigtes Königreich vom 27. März 1996, Rec. 1996-II, S. 483, Ziff. 31 und i.S. Tolstoy<br />

Miloslavsky c. Vereinigtes Königreich vom 13. Juli 1995, Serie A, Band 316-B, Ziff. 37). Die<br />

Rüge, die Regelung des Propagandabeschlusses weise nicht die nötige Bestimmtheit auf, ist<br />

daher unbegründet.<br />

7.-- Nach Ansicht des Beschwerdeführers bewirkt die vom Bundesrat verfügte Einziehung<br />

des fraglichen Propagandamaterials auch deshalb einen unzulässigen Eingriff in die Meinungsäusserungs-<br />

und Pressefreiheit, weil eine so weitgehende Massnahme zur Aufrechterhaltung<br />

der inneren und äusseren Sicherheit der Schweiz nicht erforderlich und diese daher unverhältnismässig<br />

sei.<br />

- 8 -


a) Beim eingezogenen Material handelt es sich einerseits um Ausgaben der Zeitschrift<br />

"Toplumsal Alternatif" (Gesellschaftliche Alternative) Nr. 5 vom September 1997 und anderseits<br />

um Taschenbücher "Kadin Ve Iktidar Olgusu" (Frau und Regierungsfähigkeit) von Meral<br />

Kidir. Mit beiden Publikationen bezweckt die Kurdische Arbeiterpartei, möglichst viele Kurden<br />

und andere Gleichgesinnte für den bewaffneten Widerstand gegen die türkische Staatsmacht<br />

zu gewinnen. Dabei wird die Gewalt befürwortet und verherrlicht. Besonders propagiert werden<br />

die Militarisierung und der Märtyrertod der Frauen. Meldungen über erfolgreiche Bombenanschläge,<br />

Selbstmordattentate und sonstige Angriffe auf Einrichtungen des türkischen<br />

Staats geben den Aufrufen zur Gewaltanwendung zusätzliches Gewicht.<br />

Der Bundesrat hält diese Schriften für geeignet, zum Extremismus neigende Gruppierungen in<br />

der ausländischen und schweizerischen Bevölkerung zu radikalisieren. Daraus ergebe sich eine<br />

Gefährdung für das friedliche Zusammenleben und damit für die innere Sicherheit der<br />

Schweiz. Der Beschwerdeführer bestreitet dies mit Nachdruck. Nach seiner Auffassung sind<br />

die beschlagnahmten Schriften blosse Kriegspropaganda, die dazu diene, in der Schweiz finanzielle<br />

Mittel für den bewaffneten Kampf in der Türkei erhältlich zu machen und Personen<br />

dafür zu rekrutieren.<br />

b) Die bei den Akten liegenden übersetzten Auszüge aus den eingezogenen Schriften zeigen,<br />

dass darin keineswegs nur für die Anliegen der kurdischen Bevölkerung in der Türkei geworben<br />

wird. Vielmehr sollen die dort herrschenden Spannungen in die Schweiz hineingetragen<br />

und es soll bei den hier lebenden Emigranten Druck erzeugt werden. Auch wenn sich der<br />

Aufruf zum bewaffneten Kampf hauptsächlich auf das Territorium der Türkei bezieht, ist<br />

doch auch eine Radikalisierung bei den hier lebenden Kurden beabsichtigt. Auf Emigranten,<br />

welche die erwartete Unterstützung verweigern, soll Druck ausgeübt werden. Die generelle<br />

Propagierung der Gewalt zur Durchsetzung der kurdischen Anliegen fördert die Tendenz,<br />

auch gegenüber hier lebenden andersdenkenden Landsleuten Gewalt anzuwenden, und begünstigt<br />

überhaupt extremistische Gewaltakte. Die Schriften sind daher geeignet, die innere<br />

Sicherheit zu gefährden. Da sie sich zudem keineswegs auf eine Kritik an den türkischen Behörden<br />

beschränken -- was zulässig wäre --, sondern diese beschimpfen, sind sie auch geeignet,<br />

die aussenpolitischen Beziehungen und die Neutralität der Schweiz zu beeinträchtigen.<br />

Die Abwehr der angeführten Gefährdungen rechtfertigt nach der Rechtsprechung auch empfindliche<br />

Einschränkungen der Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit (BGE 108 Ia 300 E. 3<br />

S. 303; 107 Ia 292 E. 6 S. 300; zur Rechtsprechung der Strassburger Organe vgl. JOCHEN<br />

ABR. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, Art. 10, Rz. 29).<br />

Es ist auch nicht ersichtlich, dass vorliegend eine mildere Massnahme zur Vermeidung der<br />

Gefährdung der inneren und äusseren Sicherheit ausgereicht hätte, zumal der Aufruf zum<br />

bewaffneten Kampf die eingezogenen Schriften durchzieht und sich nicht nur auf einige wenige<br />

Stellen beschränkt, die allenfalls unkenntlich gemacht werden könnten. Der Vorwurf, die<br />

angefochtene Einziehung sei unverhältnismässig, erweist sich daher ebenfalls als unbegründet.<br />

- 9 -


BGE 129 III 161 / Raas<br />

25. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. Markus Frei gegen Raas AG (Berufung)<br />

5C.173/2002 vom 20. Dezember 2002<br />

Während früher die meisten Kantone gestützt auf den Rechtsetzungsvorbehalt von Art. 686<br />

ZGB kantonales Privatrecht erlassen haben, gelangt heute fast ausschliesslich (kantonales)<br />

öffentliches Recht zur Anwendung. Dieses darf das Bundesprivatrecht nicht vereiteln, verfügt<br />

jedoch über expansive Kraft und bestimmt zunehmend, was nach Lage und Ortsgebrauch an<br />

Einwirkungen auf das Nachbargrundstück zulässig ist. Verneinen einer übermässigen Einwirkung<br />

i.S. von Art. 684 ZGB bedeutet in aller Regel keine Vereitelung von Bundesrecht, wenn<br />

ein Bauvorhaben den massgebenden öffentlich-rechtlichen (Bauabstands-)Normen entspricht,<br />

die im Rahmen einer detaillierten, den Zielen und Planungsgrundsätzen des Raumplanungsrechts<br />

entsprechenden Bau- und Zonenordnung erlassen worden sind (E. 2).<br />

A.- Die Raas AG plant auf den beiden Parzellen Nrn. 327 und 332 an der Mühletobelstrasse<br />

in Frauenfeld einen Um- bzw. Neubau mit insgesamt acht Wohneinheiten. Die Hausteile sollen<br />

die Nummern Mühletobelstrasse 10, 10A, 10B, 10C und 10D erhalten. Auf Grund von<br />

Einsprachen während der öffentlichen Auflage des Baugesuchs wurde der geplante Neubau<br />

10D neu situiert (gedreht) und die entsprechende Projektänderung vom 12. Juli bis 2. August<br />

2000 aufgelegt.<br />

B.- Markus Frei ist Eigentümer der Parzelle Nr. 336 an der Mühletobelstrasse 8 und direkter<br />

Anstösser der Bauparzellen. Mit Entscheid vom 12. September 2000 wies der Stadtrat Frauenfeld<br />

seine Einsprache ab. Den dagegen erhobenen Rekurs wies das Departement für Bau<br />

und Umwelt des Kantons Thurgau am 27. Juni 2001 vollumfänglich ab. Mit Beschwerde<br />

vom 7. September 2001 an das Verwaltungsgericht stellte Markus Frei die Begehren, der<br />

angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Raas AG sei die Erstellung der auf dem<br />

Nachbargrundstück geplanten Wohnhausbaute 10D unter Aufhebung der diesbezüglichen<br />

Baubewilligung zu verbieten, eventuell sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Mit<br />

Urteil vom 22. Mai 2002 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Beschwerde<br />

sowohl hinsichtlich ihres öffentlich- als auch des privatrechtlichen Charakters ab.<br />

C.- Mit Berufung vom 19. August 2002 stellt Markus Frei die Begehren, der angefochtene<br />

Entscheid des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben (Ziff. 1) und der Berufungsbeklagten sei<br />

die Erstellung der Wohnbaute Mühletobelstrasse 10D zu verbieten, soweit nicht die Streitsache<br />

zur ergänzenden Sachverhaltsfeststellung und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen<br />

sei (Ziff. 2). Es sind keine Berufungsantworten eingeholt worden.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

2.1 Das Verwaltungsgericht hat sich im Wesentlichen zur öffentlich-rechtlichen Zulässigkeit<br />

des Bauvorhabens geäussert und es hat diese bestätigt. Zum nachbarrechtlichen Aspekt hat<br />

es ausgeführt, es liege zwar auf der Hand, dass sich der Berufungskläger mit einem Gebäudeabstand<br />

von nur 8 m durch einen möglichen Verlust der Intimsphäre und durch die mögliche<br />

Verschlechterung der Besonnung beeinträchtigt fühle. Indes sei in einer Bauzone grund-<br />

- 10 -


sätzlich beides hinzunehmen, soweit dies im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Vorschriften<br />

geschehe.<br />

2.2 Der Berufungskläger rügt die Verletzung von Art. 8 und 684 ZGB. Obwohl der öffentlich-<br />

und der privatrechtliche Rechtsschutz voneinander unabhängig und deshalb auch eigenständig<br />

zu beurteilen seien, habe das Verwaltungsgericht für die zivilrechtliche Seite der Streitigkeit<br />

weder Sachverhaltsfeststellungen getroffen noch die geltend gemachten negativen Immissionen<br />

beurteilt, und es habe sich auch nicht mit den unterbreiteten Beweisofferten befasst.<br />

2.3 Es trifft zu, dass die Vorinstanz hinsichtlich des Zivilpunktes keine (eigenständigen)<br />

Sachverhaltsfeststellungen getroffen, sondern lediglich von einem möglichen Verlust der Intimsphäre<br />

und der möglichen Beeinträchtigung der Besonnung durch den geplanten Neubau<br />

gesprochen und damit einzig die subjektive Befindlichkeit des Berufungsklägers wiedergegeben<br />

hat. Mit der anschliessenden Erwägung, solche Nachteile seien hinzunehmen, soweit<br />

dies im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Vorschriften geschehe, hat die Vorinstanz die Anwendung<br />

von Art. 684 ZGB zwar nicht schlechthin, aber sinngemäss dann ausgeschlossen,<br />

wenn der Kanton über eine einschlägige öffentlich-rechtliche Regelung verfügt und das Bauvorhaben<br />

sich an diese Vorschriften hält. Im Folgenden ist zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht<br />

damit Bundesrecht verletzt hat.<br />

2.4 Die Kantone sind befugt, die Abstände festzusetzen, die bei Grabungen und Bauten zu<br />

beobachten sind (Art. 686 Abs. 1 ZGB). Es bleibt ihnen vorbehalten, weitere Bauvorschriften<br />

aufzustellen (Art. 686 Abs. 2 ZGB).<br />

Bei Art. 686 ZGB handelt es sich um einen echten Vorbehalt (MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar,<br />

N. 81 ff. zu Art. 685/686 ZGB; REY, Basler Kommentar, N. 3 und 20 zu Art.<br />

685/686 ZGB), der die Kantone - mit Ausnahme der in Art. 685 ZGB geregelten Materie - zur<br />

Ordnung des gesamten privaten Baurechts befugt. Ob damit eine exklusive Rechtsetzungskompetenz<br />

der Kantone begründet wird, ist umstritten; diesbezüglich kann auf die in BGE<br />

126 III 452 im Zusammenhang mit dem Pflanzenrecht (Art. 688 ZGB) dargestellte Kontroverse<br />

verwiesen werden (E. 3b S. 457 f. ).<br />

Während früher die meisten Kantone von der erwähnten Gesetzgebungskompetenz Gebrauch<br />

gemacht und in ihren Einführungsgesetzen Abstands-, aber auch weitere Bauvorschriften als<br />

kantonales Privatrecht erlassen haben, gelangt heute fast ausschliesslich (kantonales) öffentliches<br />

Recht zur Anwendung (BÄUMLIN, Privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Immissionsschutz,<br />

in: Berner Tage für die Juristische Praxis 1968, S. 108 f.; RASELLI, Berührungspunkte<br />

des privaten und öffentlichen Immissionsschutzes, in: URP 1997 S. 274 f.). Nicht<br />

anders verhält es sich im Kanton Thurgau: Die Regelung im vormaligen Einführungsgesetz (§<br />

86 ff. aEGZGB/TG; vgl. SCHÖNENBERGER, Zürcher Kommentar, Die kantonalen Erlasse, Bd.<br />

VI, 2. Teil, Zürich 1941, S. 690) ist durch diejenige im Planungs- und Baugesetz des Kantons<br />

Thurgau (PBG) und den kommunalen Baureglementen ersetzt worden (vgl. § 12 Abs. 2 Ziff.<br />

4 und 5 PBG). Dennoch bleibt die Frage bedeutsam, ob Art. 686 ZGB zu Gunsten der Kantone<br />

eine exklusive Rechtsetzungskompetenz begründet: Diesfalls wäre Art. 684 ZGB nämlich<br />

im Rahmen des Vorbehaltes von Art. 686 ZGB derogiert und somit auch dann nicht anwendbar,<br />

wenn ein Kanton überhaupt keine oder jedenfalls keine privatrechtlichen Bestimmungen<br />

erlassen hat, so dass sich in der Konsequenz auch die Frage des Verhältnisses des die Gebäudeabstände<br />

regelnden kantonalen öffentlichen Rechts zum zivilrechtlichen Immissionsschutz<br />

(Art. 684 ZGB) nicht stellte.<br />

- 11 -


2.5 In BGE 126 III 452 hat das Bundesgericht entschieden, dass grundsätzlich auch so genannte<br />

negative Immissionen wie Schattenwurf und Lichtentzug von Art. 684 ZGB erfasst<br />

werden (E. 2c S. 455 ff.) und dass die Rechtsetzungskompetenz, die den Kantonen gemäss<br />

Art. 688 ZGB im Bereich des Pflanzenrechts zusteht, die Anwendung von Art. 679 und 684<br />

ZGB nicht ausschliesse (E. 3c S. 458 ff.). Dieser Entscheid ist in der Lehre mehrheitlich positiv<br />

aufgenommen worden (SCHNYDER, in: Baurecht 2001, S. 82; SCHMID-TSCHIRREN, in:<br />

recht 2001, S. 238 ff.; ablehnend hingegen PIOTET, in: AJP 2001 S. 594 ff.). In einem obiter<br />

dictum ist allerdings festgehalten worden, im Unterschied zum Pflanzenrecht stelle heute<br />

das kantonale Baurecht meist ein umfassendes Regelwerk dar und dem berechtigten Immissionsschutz<br />

der Nachbarn werde im Baubewilligungsverfahren Rechnung getragen; es sei<br />

kaum denkbar, dass von einer rechtmässig erstellten Baute derart schwerwiegende Emissionen<br />

ausgingen, dass sich ein bundesrechtlicher Beseitigungsanspruch rechtfertige (E. 3c/cc<br />

S. 460). Dies bedarf freilich der Präzisierung.<br />

2.6 Wie erwähnt, steht dem Bundeszivilrecht heute in den meisten Fällen - so auch vorliegend<br />

- nicht mehr gestützt auf Art. 686 ZGB erlassenes kantonales Privatrecht, sondern öffentliches<br />

Recht gegenüber. Es stellt sich deshalb primär die Frage des Verhältnisses zwischen<br />

Art. 684 ZGB und dem öffentlichen Baurecht.<br />

Die Kantone werden in ihren öffentlich-rechtlichen Befugnissen durch das Bundeszivilrecht<br />

nicht beschränkt (Art. 6 ZGB). Das kantonale öffentliche Recht darf zwar nicht Sinn und<br />

Zweck des Bundeszivilrechts widersprechen oder gar dessen Anwendung vereiteln (HUBER,<br />

Berner Kommentar, N. 213 und 214 zu Art. 6 ZGB), es verfügt jedoch über "expansive<br />

Kraft" (HUBER, a.a.O., N. 70 ff. zu Art. 6 ZGB) und bestimmt mittels Bauordnung und Zonenplan<br />

mehr und mehr, was nach Lage und Ortsgebrauch an Einwirkungen zulässig ist.<br />

Obwohl die öffentlichen Interessen an den Grenz- und Gebäudeabständen primär auf den Gebieten<br />

der Feuer- und Gesundheitspolizei, der guten Gestaltung der Siedlungen und der Ästhetik<br />

liegen, sollen diese Vorschriften auch die mannigfaltigen Einflüsse von Bauten und ihrer<br />

Benutzung auf die Nachbargrundstücke mildern ( BGE 119 Ia 113 E. 3b S. 117).<br />

Freilich verhält es sich nicht so, dass Zonenordnungen und Baureglemente die Lage der<br />

Grundstücke und den Ortsgebrauch im Sinne von Art. 684 ZGB geradezu verbindlich festlegen<br />

würden (MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 112 zu Art. 684 ZGB). Allerdings bildet das öffentliche<br />

Baurecht einerseits ein Indiz für den Ortsgebrauch (vgl. BGE 126 III 223 E. 3c S. 225;<br />

MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 113; AUER, Neuere Entwicklungen im privatrechtlichen Immissionsschutz,<br />

Diss. Zürich 1997, S. 15), und andererseits ist es bei der Anwendung von Art.<br />

684 ZGB insofern mitzubedenken, als die Einheit der Rechtsordnung ein beziehungsloses Nebeneinander<br />

von privatem und öffentlichem Recht verbietet ( BGE 126 III 223 E. 3c S. 226;<br />

RASELLI, a.a.O., S. 284 ff.; HÄNNI, Planungs-, Bau- und besonders Umweltschutzrecht,<br />

Bern 2002, S. 493). Art. 6 Abs. 1 ZGB stellt in diesem Sinn nicht nur einen unechten Vorbehalt<br />

zu Gunsten der Kantone dar, sondern verpflichtet auch zur Harmonisierung von Bundeszivil-<br />

und kantonalem öffentlichen Recht (MARTI, Zürcher Kommentar, N. 25 und 52 ff.<br />

zu Art. 6 ZGB); darauf hat das Bundesgericht bereits im Zusammenhang mit Lärmimmissionen<br />

hingewiesen ( BGE 126 III 223 E. 3c S. 225 ff.). Freilich ist nicht zu verkennen, dass die<br />

Ausweitung des öffentlichen Baurechts tendenziell auf Kosten des privatrechtlichen Immissionsschutzes<br />

gehen kann. Dies ist jedoch insoweit sachlich gerechtfertigt und hinzunehmen,<br />

als man es mit detaillierten Zonenordnungen und Baureglementen zu tun hat. Nur diese vermögen<br />

der übergeordneten Zielsetzung der Raumplanung (vgl. Art. 1 RPG ( SR 700)) und dabei<br />

insbesondere dem Grundsatz der rationalen, das ganze Siedlungsgebiet umfassenden Planung<br />

(vgl. Art. 3 RPG) zu genügen. Wird daher das Vorliegen einer übermässigen Einwirkung<br />

- 12 -


im Sinne von Art. 684 ZGB mit dem Argument verneint, das Bauvorhaben entspreche den<br />

massgebenden öffentlich-rechtlichen (Bauabstands-) Normen, und handelt es sich dabei um<br />

Vorschriften, die im Rahmen einer detaillierten, den Zielen und Planungsgrundsätzen des<br />

Raumplanungsrechts entsprechenden Bau- und Zonenordnung erlassen worden sind, bedeutet<br />

das in aller Regel keine Vereitelung von Bundesrecht (in diesem Sinn auch: MEIER-<br />

HAYOZ, a.a.O., N. 311 zu Art. 684 ZGB).<br />

2.7 Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ist zusammenfassend festzuhalten, dass das<br />

Verwaltungsgericht kein Bundesrecht verletzte, indem es die übermässige Einwirkung im<br />

Sinne von Art. 684 ZGB mit der Begründung verneint hat, das Bauvorhaben entspreche den<br />

massgebenden öffentlich-rechtlichen Abstandsvorschriften. Ebenso wenig ist Art. 8 ZGB verletzt,<br />

weil das Verwaltungsgericht bei diesem Ergebnis nicht gehalten war, eigene Sachverhaltsfeststellungen<br />

zur privatrechtlichen Einsprache zu treffen und die diesbezüglich beantragten<br />

Beweise abzunehmen. Die Berufung ist abzuweisen.<br />

- 13 -


BGE 109 Ia 76 / Sumvitg/Somvix<br />

Fragen:<br />

1. Was ist eine Gemeinde?<br />

2. Analysieren Sie die im Sachverhalt zitierten Bestimmungen des Gesetzes über den Pilzschutz<br />

des Kantons Grauünden auf folgende Fragen: Welche Instrumente zum Schutz der<br />

Pilze sieht der Gesetzgeber vor, welches ist das Instrument, welches die Freiheit am stärksten<br />

beschränkt? Ist dieses Instrument noch verhältnismässig? Worin unterscheiden sich die<br />

verschiedenen Instrumente voneinander?<br />

3. Was wirft die Gemeinde der Regierung des Kantons konkret vor? Weshalb verweigert die<br />

Regierung die Genehmigung des Gemeindebeschlusses?<br />

4. Weshalb hat die Gemeinde Autonomie?<br />

5. Wie begründet der Kanton die Verhältnismässigkeit seiner Massnahme?<br />

6. Wie beurteilen Sie das Argument des Kantons, ein Gemeindeverbot würde das Problem<br />

lediglich auf die lokale Ebene verlagern?<br />

7. Woraus ist in 699 ZGB die Ermächtigung der Behörden zum Erlass von Massnahmen abzuleiten?<br />

8. Wenn 699 ZGB eine sogenannte Doppelnorm ist, woraus leitet der Bund dann verfassungsrechtlich<br />

seine Gesetzgebungskompetenz auf dem öffentlichrechtlichen Gebiet ab?<br />

9. Welches ist der privatrechtliche, welches der öffentlichrechtliche Teil von Art. 699 ZGB<br />

10. Wie müsste das Bundesgericht entscheiden, wenn 699 nur privatrechtlicher Natur wäre?<br />

---------<br />

14. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23. Februar 1983 i.S.<br />

Gemeinde Sumvitg/Somvix gegen Regierung des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde)<br />

Regeste<br />

Pilzsammelverbot; Art. 699 ZGB; Gemeindeautonomie.<br />

1. Das Aneignungsrecht nach Art. 699 ZGB kann durch kantonales öffentliches Recht eingeschränkt<br />

werden, sofern ein hinreichendes öffentliches Interesse gegeben ist und der Grundsatz<br />

der Verhältnismässigkeit gewahrt wird (E. 3b).<br />

2. Beurteilung eines auf drei Jahre beschränkten, absoluten Pilzsammelverbotes für das Gebiet<br />

einer ganzen Gemeinde (E. 3c und 3d).<br />

- 14 -


Sachverhalt<br />

Das Gesetz über den Schutz von Pflanzen und Pilzen des Kantons Graubünden enthält folgende<br />

Bestimmungen über den Schutz und das Sammeln von Pilzen:<br />

Art 10 Pilzsammeln<br />

Das Sammeln in Gruppen von mehr als drei Personen, ausgenommen Familien und die vom<br />

Justiz- und Polizeidepartement bewilligten Exkursionen, ist verboten.<br />

Art. 11 Geschützte Pilze<br />

Das mutwillige Zerstören von Pilzen ist verboten.<br />

An Eierschwämmen (Cantharellus cibarius), Steinpilzen (Boletus edulis), Morcheln (Morchella)<br />

und Riesenschirmlingen (Lepiota procera) dürfen je Tag und Person gesamthaft nur zwei Kilo<br />

gesammelt werden.<br />

Die Regierung kann diese Beschränkung ändern und auf andere Arten ausdehnen sowie für<br />

einzelne besonders gefährdete Pilzarten ein befristetes Sammelverbot für das ganze Kantonsgebiet<br />

oder für Teile desselben erlassen.<br />

Art. 12. Schontage und Schutzgebiete<br />

Die Regierung legt für das ganze Kantonsgebiet einheitliche Schontage für das Sammeln von<br />

Pilzen fest und kann im Einvernehmen mit der Gemeinde Pilzschutzgebiete bezeichnen, in<br />

welchen das Sammeln von Pilzen aller Arten verboten ist.<br />

Art. 13 Geräte<br />

Der Gebrauch von Rechen, Hacken und anderen Geräten ist beim Pilzsammeln verboten.<br />

Art. 14. Gemeinden<br />

Die Gemeinden können zum Schutz der Pflanzen und Pilze weitergehende Vorschriften erlassen.<br />

Diese bedürfen der Genehmigung der Regierung.<br />

Art. 15. Aufsicht<br />

Polizeiorgane, Pilzkontrolleure, Forstbeamte, Wildhüter, Jagd- und Fischereiaufseher und<br />

Bergführer haben die Einhaltung der Bestimmungen zum Schutze der Pflanzen und Pilze zu<br />

überwachen und Übertretungen anzuzeigen.<br />

In besonders bedrohten Gebieten können Hilfsaufseher beigezogen werden.<br />

Die Regierung ordnet ihre Tätigkeit durch ein Reglement.<br />

Die Aufsichtsorgane werden auf ihre Aufgabe vorbereitet.<br />

Aufgrund von Art. 11 und Art. 12 dieses Gesetzes beschloss die Regierung des Kantons<br />

Graubünden am 19. April 1982 weitergehende Pilzschutzbestimmungen: Die Wochentage<br />

Montag, Dienstag, Mittwoch und Freitag wurden als kantonale Schontage bezeichnet; das<br />

Sammeln von Pilzen wurde zwischen 20.00 Uhr und 08.00 Uhr verboten; für die Jahre<br />

1982-1984 wurde für die Dauer von April bis Oktober pro Monat jeweilen der 10. bis 20. als<br />

Schonzeit bestimmt.<br />

Am 26. März 1982 beschloss die Gemeindeversammlung der Gemeinde Sumvitg/Somvix,<br />

das Sammeln von Pilzen auf dem gesamten Gemeindegebiet für die Dauer von drei Jahren<br />

- 15 -


vollständig zu verbieten. Die Regierung des Kantons Graubünden verweigerte die Genehmigung<br />

dieses Beschlusses. Dagegen erhob die Gemeinde Sumvitg/Somvix staatsrechtliche Beschwerde<br />

wegen Verletzung der Gemeindeautonomie.<br />

Das Bundesgericht wies die Beschwerde im Sinne der Erwägungen ab.<br />

Auszug aus den Erwägungen<br />

3. -- a) Die Beschwerdeführerin begründet das dreijährige generelle Pilzsammelverbot damit,<br />

auf dem Gebiete der Gemeinde werde an Pilzen Raubbau betrieben. Insbesondere ausländische<br />

Pilzsucher suchten die Waldflächen in organisierter und systematischer Weise nach Pilzen<br />

ab, um diese im Handel zu vertreiben. Dabei würden die Pilze regelmässig samt den<br />

Wurzeln ausgerissen. Dieses Vorgehen führe in naher Zukunft zu einem Aussterben aller Pilze.<br />

Die bisher getroffenen Massnahmen hätten zu einem effektiven Schutz der Pilze nicht<br />

beigetragen. Um der Gefahr, dass Pilze gänzlich aussterben, zu begegnen, sei ein allgemeines<br />

Pilzsammelverbot notwendig. Im angefochtenen Beschluss der Regierung wird ausgeführt,<br />

das auf die ganze Fläche der Gemeinde Sumvitg/Somvix ausgedehnte Pilzsammelverbot stehe<br />

mit der Bestimmung von Art. 699 Abs. 1 ZGB in Widerspruch, wonach nur lokal begrenzte<br />

Verbote zulässig seien. In ihrer Vernehmlassung unterstreicht die Regierung die Auffassung,<br />

dass das für die ganze Gemeinde beschlossene Sammelverbot dem durch Art. 699<br />

ZGB garantierten Recht der Aneignung wildwachsender Pilze widerspreche. Im übrigen weist<br />

sie darauf hin, dass die kantonalen Pilzschutzbestimmungen die Situation im Kanton bereits<br />

verbessert hätten und ein kommunales Verbot die Gefährdung der Pilzkulturen lediglich auf<br />

andere Gemeinden verlagere.<br />

b) Nach Art. 699 Abs. 1 ZGB sind das Betreten von Wald und Weide und die Aneignung<br />

wildwachsender Beeren, Pilze und dergleichen im ortsüblichen Umfange jedermann gestattet,<br />

soweit nicht im Interesse der Kulturen seitens der zuständigen Behörde einzelne, bestimmt<br />

umgrenzte Verbote erlassen werden. Das Bundesgericht hat diese Bestimmung als sogenannte<br />

Doppelnorm mit zugleich privatrechtlichem und öffentlichrechtlichem Inhalt qualifiziert<br />

(BGE 96-I-98 E. 2). Danach regelt Art. 699 Abs. 1 ZGB als privatrechtliche Eigentumsbeschränkung<br />

die Beziehungen zwischen dem Eigentümer und Spaziergängern, Beeren- und<br />

Pilzsammlern. Aufgrund des öffentlichrechtlichen Inhalts dieser Bestimmung sind die Behörden<br />

ermächtigt, von Amtes wegen über den freien Zutritt zu Wald und Weide und über die<br />

freie Aneignung von Beeren und Pilzen zu wachen. Das Bundesgericht hat trotz der in der<br />

Literatur geübten Kritik daran festgehalten, dass Art. 699 Abs. 1 ZGB als Doppelnorm zu<br />

qualifizieren ist (BGE 106-Ib-48 E. 4a, 106-Ia-86 E. 3a, 105-Ib-274 E. 1a). Die privatrechtliche<br />

Eigentumsbeschränkung zugunsten der Allgemeinheit gilt nicht schrankenlos. Das Zutritts-<br />

und Aneignungsrecht findet privatrechtlich seine Grenze dort, wo es nicht ohne Schädigung<br />

ausgeübt wird und damit mit den Interessen des Grundeigentümers nicht mehr vereinbar<br />

ist, ferner im Ortsgebrauch und in räumlich und zeitlich genau umgrenzten Verboten<br />

zum Schutz von Kulturen wie Baum- und Pflanzschulen (Peter Liver, Schweizerisches Privatrecht,<br />

Band V/1, S. 282 f; Arthur Meier-Hayoz, Berner Kommentar, Band IV, 3. Aufl. 1975,<br />

N. 29 ff. und 35 ff. zu Art. 699 ZGB; Haab/Simonius/Scherrer/Zobl, Zürcher Kommentar, 2.<br />

Aufl. 1977, N. 9 zu Art. 699 ZGB). Darüber hinaus kann das Zutritts- und Aneignungsrecht<br />

durch kantonale öffentlichrechtliche Bestimmungen eingeschränkt werden. Hierfür ist es<br />

notwendig, dass ein hinreichendes öffentliches Interesse an der Einschränkung gegeben ist<br />

und die Massnahmen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren (vgl. Meier-Hayoz,<br />

a.a.O., N. 39 ff. zu Art. 699 ZGB; Liver, a.a.O., S. 283; Haab/Simonius/Scherrer/Zobl,<br />

a.a.O., N. 10 zu Art. 699 ZGB). An den Voraussetzungen für eine öffentlichrechtliche Be-<br />

- 16 -


schränkung fehlte es in zwei vom Bundesgericht vor langem beurteilten Fällen: Das Verbot,<br />

im Kanton Zug an Sonntagvormittagen Beeren zu sammeln, konnte nicht damit begründet<br />

werden, dass die Störung der Nachtruhe vom Samstag auf den Sonntag, sittlich anstössiges<br />

Handeln, Sachbeschädigungen und Belästigungen durch "hergelaufene kantonsfremde Leute"<br />

verhindert werden sollten (BGE 43-I-285 E. 2). Eine Vorschrift des Kantons Uri, wonach an<br />

Sonn- und Feiertagen das Sammeln von Beeren mit Körben, Gefässen, Säcken und dergleichen<br />

zum Fortschaffen untersagt war, konnte nicht auf eine Bestimmung des Sonntagsruhegesetzes<br />

gestützt werden (BGE 58-I-177 E. 4). In beiden Fällen verneinte das Bundesgericht<br />

haltbare Gründe des öffentlichen Interesses an einer Einschränkung des durch Art. 699 Abs.<br />

1 ZGB garantierten Aneignungsrechts und erachtete die Verbote daher als bundesrechtswidrig.<br />

c) Unter den genannten Voraussetzungen des hinreichenden öffentlichen Interesses und der<br />

Wahrung des Grundsatzes der Verhältnissmässigkeit sind Einschränkungen des Zutritts- und<br />

Aneignungsrechts an sich zulässig. Sie stehen nicht zum vornherein im Widerspruch zu Art.<br />

699 Abs. 1 ZGB, sondern vermögen vielmehr Pflanzen- und Pilzbestände auf längere Sicht zu<br />

schützen und damit die Möglichkeit der Aneignung zu erhalten (vgl. VPB 39/1975 Nr. 62 S.<br />

50). Als Massnahmen kommen Mengenbeschränkungen, das Verbot des organisierten Sammelns<br />

und der Verwendung bestimmter Geräte, die Bezeichnung von Schongebieten und die<br />

Bestimmung von Schonzeiten in Frage, wie dies bereits im kantonalen Gesetz über den<br />

Schutz von Pflanzen und Pilzen vorgesehen ist. Im vorliegenden Fall steht ein auf drei Jahre<br />

beschränktes, absolutes Pilzsammelverbot für das Gebiet einer ganzen Gemeinde in Frage.<br />

Auch eine solche Massnahme kann unter Umständen zulässig sein. Erforderlich hierfür wäre<br />

etwa, dass das öffentliche Interesse an einem derart weitgehenden Verbot mit der drohenden<br />

Gefahr der Ausrottung und des Aussterbens ganzer Pilzkulturen belegt werden kann. Es<br />

müsste weiter dargetan werden können, dass die Massnahme geeignet und im Ausmass<br />

(Pilzsammelverbot für alle Sorten, Dauer) erforderlich ist, um zum notwendigen Nachwachsen<br />

oder Überleben der Pilzkulturen beizutragen. Unter solchen oder ähnlichen Voraussetzungen<br />

liesse sich auch ein dreijähriges, absolutes Pilzpflückverbot für das Gebiet einer ganzen<br />

Gemeinde mit Art. 699 Abs. 1 ZGB vereinbaren. Aus diesen Gründen kann an der Auffassung<br />

der Regierung, das Pilzsammelverbot der Gemeinde Sumvitg/Somvix verstosse zum<br />

vornherein gegen Art. 699 ZGB, nicht festgehalten werden.<br />

d) Im folgenden bleibt zu prüfen, ob sich der Beschluss der Regierung, das Pilzsammelverbot<br />

der Gemeinde Sumvitg/Somvix nicht zu genehmigen, auf sachliche Gründe stützen lässt. Die<br />

Beschwerdeführerin hat im vorliegenden Fall weder im Antrag an die Regierung noch im bundesgerichtlichen<br />

Verfahren ein hinreichendes öffentliches Interesse an einem dreijährigen, absoluten<br />

Verbot dargetan. Sie hat sich damit begnügt, in genereller Weise darauf hinzuweisen,<br />

dass Gefahr der Ausrottung besteht, wenn mit dem Raubbau fortgefahren würde. Sie hat<br />

nicht dargetan, dass die Ausrottung alle Pilzsorten bedrohe und daher ein absolutes Pilzsammelverbot<br />

notwendig sei.<br />

In ihrer staatsrechtlichen Beschwerde hat sie auch keine nähere Ausführungen zur Frage gemacht,<br />

weshalb die neuen, strengeren Vorschriften der Regierung für den Pilzschutz ungenügend<br />

seien und daher darüber hinausgehende Schutzmassnahmen für das Gebiet der Gemeinde<br />

Sumvitg/Somvix notwendig seien. Bei der Überprüfung des Regierungsbeschlusses<br />

darf weiter in Betracht gezogen werden, dass eine gewisse Koordination der Pilzschutzbestimmungen<br />

innerhalb des Kantons als wünschbar erscheint, damit nicht Raubbau betreibende<br />

Pilzsucher von Gemeinden mit strengeren Vorschriften in Gemeinden mit weniger weit<br />

gehenden abwandern.<br />

- 17 -


Dem Anliegen der Koordination mag allenfalls ein kleineres Gewicht zukommen, wenn es sich<br />

um ein Gemeindegebiet handelt, das geographisch und unter dem Gesichtswinkel der Pilzkulturen<br />

weitgehend abgeschlossen ist; dies wird von der Beschwerdeführerin nicht behauptet.<br />

Schliesslich ist die Kompetenz der Regierung von Bedeutung, aufgrund von Art. 11 und Art.<br />

12 des Gesetzes selber für einzelne besonders gefährdete Pilzarten ein befristetes Sammelverbot<br />

für das ganze Kantonsgebiet anzuordnen sowie im Einvernehmen mit den Gemeinden<br />

Pilzschutzgebiete zu bezeichnen, in welchen das Sammeln von Pilzen aller Art verboten ist.<br />

Von dieser Kompetenz kann die Regierung jederzeit Gebrauch machen, wenn solche zusätzliche<br />

Schutzmassnahmen sich als notwendig erweisen. Da die Regierung mit der Nichtgenehmigung<br />

des absoluten, dreijährigen Pilzsammelverbotes zu weniger weit gehenden Massnahmen<br />

nicht Stellung genommen hat, steht der Beschwerdeführerin die Möglichkeit offen, solche<br />

bei der Regierung zu beantragen. Bei dieser Sachlage lässt sich der angefochtene Beschluss<br />

der Regierung mit sachlichen Gründen vertreten. Ist sie demnach nicht in Willkür verfallen,<br />

so hat sie mit ihrem Beschluss auch nicht in den Autonomiebereich der Gemeinde<br />

Sumvitg/Somvix eingegriffen.<br />

Aus diesen Gründen erweist sich die Rüge der Verletzung der Gemeindeautonomie als unbegründet.<br />

Die Beschwerde ist daher im Sinne der Erwägungen abzuweisen.<br />

Nach ständiger Rechtsprechung sind in Beschwerdesachen wegen Verletzung der Gemeindeautonomie<br />

in Anwendung von Art. 156 Abs. 2 OG keine Kosten zu erheben.<br />

- 18 -


BGE 122 II 359 / Führerausweisentzug<br />

Fragen:<br />

1. Was ist Gegenstand der Beschwerde?<br />

2. Warum reicht der Beschwerdeführer eine Verwaltungsgerichts- und nicht eine staatsrechtliche<br />

Beschwerde ein?<br />

3. Worin unterscheidet sich die Beschwerde von der Revision?<br />

4. Der Beschwerdeführer hat die Frist für Beschwerden gegen Zwischenverfügungen nicht<br />

eingehalten, dennoch tritt das Bger auf die Beschwerde ein, warum?<br />

5. Dem Beschwerdeführer wurde der Führerausweis verschiedentlich entzogen, worin unterscheiden<br />

sich die verschiedenen Arten des Entzugs des Führerausweises?<br />

6. Worin unterscheidet sich das Strafverfahren vom Verwaltungsverfahren und warum?<br />

7. Warum ist der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu verweigern?<br />

8. Warum gilt die Unschuldsvermutung im Verwaltungsverfahren nicht?<br />

9. Inwieweit kann das Strafurteil die Verwaltung beeinflussen?<br />

10. Weshalb erachtet das Bundesgericht den Entzug als rechtmässig?<br />

---------<br />

45. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 14. August 1996 i.S. B. gegen Justiz-<br />

und Polizeidirektion und Verwaltungsgericht des Kantons Zug (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)<br />

Regeste<br />

Vorsorglicher Führerausweisentzug (Art. 35 Abs. 3 VZV).<br />

Die Verfügung über den vorsorglichen Führerausweisentzug stellt eine Zwischenverfügung im<br />

Verfahren betreffend den Sicherungsentzug dar, und die Frist für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

dagegen beträgt zehn Tage (E. 1).<br />

Der vorsorgliche Führerausweisentzug erfolgt wie der Sicherungsentzug allein aus Gründen<br />

der Verkehrssicherheit, unabhängig vom Verschulden. Er kann daher angeordnet werden, ohne<br />

dass ein rechtskräftiges Strafurteil vorliegt (E. 2b). Aus dem gleichen Grunde kommt die<br />

Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK nicht zum Tragen; die übrigen Verfahrensgarantien<br />

von Art. 6 EMRK können wegen der vorsorglichen Natur der Massnahme nicht angerufen<br />

werden (E. 2c).<br />

Voraussetzungen des vorsorglichen Ausweisentzugs (E. 3a) sind in concreto (mehrfaches<br />

Fahren in angetrunkenem Zustand) erfüllt (E. 3b).<br />

- 19 -


Sachverhalt<br />

B., geboren 1944, wurde der Führerausweis 1984 für vier Monate und 1987 für 20 Monate,<br />

je wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand, entzogen. Nachdem er bereits 1992 wegen<br />

Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit verwarnt worden war, entzog ihm die Direktion<br />

der Polizei des Kantons Zürich den Führerausweis am 23. März 1993 ein weiteres Mal für<br />

fünf Monate, diesmal wegen zweimaligen Fahrens mit übersetzter Geschwindigkeit.<br />

Am 28. Januar 1994 verursachte B. als Lenker eines Personenwagens einen Selbstunfall. Er<br />

hatte vor der Fahrt zuviel Alkohol konsumiert und gleichzeitig eine Schlaftablette zu sich genommen.<br />

Gestützt auf diesen Vorfall entzog die Justiz- und Polizeidirektion des Kantons Zug<br />

B. am 23. März 1994 den vom Kanton Zürich ausgestellten Ausweis mit förmlicher Verfügung<br />

vorsorglich und ordnete eine spezialärztliche Abklärung der Fahrtauglichkeit an. Im Bericht<br />

des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich-Irchel vom 24. August 1994 wurde<br />

die Fahreignung von B. nur bedingt (strikte Alkoholfahrabstinenz und amtsärztliche Kontrolluntersuchung<br />

ein Jahr nach Wiederaushändigung des Ausweises) bejaht. Das Justiz- und<br />

Polizeidepartement des Kantons Zug verfügte am 26. September 1994 einen Warnungsentzug<br />

von zwölf Monaten und verband die Wiedererteilung des Führerausweises nach Ablauf<br />

der Entzugsdauer (Ende Januar 1995) mit folgenden Bedingungen und Auflagen: strikte Alkoholabstinenz<br />

vor und während des Fahrens; Kontrolluntersuchung ein Jahr nach der Wiederaushändigung<br />

des Führerausweises. Die Verfügung erwuchs in Rechtskraft.<br />

Das Bezirksgericht Zürich (Einzelrichter in Strafsachen) sprach B. mit Urteil vom 2. März<br />

1995 hinsichtlich des Selbstunfalls vom 28. Januar 1994 von Schuld und Strafe frei. Es erachtete<br />

den subjektiven Tatbestand nicht als erfüllt, weil B. im Moment des Alkohol- und<br />

Medikamentenkonsums nicht vorausgesehen habe, dass er noch ein Motorfahrzeug führen<br />

würde. Unter Hinweis auf das Strafurteil vom 2. März 1995 stellte der Vertreter von B. am<br />

14. Juli 1995 beim Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Zug ein Gesuch um Revision<br />

der Verfügung vom 26. September 1994.<br />

Am 13. Juli 1995 lenkte B. in Zürich einen Personenwagen in angetrunkenem Zustand (1,61<br />

o/oo - 2.08 o/oo). Gestützt auf diesen Vorfall verfügte die Justiz- und Polizeidirektion des<br />

Kantons Zug am 14. August 1995 den vorsorglichen Entzug des Führerausweises.<br />

Ein definitiver Entscheid wurde vom Ausgang einer spezialärztlichen Untersuchung bei der<br />

Verkehrsmedizinischen Abteilung des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich abhängig<br />

gemacht. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wies die gegen die Verfügung der<br />

Direktion erhobene Beschwerde am 1. Februar 1996 ab.<br />

B. hat am 12. März 1996 gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

erhoben. Das Bundesgericht weist die Beschwerde, soweit es darauf eintritt,<br />

ab<br />

aus folgenden Erwägungen<br />

1.-- Angefochten ist ein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid, welcher einen vorsorglichen<br />

Führerausweisentzug gemäss Art. 35 Abs. 3 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über<br />

die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR-741-51) zum<br />

Gegenstand hat.<br />

- 20 -


a) Gemäss Art. 17 Abs. 1bis (in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 lit. b, c und d) SVG wird der<br />

Führerausweis auf unbestimmte Zeit entzogen, wenn der Führer wegen Trunksucht oder anderer<br />

Suchtkrankheiten, aus charakterlichen oder anderen Gründen nicht geeignet ist, ein<br />

Motorfahrzeug zu führen (sogenannter Sicherungsentzug). Bis zur Abklärung von Ausschlussgründen<br />

kann der Führerausweis sofort vorsorglich entzogen werden (Art. 35 Abs. 3<br />

VZV). Der vorsorgliche Ausweisentzug kann nicht losgelöst vom eigentlichen Entzugsverfahren<br />

verfügt werden, sondern "bis zur Abklärung von Ausschlussgründen"; das bedeutet, dass<br />

er einzig im Rahmen des Verfahrens über den Sicherungsentzug selber zulässig ist (vgl. RENE<br />

SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Band III: Die Administrativmassnahmen,<br />

Bern 1995, Rz. 1996 S. 40), so dass die entsprechende Verfügung<br />

einen Zwischenschritt auf dem Weg zur Endverfügung darstellt. Gemäss Randtitel zu diesem<br />

Artikel handelt es sich denn auch bei Art. 35 Abs. 3 VZV um eine "Verfahrensvorschrift";<br />

der darauf gestützte Führerausweisentzug stellt eine vorsorgliche Massnahme zur Sicherstellung<br />

gefährdeter Interessen bis zum Abschluss des Hauptverfahrens dar und ist damit eine<br />

Zwischenverfügung (nicht veröffentlichte Urteile i.S. S. vom 11. Januar 1996 und i.S. M.<br />

vom 11. Juni 1996).<br />

b) Zwischenverfügungen letzter kantonaler Instanzen können mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

nur angefochten werden, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil<br />

bewirken (Art. 97 OG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 und 45 VwVG). Die Zwischenverfügung<br />

über den vorsorglichen Ausweisentzug bewirkt offensichtlich einen derartigen Nachteil.<br />

Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen einen Zwischenentscheid ist dem Bundesgericht<br />

innert zehn Tagen seit Eröffnung des anzufechtenden Entscheids einzureichen (Art. 106 Abs.<br />

1 OG). Die Beschwerde ist erst am 12. März 1996 zur Post gegeben und damit nicht innert<br />

zehn Tagen seit Eröffnung des Beschwerdeentscheides (16. Februar 1996) eingereicht worden.<br />

Nun ist aber zu berücksichtigen, dass der angefochtene Entscheid mit einer Rechtsmittelbelehrung<br />

versehen war, wonach dagegen innert 30 Tagen seit Eröffnung ans Bundesgericht<br />

gelangt werden könne. Zudem liegt bis heute kein veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts<br />

vor, in welchem der Entscheid über den vorsorglichen Ausweisentzug gemäss Art. 35<br />

Abs. 3 VZV als Zwischenentscheid bezeichnet wurde. Ob unter diesen Umständen die Verspätung<br />

dem Beschwerdeführer entgegengehalten werden darf, erscheint fraglich (vgl. BGE<br />

118 Ib 326 E. 1c), kann aber offenbleiben, da die Beschwerde ohnehin abzuweisen ist.<br />

2.-- a) Der Beschwerdeführer wirft dem Verwaltungsgericht vor, es sei seiner Begründungspflicht<br />

nicht nachgekommen. Diese Rüge geht fehl. Das Verwaltungsgericht hat in seinem<br />

Entscheid keineswegs ausgeschlossen, dass Anzeichen für eine Trunksucht des Beschwerdeführers<br />

vorlägen. Indem es auch auf Art. 14 Abs. 2 lit. d SVG hinwies und zusätzlich die<br />

Frage nach der charakterlichen Fahreignung des Beschwerdeführers aufwarf, verneinte es die<br />

Anwendbarkeit von Art. 14 Abs. 2 lit. c SVG nicht. Aus der Begründung seines Entscheids<br />

geht mit aller Deutlichkeit hervor, aus welchen Gründen die kantonalen Behörden zur Auffassung<br />

gelangten, es bestünden Zweifel an der Fahrtauglichkeit des Beschwerdeführers. Somit<br />

war es dem Beschwerdeführer ohne weiteres möglich, den Entscheid des Verwaltungsgerichts<br />

mit zielgerichteten Rügen anzufechten.<br />

Damit steht auch fest, dass die kantonalen Behörden, je nach Ausgang der medizinischen<br />

Begutachtung, die Anordnung eines Sicherungsentzugs in Betracht ziehen; dass gegebenenfalls<br />

nach Vorliegen des Gutachtens anstelle des Sicherungsentzugs ein Warnungsentzug<br />

verfügt werden könnte, ändert daran nichts. Insofern steht einem vorsorglichen Ausweisentzug<br />

gemäss Art. 35 Abs. 3 VZV nichts entgegen.<br />

- 21 -


) Der Beschwerdeführer rügt unter dem Titel "Suspensivwirkung der Beschwerde", dass die<br />

kantonalen Behörden mit dem vorsorglichen Ausweisentzug nicht bis zum Vorliegen eines<br />

rechtskräftigen Strafurteils zugewartet haben.<br />

Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers haben die kantonalen Behörden nicht ein Verfahren<br />

im Hinblick auf einen Warnungsentzug eingeleitet, sondern im wesentlichen im Hinblick<br />

auf einen Sicherungsentzug. Dabei ist massgeblich, ob der Beschwerdeführer noch fähig<br />

ist, ein Motorfahrzeug zu führen, oder ob ihm dies aus Gründen der Verkehrssicherheit<br />

untersagt werden soll. Dass entsprechende Schritte sofort einzuleiten sind, versteht sich angesichts<br />

der Natur der Sache von selbst. Dem Sicherungsentzug liegen denn auch andere<br />

Überlegungen und Gewichtungen zugrunde als dem Strafverfahren wegen Fahrens in angetrunkenem<br />

Zustand. Die kantonalen Behörden waren daher nicht gehalten, das Administrativverfahren<br />

zu sistieren und auf einen vorsorglichen Ausweisentzug zu verzichten, bis das<br />

Strafverfahren abgeschlossen ist.<br />

c) Der Beschwerdeführer beruft sich in gleichem Zusammenhang auf die in Art. 6 EMRK<br />

festgeschriebene Unschuldsvermutung. Er erwähnt dazu BGE 121 II 22. Das Bundesgericht<br />

hat in jenem Urteil festgestellt, dass der Entscheid über einen Führerausweisentzug zu Warnzwecken<br />

ein Entscheid über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage im Sinne von<br />

Art. 6 Ziff. 1 EMRK sei.<br />

E. 2 - 4). Es hat den Warnungsentzug dabei ausdrücklich vom Sicherungsentzug abgegrenzt<br />

(BGE 121 II 22 E. 4a S. 27). Angesichts der völlig anderen Zielsetzung des Sicherungsentzugs<br />

(Fernhalten eines Fahrzeugführers vom Strassenverkehr aus Gründen der Verkehrssicherheit,<br />

unabhängig von einem Verschulden) findet der Grundsatz der Unschuldsvermutung<br />

auf derartige Verfahren keine Anwendung.<br />

Wie es sich mit weiteren in Art. 6 EMRK enthaltenen, nicht auf Strafverfahren bezogenen<br />

Verfahrensgarantien verhält, auf die sich der Beschwerdeführer nicht beruft, kann offenbleiben.<br />

Diese kommen zumindest beim hier angefochtenen sicherheitspolizeilich motivierten<br />

vorsorglichen Ausweisentzug nicht zum Tragen, handelt es sich dabei doch bloss um eine<br />

einstweilige Verfügung (nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts i.S. B. vom 30. August<br />

1995; vgl. FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, Art. 6 N. 36, HERBERT MIEHLSER,<br />

Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 6 N. 185;<br />

MARK VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 231, N. 387).<br />

Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, Art. 6 EMRK sei durch den Ausweisentzug verletzt,<br />

erweist sich die Beschwerde als offensichtlich unbegründet.<br />

3.-- a) Art. 35 Abs. 3 VZV trägt der besonderen Interessenlage Rechnung, welche bei der<br />

Zulassung von Fahrzeugführern zum Strassenverkehr zu berücksichtigen ist. Angesichts des<br />

grossen Gefährdungspotentials, welches dem Führen eines Motorfahrzeugs eigen ist, erlauben<br />

schon Anhaltspunkte, die den Fahrzeugführer als besonderes Risiko für die anderen Verkehrsteilnehmer<br />

erscheinen lassen und ernsthafte Bedenken an seiner Fahreignung erwecken,<br />

den vorsorglichen Ausweisentzug (SCHAFFHAUSER, a.a.O., Rz. 1996 S. 40). So rechtfertigt<br />

sich diese Massnahme, wenn ärztliche Untersuchungen oder auch das Verhalten des Fahrzeugführers<br />

insgesamt konkrete Hinweise für eine Alkoholsucht ergeben. Der strikte Beweis<br />

für eine derartige Sucht oder für andere die Fahreignung ausschliessende Umstände ist nicht<br />

erforderlich; wäre dieser erbracht, müsste unmittelbar der Sicherungsentzug selber verfügt<br />

werden. Können die notwendigen Abklärungen nicht rasch und abschliessend getroffen werden,<br />

soll der Ausweis schon vor dem Sachentscheid selber entzogen werden können und<br />

- 22 -


aucht eine umfassende Auseinandersetzung mit sämtlichen Gesichtspunkten, die für oder<br />

gegen einen Sicherungsentzug sprechen, erst im anschliessenden Hauptverfahren zu erfolgen<br />

(vgl. SCHAFFHAUSER, a.a.O., Rz. 1996 u. 2712). Es verhält sich ähnlich wie beim Entscheid<br />

über die Gewährung oder Verweigerung der aufschiebenden Wirkung bei einer Beschwerde<br />

gegen den Sicherungsentzug selber; einer derartigen Beschwerde ist, vorbehältlich<br />

besonderer Umstände, die aufschiebende Wirkung zu verweigern (BGE 106 Ib 115 E. 2b S.<br />

116/117; vgl. ferner BGE 107 Ib 395 E. 2a S. 398, 115 Ib 157 E. 2 S. 158).<br />

b) Seit 1984 gab der Beschwerdeführer viermal Anlass zu Administrativmassnahmen wegen<br />

Fahrens in angetrunkenem Zustand.<br />

Zweimal, 1992 (Verwarnung) und 1993 (Ausweisentzug), mussten Massnahmen wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen<br />

ergriffen werden. Zwar lag der Ausweisentzug von 1984<br />

zum Zeitpunkt der Fahrt vom 13. Juli 1995 mehr als zehn Jahre zurück; er kann aber bei einer<br />

Gesamtbetrachtung nicht völlig ausser acht gelassen werden. Die Frage, ob ein erst- oder<br />

zweitmaliger Rückfall vorliege, worauf der Beschwerdeführer unter Berufung auf behördliche<br />

Richtlinien besonderes Gewicht legt, stellt sich gar nicht ernsthaft, weil der Vorfall vom 28.<br />

Januar 1994 im Hinblick auf einen Sicherungsentzug durchaus von Bedeutung ist. Das diesbezügliche<br />

Strafurteil vermag allenfalls die Beurteilung der Administrativmassnahme des<br />

Warnungsentzugs zu beeinflussen. Im Hinblick auf die Beurteilung der verschuldensunabhängigen<br />

Fahrtauglichkeit hingegen könnte das Verneinen des subjektiven Tatbestands beim<br />

Fahren in angetrunkenem Zustand durchaus sogar erschwerend ins Gewicht fallen.<br />

Das erneute Fahren in angetrunkenem Zustand am 13. Juli 1995 konnte somit schon angesichts<br />

der früheren Vorkommnisse berechtigte Zweifel daran aufkommen lassen, ob der Beschwerdeführer<br />

in der Lage sei, auf erhöhten Alkoholkonsum vor dem Führen eines Motorfahrzeugs<br />

zu verzichten. Die weiteren Umstände verstärken diese Zweifel:<br />

Das Gutachten des Institutes für Rechtsmedizin der Universität Zürich vom 24. August 1994<br />

kam zwar zum Schluss, dass zum Zeitpunkt der Untersuchung keine Anhaltspunkte für einen<br />

bestehenden übermässigen Alkoholkonsum oder eine Medikamentensucht des Beschwerdeführers<br />

bestanden. Immerhin wurde ausgeführt, bestimmte Werte im Blut könnten Hinweis<br />

dafür sein, dass noch einige Wochen vor der Untersuchung ein vermehrter Alkoholkonsum<br />

stattgefunden habe. Es war gemäss Gutachten auch nicht auszuschliessen, dass der Beschwerdeführer<br />

bei Auftreten erneuter Schwierigkeiten wiederum zu vermehrtem Alkoholkonsum<br />

neigen könnte. Der Gutachter bejahte die Fahreignung daher nur bedingt, und er<br />

empfahl insbesondere strikte Alkoholfahrabstinenz. Eine entsprechende Auflage für den Zeitraum<br />

nach Wiedererteilung des Ausweises enthielt denn auch die Verfügung vom 26. September<br />

1994 über den Warnungsentzug. Der Beschwerdeführer fuhr am 13. Juli 1995, in<br />

Kenntnis dieser Auflage, in erheblich angetrunkenem Zustand. Es erscheint wenig glaubwürdig,<br />

dass er diese Auflage als mit dem (übrigens zu diesem Zeitpunkt nicht rechtskräftigen,<br />

weil von der Staatsanwaltschaft angefochtenen) freisprechenden Strafurteil vom 2. März<br />

1995 als ungültig geworden erachtete. Bekannt war dem Beschwerdeführer jedenfalls, dass<br />

diese Auflage gerade nach Meinung des ärztlichen Gutachters erforderlich war. Schliesslich<br />

ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer bei der ärztlichen Untersuchung nach dem<br />

Vorfall vom 13. Juli 1995 eine auffällige Alkoholtoleranz zeigte.<br />

Die kantonalen Behörden durften daher schon unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Alkoholsucht<br />

davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer ein besonderes Risiko für die anderen<br />

Verkehrsteilnehmer sein könnte. Zu Recht sind somit weitere Abklärungen in die Wege<br />

- 23 -


geleitet und der vorsorgliche Ausweisentzug gemäss Art. 35 Abs. 3 VZV angeordnet worden.<br />

- 24 -


BGE 127 V 431 / Heilbad<br />

Fragen:<br />

1. Was ist Gegenstand der Beschwerde?<br />

2. Die angefochtene Verfügung ist im Bundesblatt publiziert. Enthält sie alle für eine richtige<br />

Eröffnung der Verfügung notwendigen Elemente?<br />

3. Wann hat Wasser eine heilende Wirkung? Wer bestimmt dies?<br />

4. Was für Ziele sollen mit dem Erfordernis der gesetzlichen Grundlage verwirklicht werden?<br />

5. Warum muss ein Rechtssatz genügend bestimmt sein?<br />

6. Welche Gründe sprechen dafür, allgemeine, unbestimmte Begriffe zu verwenden?<br />

7. Wie „bestimmt“ muss ein Rechtssatz sein?<br />

8. Was für Massnahmen schlägt das Bundesgericht vor, um die durch unbestimmte Normen<br />

begründete Rechtsunsicherheit zu beheben?<br />

9. Welche Verfahrensgarantie erhält hier eine besondere Bedeutung?<br />

10. Welche einzelnen Verfahrensschritte gehen in der zeitlichen Reihenfolge der Verfügung<br />

vom 17.1.2001 voran?<br />

11. Warum muss das rechtliche Gehör auch dann gewährt werden, wenn der Beschwerdeführer<br />

überhaupt keine Erfolgsaussichten hat?<br />

12. Warum wird eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im Verwaltungsgerichtsverfahren<br />

nicht geheilt?<br />

---------<br />

62. Urteil vom 21. Dezember 2001 i. S. Mineral- und Heilbad X AG gegen Eidgenössisches<br />

Departement des Innern<br />

Regeste<br />

Modul II<br />

Grundsatz der Gesetzmässigkeit<br />

Art. 5 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 29 und 30 Abs. 1 VwVG; Art. 40 KVG; Art. 57 f.<br />

KVV: Zulassung von Heilbädern zur Tätigkeit zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung;<br />

verfahrensrechtliche Ansprüche (rechtliches Gehör) der Leistungserbringer bei<br />

auf unbestimmt gehaltenen Rechtsgrundlagen beruhenden Entscheiden.<br />

-- Stützt sich eine Verfügung oder ein Entscheid auf einen - zulässigerweise - unbestimmt<br />

gehaltenen Rechtssatz, ist die Unbestimmtheit der Rechtsgrundlage durch eine Stärkung der<br />

Verfahrensrechte gewissermassen zu kompensieren.<br />

- 25 -


-- Im Verfahren über die Zulassung von Heilbädern zur obligatorischen Krankenpflegeversicherung<br />

ist dem betroffenen Heilbad Gelegenheit zu bieten, zur vorgesehenen Auslegung der<br />

massgebenden, unbestimmt gehaltenen Normen Stellung zu nehmen.<br />

Sachverhalt<br />

A.- Am 8. Dezember 1995 erliess das Eidg. Departement des Innern (EDI) die Verfügung über<br />

die Zulassung von Heilbädern als Leistungserbringer der Krankenversicherung, welche am<br />

1. Januar 1996 in Kraft trat und die Liste der anerkannten Heilbäder enthält. Die im Anschluss<br />

daran von der Mineral- und Heilbad X AG in Z, Betreiberin des in der Liste nicht aufgeführten<br />

Heilbades X in Y, erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde hiess das Eidg. Versicherungsgericht<br />

mit Urteil vom 22. Dezember 1997 in dem Sinne gut, dass es die Sache an<br />

das EDI zurückwies, damit es im Sinne der Erwägungen verfahre und über das Anerkennungsbegehren<br />

der Beschwerdeführerin verfüge.<br />

Das EDI fällte in der Folge keinen das Heilbad X betreffenden individuellen Entscheid im<br />

Rahmen eines Rückweisungsverfahrens, sondern entschied über dessen Anerkennungsbegehren<br />

im Rahmen der am 17. Januar 2001 erlassenen neuen Verfügung über die Zulassung von<br />

Heilbädern als Leistungserbringer der sozialen Krankenversicherung, welche in Art. 1 die als<br />

Heilbäder nach Art. 40 KVG anerkannten Einrichtungen aufzählt und mit der Veröffentlichung<br />

im Bundesblatt am 30. Januar 2001 (BBl 2001 192) in Kraft trat (Art. 3). Das Heilbad X ist<br />

in der neuen Liste (Art. 1 der Verfügung) wiederum nicht aufgeführt. Der Entscheid wurde<br />

der Betreiberin des Bades durch das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) mit einem Begleitschreiben<br />

vom 23. Januar 2001 eröffnet.<br />

B.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die Mineral- und Heilbad X AG das Rechtsbegehren<br />

stellen, die Verfügung des EDI vom 17. Januar 2001 sei zu ergänzen, indem das<br />

Heilbad X ebenfalls als Heilbad nach Art. 40 KVG anerkannt werde; eventuell sei das EDI anzuweisen,<br />

über das Anerkennungsgesuch neu zu entscheiden.<br />

Das EDI schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.<br />

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:<br />

1.- a) Nach Art. 40 Abs. 1 KVG sind Heilbäder zugelassen, wenn sie vom Departement anerkannt<br />

sind. Abs. 2 der Bestimmung erteilt dem Bundesrat den Auftrag, die Anforderungen<br />

festzulegen, welche die Heilbäder hinsichtlich ärztlicher Leitung, erforderlichem Fachpersonal,<br />

Heilanwendungen und Heilquellen erfüllen müssen. Der Bundesrat ist diesem Auftrag mit<br />

dem Erlass von Art. 57 und 58 KVV nachgekommen.<br />

b) Gemäss Art. 57 KVV werden Heilbäder zugelassen, wenn sie unter ärztlicher Aufsicht<br />

stehen, zu Heilzwecken vor Ort bestehende Heilquellen nutzen, über das erforderliche Fachpersonal<br />

sowie die zweckentsprechenden diagnostischen und therapeutischen Einrichtungen<br />

verfügen und nach kantonalem Recht zugelassen sind (Abs. 1). Das Departement kann vom<br />

Erfordernis der vor Ort bestehenden Heilquelle Ausnahmen bewilligen. Es berücksichtigt dabei<br />

die bisherige Praxis der Krankenversicherer (Abs. 2). Art. 58 KVV bestimmt, dass als<br />

Heilquellen Quellen gelten, deren Wasser auf Grund besonderer chemischer oder physikalischer<br />

Eigenschaften und ohne jede Veränderung ihrer natürlichen Zusammensetzung eine<br />

wissenschaftlich anerkannte Heilwirkung ausüben oder erwarten lassen (Abs. 1). Die chemischen<br />

oder physikalischen Eigenschaften sind durch Heilwasseranalysen gutachtlich nachzu-<br />

- 26 -


weisen und alle drei Jahre durch eine Kontrollanalyse durch die zuständige kantonale Instanz<br />

zu überprüfen (Abs. 2).<br />

2.- a) Die erwähnten Bestimmungen nennen die Kriterien, welche für den Entscheid über die<br />

Zulassung als Heilbad massgebend sind. Sie enthalten jedoch keine genaue Umschreibung<br />

der Anforderungen, welche bezüglich der Kriterien im Einzelnen erfüllt sein müssen. Die Frage<br />

der Voraussetzungen einer Anerkennung als Heilbad wird somit durch ziemlich unbestimmt<br />

gehaltene Normen geregelt.<br />

b) aa) Um Grundlage einer Verfügung bilden zu können, muss ein Rechtssatz dem Erfordernis<br />

der ausreichenden Bestimmtheit genügen. Grundanliegen des Bestimmtheitsgebotes ist die<br />

Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit (HÄFELIN/MÜLLER, Grundriss des<br />

Allgemeinen <strong>Verwaltungsrecht</strong>s, 3. Aufl., Zürich 1998, N 313 f.). Das Gebot nach Bestimmtheit<br />

rechtlicher Normen darf jedoch nicht in absoluter Weise verstanden werden. So<br />

kann der Gesetz- und Verordnungsgeber nicht völlig darauf verzichten, allgemeine Begriffe zu<br />

verwenden, die formal nicht eindeutig generell umschrieben werden können und die an die<br />

Auslegung durch die Behörde besondere Anforderungen stellen. Darüber hinaus sprechen die<br />

Komplexität der im Einzelfall erforderlichen Entscheidung, die Notwendigkeit einer erst bei<br />

der Konkretisierung möglichen Wahl sowie die nicht abstrakt erfassbare Vielfalt der zu ordnenden<br />

Sachverhalte im Einzelfall für eine gewisse Unbestimmtheit der Normen (BGE 109 Ia<br />

284 Erw. 4d mit Hinweisen). Verlangt ist eine den jeweiligen Verhältnissen angemessene optimale<br />

Bestimmtheit bzw. eine unter Berücksichtigung aller massgebenden Gesichtspunkte,<br />

namentlich auch der Voraussehbarkeit der Verhältnisse, optimale Determinierung (MARTIN<br />

WIRTHLIN, Das Legalitätsprinzip im Bereich des Planungs- und Baurechts, in: AJP 2001 S.<br />

516 mit Hinweisen).<br />

bb) Die Lehre weist darauf hin, dass Komplexität und Veränderlichkeit der zu regelnden<br />

Sachverhalte in jüngerer Zeit zugenommen haben. Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung<br />

und den entsprechend gewandelten Anforderungen an die öffentliche Verwaltung, von welcher<br />

flexibles und zeitgerechtes Reagieren auf sich wandelnde Sachverhalte und Erkenntnisse<br />

verlangt wird, sind ein Abbau der Regelungsdichte und eine Tendenz zum vermehrten Erlass<br />

unbestimmter, offener Normen zu beobachten (vgl. PIERRE MOOR, Principes de l'activité<br />

étatique et responsabilité de l'Etat, in: THÜRER/AUBERT/MÜLLER, Verfassungsrecht der<br />

Schweiz, Zürich 2001, S. 265 ff., 270 f.). Anzahl und Bedeutung von Rechtsnormen nehmen<br />

zu, welche durch Offenheit oder Unbestimmtheit charakterisiert sind und mit Generalklauseln,<br />

unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensbefugnissen arbeiten, deren "Freiräume"<br />

durch die Verwaltung aufzufüllen sind (MICHELE ALBERTINI, Der verfassungsmässige<br />

Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates, Diss.<br />

Bern 1999, S. 11 mit Hinweisen).<br />

cc) Als Folge der dargestellten Entwicklung verlieren die Garantien des - nunmehr in Art. 5<br />

Abs. 1 der Bundesverfassung vom 18. April 1999 festgehaltenen - Gesetzmässigkeitsprinzips<br />

an Wirksamkeit (MOOR, a.a.O., S. 270 f.; THOMAS COTTIER, Die Verfassung und das<br />

Erfordernis der gesetzlichen Grundlage, Diss. Bern 1983, 2. erg. Aufl., Chur 1991, S. 206).<br />

Insbesondere weist eine im Ermessen der Behörde zu treffende Verfügung bei relativer Offenheit<br />

der materiellen Rechtsnormen für die Partei einen verminderten Grad an Voraussehbarkeit<br />

bezüglich Inhalt und Begründung auf (ALBERTINI, a.a.O., S. 306). Unbestimmte Normen<br />

sind deshalb geeignet, zu einem Verlust an Rechtssicherheit zu führen. Ihnen müssen<br />

materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Sicherungen sowie mitunter besondere Anforderungen<br />

an die Begründungspflicht entgegengestellt werden (COTTIER, a.a.O., S. 206). Die<br />

- 27 -


Unbestimmtheit der anzuwendenden Norm ist durch verfahrensrechtliche Garantien gewissermassen<br />

zu kompensieren (BGE 109 Ia 284 Erw. 4d mit Hinweisen; COTTIER, a.a.O., S.<br />

213; ALBERTINI, a.a.O., S. 74 f. mit Hinweisen; MOOR, a.a.O., S. 271; WIRTHLIN, a.a.O.,<br />

S. 516 mit Hinweis). Je offener und unbestimmter die gesetzliche Grundlage ist, desto stärker<br />

sind die verfahrensrechtlichen Garantien als Schutz vor unrichtiger Anwendung des unbestimmten<br />

Rechtssatzes auszubauen (ALBERTINI, a.a.O., S. 75 f.). In diesem Zusammenhang<br />

kommt der Konkretisierung der Anforderungen, welche unter dem Gesichtspunkt des<br />

rechtlichen Gehörs an die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens zu stellen sind, besondere<br />

Bedeutung zu. Nach der für die Auslegung von Art. 29 Abs. 2 der am 1. Januar 2000 in<br />

Kraft getretenen neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 weiterhin massgebenden<br />

(BGE 126 V 130 Erw. 2a) Rechtsprechung zu Art. 4 Abs. 1 der Bundesverfassung vom 29.<br />

Mai 1874 ist der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt,<br />

wenn die Betroffenen nur in abstrakter, allgemeiner Weise Stellung nehmen können zu einer<br />

Massnahme, deren konkrete Begründung ihnen nicht bekannt ist (BGE 114 Ia 14). Die verfassungskonforme<br />

Gewährung des rechtlichen Gehörs erfordert unter Umständen, dass die<br />

Behörde, bevor sie in Anwendung einer unbestimmt gehaltenen Norm oder in Ausübung eines<br />

besonders grossen Ermessensspielraums einen Entscheid fällt, der von grosser Tragweite<br />

für die Betroffenen ist, diese über ihre Rechtsauffassung orientiert und ihnen Gelegenheit bietet,<br />

dazu Stellung zu nehmen (vgl. ALBERTINI, a.a.O., S. 221, 297 f., 303 ff.).<br />

c) Nach dem Gesagten ist nicht zu beanstanden, dass die Art. 57 f. KVV die Voraussetzungen<br />

einer Anerkennung als Heilbad gemäss Art. 40 KVG in vergleichsweise unbestimmter<br />

Weise umschreiben, da die Erkenntnisse hinsichtlich Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und<br />

Wirtschaftlichkeit (Art. 32 KVG) ändern können. Die Unbestimmtheit der anzuwendenden<br />

Rechtssätze ist jedoch durch eine Stärkung der Verfahrensrechte der Betroffenen gleichsam<br />

zu kompensieren.<br />

3.- a) Beim Entscheid über die Zulassung oder Nichtzulassung hatte das Departement nach<br />

erfolgtem Abklärungsverfahren den durch Art. 29 Abs. 2 BV garantierten und in Art. 29<br />

VwVG statuierten Anspruch auf rechtliches Gehör und die damit verbundenen Verfahrensgarantien,<br />

insbesondere die Mitwirkungsrechte der Betroffenen, zu beachten. Dazu gehört namentlich<br />

das Recht auf Akteneinsicht (Art. 26 VwVG), das Recht, sich vor Erlass einer Verfügung<br />

zur Sache zu äussern (Art. 30 VwVG) und zu Vorbringen der Gegenpartei angehört<br />

zu werden (Art. 31 VwVG), sowie das Recht, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu<br />

werden (Art. 33 VwVG) (SVR 1998 KV Nr. 14 S. 51 Erw. 4b mit Hinweisen). Angesichts<br />

der Unbestimmtheit der anwendbaren materiellen Rechtsnormen ist das Anhörungsverfahren<br />

in der Weise auszugestalten, dass der Gesuchstellerin oder dem Gesuchsteller Gelegenheit<br />

geboten wird, sich zu den Ergebnissen des vorangegangenen Abklärungsverfahrens und zur<br />

in Aussicht genommenen Auslegung der massgebenden Bestimmungen zu äussern.<br />

b) Dem Entscheid über die Anerkennung der Beschwerdeführerin als Heilbad gemäss Art. 40<br />

KVG gingen die folgenden aktenkundigen Verfahrensschritte voraus:<br />

aa) Das EDI liess zunächst durch eine Arbeitsgruppe, zusammengesetzt aus Vertretern des<br />

Verbandes Schweizer Badekurorte (VSB), des Konkordats der Schweizerischen Krankenversicherer<br />

(KSK), der Schweizerischen Gesellschaft für Balneologie und Bioklimatologie (SGBB)<br />

und des BSV, einen Fragebogen erarbeiten. Mit Schreiben vom 27. November 1998 wurde<br />

dieser Fragebogen an alle Einrichtungen, die möglicherweise die Bedingungen einer Zulassung<br />

als anerkanntes Heilbad erfüllen würden, sowie an alle Kantone versandt. Die Beschwerde-<br />

- 28 -


führerin retournierte den ihr zugestellten Fragebogen mit einem Begleitschreiben vom 20. Januar<br />

1999.<br />

bb) Anlässlich ihrer Sitzung vom 28. August 1999 beschloss die Arbeitsgruppe, die Einholung<br />

eines Gutachtens über die Heilwirkung des Wassers des Heilbades X zu empfehlen. Sie<br />

begründete dies damit, dass das Wasser keine gelösten Stoffe enthalte, die auffallen würden,<br />

und alkalisches Wasser höchstens für eine Trinkkur geeignet sei, wobei eine solche<br />

nicht als Badekur gelte.<br />

cc) Mit Schreiben vom 13. Oktober 1999 forderte das BSV die Beschwerdeführerin auf, weitere<br />

Unterlagen zur Beurteilung der Heilwirkung des vom Heilbad verwendeten Quellwassers<br />

zum Zwecke einer Badekur sowie ein allenfalls vorhandenes Gutachten eines spezialisierten<br />

Institutes einzureichen. Die Beschwerdeführerin gab daraufhin bei Dr. med. K., Chefarzt<br />

Rheumatologie, Klinik A., ein medizinisch-balneologisches Gutachten in Auftrag, welches am<br />

4. Januar 2000 erstattet und dem BSV mit einem Begleitschreiben vom 13. Januar 2000<br />

eingereicht wurde.<br />

dd) Mit Schreiben vom 23. Januar 2001 eröffnete das BSV der Beschwerdeführerin den Entscheid<br />

des EDI vom 17. Januar 2001. Zwischenzeitlich war die Beschwerdeführerin nicht<br />

mehr formell kontaktiert worden.<br />

c) Das beschriebene Vorgehen der Verwaltung wird den obgenannten Anforderungen an das<br />

Anhörungsverfahren gemäss Art. 29 und Art. 30 Abs. 1 VwVG nicht gerecht. Insbesondere<br />

bilden die Zustellung des Fragebogens und die Aufforderung zur Einreichung weiterer Unterlagen<br />

betreffend die Heilwirkung des Quellwassers ohne Bekanntgabe des vorgesehenen Beurteilungsmassstabes<br />

keine ausreichende Gewährung des rechtlichen Gehörs. Vielmehr hätte<br />

der Beschwerdeführerin nach dem Abschluss der sachverhaltlichen Abklärungen, aber vor<br />

dem Erlass des Entscheides des EDI Gelegenheit geboten werden müssen, sich zum Ergebnis<br />

der Abklärungen sowie zur Frage nach der Heilwirkung des Quellwassers, zu den für deren<br />

Beantwortung massgebenden Kriterien und zum anzuwendenden Massstab nochmals vernehmen<br />

zu lassen. Dass der Verband der Badekurorte die Interessen der Heilbäder in die Arbeitsgruppe,<br />

die den Fragebogen erarbeitete, einbringen konnte, vermag die Gehörsgewährung<br />

an die Beschwerdeführerin nicht zu ersetzen. Eine solche konnte auch nicht deshalb unterbleiben,<br />

weil die Beschwerdeführerin den Fragebogen ohne inhaltliche Kritik eingereicht<br />

hatte, denn darin kann kein Verzicht auf eine spätere Anhörung erblickt werden.<br />

d) aa) Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Die Verletzung des rechtlichen<br />

Gehörs führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung<br />

der angefochtenen Verfügung. Es kommt mit anderen Worten nicht darauf an, ob die<br />

Anhörung im konkreten Fall für den Ausgang der materiellen Streitentscheidung von Bedeutung<br />

ist, d.h. die Behörde zu einer Änderung ihres Entscheides veranlasst wird oder nicht<br />

(BGE 126 V 132 Erw. 2b mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung kann eine - nicht besonders<br />

schwer wiegende - Verletzung des rechtlichen Gehörs als geheilt gelten, wenn die betroffene<br />

Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl<br />

den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann. Die Heilung eines - allfälligen<br />

- Mangels soll aber die Ausnahme bleiben (BGE 126 V 132 Erw. 2b mit Hinweisen).<br />

bb) Die im Rahmen der Gewährung des rechtlichen Gehörs zu erwartenden Ausführungen der<br />

Beschwerdeführerin werden voraussichtlich eine balneologische Beurteilung erfordern. Diese<br />

ist nicht durch das Eidg. Versicherungsgericht, sondern in erster Linie durch die zuständigen<br />

- 29 -


Verwaltungsbehörden vorzunehmen. Eine Heilung der Gehörsverletzung im Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren<br />

kommt daher nicht in Frage.<br />

- 30 -


Sachverhalte<br />

1. Numerus Clausus Basel<br />

Der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt erliess am 24. März 1998 eine Verordnung über<br />

die Zulassungsbeschränkung zum Studium der Medizin an der Universität Basel. Die Verordnung<br />

regelt gemäss ihrem § 1 Zulassungsbeschränkungen für das Studium der Human-,<br />

Zahn- und Veterinärmedizin an der Universität Basel durch das Verfahren eines Eignungstests.<br />

Nach § 2 legt der Regierungsrat jährlich die maximale Aufnahmekapazität für das erste<br />

Studienjahr fest. Wenn die Anzahl der Voranmeldungen die Aufnahmekapazität um einen<br />

vom Regierungsrat festzulegenden Prozentsatz überschreitet, beschliesst der Regierungsrat,<br />

ob ein Eignungstest durchzuführen ist (§ 3). Die §§ 4-8 regeln das Verfahren des Eignungstests.<br />

§ 5 beauftragt mit der Organisation und Durchführung des Eignungstests das Generalsekretariat<br />

der Schweizerischen Hochschulkonferenz (SHK) oder ein anderes in Absprache<br />

mit den übrigen Hochschulkantonen bestimmtes Organ. Gemäss § 9 haben sich die Studienanwärter<br />

mit Fr. 200.-- an den Kosten der Durchführung des Tests zu beteiligen. Die §§ 10-<br />

13 enthalten weitere Vorschriften über den Zulassungsentscheid und das Testverfahren. Gegen<br />

Verfügungen des Rektorats kann nach Massgabe des Universitätsgesetzes rekurriert<br />

werden (§ 14). Die Verordnung wird sofort wirksam (§ 15). Die Verordnung wurde im Kantonsblatt<br />

Basel-Stadt vom 8. April 1998 publiziert.<br />

H., S. (Schüler am Gymnasium Liestal), T., R. (beide Studenten an der Universität Basel) sowie<br />

die Studentische Körperschaft der Universität Basel (skuba) erhoben am 15. Mai 1998<br />

staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, die Verordnung, eventuell ihren § 9, aufzuheben.<br />

Gesetzliche Grundlagen:<br />

Gesetz über die Universität Basel (Universitätsgesetz)<br />

vom 8. November 1995<br />

§ 23.<br />

1<br />

Der Regierungsrat kann, soweit und solange dies mit Rücksicht auf ein ordnungsgemässes Studium<br />

oder auf die durch die Möglichkeiten des Kantons bedingteAufnahmefähigkeit der Universität erforderlich<br />

ist, für bestimmte Fakultäten oder Lehrgebiete die Zulassung zur<br />

Immatrikulation sowie die Dauer derselben beschränken.<br />

2<br />

Voraussetzung hiefür ist die Anhörung des Universitätsrates, des Rektorates, der betroffenen Fakultät,<br />

der Regenz und der Planungskommission.<br />

3<br />

DieAusführungsbestimmungen werden nach Anhörung des Universitätsrates, des Rektorats und der<br />

Regenz durch den Regierungsrat erlassen.<br />

- 31 -


Gesetz über die Verwaltungsgebühren<br />

Vom 9. März 1972<br />

Verwaltungsgebühren, Benützungsgebühren<br />

§ 1.<br />

1<br />

Die Verwaltungsbehörden des Kantons und der Gemeinden erheben für Tätigkeiten, die sie in Erfüllung<br />

ihrer Aufgaben vornehmen,<br />

sowie für die Erteilung von Bewilligungen oder Konzessionen und für die Benützung öffentlicher Einrichtungen<br />

Gebühren nach den Bemessungsgrundsätzen in den §§ 2 und 3.<br />

Gebührenrahmen oder Tarife<br />

§ 4.<br />

Die Gebührenrahmen oder Tarife werden durch den Regierungsrat oder die obersten Exekutivbehörden<br />

der Gemeinden nach den Grundsätzen der §§ 2 und 3 auf dem Verordnungswege festgesetzt.<br />

Fragen bezüglich der Falllösung:<br />

1) Auf welche Rügegründe können sich die Beschwerdeführer stützen?<br />

2) Welche Argumente können gegen die Verordnung vorgebracht werden?¨<br />

3) Welche Bedeutung ist der Tatsache zuzumessen, dass an den Universitäten der<br />

Westschweiz keine Zulassungsbeschränkungen eingeführt wurden?<br />

4) Wie sollte Ihres Erachtens das Urteil begründet sein und ausfallen?<br />

[BGE 125 I 173 / Numerus Clausus Basel]<br />

- 32 -


2. Solothurner Grundbuchabgabe<br />

Die Ehegatten X. errichteten mit Pfandvertrag Nr. 173 und 174 zwei Schuldbriefe über Fr.<br />

900'000.-- und Fr. 240'000.--. Die Amtsschreiberei der Stadt Solothurn stellte ihnen hierfür<br />

am 13. November 1995 Rechnung über Fr. 2'238.--. Diese umfasste eine Errichtungsgebühr<br />

von Fr. 1'400.-- zuzüglich einer Löschungsgebühr von Fr. 70.-- und Auslagen von Fr. 20.--<br />

für den Pfandvertrag Nr. 173 sowie eine Errichtungsgebühr von Fr. 720.-- und Auslagen von<br />

Fr. 15.-- für den Pfandvertrag Nr. 174. Bei der Festlegung der Gebührenhöhe stellte die<br />

Amtsschreiberei auf die vereinbarte Pfandsumme ab, wobei sie bestehende Pfandrechte anrechnete<br />

(vgl. § 146 des Solothurner Gebührentarifs vom 24. Oktober 1979; im Weitern:<br />

GT/ SO).<br />

Auf Beschwerde der Ehegatten X. hin bestätigten das Finanzdepartement und das Steuergericht<br />

des Kantons Solothurn diese Berechnungsweise. Sie gingen in ihren Entscheiden davon<br />

aus, bei der "Gebühr" nach § 146 GT/SO handle es sich um eine grundsätzlich zulässige<br />

pauschalierte Kausalabgabe, womit nicht nur die Errichtung bzw. Eintragung des Pfandvertrags,<br />

sondern auch die Kosten der Grundbuchverwaltung sowie der weiteren Dienstleistungen<br />

der Amtsschreiberei abgegolten würden. In der Stelltungnahme zuhanden des Steuergerichts<br />

hat das Finanzdepartement zudem ausgeführt, aus der Staatsrechnung 1995 ergebe<br />

sich, dass die Amtsschreibereien 24 Mio. Franken bei einem Gesamtaufwand von rund 18,7<br />

Mio. Franken erwirtschaftet hätten; im Voranschlag 1996 stünden einem Ertrag von 19,3<br />

Mio. Ausgaben von 19,27 Mio. Franken gegenüber. In beiden Fällen seien dabei aber unter<br />

anderem die Weiterbildungs- und Infrastrukturkosten (Raummiete) nicht berücksichtigt. Die<br />

detaillierten Unterlagen zur Amtsschreiberei Olten-Gösgen zeigten, einen Kostendeckungsgrad<br />

der gesamten Amtsschreiberei von 94,7%.<br />

Das Finanzdepartement und Steuergericht des Kantons Solothurn urteilten, dass im Verhältnis<br />

zur wiederkehrenden Verzinsung des aufgenommenen und durch den Schuldbrief gesicherten<br />

Kapitals, die bei 4% und Fr. 900'000.-- jährlich Fr. 36'000.-- betrage, und im Verhältnis<br />

zum ebenfalls jährlich anfallenden geringen Vermögenssteuerwert eine einmalige Gebühr<br />

von 2,5 o/oo nicht unangemessen erscheine.<br />

Die Ehegatten X. erheben hiergegen staatsrechtliche Beschwerde.<br />

Gesetzliche Grundlagen:<br />

Verfassung des Kantons Solothurn<br />

vom 8. Juni 1986<br />

Art. 71. Rechtsetzung<br />

1 Der Kantonsrat erlässt alle grundlegenden und wichtigen Bestimmungen in Form des Gesetzes. Er<br />

kann an der Vorbereitung der Gesetzgebung mitwirken.<br />

2 Er erlässt unter Vorbehalt von Absatz 1 die Einführungsvorschriften zu Bundesgesetzen und Bundesbeschlüssen<br />

in Form der Verordnung. Er kann diese Befugnis im Einzelfall dem Regierungsrat übertragen.<br />

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Art. 76. Weitere Befugnisse<br />

1 Der Kantonsrat<br />

a) übt die Oberaufsicht aus über alle Behörden und Organe, die kantonale Aufgaben wahrnehmen;<br />

b) kann den Departementen ständige beratende Fachkommissionen beigeben;<br />

c) . . .1)<br />

d) übt das Recht der Amnestie und, soweit es durch Gesetz nicht dem Regierungsrat übertragen ist,<br />

der Begnadigung aus;<br />

e) befindet über Beschwerden und Petitionen im Rahmen seiner Zuständigkeit;<br />

f) entscheidet über Kompetenzkonflikte, soweit nicht ein Gericht zuständig ist;<br />

g) übt die den Kantonen in der Bundesverfassung eingeräumten Mitwirkungsrechte aus (Art. 86, 89,<br />

89 und 93 BV)1);<br />

h) kann zu den Vernehmlassungen, die der Regierungsrat an Bundesbehörden richtet, Stellung nehmen.<br />

2 Weitere Zuständigkeiten können dem Kantonsrat durch Gesetz eingeräumt werden.<br />

3 Durch die Gesetzgebung ist die Erteilung wichtiger Konzessionen dem Kantonsrat zu übertragen.<br />

Art. 132. Kantonale Steuern<br />

1 Der Kanton kann folgende Steuern erheben:<br />

a) Personal-, Einkommens- und Vermögenssteuer von den natürlichen Personen;<br />

b) Gewinn- und Kapitalsteuer von den juristischen Personen;<br />

c) Steuern auf Grundstückgewinnen und auf nicht periodischen Einkünften;<br />

d) Finanzausgleichssteuer von den juristischen Personen;<br />

e) Spitalsteuer;<br />

f) Handänderungssteuer;<br />

g) Erbschaftssteuer und Nachlasstaxe;<br />

h) Motorfahrzeugsteuer;<br />

i) Schiffssteuer;<br />

k) Schenkungssteuer;<br />

l) Hundesteuer.<br />

2 Zweckgebundene Steuern dürfen nur so lange erhoben werden, als sie benötigt werden.<br />

3 Die Einführung neuer kantonaler Steuern bedarf einer verfassungsrechtlichen Grundlage.<br />

Gesetz über die Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches<br />

vom 4. April 1954<br />

§ 371. C. Gebührentarif<br />

Der Kantonsrat bestimmt im Gebührentarif die von den administrativen und richterlichen Behörden zu<br />

erhebenden Gebühren und Kostenansätze sowie die Entschädigungen für die Personen, welche als<br />

Verteidiger, Rechtsanwalt, Notar, Prozesspartei, Zeuge, Sachverständiger, Liquidator, Übersetzer oder<br />

andere Hilfsperson im richterlichen und administrativen Verfahren tätig sind. Er ordnet im Gebührentarif<br />

auch den unentgeltlichen Rechtsbeistand.<br />

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Gebührentarif Kantonsratsbeschluss<br />

vom 24. Oktober 1979<br />

§ 146.<br />

1<br />

Errichtung und Aufteilung eines Grundpfandrechtes oder Erhöhung der Pfandsumme, von der Pfandsumme:<br />

3 Promille von den ersten 500’000 Franken<br />

2 Promille von den nächsten 500’000 Franken<br />

1 Promille vom 1 Million Franken übersteigenden Teil<br />

mindestens 100 Franken<br />

höchstens 6'000 Franken<br />

2 Die nach Absatz 1 berechnete und bezahlte Gebühr wird angerechnet:<br />

a) bei der Aufteilung eines Grundpfandrechtes;<br />

b) bei der Errichtung eines Ersatzpfandrechtes;<br />

c) bei der Errichtung eines Ersatzpfandrechtes und gleichzeitiger<br />

Erhöhung der Pfandsumme.<br />

3<br />

Ausdehnung eines Grundpfandrechtes auf weitere Grundstücke,<br />

pro Grundstück 40 Franken<br />

4<br />

Umwandlung eines Namen- in ein Inhabergrundpfandrecht oder Umwandlung<br />

eines Inhaber- in ein Namengrundpfandrecht 40–200 Franken<br />

5<br />

Änderung von grundpfandrechtlichen Darlehensbestimmungen 40–200 Franken<br />

6<br />

Rangänderung und Rangrücktritt 20–200 Franken<br />

7<br />

Separate Begründung eines Nachrückungsrechtes 40–200 Franken<br />

Fragen bezüglich der Falllösung:<br />

1) Welche Rügen können von den Beschwerdeführern gegen den Entscheid vorgebracht<br />

werden?<br />

2) Zwischen welchen Grundsätzen muss das Bundesgericht in casu abwägen?<br />

3) Wie muss die Tatsache bewertet werden, dass der Gebührentarif nicht als formlles<br />

Gesetz, sondern als Kantonsratsbeschluss erlassen wurde?<br />

4) Worin bestehen das Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip und welches ist ihre<br />

Bedeutung im vorliegenden Fall?<br />

5) Inwiefern ist die Frage bedeutsam, ob es sich bei der vorliegenden Abgabe um eine<br />

Gemengsteuer handelt? Welche Argumente sprechen dafür, welche dagegen?<br />

[BGE 126 I 180 / Solothurner Grundbuchabgabe]<br />

- 35 -


BGE 109 V 52 / Bärtschi<br />

Fragen:<br />

1. Welches sind die Vorinstanzen des Bundesgerichts?<br />

2. Wer hat sich zur Beschwerde geäussert? Warum?<br />

3. Welcher zeitliche Ablauf ist für den Anspruch der Arbeitslosenversicherung relevant?<br />

4. Welches sind die einschlägigen rechtlichen Bestimmungen?<br />

5. Worin besteht die Diskrepanz zwischen dem Merkblatt und den gesetzlichen Bestimmungen?<br />

6. Warum soll man sich auch gegen den klaren Wortlaut des Gesetzes auf Treu und Glauben<br />

berufen können? Wie lässt sich dies rechtfertigen? Welche Gründe sprechen dagegen,<br />

welche dafür?<br />

7. Unter welcher Voraussetzung ist die Verwaltung an unrichtige Merkblätter gebunden?<br />

---------<br />

11. Urteil vom 14. April 1983 i.S. Bärtschi gegen Staatliche Arbeitslosenkasse Basel-Stadt<br />

und Schiedskommission für Arbeitslosenversicherung des Kantons Basel-Stadt<br />

Regeste<br />

Art. 24 Abs. 2 lit. b AlVG, Art. 9 Abs. 2 AlVB, Art. 12 Abs. 1 AlVV. Die für den Nachweis<br />

einer beitragspflichtigen Beschäftigung während mindestens 150 vollen Arbeitstagen geltende<br />

Frist von 365 Tagen bestimmt sich rückwirkend vom Zeitpunkt an, in welchem der Versicherte<br />

erstmals Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung geltend macht und die übrigen Anspruchsvoraussetzungen<br />

erfüllt, in der Regel somit vom ersten Stempeltag an (Erw. 1).<br />

Art. 4 BV, Grundsatz von Treu und Glauben. Voraussetzungen, unter welchen ein von der<br />

Verwaltung abgegebenes fehlerhaftes Merkblatt zu einer vom materiellen Recht abweichenden<br />

Entscheidung Anlass geben kann (Erw. 2, 3).<br />

Sachverhalt<br />

Modul III<br />

Grundsatz von Treu und Glauben / Rechtsmissbrauch<br />

A. -- Bärtschi war Direktor der Firma X. Im November 1979 kündigte er das Arbeitsverhältnis<br />

gemäss der vertraglichen Kündigungsfrist von zwölf Monaten auf den 30. November 1980.<br />

In der Folge wurde er auf den 28. Februar 1980 fristlos entlassen.<br />

Ab dem 29. Dezember 1980 unterzog sich Bärtschi der Stempelkontrolle und am 5. Januar<br />

1981 reichte er bei der Staatlichen Arbeitslosenkasse Basel-Stadt ein Taggeldgesuch ein. Mit<br />

Verfügung vom 15. Mai 1981 verneinte die Kasse die Anspruchsberechtigung für die ab dem<br />

- 36 -


29. Dezember 1980 gestempelten Tage, da sich der Versicherte im massgebenden Zeitraum<br />

(29. Dezember 1979 bis 28. Dezember 1980) lediglich über 54 volle beitragspflichtige Arbeitstage<br />

ausweisen könne.<br />

B. -- Mit Entscheid vom 30. März 1982 wies die kantonale Schiedskommission die gegen die<br />

Verfügung vom 15. Mai 1981 erhobene Beschwerde im wesentlichen mit der Begründung<br />

ab, dass der Versicherte den Nachweis, dass er in den 365 Tagen vor Geltendmachung des<br />

Anspruchs während mindestens 150 vollen Arbeitstagen eine beitragspflichtige Beschäftigung<br />

ausgeübt habe, selbst dann nicht zu erbringen vermöge, wenn die vergleichsweise bezogene<br />

Abgangsentschädigung als Lohnfortzahlung qualifiziert werde.<br />

C. -- Bärtschi erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Arbeitslosenkasse und Bundesamt für<br />

Industrie, Gewerbe und Arbeit beantragen deren Abweisung.<br />

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung<br />

1. -- Gemäss Art. 24 Abs. 2 lit. b AlVG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 AlVB und Art. 12<br />

Abs. 1 AlVV hat der Versicherte bei der erstmaligen Geltendmachung eines Anspruchs auf<br />

Arbeitslosenentschädigung im Kalenderjahr nachzuweisen, dass er in den 365 Tagen, die<br />

dem Beginn der Arbeitslosigkeit vorausgegangen sind, eine beitragspflichtige Beschäftigung<br />

von 150 vollen Arbeitstagen ausgeübt hat. Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 AlVV ist für die Berechnung<br />

dieses Zeitraumes der erste Tag massgebend, für den Arbeitslosenentschädigung<br />

beansprucht wird und an dem die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind.<br />

Die für den Nachweis einer beitragspflichtigen Beschäftigung während mindestens 150 vollen<br />

Arbeitstagen geltende Frist von 365 Tagen bestimmt sich demzufolge nicht rückwirkend<br />

vom ersten Tag, an welchem der Versicherte ohne Arbeit ist, sondern vom Zeitpunkt an, in<br />

welchem er erstmals einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung geltend macht und die<br />

übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, in der Regel somit vom ersten Stempeltag an (vgl.<br />

zu dem bis Ende März 1977 gültig gewesenen Art. 13 Abs. 1 alt AlVV: BGE 103-V-39, 102-<br />

V-190; ARV 1976 S. 87, 1975 S. 105, 1971 S. 34; EVGE 1956 S. 199).<br />

2. -- a) Der Beschwerdeführer hat erstmals am 29. Dezember 1980 die Stempelkontrolle besucht.<br />

Wird davon ausgegangen, dass in jenem Zeitpunkt die übrigen Anspruchsvoraussetzungen<br />

erfüllt waren, ist für den Nachweis der 150 vollen Arbeitstage die Zeitspanne vom<br />

29. Dezember 1979 bis 28. Dezember 1980 massgebend. Für diese Periode vermag sich der<br />

Beschwerdeführer nach den unbestritten gebliebenen Erwägungen der Vorinstanz nicht über<br />

eine beitragspflichtige Beschäftigung von 150 vollen Arbeitstagen auszuweisen.<br />

b) Der Beschwerdeführer macht indessen geltend, er habe anfangs März 1980 bei der Arbeitslosenkasse<br />

vorgesprochen und Auskunft über das Verhalten bei Arbeitslosigkeit verlangt,<br />

worauf ihm das vom Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit herausgegebene<br />

Merkblatt über die obligatorische Arbeitslosenversicherung (Übergangsordnung), Ausgabe<br />

1977, ausgehändigt worden sei. Darin heisse es unter Ziffer III. 1.b, dass "in den dem Beginn<br />

der Arbeitslosigkeit vorausgegangenen 365 Tagen" eine beitragspflichtige Beschäftigung<br />

von 150 Tagen nachzuweisen sei; dagegen werde nicht gesagt, dass (gemäss Art. 12<br />

Abs. 1 Satz 2 AlVV) für die Berechnung dieses Zeitraumes der erste Tag massgebend sei, für<br />

den Arbeitslosenentschädigung beansprucht werde und an dem die übrigen Anspruchsvoraussetzungen<br />

erfüllt seien. Hätte das Merkblatt diesen wichtigen Satz enthalten, so hätte er<br />

dementsprechend gehandelt. Aufgrund des Merkblattes habe er dagegen keinen Anlass ge-<br />

- 37 -


habt, sich unverzüglich der Stempelkontrolle zu unterziehen, da er in den dem Beginn der Arbeitslosigkeit<br />

vorausgegangenen 365 Tagen eine beitragspflichtige Beschäftigung von 150<br />

vollen Arbeitstagen ausgeübt habe. Dem Beschwerdeführer ist darin beizupflichten, dass das<br />

Merkblatt des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit über die obligatorische Arbeitslosenversicherung<br />

(Übergangsordnung) jedenfalls in der Ausgabe von 1977 mangelhaft<br />

ist. Es erweist sich im streitigen Punkt nicht nur als unvollständig, sondern als unzutreffend.<br />

Denn der (sinngemäss) wiedergegebene erste Satz des Art. 12 Abs. 1 AlVV, in welchem auf<br />

die 365 Tage, die dem Beginn der Arbeitslosigkeit vorausgegangen sind, Bezug genommen<br />

wird, ist irreführend, sofern nicht mit Satz 2 der Bestimmung klargestellt wird, was in diesem<br />

Zusammenhang unter "Beginn der Arbeitslosigkeit" zu verstehen ist. Dass von einem entsprechenden<br />

Hinweis abgesehen wurde, ist um so weniger verständlich, als eine wörtliche<br />

Auslegung des Merkblattes für den Versicherten zum Verlust der Anspruchsberechtigung<br />

führen kann.<br />

Ist das Merkblatt im streitigen Punkt als falsch zu qualifizieren, stellt sich die Frage, ob sich<br />

der Beschwerdeführer nach Treu und Glauben auf die Unrichtigkeit der ihm erteilten Auskunft<br />

berufen und damit erreichen kann, dass der für den Nachweis der vorausgesetzten Arbeitstage<br />

massgebende Zeitraum abweichend von der geltenden Regelung festzusetzen ist.<br />

3. -- a) Der Grundsatz von Treu und Glauben schützt den Bürger in seinem berechtigten Vertrauen<br />

auf behördliches Verhalten und bedeutet u.a., dass falsche Auskünfte von Verwaltungsbehörden<br />

unter bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende<br />

Behandlung des Rechtsuchenden gebieten. Gemäss Rechtsprechung und Doktrin ist eine falsche<br />

Auskunft bindend, 1. wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug auf bestimmte<br />

Personen gehandelt hat;.<br />

2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft zuständig war oder wenn der Bürger<br />

die Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte;.<br />

3. wenn der Bürger die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres erkennen konnte;.<br />

4. wenn er im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen hat, die<br />

nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können;.<br />

5. wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunfterteilung keine Änderung erfahren hat<br />

(BGE 108-V-181 Erw. 3, 107-V-160 Erw. 2, 106-V-143 Erw. 3 mit Hinweisen).<br />

b) Hinsichtlich der in Ziffer 1 genannten Voraussetzung ist festzustellen, dass ein von der<br />

Verwaltung herausgegebenes fehlerhaftes Merkblatt in der Regel keine vom materiellen<br />

Recht abweichende Behandlung zu begründen vermag, weil es sich an einen unbestimmten<br />

Adresrsatenkreis richtet und eine Vielzahl von Sachverhalten betrifft (vgl. Gueng, Zur Verbindlichkeit<br />

verwaltungsbehördlicher Auskünfte und Zusagen, ZBl 71 S. 475 ff.). Verlangt<br />

der Bürger aber zu einer bestimmten, ihn betreffenden Frage eine Auskunft und erteilt ihm<br />

die Behörde diese in Form der Abgabe eines Merkblattes (oder einer ähnlichen behördlichen<br />

Information), kann damit eine individuell-konkrete Zusicherung verbunden sein. Trifft dies zu,<br />

kann sich der Betroffene auf die Unrichtigkeit der Auskunft berufen, sofern die übrigen Voraussetzungen<br />

des Vertrauensschutzes erfüllt sind. Insoweit gilt auch hier, dass die Form, in<br />

welcher eine Auskunft erteilt wird, nicht entscheidend ist (vgl. BGE 105-Ib-159).<br />

- 38 -


Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer unwidersprochen geltend gemacht, er sei anfangs<br />

März 1980 bei der Kasse vorstellig geworden und habe "Auskunft über das Verhalten<br />

bei Arbeitslosigkeit" verlangt. Nähere Angaben darüber, wie das Gespräch verlief, fehlen. Im<br />

Hinblick darauf, dass die Vorsprache kurz nach Beginn der Arbeitslosigkeit stattfand, darf<br />

jedoch davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer nicht nur generell um Auskunft<br />

über die Arbeitslosenversicherung ersuchte bzw. um blosse Aushändigung des Merkblattes<br />

bat, sondern sich konkret bezüglich seines Falles erkundigte. Zwar ist nicht anzunehmen,<br />

dass er die heute relevante Frage stellte, wie sich der für den Nachweis der vorausgesetzten<br />

150 vollen Arbeitstage massgebende Zeitpunkt bestimmt. Hiezu hätte er aber von<br />

der entsprechenden Anspruchsvoraussetzung Kenntnis haben müssen. Diese Kenntnis kann<br />

ihm indessen nicht unterstellt werden, ging es ihm doch gerade darum, sich über seinen Fall<br />

von Arbeitslosigkeit zu erkundigen, was namentlich auch die Frage umfasste, was er allenfalls<br />

zur Wahrung seiner Versicherungsansprüche vorzukehren hatte. Es muss unter dem Gesichtspunkt<br />

des Vertrauensschutzes daher genügen, dass er Auskunft über sein "Verhalten<br />

bei Arbeitslosigkeit" verlangt hat.<br />

c) Als erfüllt zu erachten sind auch die übrigen Voraussetzungen des Vertrauensschutzes.<br />

Offensichtlich ist, dass die Arbeitslosenkasse zur Erteilung der fraglichen Auskunft zuständig<br />

war (Ziffer 2). Auch hat die gesetzliche Ordnung im massgebenden Punkt seit der Auskunfterteilung<br />

keine Änderung erfahren (Ziffer 5). Mit Bezug auf Ziffer 3 ist nach dem Gesagten<br />

festzustellen, dass der Beschwerdeführer von der geltenden Regelung weder Kenntnis hatte<br />

noch Kenntnis haben musste, weshalb er auch die Unrichtigkeit der ihm mit dem Merkblatt<br />

erteilten Auskunft nicht erkennen konnte. Was schliesslich die im Vertrauen auf die Richtigkeit<br />

der Auskunft vorgenommenen nachteiligen Dispositionen betrifft (Ziffer 4), macht der<br />

Beschwerdeführer glaubhaft geltend, er wäre rechtzeitig stempeln gegangen, wenn er darüber<br />

orientiert worden wäre, dass die 365 Tage, während denen er 150 volle Arbeitstage<br />

nachzuweisen hat, ab erstem Stempeltag (bzw. ab dem Zeitpunkt, in welchem erstmals ein<br />

Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung geltend gemacht wird und die übrigen Anspruchsvoraussetzungen<br />

erfüllt sind) zurückgerechnet werden. Wohl machte er noch einen Lohnanspruch<br />

gegenüber der früheren Arbeitgeberin geltend; dies hätte ihn jedoch nicht daran gehindert,<br />

sich der Stempelkontrolle zu unterziehen.<br />

4. -- Zusammengefasst ergibt sich somit, dass die Voraussetzungen für eine vom materiellen<br />

Recht abweichende Beurteilung nach dem Vertrauensgrundsatz erfüllt sind. Dabei ist davon<br />

auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer bei richtiger Auskunft spätestens Ende März<br />

1980 der Stempelkontrolle unterzogen hätte. Weil anzunehmen ist, dass er in diesem Zeitpunkt<br />

auch die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt hätte, ist das Erfordernis der 150<br />

vollen Arbeitstage aufgrund der Zeitspanne vom 1. April 1979 bis 31. März 1980 zu prüfen,<br />

was unzweifelhaft ergibt, dass der verlangte Nachweis erbracht ist. Der Beschwerdeführer<br />

hat daher grundsätzlich Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, welche von der Arbeitslosenkasse<br />

festzusetzen ist..<br />

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:<br />

In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid der Schiedskommission<br />

für Arbeitslosenversicherung des Kantons Basel-Stadt vom 30. März 1982 und die<br />

Verfügung der Staatlichen Arbeitslosenkasse Basel-Stadt vom 15. Mai 1981 aufgehoben,<br />

und es wird die Sache an die Arbeitslosenkasse zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen<br />

über den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung verfüge.<br />

- 39 -


BGE 127 II 49 / Aufenthaltsbewilligung<br />

Frage:<br />

1) Welche Verfügungen wurden vorliegend erlassen? Welche Instanzen haben vor dem Bundesgericht<br />

wie entschieden? Warum kommt der Fall überhaupt an das Bundesgericht?<br />

2) Was ist der genaue Zweck von Art. 7 Abs. 2 ANAG?<br />

3) Worin besteht in casu der Rechtsmissbrauch?<br />

4) In welcher Beziehung steht Art. 7 Abs. 2 ANAG zur Figur des Rechtsmissbrauches?<br />

5) Wie verhält sich nach Auffassung des Bundesgerichts das Ausländerrecht zum Schweizerischen<br />

Eherecht?<br />

6) Welche Gründe sind für die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesgericht ausschlaggebend?<br />

Teilen Sie die Meinung des Bundesgerichts?<br />

7) Wie muss der vorliegende Fall nach der Rechtslage beurteilt werden, wie sie sich mit dem<br />

Erlass des Ausländergesetzes ergäbe?<br />

---------<br />

5. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 26. Januar 2001 i.S. A.<br />

gegen Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)<br />

Sachverhalt<br />

Die russische Staatsangehörige A., geboren 1959,–reiste am 15. November 1994 in die<br />

Schweiz ein. Am 13. Januar 1995 heiratete sie den Schweizer Bürger B., worauf ihr am 2.<br />

März 1995 eine ordentliche Aufenthaltsbewilligung zum Verbleib bei ihrem Ehemann im Kanton<br />

Zürich erteilt wurde. Im Mai 1995 verliess A. die eheliche Wohnung und stellte ein Eheschutzbegehren.<br />

Anfangs Juni 1995 reichte ihr Ehemann in Zürich Ehescheidungsklage ein,<br />

zog diese aber am 26. Juni 1995 anlässlich der Sühneverhandlung wieder zurück, worauf A.<br />

ihrerseits das Eheschutzbegehren sowie eine gegen ihren Ehemann eingereichte Strafklage<br />

wegen Körperverletzung bzw. Tätlichkeit zurückzog. Am 11. Dezember 1995 machte B. eine<br />

Ehescheidungsklage beim Bezirksgericht Zurzach AG anhängig, welches mit Urteil vom 26.<br />

Juni 1996 mangels örtlicher Zuständigkeit nicht darauf eintrat; das Obergericht des Kantons<br />

Aargau bestätigte diesen Entscheid. Im Juli 1996 meldete sich B. nach England ab und hinterlegte<br />

seinen Heimatschein in der Gemeinde X. Später gab er eine Adresse in Y., Österreich,<br />

an. Mit Verfügung vom 17. September 1996 verweigerte die Fremdenpolizei des Kantons<br />

Zürich A. die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung mit der Begründung, die weitere<br />

Anwesenheit in der Schweiz habe nicht mehr die Fortsetzung bzw. die Wiederaufnahme des<br />

Ehelebens zum Ziel, weshalb sich die Berufung auf die Ehe als rechtsmissbräuchlich erweise.<br />

Einen dagegen erhobenen Rekurs wies der Regierungsrat des Kantons Zürich am 10. Juni<br />

1998 ab. Mit Entscheid vom 25. November 1998 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons<br />

Zürich die von A. gegen den Rekursentscheid des Regierungsrates erhobene Beschwerde gut<br />

und lud die Fremdenpolizei ein, die nachgesuchte Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Mit Ver-<br />

- 40 -


fügung vom 4. Februar 1999 verweigerte das Bundesamt für Ausländerfragen die Zustimmung<br />

zur Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung. Es ging in seiner Begründung davon aus,<br />

die Ehe B.-A. müsse, nachdem sich der Ehemann seit über zwei Jahren im Ausland aufhalte,<br />

als gescheitert angesehen werden und mit einer Wiederaufnahme des Familienlebens könne<br />

nicht mehr gerechnet werden, weshalb sich die Berufung auf die Ehe als rechtsmissbräuchlich<br />

erweise. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement wies mit Entscheid vom 28.<br />

April 2000 die von A. gegen die Verfügung des Bundesamtes für Ausländerfragen eingereichte<br />

Beschwerde ab. Mit Eingabe vom 30. Mai 2000 hat A. beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

eingereicht. Sie beantragt, der Entscheid des Eidgenössischen Justiz-<br />

und Polizeidepartements vom 28. April 2000 sei aufzuheben und das Bundesamt für Ausländerfragen<br />

sei anzuweisen, die Zustimmung zur Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung<br />

zu erteilen. Das Bundesgericht weist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab.<br />

Auszug aus den Erwägungen<br />

4.- a) Gemäss Art. 7 Abs. 1 Satz 1 ANAG hat der ausländische Ehegatte eines Schweizer<br />

Bürgers Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung. Des Weiteren<br />

hat er nach einem ordnungsgemässen und ununterbrochenen Aufenthalt von fünf Jahren Anspruch<br />

auf die Niederlassungsbewilligung (Art. 7 Abs. 1 Satz 2 ANAG). Kein Anspruch besteht<br />

indessen, wenn die Ehe eingegangen worden ist, um die Vorschriften über Aufenthalt<br />

und Niederlassung von Ausländern und namentlich jene über die Begrenzung der Zahl der<br />

Ausländer zu umgehen (Art. 7 Abs. 2 ANAG). Erfasst wird davon die sog. Scheinehe bzw.<br />

Ausländerrechtsehe, bei der die Ehegatten von vornherein keine echte eheliche Gemeinschaft<br />

beabsichtigen (BGE 122 II 289 E. 2 S. 294 ff.; 121 II1 E. 2 S. 2 ff., 97 E. 3 S. 101 ff.).<br />

5.- a) Auch wenn die Ehe nicht bloss zum Schein eingegangen worden ist, heisst dies jedoch<br />

nicht zwingend, dass dem ausländischen Ehepartner der Aufenthalt ungeachtet der<br />

weiteren Entwicklung gestattet werden muss. Zu prüfen ist, ob sich die Berufung auf die Ehe<br />

nicht als rechtsmissbräuchlich erweist. Dies ist nach der Rechtsprechung dann der Fall, wenn<br />

der Ausländer sich im fremdenpolizeilichen Verfahren auf eine Ehe beruft, welche nur noch<br />

formell besteht oder aufrechterhalten wird mit dem alleinigen Ziel, dem Ausländer eine Anwesenheitsbewilligung<br />

zu ermöglichen. Dieses Ziel wird von Art. 7 ANAG nicht geschützt<br />

(BGE 123 II 49 E. 4 und 5 S. 50 ff.; 121 II 97 E. 2 und 4 S. 100 f. bzw. 103 ff.). Rechtsmissbrauch<br />

liegt insbesondere dann vor, wenn ein Rechtsinstitut zweckwidrig zur Verwirklichung<br />

von Interessen verwendet wird, die dieses Rechtsinstitut nicht schützen will (BGE 121<br />

I 367 E. 3b S. 375; 121 II 97 E. 4 S. 103; 110 Ib 332 E. 3a S. 336 f.; 94 I 659 E. 4 S.<br />

667). Rechtsmissbrauch darf aber nicht leichthin angenommen werden, namentlich nicht<br />

schon deshalb, weil die Ehegatten nicht mehr zusammenleben oder ein Eheschutz- oder<br />

Scheidungsverfahren eingeleitet worden ist. Gerade darum, weil der ausländische Ehegatte<br />

nicht der Willkür des schweizerischen ausgeliefert sein soll, hat der Gesetzgeber darauf verzichtet,<br />

die Erteilung der Aufenthaltsbewilligung vom ehelichen Zusammenleben abhängig zu<br />

machen (BGE 121 II 97 E. 2 und 4a S. 100 f. bzw. 103; ausführlich: BGE 118 Ib 145 E. 3<br />

S. 149 ff.; vgl. auch BGE 126 II 265 E. 2b S. 267 f.; anders dagegen Art. 44 Abs. 1 des im<br />

Juli 2000 in die Vernehmlassung gegebenen Entwurfs für ein Bundesgesetz für Ausländerinnen<br />

und Ausländer, vgl. dazu S. 20 des Begleitberichts). Rechtsmissbrauch liegt aber immerhin<br />

dann vor, wenn der ausländische Ehegatte sich auf eine Ehe beruft, die nur noch formell<br />

aufrechterhalten wird mit dem einzigen Ziel, die Aufenthaltsbewilligung erhältlich zu machen<br />

(BGE 121 II 97 E. 4a in fine S. 104). Erforderlich sind konkrete Hinweise darauf, dass die<br />

Ehegatten nicht (mehr) eine eigentliche Lebensgemeinschaft führen wollen, sondern die Ehe<br />

nur aus fremdenpolizeilichen Überlegungen aufrechterhalten wird. Wie es sich damit verhält,<br />

- 41 -


entzieht sich in der Regel einem direkten Beweis und ist oft - wie bei der Scheinehe (BGE<br />

122 II 289 E. 2b S. 295) oder früher bei der Bürgerrechtsehe (BGE 98 II 1) - nur durch Indizien<br />

zu erstellen.<br />

b) Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass zumindest nach den Akten nicht<br />

bekannt ist, wo sich der Ehegatte der Beschwerdeführerin zurzeit aufhält bzw. ob dieser überhaupt<br />

noch in der Schweiz wohnhaft ist, hat er sich doch offenbar weder im Ausland an-<br />

noch in der Schweiz zurückgemeldet. Das Bundesgericht hat in Fällen, wo der schweizerische<br />

Ehegatte im Ausland Wohnsitz hatte, der ausländische Ehegatte aber eine Aufenthaltsbewilligung<br />

in der Schweiz verlangte, erklärt, eine solche Inanspruchnahme des Anwesenheitsrechts<br />

aus Art. 7 ANAG sei - besondere Umstände vorbehalten - rechtsmissbräuchlich<br />

(unveröffentlichte Urteile des Bundesgerichts vom 8. April 1997 i.S. Ertas, vom 26. März<br />

1998 i.S. Majerova sowie vom 7. September 1998 i.S. Läuffer). Die Beschwerdeführerin<br />

stellt sich auf den Standpunkt, da ihr Ehemann seit dem Zeitpunkt der erstmaligen Erteilung<br />

ihrer Aufenthaltsbewilligung in Zürich keinen neuen Wohnsitz begründet habe, bestehe dieser<br />

gemäss Art. 24 Abs. 1 ZGB weiterhin, weshalb sie nach wie vor Anspruch auf Erteilung und<br />

Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung habe. Die Beschwerdeführerin verkennt jedoch,<br />

dass in den zitierten Entscheiden der Rechtsmissbrauch nicht allein darin erblickt wurde, dass<br />

der schweizerische Ehegatte seinen Wohnsitz nicht mehr in der Schweiz hatte. Im Umstand,<br />

dass sich der schweizerische Ehegatte seit längerer Zeit im Ausland aufhielt und keine Kontakte<br />

mehr zwischen den Ehegatten unterhalten wurden, wurde vielmehr ein entscheidendes<br />

Indiz dafür erblickt, dass die Ehe endgültig gescheitert sei und mit einer Wiederaufnahme des<br />

Familienlebens nicht mehr gerechnet werden könne. Dies kann indessen auch dann vorkommen,<br />

wenn beide Ehegatten ihren Wohnsitz in der Schweiz haben (vgl. BGE 121 II 97 E. 4 S.<br />

103 ff. sowie BGE 126 II 265 E. 2c S. 268 f.). Selbst wenn der Ehemann der Beschwerdeführerin<br />

seinen zivilrechtlichen Wohnsitz nach wie vor im Bewilligungskanton haben sollte,<br />

schliesst dies nach dem Gesagten nicht aus, dass sich die Berufung auf die Ehe im fremdenpolizeilichen<br />

Bewilligungsverfahren als rechtsmissbräuchlich erweist, was dann der Fall ist,<br />

wenn die Ehe nur noch formell und mit dem alleinigen Ziel aufrechterhalten wird, weiterhin<br />

die Aufenthaltsbewilligung zu erhalten.<br />

c) Aus dem Sachverhalt ergibt sich, dass es beim Ehepaar B.-A. bereits in den ersten Monaten<br />

nach der Heirat zum Zerwürfnis gekommen ist und sich die Ehegatten im Mai 1995 getrennt<br />

haben. In der Folge stellte die Beschwerdeführerin ein Eheschutzgesuch, ihr Ehemann<br />

reichte eine Scheidungsklage ein. Diese Begehren wurden zwar anlässlich der Sühneverhandlung<br />

wieder zurückgezogen, doch reichte der Ehemann noch im selben Jahr erneut eine<br />

Scheidungsklage ein, auf welche allerdings mangels Zuständigkeit nicht eingetreten wurde.<br />

Noch während hängigem Scheidungsverfahren liess B. verlauten, dass für ihn eine Wiederaufnahme<br />

der ehelichen Gemeinschaft definitiv nicht mehr in Frage komme und dass er sich<br />

per Juli 1996 ins Ausland abmelde. Seither kam es offenbar zu keinem Kontakt mehr zwischen<br />

der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann. Auch wenn die Beschwerdeführerin eine<br />

Wiedervereinigung nicht ausschliesst, kann angesichts der dargestellten Sachlage kein Zweifel<br />

daran bestehen, dass ihre Ehe als nur noch formell aufrechterhalten anzusehen ist. Mit<br />

Blick auf die Art und Weise des Untertauchens von B. und in Berücksichtigung des Umstandes,<br />

dass er sich seit mehreren Jahren nicht mehr bei seiner Frau gemeldet hat, drängt sich<br />

die Annahme auf, er schliesse ein weiteres eheliches Zusammenleben kategorisch aus. Dass<br />

er angeblich in erster Linie auf der Flucht vor den Gläubigern sein soll, vermag - entgegen der<br />

Auffassung der Beschwerdeführerin - nicht hinreichend zu erklären, weshalb es zum Abbruch<br />

jeglichen Kontakts zwischen den Ehegatten gekommen ist. Vielmehr entsteht der Eindruck,<br />

B. habe sich gezielt vor seiner Ehefrau zu verbergen versucht, zumal er sich offenbar zwischenzeitlich<br />

auch in Zürich aufgehalten haben soll, ohne sich bei ihr zu melden. Ebenso we-<br />

- 42 -


nig kann aus der Tatsache, dass B. keinen weiteren Versuch unternommen hat, die Ehe zu<br />

scheiden, gefolgert werden, er halte eine Wiedervereinigung für möglich oder gar wünschbar.<br />

Im Übrigen scheint sich auch die Beschwerdeführerin mit dem Scheitern ihrer Ehe abgefunden<br />

zu haben, hat sie doch ihrerseits Bereitschaft signalisiert, Verhandlungen über eine<br />

Scheidungskonvention an die Hand zu nehmen. Nach dem Gesagten ist die tatsächliche Annahme<br />

der Vorinstanz, die Ehe B.-A. bestehe nur noch formell und mit einer Wiederaufnahme<br />

der ehelichen Gemeinschaft sei realistischerweise nicht mehr zu rechnen, nicht zu beanstanden.<br />

d) Die Beschwerdeführerin macht geltend, es treffe sie an der bestehenden Situation keine<br />

Verantwortung, weshalb ihr nicht Rechtsmissbrauch vorgeworfen werden könne. Aufgrund<br />

des Untertauchens ihres Ehemannes sei sie gezwungen, vorerst an ihrer Ehe festzuhalten.<br />

Nur so bestehe überhaupt eine Chance, mit ihrem Gatten wieder in Kontakt zu kommen, um<br />

zu versuchen, die eheliche Gemeinschaft wieder aufzunehmen, oder aber um ein Scheidungs-<br />

oder ein Trennungsverfahren durchführen zu können. Obschon die Aufenthaltsbewilligung<br />

gemäss Art. 7 ANAG weder vom gemeinsamen Wohnsitz der Ehegatten (oben E. 5a) noch<br />

davon abhängt, dass die Ehe intakt ist (veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 17.<br />

Dezember 1999 i.S. Pulia, E. 3b), liegt der Gesetzeszweck doch primär darin, die Aufnahme<br />

des Familienlebens in der Schweiz zu ermöglichen und abzusichern. Vorliegend ist indessen<br />

mit einer Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft nicht mehr zu rechnen (oben E. 5c).<br />

Insofern lässt sich die Situation auch nicht mit jener einer im Rahmen von Eheschutzmassnahmen<br />

(Art. 172 ff. ZGB) angeordneten gerichtlichen Trennung vergleichen, bei der es auf<br />

eine mögliche Wiederannäherung der Ehegatten Rücksicht zu nehmen gilt (unveröffentlichtes<br />

Urteil des Bundesgerichts vom 31. Januar 2000 i.S. Sertdemir, E. 3b). Sodann ist gemäss<br />

den Akten ein Scheidungsverfahren, welches durch fremdenpolizeiliche Massnahmen nicht<br />

tangiert werden dürfte, weder hängig, noch ist unter den gegebenen Umständen mit der Anhebung<br />

eines solchen in absehbarer Zeit zu rechnen. Vielmehr hat sich die Beschwerdeführerin<br />

offenbar darauf eingerichtet, die nur noch formell bestehende Ehe trotz mehrjähriger faktischer<br />

Trennung und fehlender Aussicht auf Wiedervereinigung auch weiterhin aufrecht zu<br />

erhalten. Auf eine derartige Beanspruchung des Aufenthaltsrechts des ausländischen Ehegatten<br />

in der Schweiz ist Art. 7 ANAG indessen nicht ausgerichtet. Vorliegend dient die Ehe<br />

einzig noch dem Zweck, dem ausländischen Ehegatten den Verbleib in der Schweiz zu sichern,<br />

weshalb sich die Berufung auf Art. 7 ANAG als rechtsmissbräuchlich erweist. Daran<br />

ändert sich auch nichts, wenn der Argumentation der Beschwerdeführerin gefolgt wird, wonach<br />

allein das Verhalten ihres Ehemannes die Klärung der ehelichen Situation verunmögliche.<br />

Ist mit einer Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft offensichtlich nicht mehr zu<br />

rechnen, spielen die Gründe für das Scheitern der Ehe wie auch der Umstand, dass die Beschwerdeführerin<br />

von ihrem Ehemann offenbar vor der faktischen Trennung geschlagen worden<br />

ist, für die Frage des Rechtsmissbrauchs, welche aus heutiger Sicht zu beurteilen ist,<br />

keine Rolle. Zu berücksichtigen ist dagegen die seit dem verwaltungsgerichtlichen Urteil eingetretene<br />

Entwicklung (vgl. Art. 105 Abs. 2 OG e contrario), welche dadurch gekennzeichnet<br />

ist, dass die fragliche Ehe nach wie vor nur auf dem Papier besteht und die Beschwerdeführerin<br />

diesen Zustand bis auf weiteres so belassen will.<br />

- 43 -


Gesetzliche Grundlagen:<br />

Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) vom 26. März 1931<br />

Art. 7<br />

1 Der ausländische Ehegatte eines Schweizer Bürgers hat Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der<br />

Aufenthaltsbewilligung. Nach einem ordnungsgemässen und ununterbrochenen Aufenthalt von fünf<br />

Jahren hat er Anspruch auf die Niederlassungsbewilligung. Der Anspruch erlischt, wenn ein Ausweisungsgrund<br />

vorliegt.<br />

2 Kein Anspruch besteht, wenn die Ehe eingegangen worden ist, um die Vorschriften über Aufenthalt<br />

und Niederlassung von Ausländern und namentlich jene über die Begrenzung der Zahl der Ausländer zu<br />

umgehen.<br />

Entwurf zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer<br />

Art. 41 Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern<br />

1 Ausländische Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern haben Anspruch auf Erteilung<br />

und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, wenn sie mit diesen zusammenwohnen.<br />

2 Als Familienangehörige gelten:<br />

a. der Ehegatte und die Verwandten in absteigender Linie, die unter 21 Jahre alt sind oder denen Unterhalt<br />

gewährt wird;<br />

b. die eigenen Verwandten und die Verwandten des Ehegatten in aufsteigender Linie, denen Unterhalt<br />

gewährt wird.<br />

3 Nach einem ordnungsgemässen und ununterbrochenen Aufenthalt von fünf Jahren haben die Ehegatten<br />

Anspruch auf Erteilung der Niederlassungsbewilligung.<br />

4 Kinder unter 14 Jahren haben Anspruch auf Erteilung der Niederlassungsbewilligung.<br />

Art. 48 Ausnahmen vom Erfordernis des Zusammenwohnens<br />

Das Erfordernis des Zusammenwohnens nach den Artikeln 41–43 besteht nicht, wenn für getrennte<br />

Wohnorte wichtige Gründe geltend gemacht werden und die Familiengemeinschaft weiter besteht.<br />

Art. 49 Auflösung der Familiengemeinschaft<br />

Nach Auflösung der Familiengemeinschaft besteht der Anspruch der Ehegatten und<br />

Kinder auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nach den Artikeln<br />

41–43 weiter, wenn wichtige persönliche Gründe einen weiteren Aufenthalt in<br />

der Schweiz erforderlich machen. Die Frist zur Erteilung der Niederlassungsbewilligung<br />

richtet sich nach Artikel 33.<br />

- 44 -


Sachverhalt<br />

Postbote<br />

Vom 13. Juni bis zum 3. Juli 1997 legte der Gemeinderat Untersiggenthal ein Baugesuch<br />

von K. und der Firma I. öffentlich auf. Gegen das Vorhaben erhoben unter anderem R.W. und<br />

B.W. sowie H.Y. und U.Y. Einsprache. Diese wies der Gemeinderat am 9. Februar 1998 ab,<br />

soweit die darin erhobenen Forderungen nicht durch eine angeordnete Projektüberarbeitung<br />

erfüllt waren. Dieser am 12. Februar 1998 der Post übergebene Beschluss konnte dem seinerzeitigen<br />

Rechtsanwalt der genannten Einsprecher vorerst nicht zugestellt werden. Deshalb<br />

legte der Postbote eine Abholeinladung in den Briefkasten des Anwalts, mit welcher dieser<br />

aufgefordert wurde, den eingeschriebenen Brief vom 14. bis zum 23. Februar 1998 bei der<br />

Hauptpost von Baden abzuholen. Dieser Aufforderung kam der Anwalt am 23. Februar 1998<br />

nach und führte gegen den Beschluss des Gemeinderats am 16. März 1998 (einem Montag)<br />

Verwaltungsbeschwerde an das Baudepartement des Kantons Aargau. Am 19. März 1999<br />

entschied das Baudepartement, auf diese Beschwerde einzutreten, wies die Beschwerde jedoch<br />

in der Sache ab. Gegen den Entscheid des Baudepartements vom 19. März 1999 führten<br />

sowohl K. und die Firma I. als auch R.W. und B.W. sowie H.Y. und U.Y. kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde.<br />

Mit Urteil vom 2. März 2000 beschränkte sich das Verwaltungsgericht auf einen Teilentscheid,<br />

in erster Linie zur Frage der Rechtzeitigkeit der Beschwerde an das Baudepartement<br />

vom 16. März 1998. Es erwog, dass diese Beschwerde nicht rechtzeitig gewesen sei, da die<br />

Sendung im Sinne der Zustellfiktion sieben Tage nach Erhalt der Abholeinladung als zugegangen<br />

gelte und die Beschwerdefrist von 20 Tagen somit nicht eingehalten worden sei. Ein<br />

Wiederherstellungsgesuch sei nicht rechtzeitig gestellt worden und wäre abzulehnen gewesen,<br />

weil den damaligen Vertreter ein Verschulden am Verpassen der Frist getroffen habe.<br />

Daher hiess das Verwaltungsgericht die Beschwerde von K. und der Firma I. gut, hob den<br />

Entscheid des Baudepartements auf und ersetzte ihn durch den Entscheid, auf die Beschwerde<br />

von R.W. und B.W. sowie H.Y. und U.Y. gegen die Baubewilligung nicht einzutreten.<br />

R.W. und B.W. sowie H.Y. und U.Y. führen gegen den Teilentscheid des Verwaltungsgerichts<br />

staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, diesen aufzuheben.<br />

- 45 -


Auszug aus den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Schweizerischen Post<br />

Allgemeine Geschäftsbedingungen "Postdienstleistungen"<br />

Die vorliegenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) regeln das Verhältnis zwischen den Kundinnen<br />

und Kunden (nachfolgend Kunde genannt) sowie der Schweizerischen Post bei der Benutzung<br />

der Postdienstleistungen im nationalen (Inland) und im internationalen Verkehr (Ausland).<br />

Das Produkt- und Dienstleistungsangebot der Post ist in ihren Broschüren jüngsten Datums umschrieben.<br />

(…)<br />

2.3 Zustellung<br />

2.3.7 Abholungseinladung<br />

a. Grundsatz<br />

Die Post hinterlegt eine Abholungseinladung, wenn die Sendungen auf Grund des vom Absender gewählten<br />

Angebotes oder auf Grund ihrer Grösse dem Empfänger oder den Bezugsberechtigten persönlich<br />

auszuhändigen sind, jedoch niemand anzutreffen ist.<br />

b. Fristen<br />

Der Inhaber einer Abholungseinladung ist während einer Frist von sieben Tagen zum Bezug der darauf<br />

vermerkten Sendungen berechtigt. Die Post behält sich vor, die Sendung nur dem auf der Abholungseinladung<br />

vermerkten Empfänger auszuhändigen (Art. 976 OR).<br />

c. Vorbehalt anders lautender Vereinbarungen<br />

Vorbehalten bleiben anders lautende Weisungen des Empfängers oder des Absenders gemäss dem<br />

Angebot der Post.<br />

Fragen bezüglich der Falllösung:<br />

1) Welche Rügen können gegen den Teilentscheid des Verwaltungsgerichts vorgebracht<br />

werden?<br />

2) In welchem Sinne sollte das Urteil ausfallen?<br />

3) Inwiefern kann der Zuwachs an unternehmerischer Freiheit der Post als Argument<br />

verwendet werden?<br />

[BGE 127 I 31 / Postbote]<br />

- 46 -


BGE 115 Ib 163 / Lieferwagen<br />

Fragen:<br />

1. Wie wurde X bestraft?<br />

2. Was wurde von wem gegen ihn verfügt?<br />

3. Worin besteht der Hauptantrag, worin der Eventualantrag des Beschwerdeführers?<br />

4. Warum stellt der Beschwerdeführer einen Eventualantrag?<br />

5. Worin liegt das Hauptproblem dieses Falles?<br />

6. Worin unterscheiden sich verwaltungsrechtliche und strafrechtliche Beurteilungen?<br />

7. Inwieweit ist die Frage, ob ein Fall als „leichter Fall“ zu behandeln ist, eine Rechtsfrage?<br />

Inwieweit eine Frage des Sachverhaltes?<br />

8. Was ist nach Auffassung des Bundesgerichts notwendig, damit ein Fall als „leicht“ einzustufen<br />

ist?<br />

9. Was für eine Art Ermessen liegt hier vor?<br />

10. Nach welchen Grundsätzen wird die Dauer des Entzuges bemessen?<br />

11. Welchen verwaltungsrechtlichen Zusammenhang sehen Sie zwischen der beruflichen<br />

Konsequenzen und der Entzugsdauer?<br />

12. Ist nach Auffassung des BGer das Ermessen missbraucht oder überschritten worden?<br />

13. Warum stellt sich die Frage, ob das Bundesgericht nur kassieren oder in der Sache selbst<br />

entscheiden soll?<br />

---------<br />

22. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. August 1989 i.S. X.<br />

gegen Regierungsrat des Kantons Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)<br />

Auszug aus den Erwägungen<br />

Modul IV<br />

Ermessen<br />

1.- X. fuhr am 7. Mai 1987, um ca. 15.00 Uhr, mit einem Lieferwagen auf der geradeaus<br />

führenden Glärnischstrasse in Männedorf in Richtung Bergstrasse. Wegen eines am rechten<br />

Strassenrand parkierten Personenwagens musste er auf die linke Fahrbahnseite ausweichen.<br />

Als er sich auf der Höhe des abgestellten Autos befand, näherte sich auf der von links einmündenden<br />

Haldenstrasse der 11jährige Y. mit seinem Fahrrad, der nach rechts in die Glärnischstrasse<br />

biegen wollte. Dabei stiess er mit der vorderen linken Front des Lieferwagens<br />

zusammen. Der Schüler erlitt tödliche Kopfverletzungen.<br />

- 47 -


Der Einzelrichter in Strafsachen am Bezirksgericht Meilen sprach X. am 20. Oktober 1987<br />

der fahrlässigen Tötung schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 500.--. Dieses Urteil<br />

ist rechtskräftig. Die Polizeidirektion des Kantons Zürich entzog X. mit Verfügung vom<br />

10. Oktober 1988 den Führerausweis für die Dauer von sechs Monaten. Der Regierungsrat<br />

des Kantons Zürich hiess am 17. Mai 1989 einen dagegen gerichteten Rekurs teilweise gut<br />

und reduzierte die Entzugsdauer auf vier Monate.<br />

X. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Anträgen, der Beschluss des Regierungsrates<br />

sei aufzuheben und von einem Entzug sei abzusehen.<br />

In ihrer Stellungnahme ans Bundesgericht beantragt die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich<br />

namens des Regierungsrates, die Beschwerde sei abzuweisen. 2.- Gemäss Art. 34 Abs.<br />

1 SVG müssen Fahrzeuge rechts fahren. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, diese Verkehrsregel<br />

verletzt zu haben, indem er nach dem Ausweichmanöver zu spät auf die rechte<br />

Strassenseite zurückgekehrt ist. Unter Hinweis auf das Strafurteil macht er vor Bundesgericht<br />

geltend, es liege ein leichter Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 SVG vor, der es<br />

rechtfertige, nur auf eine Verwarnung zu erkennen.<br />

a) Soweit der Beschwerdeführer auf die bundesgerichtliche Praxis hinweist, wonach die<br />

Administrativbehörde nicht ohne Not von der Auffassung des Strafrichters abweichen soll,<br />

ist er nicht zu hören. Wie das Bundesgericht in BGE 103 Ib 105 ff. entschieden hat, gilt dies<br />

unter Umständen in bezug auf die tatsächlichen Feststellungen; in reinen Rechtsfragen, wozu<br />

die Beurteilung der Schwere eines Falles zählt, ist die Verwaltungsbehörde demgegenüber<br />

nicht an die Ansicht des Strafrichters gebunden (s. auch BGE 104 Ib 359 E. 1).<br />

b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist bei der Beurteilung, ob ein leichter Fall<br />

im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 SVG vorliegt, in erster Linie die Schwere der Verkehrsgefährdung<br />

und die Schwere des Verschuldens, daneben aber auch der automobilistische Leumund<br />

zu würdigen (BGE 105 Ib 259 E. 2c mit Hinweis). Nach Ansicht der Vorinstanz hat der<br />

Beschwerdeführer eine erhebliche Gefährdung für andere Verkehrsteilnehmer geschaffen, indem<br />

er vor der nicht allzu übersichtlichen Verzweigung mit seinem Lieferwagen zu lange auf<br />

der linken Fahrspur verblieben sei. Dieser Beurteilung ist beizupflichten, zumal auch in der<br />

Beschwerde nichts dagegen eingewendet wird. Zum automobilistischen Leumund hat der<br />

Regierungsrat festgestellt, dieser sei ungetrübt. Die Vorinstanz bezeichnete das Verschulden<br />

des Beschwerdeführers als "nicht mehr leicht"; zugleich verwies sie auf das "überzeugend<br />

begründete Strafurteil", wonach das Verschulden "nicht besonders schwer" wiege. Dies<br />

scheint darauf hinzudeuten, dass der Regierungsrat das Verschulden als mittelschwer einstufte.<br />

Damit aber setzt er sich in Widerspruch zur Begründung dieser Auffassung, wo festgestellt<br />

wird, der Unfall sei nicht auf eine rücksichtslose Fahrweise, sondern darauf zurückzuführen,<br />

dass der Beschwerdeführer den Führerausweis erst seit drei Monaten besessen habe<br />

und mit dem Lieferwagen nicht vertraut gewesen sei, weshalb man eigentlich von einem<br />

"Einschätzungsfehler anlässlich des Ausweichmanövers" sprechen könne. Bei dieser Sachlage<br />

ist aber davon auszugehen, dass ein eher leichtes Verschulden vorliegt. Demgegenüber ist<br />

nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz dem Beschwerdeführer nicht noch weiter entgegenkam<br />

und das Verschulden als "sehr leicht" bezeichnete. Gesamthaft gesehen hielt sich<br />

der Regierungsrat noch innerhalb des ihm zustehenden Ermessens, als er nicht von einem<br />

leichten Fall ausging, zu welcher Schlussfolgerung er insbesondere deshalb berechtigt war,<br />

weil die Verkehrsgefährdung unbestrittenermassen eine erhebliche war.<br />

3.- Eventualiter beantragt der Beschwerdeführer, die Entzugsdauer sei auf einen Monat herabzusetzen.<br />

Nach Art. 17 Abs. 1 lit. a SVG stellt dies die Mindestentzugsdauer dar. Wie die<br />

Vorinstanz richtig bemerkt, bemisst sich die Dauer der Massnahme im übrigen nach der<br />

Schwere des Verschuldens, dem Leumund des Beschwerdeführers und der beruflichen Notwendigkeit,<br />

ein Motorfahrzeug zu lenken. Nach dem oben Gesagten ist von einem leichten<br />

- 48 -


Verschulden und einem ungetrübten automobilistischen Leumund auszugehen. Die Vorinstanz<br />

stellte weiter fest, der Beschwerdeführer sei beruflich auf den Besitz des Führerausweises<br />

angewiesen. Dennoch verfügte sie eine Massnahmedauer von vier Monaten. Diese<br />

Folgerung ist unverständlich. Zwar steht der kantonalen Behörde hinsichtlich der Bemessung<br />

der Entzugsdauer ein weiter Spielraum des Ermessens zu, und das Bundesgericht greift nur<br />

ein, wenn dieses Ermessen überschritten oder missbraucht wurde. Dies aber ist der Fall,<br />

wenn alle Bemessungsfaktoren für den Betroffenen positiv zu werten sind, die Behörde aber<br />

auf ein Mehrfaches der minimalen Entzugsdauer erkennt. Die Vorinstanz wies selber noch<br />

zugunsten des Beschwerdeführers darauf hin, dass er vom Unfall sehr betroffen und dass er<br />

an der fraglichen Kreuzung vortrittsberechtigt war. Der vorliegend zu beurteilende viermonatige<br />

Entzug ist deshalb in seiner Höhe eindeutig zu hart ausgefallen und der angefochtene<br />

Entscheid folglich aufzuheben. Da die Angelegenheit spruchreif ist und eine Rückweisung einen<br />

unnötigen Leerlauf darstellen würde, entscheidet das Bundesgericht in der Sache selber<br />

(Art. 114 Abs. 2 OG). Nach dem Gesagten erscheint ein Ausweisentzug für die Dauer von<br />

einem Monat als angemessen.<br />

- 49 -


BGE 106 Ia 1 / Irene Waeber<br />

Fragen:<br />

1. Welches verfassungsmässige Recht wird hier geltend gemacht?<br />

2. Warum besteht ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf volle Kognition?<br />

3. In welchen Fällen ist nach BGer uneingeschränkte Kognition unerlässlich?<br />

4. Was gehört zu den Verfahrensfragen bei der Abnahme von Prüfungen?<br />

5. Was für Arten von Ermessen liegen vor und welches ist ihre Funktion?<br />

---------<br />

1. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18. Januar 1980 i.S.<br />

Waeber gegen Kantonsschule Reussbühl und Erziehungsrat des Kantons Luzern (staatsrechtliche<br />

Beschwerde)<br />

Sachverhalt<br />

A.- Irene Waeber besuchte im Schuljahr 1978/79 die sechste Klasse des Literaturgymnasiums<br />

der Kantonsschule Reussbühl. Die Klassenkonferenz beschloss am Ende des Schuljahres,<br />

sie wegen ungenügender Leistungen nicht in die Maturitätsklasse zu versetzen. Die beim<br />

Erziehungsrat des Kantons Luzern erhobene Beschwerde blieb ohne Erfolg. Irene Waeber rügt<br />

mit staatsrechtlicher Beschwerde, der Erziehungsrat habe seine Kognition in unzulässiger<br />

Weise beschränkt.<br />

Auszug aus den Erwägungen<br />

3.- (Ausführungen darüber, dass das luzernische Erziehungsgesetz gegen den Entscheid über<br />

die Nichtversetzung die Verwaltungsbeschwerde vorsieht. Mit diesem Rechtsmittel kann<br />

nach der Regelung des <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflegegesetzes die unrichtige oder unvollständige<br />

Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts, unrichtige Rechtsanwendung und unrichtige<br />

Handhabung des Ermessens gerügt werden.)<br />

c) In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Rechtsmittelbehörde, die nach der gesetzlichen<br />

Ordnung mit freier Prüfung zu entscheiden hat, ihre Kognition ohne Verstoss gegen Art.<br />

4 BV einschränken kann, soweit die Natur der Streitsache einer unbeschränkten Nachprüfung<br />

der angefochtenen Verfügung entgegensteht (BGE 99 Ia 590 E. 1). Das ist namentlich der<br />

Fall, wenn die Rechtsmittelbehörde die dem angefochtenen Entscheid zugrundeliegenden tatsächlichen<br />

Verhältnisse nicht in gleicher Weise wie die untere Instanz zu beurteilen vermag<br />

und es ihr deshalb verwehrt ist, ihr Ermessen an die Stelle desjenigen der unteren Instanz zu<br />

setzen. Wie das Bundesgericht bereits in BGE 99 Ia 590 E. 1 entschieden hat, kann die<br />

Rechtsmittelbehörde ihre Kognition ohne Verstoss gegen Art. 4 BV namentlich dann beschränken,<br />

wenn sie über die Bewertung von Examensleistungen zu befinden hat. Derartige<br />

Bewertungen sind kaum überprüfbar, weil der Rechtsmittelbehörde zumeist nicht alle massgebenden<br />

Faktoren der Bewertung bekannt sind. So ist es ihr in der Regel nicht möglich, sich<br />

- 50 -


über den im Unterricht vermittelten Stoff, die Gesamtheit der Leistungen des Beschwerdeführers<br />

in der Prüfung und die Leistungen der übrigen Kandidaten ein zuverlässiges Bild zu<br />

machen. Die Prüfungen haben darüber hinaus häufig Spezialgebiete zum Gegenstand, in denen<br />

die Rechtsmittelbehörde über keine eigenen Fachkenntnisse verfügt. Besondere Schwierigkeiten<br />

ergeben sich für die Nachprüfung überdies dann, wenn Notengebungen zu beurteilen<br />

sind, die sich nicht ausschliesslich auf schriftliche, sondern auch auf mündliche Prüfungen<br />

beziehen oder wenn bei der Bewertung zu berücksichtigen ist, wie sich ein Schüler während<br />

einer längeren Zeitspanne am Unterricht beteiligt hat. Der massgebende Sachverhalt<br />

kann in diesen Fällen durch Beweiserhebungen der Rechtsmittelbehörde nicht vollständig rekonstruiert<br />

werden. Eine freie Überprüfung der Notengebung ist daher schon aus diesem tatsächlichen<br />

Grunde ausgeschlossen. Wie das Bundesgericht unlängst dargetan hat, birgt die<br />

Abänderung einer Examensbewertung zudem die Gefahr neuer Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten<br />

gegenüber anderen Kandidaten in sich. Diese Gefahr besteht namentlich dann,<br />

wenn die Prüfung aufgrund des Rechtsmittelentscheids wiederholt werden muss, denn Examen<br />

lassen sich nicht unter völlig gleichen Bedingungen nochmals durchführen (BGE 105 Ia<br />

190 E. 2a). In der Schweiz herrscht daher ganz allgemein die Auffassung vor, dass die Bewertung<br />

von schulischen Leistungen von der Rechtsmittelbehörde nicht frei, sondern nur mit<br />

beschränkter Kognition zu überprüfen sei (vgl. IMBODEN/RHINOW, Schweizerische <strong>Verwaltungsrecht</strong>sprechung,<br />

5. A., Nr. 66 B IIa, d, B Va, Nr. 67 B IIIc und dort angeführte Entscheide).<br />

Gleich verhält es sich in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. ERICHSEN/ MAR-<br />

TENS, <strong>Allgemeines</strong> <strong>Verwaltungsrecht</strong>, 3. A., S. 350 ff.; VON MÜNCH, Besonderes <strong>Verwaltungsrecht</strong>,<br />

2. A., S. 592).<br />

Wenn die Beschränkung der Kognition nicht auf einer gesetzlichen Vorschrift beruht, so ist<br />

sie ohne Verstoss gegen Art. 4 BV jedoch nur hinsichtlich der eigentlichen Bewertung der<br />

erbrachten Leistungen zulässig. Soweit die Auslegung und Anwendung von Rechtsvorschriften<br />

streitig ist oder soweit Verfahrensmängel gerügt werden, hat die Rechtsmittelbehörde die<br />

erhobenen Einwendungen mit freier Kognition zu prüfen (vgl. auch PLOTKE, Probleme des<br />

Schulrechts, Prüfungen und Promotionen, Diss. Bern 1974, S. 354 ff.; ders. Schweizerisches<br />

Schulrecht, S. 495 ff.; MÜLLER, Schule und Schulbenützer, eine Untersuchung der gegenseitigen<br />

Beziehungen unter besonderer Berücksichtigung des aargauischen Rechts, Diss. Zürich<br />

1978, S. 216 ff.). Auf Verfahrensfragen haben alle Einwendungen Bezug, die den äusseren<br />

Ablauf des Examens oder der Bewertung betreffen. Eine Verfahrensfrage betrifft auch die<br />

Einwendung, es sei bei der Notengebung in rechtsungleicher Weise von den Grundsätzen abgewichen<br />

worden, die der Examinator in allen andern Fällen befolgt habe. Prüft die Rechtsmittelbehörde<br />

derartige Einwendungen lediglich mit beschränkter Kognition, obwohl ihr nach<br />

der gesetzlichen Ordnung eine freie Prüfung obliegt, so begeht sie eine formelle Rechtsverweigerung.<br />

Das hat die Aufhebung ihres Entscheids zur Folge, ohne dass zu untersuchen ist,<br />

ob er bei richtigem Vorgehen anders ausgefallen wäre. Beigefügt sei schliesslich, dass sich<br />

auch das Bundesgericht besondere Zurückhaltung auferlegt, wenn es auf staatsrechtliche<br />

Beschwerde hin die Bewertung von Examensleistungen zu beurteilen hat. Das Bundesgericht<br />

prüft bei solchen Beschwerden in erster Linie, ob das gesetzlich vorgeschriebene oder unmittelbar<br />

durch Art. 4 BV gewährleistete Prüfungsverfahren durchgeführt wurde und ob die kantonalen<br />

Rechtsmittelbehörden ihrer Kontrollpflicht in hinreichender Weise nachgekommen<br />

sind. Bezüglich der Bewertung von Examensleistungen prüft es lediglich, ob sich die entscheidenden<br />

Instanzen von sachfremden Erwägungen haben leiten lassen, so dass der Prüfungsentscheid<br />

unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als nicht mehr vertretbar erscheint<br />

(BGE 105 Ia 190 E. 2a).<br />

- 51 -


Sachverhalt<br />

IKEA-Lager<br />

Die IKEA-Lager + Service AG mit Sitz in Sissach (nachfolgend IKEA genannt) gehört zum<br />

IKEA-Konzern, welcher in mehreren westeuropäischen Ländern sowie in Kanada Möbelverkaufsgeschäfte<br />

betreibt. Die IKEA plant in Itingen/BL den Bau eines mehrgliedrigen Lager-<br />

und Verwaltungsgebäudes. Das Lager ist vorwiegend dazu bestimmt, Möbel aus Süd- und<br />

Osteuropa aufzunehmen. Vom jährlichen Lagerumsatz (ca. 260'000 m3) sollen rund 90'000<br />

m3 aus Spanien, Italien und Frankreich stammen. Weitere 90'000 m3 werden in der DDR,<br />

Jugoslawien und Ungarn hergestellt. Die ebenfalls eingelagerten Kleinartikel und Textilien haben<br />

ihren Ursprung in Portugal sowie im Fernen Osten. Das neue Lager wird vorwiegend<br />

Transitfunktionen übernehmen, denn 91% des Volumens sind für die Verkaufsgeschäfte in<br />

der Bundesrepublik Deutschland, Holland, Frankreich und Österreich bestimmt. Lediglich 9%<br />

sollen in der Schweiz abgesetzt werden. Nach Auffassung der IKEA kann die Anlage die ihr<br />

zugedachte Hauptaufgabe einer Nachschubbasis für die erwähnten Länder nur erfüllen, wenn<br />

ihr der Status eines Zollfreilagers zuerkannt werde; das Vorhaben sei wirtschaftlich nur tragbar,<br />

wenn die aus Süd- und Osteuropa stammenden, in der Schweiz an sich zollpflichtigen<br />

Möbel, unverzollt wieder ausgeführt werden könnten.<br />

Mit Verfügung vom 1. März 1985 lehnte es das Eidgenössische Finanzdepartement ab, der<br />

IKEA den Betrieb eines firmenspezifischen Zollfreilagers zu bewilligen, da „rein kapazitätsmässig“<br />

ein allgemeines Bedürfnis nach einem weiteren Zolllager im Sinne von Art. 42 Zollgesetz<br />

nicht gegeben sei. In den öffentlichen Freilagern der Nordschweiz stünden genügend<br />

Landreserven zur Verfügung, auf denen sich das Projekt realisieren lasse.<br />

In ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde verlangt die IKEA die Aufhebung der Verfügung des<br />

Eidgenössischen Finanzdepartements, die Erteilung der nachgesuchten Freilagerbewilligung.<br />

Gesetzliche Grundlagen:<br />

Zollgesetz (ZG) vom 1. Oktober 1925<br />

Art. 42 a. Zollfreie Lagerung<br />

1 Zur Lagerung unverzollter Güter kann das Eidgenössische Finanzdepartement Bahnverwaltungen und<br />

Lagerhausgesellschaften Zollager (Zollfreibezirke und eidgenössische Niederlagshäuser) bewilligen,<br />

wenn ein allgemeines wirtschaftliches Bedürfnis besteht, so vor allem für die Wiederausfuhr oder eine<br />

noch ungewisse Bestimmung der Waren. Die Bewilligung kann mit Auflagen verbunden und von finanziellen<br />

Leistungen abhängig gemacht werden.<br />

2 Für Warengattungen des Grosshandels kann die Oberzolldirektion die Privatlagerung zulassen. Sie<br />

kann dabei Mindestmengen für die Ein- und Auslagerung vorsehen. Die Listen der Privatlagerwaren<br />

sind zu veröffentlichen. In einzelnen Fällen kann die Oberzolldirektion auch für andere Waren die Privatlagerung<br />

bewilligen, wenn ihre Lagerung in Zollagern nicht möglich oder unzweckmässig ist. Waren<br />

zur Privatlagerung werden mit Geleitschein oder durch Eintragung in laufende Rechnung abgefertigt.<br />

- 52 -


Verordnung zum Zollgesetz (ZV) vom 10. Juli 1926<br />

Art. 82 Errichtung und Verwaltung<br />

1 Zollager (Zollfreibezirke und eidgenössische Niederlagshäuser) im Sinne von Artikel 42 ZG werden<br />

bewilligt, wenn das Bedürfnis nachgewiesen und Gewähr geboten ist, dass das Lager jedermann unter<br />

gleichen Voraussetzungen offensteht. Auf die Erfüllung der zweitgenannten Bedingung kann mit Rücksicht<br />

auf besondere Verhältnisse ausnahmsweise verzichtet werden. Zur Bedürfnisfrage werden nötigenfalls<br />

die interessierten Wirtschaftskreise angehört.<br />

2 In der Bewilligung des Eidgenössischen Finanzdepartementes werden die Anforderungen an die baulichen<br />

und anderen Einrichtungen der Anlage sowie sonstige Auflagen und die finanziellen Leistungen<br />

festgesetzt. Für jedes Lager erlässt die Oberzolldirektion ein Reglement über die Besonderheiten des<br />

Zollverfahrens, die Massnahmen für die Zollsicherheit und Anordnungen zur Gewährleistung des Lagercharakters.<br />

Fragen zur Falllösung:<br />

1) Welches sind die Rügen, welche die Beschwerdeführerin gegen den Entscheid des<br />

Eidgenössischen Finanzdepartements vorbringen kann?<br />

2) Im Hinblick auf welche Rechtsfragen sind Art. 42 Abs. 1 Zollgesetz und Art. 82<br />

Abs. 2 der Verordnung zum Zollgesetz auszulegen? Welches Ergebnis ergibt sich<br />

dabei?<br />

3) Wie ist der Entscheidungsspielraum der Verwaltung ausgestaltet? Wie ist dieser<br />

rechtlich zu qualifizieren? Welche Gesichtspunkte dürfen in die Entscheidfindung<br />

einfliessen?<br />

4) Das Eidgenössische Finanzdepartement macht in seinem Sinne auch geltend nicht<br />

über genügend personelle Ressourcen zu verfügen, um seiner Aufgabe im Falle einer<br />

Bewilligung nachzukommen; wie ist dieses Argument zu werten?<br />

[IKEA-Lager / BGE 112 Ib 13]<br />

- 53 -


BGE109 Ib 253 / Umbenennung Poststelle<br />

Fragen:<br />

1. Welches sind die grundsätzlichen Eigenschaften einer Verfügung?<br />

2. Welche dieser Eigenschaften stehen im Entscheid zur Frage?<br />

3. Was ist unter einer organisatorischen Anordnung zu verstehen?<br />

4. Wie wird diese von der Verfügung unterschieden?<br />

5. Welches ist die vom Bundesgericht vertretene Argumentation bezüglich der Abgrenzung<br />

zwischen Verfügung und organisatorischer Anordnung? Wie beurteilen Sie diese Argumentation?<br />

6. Welche Rolle kommt der Verfügung im Verwaltungsprozess zu?<br />

7. In welchem Verhältnis steht die Qualifikation als Verfügung und die Prozesslegitimation?<br />

8. Wie beurteilen Sie den vorliegenden Entscheid, welche Fragen sind allenfalls problematisch?<br />

-------<br />

43. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 4. November 1983 i.S.<br />

Gemeinde Jenaz und Mitbeteiligte gegen Generaldirektion PTT<br />

(Verwaltungsgerichtsbeschwerde)<br />

Regeste<br />

Begriff der Verfügung i.S. von Art. 97 OG und Art. 5 Abs. 1 VwVG. Organisatorische Anordnungen<br />

(hier: Umbenennung einer Poststelle) gelten nicht als Verfügungen i.S. von Art. 5<br />

Abs. 1 VwVG, weil niemandem gegenüber Rechte und Pflichten begründet werden. Derartige<br />

Anordnungen können daher nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden.<br />

Sachverhalt<br />

Modul V<br />

Arten von Verfügungen<br />

A.- Im Prättigau gibt es unter der Postleitzahl 7299 zwei verschiedene Poststellen, nämlich<br />

"Furna-Dorf" und "Furna-Station". Die erste bedient Gebiet der Gemeinde Furna, die zweite<br />

Gebiet der Gemeinde Jenaz (neben der Poststelle 7233 Jenaz). Einwohner von Furna-Dorf<br />

regten zur Behebung einer geltend gemachten Verwechslungsgefahr an, für die Poststelle<br />

"Furna-Station" auf den alten Ortsnamen "Pragmartin" zurückzukommen und es für die Bezeichnung<br />

des Dorfes beim einfachen Namen "Furna" bewenden zu lassen. Darauf schlug die<br />

Kreispostdirektion Chur folgende Bezeichnungen vor:<br />

- 54 -


- 7231 Furna-Station (für die Fraktion der Gemeinde Jenaz im Gebiet Planfieb/Pragmartin); -<br />

7232 Furna (anstatt der Bezeichnung Furna-Dorf).<br />

Nachdem die Gemeindeversammlung von Furna diesen Vorschlag abgelehnt hatte, forderte<br />

die Kreispostdirektion Chur die Gemeinde Jenaz auf, zum Problem der Umbenennung der<br />

Poststelle Furna-Station Stellung zu nehmen. In der Folge beantragte die Gemeinde Jenaz,<br />

auf eine Änderung der Poststellen-Bezeichnung zu verzichten; eventuell sei der Name "Prag-<br />

Jenaz" zu wählen. Hierauf teilte die Kreispostdirektion Chur dem Gemeindevorstand Jenaz<br />

"Namens und im Auftrag der Generaldirektion der Schweizerischen PTT-Betriebe" mit, die<br />

Poststelle Furna-Station werde auf den 1. Januar 1984 gemäss dem Eventualantrag in<br />

"7231 Prag-Jenaz" umbenannt.<br />

Gegen diese Umbenennung richtet sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Gemeinde<br />

Jenaz und von zehn Einwohnern dieser Gemeinde im Gebiet Furna-Station.<br />

Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein, und zwar u.a. aus folgenden Gründen.<br />

Auszug aus den Erwägungen<br />

1.- a) Das Bundesgericht beurteilt letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen<br />

Verfügungen im Sinne von Art. 5 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren<br />

(VwVG) vom 20. Dezember 1968 (Art. 97 Abs. 1 OG). Gemäss Art. 5 Abs. 1 VwVG gelten<br />

als Verfügungen "Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht<br />

des Bundes stützen und zum Gegenstand haben:<br />

a) Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten oder Pflichten;<br />

b) Feststellung des Bestehens, Nichtbestehens oder Umfanges von Rechten oder Pflichten;<br />

c) Abweisung von Begehren auf Begründung, Änderung, Aufhebung oder Feststellung von<br />

Rechten oder Pflichten, oder Nichteintreten auf solche Begehren".<br />

Daraus ergibt sich, dass eine Verfügung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 VwVG die Begründung<br />

oder Feststellung von Rechten oder Pflichten zur Folge hat, also die Regelung eines Rechtsverhältnisses.<br />

Mittels der Verfügung wird eine konkrete Berechtigung oder eine bestimmte<br />

Verpflichtung begründet bzw. festgestellt (FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2.<br />

Aufl. 1983, S. 128). Diese Definition entspricht auch der Begriffsumschreibung der Verfügung,<br />

welche Praxis und Lehre ausserhalb des Bereichs des VwVG getroffen haben, indem<br />

sie die Verfügung als individuellen, an den einzelnen gerichteten Hoheitsakt definieren, durch<br />

den eine konkrete verwaltungsrechtliche Rechtsbeziehung rechtsgestaltend oder feststellend<br />

in verbindlicher und erzwingbarer Weise geregelt wird (BGE 104 Ia 29 E. d).<br />

b) Bei organisatorischen Anordnungen liegt keine Regelung eines Rechtsverhältnisses vor,<br />

"weil niemandem gegenüber Rechte oder Pflichten geregelt werden" (GYGI, a.a.O., S. 104).<br />

Um eine solche Anordnung handelt es sich aber bei der Umbenennung einer Poststelle. Es<br />

werden dadurch keine Rechte und Pflichten der Postbenützer oder der beteiligten Gemeinden<br />

betroffen.<br />

Zwar kann eine solche Anordnung mittelbare Auswirkungen auf die faktische Stellung der<br />

Benützer einer Poststelle haben. Und diese mittelbaren Auswirkungen können durchaus dergestalt<br />

sein, dass sie ein Rechtsschutzinteresse, d.h. die Legitimation zur Anfechtung einer<br />

solchen Anordnung an sich begründen könnten. Das genügt aber nicht für die Zulässigkeit<br />

einer Beschwerde, die per definitionem nur gegen Verfügungen möglich ist (vgl. GYGI,<br />

a.a.O., S. 137). Man kann nicht von der Beschwerdebefugnis her (die gemäss der Regelung<br />

in Art. 103 lit. a OG keine Betroffenheit in einer Rechtsstellung voraussetzt) die Zulässigkeit<br />

- 55 -


der Beschwerde an sich, d.h. die Anfechtbarkeit einer Anordnung herleiten. Wenn und sofern<br />

dies in BGE 97 I 595 getan wurde, handelte es sich um einen Trugschluss. GYGI (a.a.O., S.<br />

137) macht denn auch gegenüber diesem Entscheid mit Recht geltend, dass die Eröffnung<br />

einer Bahnhofsapotheke keine Verfügung sei und dass das Vorliegen eines Rechtsschutzinteresses<br />

das Erfordernis einer Verfügung nicht ersetze. Gleiches gilt für die Verlegung einer<br />

Hochschulabteilung (anders: VPB 39 Nr. 59 S. 42; vgl. aber: BGE 98 Ib 461 ff.), die Aufhebung<br />

einer Poststelle (VPB 39 Nr. 102 S. 86) oder der Frauenabteilung einer Strafanstalt<br />

(VPB 38 Nr. 18 S. 61 f.), die Bestimmung des Standortes einer Zivilschutz-Sanitätshilfsstelle<br />

(VPB 42 Nr. 93 S. 413 ff.) oder die Modernisierung des Postzustelldienstes (VPB 38 Nr. 67<br />

S. 14 ff.). Das Bundesgericht hat die Praxis der Verwaltungsbehörden betreffend Aufhebung<br />

einer Postdienststelle (VPB 39 Nr. 102 S. 86) in einem nicht publizierten Entscheid vom 24.<br />

März 1982 i.S. Komitee gegen die Aufhebung der Haltestelle "Tivoli" der Trogenerbahn<br />

übernommen, indem es feststellte, dass das Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement<br />

zu Recht auf eine Beschwerde gegen die Aufhebung einer Bahnhaltestelle nicht eintrat,<br />

da es sich dabei nicht um eine Verfügung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 VwVG handle. Wenn<br />

aber schon die Aufhebung einer Bahnhaltestelle bzw. einer Poststelle keinen Verfügungscharakter<br />

hat, dann gilt dies erst recht für die Umbenennung einer Poststelle.<br />

- 56 -


ZBl 2004 218 / Paintball-Verbot<br />

Fragen:<br />

1. Nach welchen Kriterien können Verfügung, Allgemeinverfügung und Rechtssatz voneinander<br />

abgegrenzt werden?<br />

2. Welche Bedeutung hat diese Frage für den vorliegenden Fall?<br />

3. Welche Partei hat folglich gegen den Entscheid des Departements beim Regierungsrat Beschwerde<br />

erhoben?<br />

4. Kann vorliegend von der Regelung eines sachlich begrenzten Sachverhaltes ausgegangen<br />

werden? Was spricht dafür, was dagegen?<br />

5. Welche Bedeutung ist dem Rechtsschutzinteresse zuzumessen?<br />

6. Welches sind die Folgen der Qualifizierung des Paintball-Verbotes hinsichtlich des Verfahrens?<br />

7. Welche Qualifizierung wäre für den Paintball-Verein unter welchen Umständen vorteilhaft?<br />

8. Teilen Sie die Argumentation des Regierungsrates?<br />

---------<br />

Regierungsrat, 6. November 2002 (AG)<br />

Regeste<br />

Rechtsnatur eines kommenden Paintball-Verbots. Zuständigkeit des Gemeinderates zum Erlass<br />

von Verfügungen und Anordnungen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe,<br />

Ordnung, Sicherheit und Sittlichkeit; Beschwerdefähigkeit eines polizeirechtlichen Verbotes<br />

im Allgemeinen (E. 2a). Abgrenzung von Verfügung, Allgemeinverfügung und Rechtssatz im<br />

Allgemeinen; Rechtsschutzinteresse als Auslegungskriterium (E. 2b und c). Kommunales<br />

Paintball-Verbot als beschwerdefähige Verfügung oder als Rechtssatz? (E. 3a und b).<br />

Aus den Erwägungen<br />

1. Zur Begründung ihres Entscheides vom 2. April 2002 führte die Gemeindeabteilung des<br />

Departementes des Innern (nachfolgend: Vorinstanz) im Wesentlichen an, dass es sich beim<br />

Beschluss des Gemeinderates U. vom 17. September 2001 nur im formellen Sinne um eine<br />

Verfügung handle, materiell gesehen der Beschluss ansonsten generell-abstrakter Natur sei.<br />

Der Gemeinderat U. besitze zwar die Kompetenz, generell-abstrakte Rechtssätze zum Polizeigüterschutz<br />

zu erlassen, nach dem geltenden Gemeindegesetz stehe ihm aber keine allgemeine<br />

Rechtssetzungskompetenz zu, sondern nur eine Kompetenz zum Erlass eines Polizeireglements.<br />

Vorliegend seien die Inhalte aller im vorliegenden Zusammenhang ergangenen<br />

Beschlüsse aber gerade nicht ins bestehende Polizeireglement aufgenommen worden, was<br />

die Entfaltung entsprechender Wirkungen von vornherein verunmögliche. Mangels eines kon-<br />

- 57 -


kreten Anwendungsfalls könne vorliegend die Frage der materiellen Zulässigkeit eines generellen<br />

Paintball-Verbotes nicht geprüft werden und müsse deshalb offen bleiben.<br />

(...)<br />

2. a) Gemäss § 37 Abs. 1 und 2 lit. f des Gesetzes über die Einwohnergemeinden (Gemeindegesetz)<br />

vom 19. Dezember 1978 obliegt dem Gemeinderat die Sorge für die öffentliche<br />

Ruhe, Ordnung, Sicherheit und Sittlichkeit sowie der Erlass eines entsprechenden Reglementes,<br />

soweit diese Befugnis nicht durch Vorschriften des Bundes, des Kantons oder der Gemeinde<br />

einem anderen Organ übertragen ist. Der Gemeinderat kann bereits aufgrund dieser<br />

Vorschrift, d.h. ohne weitere spezialgesetzliche Grundlage, die für die Aufrechterhaltung der<br />

öffentlichen Ruhe, Ordnung, Sicherheit und Sittlichkeit notwendigen Verfügungen und Anordnungen<br />

treffen (vgl. Andreas Baumann, Die Kompetenzordnung im aargauischen Gemeinderecht,<br />

2. Aufl., Aarau 2001, S. 255 f.). In § 6 des Allgemeinen Polizeireglementes vom<br />

11. Oktober 1999 (nachfolgend: Polizeireglement) hat der Gemeinderat U. sodann seinerseits<br />

die Problematik der Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung sowie des Unfugs geregelt.<br />

Gemäss dieser Norm sind Handlungen, die geeignet sind, die persönliche Sicherheit, die öffentliche<br />

Ruhe und Ordnung oder die zonengemässe Wohnqualität zu beeinträchtigen, sowie<br />

jeglicher Unfug, der Personen belästigt oder Sachen gefährdet, verboten (Abs. 1). Als Unfug<br />

gelten dabei Handlungen, die geeignet sind, andere Personen zu belästigen, zu erschrecken,<br />

in ihrer Ruhe zu stören oder die persönliche Sicherheit zu gefährden (Abs. 2).<br />

Auch Verfügungen in Anwendung des kommunalen Polizeirechts können mit Beschwerde an<br />

die übergeordnete Verwaltungsbehörde weitergezogen werden (§ 45 des Gesetzes über die<br />

<strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege vom 9. Juli 1968 (VRPG)). Liegt jedoch keine Verfügung vor, so<br />

fehlt es an einem für die Verwaltungsbeschwerde notwendigen Anfechtungsobjekt. Dies hat<br />

zur Folge, dass auf dieses Rechtsmittel nicht eingetreten und damit auch keine materielle Behandlung<br />

desselben vorgenommen werden kann (BGE 103 Ib 185; 102 Ib 85; Attilio R. Gadola,<br />

Das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren, Diss. Zürich 1991, S. 280 ff.; Fritz Gygi,<br />

Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 127, 222 f.).<br />

b) Verfügungen sind verbindliche, hoheitliche, einseitige Anordnungen von Verwaltungsbehörden<br />

in Einzelfällen, die Rechte oder Pflichten begründen, ändern oder aufheben oder deren<br />

Bestand, Nichtbestand, Änderung oder Umfang feststellen (sog. Feststellungsverfügung).<br />

Durch Verfügungen wird ein konkretes und individuelles Rechtsverhältnis in verbindlicher, in<br />

der Regel erzwingbarer Weise rechtsgestaltend oder feststellend geregelt (vgl. im Bundesrecht<br />

Art. 5 Abs. 1 lit. a und b des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren vom 20.<br />

Dezember 1968 (VwVG, SR 172.021); Gygi, a.a.O., S. 128 mit Hinweisen; Ulrich Häfelin/Georg<br />

Müller, <strong>Allgemeines</strong> <strong>Verwaltungsrecht</strong>, 4. Aufl., Zürich 2002, N 854 ff.). Die Verfügungen<br />

dienen also der Anwendung von generell-abstrakten Normen auf den Einzelfall und<br />

müssen somit eine konkrete Berechtigung oder bestimmte Verpflichtung eines Rechtssubjektes<br />

begründen oder ein dahinzielendes Begehren ablehnen.<br />

Von den "normalen" Verfügungen abzugrenzen sind die so genannten Allgemeinverfügungen,<br />

zu welchen als typisches Beispiel etwa behördliche Anordnungen zur Regelung bestimmter<br />

örtlicher Verkehrsverhältnisse zu rechnen sind. So handelt es sich hiebei um eine eigenständige<br />

Rechtsform zwischen Rechtssatz und Verfügung. Wie bei den Verfügungen werden<br />

auch bei dieser Form von Verwaltungsmassnahmen konkrete Situationen geregelt. Im Unterschied<br />

zu den Verfügungen richten sie sich jedoch nicht an einen individuell bestimmten Personenkreis,<br />

sondern generell an eine unbestimmte Zahl von Personen, was sie mit dem<br />

- 58 -


Rechtssatz gemein haben. Rechtlich werden die Allgemeinverfügungen aber regelmässig wie<br />

gewöhnliche Verfügungen behandelt. Dies gilt insbesondere für das Verfahren und den<br />

Rechtsschutz. Ausserdem können die Allgemeinverfügungen, andere gesetzliche Regelungen<br />

vorbehalten, unmittelbar zwangsweise durchgesetzt werden, ohne dass es hierzu noch einer<br />

weiteren Konkretisierung bedarf. Dagegen räumt das Bundesgericht nur denjenigen Personen<br />

einen Anspruch auf rechtliches Gehör ein, die durch die Allgemeinverfügungen wesentlich<br />

schwerwiegender betroffen werden als die übrige Vielzahl der Adressaten (BGE 121 I 230,<br />

233; 119 Ia 141, 150). Ferner besteht für die Allgemeinverfügungen in der Regel wie für<br />

Rechtssätze eine Publikationspflicht. Obwohl Allgemeinverfügungen grundsätzlich wie Einzelakte<br />

zu behandeln sind, müssen sie sodann wie Rechtssätze akzessorisch auf ihre Rechtmässigkeit<br />

hin überprüft werden können. Dies ergibt sich daraus, dass bei den Allgemeinverfügungen<br />

wie bei den Rechtssätzen der Adressatenkreis offen ist, weshalb nicht jeder Adressat<br />

die Möglichkeit hat, die Anordnung unmittelbar anzufechten. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts<br />

betreffend akzessorische Überprüfung von Allgemeinverfügungen ist allerdings<br />

nicht einheitlich (vgl. Häfelin/Müller, a.a.O., N 923 ff.).<br />

c) Sind nicht alle Begriffsmerkmale einer Verfügung erfüllt (bzw. ergehen behördliche Akte,<br />

die sich auf individuelle Rechtsverhältnisse auswirken, nicht in Verfügungsform), ergeben<br />

sich Abgrenzungsprobleme; dabei weisen gewisse Autorinnen und Autoren darauf hin, dass<br />

in Grenz- und Zweifelsfällen massgeblich auf das Rechtsschutzinteresse als Hauptkriterium<br />

für die Abgrenzung der anfechtbaren Hoheitsakte vom übrigen staatlichen Handeln abgestellt<br />

werden sollte, um den individuellen Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung tatsächlich zu<br />

gewährleisten. Daraus ist aber nicht zu schliessen, dass immer dann ein anfechtbarer Hoheitsakt<br />

gegeben ist, wenn an der Anfechtbarkeit ein Rechtsschutzinteresse besteht; massgeblich<br />

ist immer auf die gesetzliche Begriffsbestimmung abzustellen. Das Rechtsschutzinteresse<br />

ersetzt somit nicht die Begriffsmerkmale einer Verfügung, sondern ist lediglich ein im<br />

Interpretationsfall beizuziehendes Grundmotiv derselben, wobei aber immerhin ein erhöhtes<br />

und besonders achtbares Rechtsschutzinteresse nachzuweisen ist (vgl. dazu Alfred Kölz/Jürg<br />

Bosshart/Martin Röhl, Kommentar zum <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflegegesetz des Kantons Zürich,<br />

2. Aufl., Zürich 1999, Vorbem. zu §§ 4-31, N 19; Gygi, a.a.O., S. 130; <strong>Thomas</strong><br />

Merkli/Arthur Aeschlimann/Ruth Herzog, Kommentar zum Gesetz über die <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege<br />

im Kanton Bern, Bern 1997, N 2, 27 und 29 zu Art. 49; Walter Kälin, Das Verfahren<br />

der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl., Bern 1994, S. 116).<br />

3. a) (...)<br />

Entgegen der Beurteilung durch die Vorinstanz sieht auch der Regierungsrat keine Veranlassung,<br />

das mit Beschluss vom 17. September 2001 ausgesprochene kommunale Paintball-<br />

Verbot als generell-abstrakten Rechtsakt einzustufen. Zwar trifft es zu, dass allein gestützt<br />

auf den Wortlaut des Beschlussdispositivs ("Der Gemeinderat verbietet gestützt auf § 6 Abs.<br />

1 und 2 und in Anlehnung an § 27 der Verfassung des Kantons Aargau (KV) das Paintballspiel<br />

auf dem gesamten Gemeindegebiet von U.") noch der Eindruck entstehen könnte, es<br />

handle sich hiebei um ein generell verhängtes Verbot, welches sich an jede Person richtet<br />

und damit keinen bestimmten Sachverhalt regeln will. In Übereinstimmung mit der Einwohnergemeinde<br />

U. (nachfolgend: Beschwerdeführerin) erweist es sich jedoch als richtig, den<br />

betreffenden Beschluss unter Mitberücksichtigung der übrigen Beschlussbestandteile sowie<br />

der sonstigen Begleitumstände als eigentliche Verfügung - in Abgrenzung zu einer Allgemeinverfügung<br />

- zu behandeln. So versteht sich der Beschluss bei näherer Betrachtung bereits<br />

aus rein formeller Sicht unbestrittenermassen als vollziehende Verfügung, indem er sich selber<br />

als Verfügung bezeichnet und zudem in die Verfügungsform (samt Sachverhalt, Erwä-<br />

- 59 -


gungen, Dispositiv und Rechtsmittelbelehrung) gekleidet ist. Sowohl aus dem Dispositiv als<br />

auch aus den diesbezüglichen Erwägungen ergibt es sich sodann, dass der Beschluss direkt<br />

gestützt auf § 6 Abs. 1 und 2 des Polizeireglementes (und nicht in Anwendung bzw. in blosser<br />

Bestätigung der Beschlüsse des Gemeinderates U. vom 2. und 16. Juli 2001) als Reaktion<br />

auf das Verhalten des Paintballvereins p. am 25. Juli 2001 ergangen ist. Im Gegensatz zu<br />

den beiden Beschlüssen vom 2. und 16. Juli 2001 lässt es sich ausserdem klar erkennen,<br />

dass die angefochtene Verfügung sich nicht allgemein an jede Person, sondern direkt an den<br />

Paintballverein p. als die für den Spielbetrieb verantwortliche Organisationseinheit richtet.<br />

Hiefür spricht in Übereinstimmung mit der Beschwerdeführerin insbesondere die Nennung des<br />

Paintballvereins p. als Verfügungsadressat im Titel und Text des Beschlusses sowie dessen<br />

individuelle Zustellung an den als Vertreter des Vereins auftretenden U.N. Überdies ergibt<br />

sich der individuelle Charakter des Beschlusses auch dadurch, dass dem Paintballverein p.<br />

vorgängig zum Beschluss das rechtliche Gehör im Rahmen eines am 17. September 2001 mit<br />

zwei Vereinsmitgliedern geführten persönlichen Gespräches gewährt wurde. Aufgrund der<br />

vorliegenden Umstände ist - entgegen der Ansicht der Vorinstanz - im Weiteren von einer für<br />

die Einstufung als Verfügung genügenden Konkretisierung der Anordnung auszugehen. Wenn<br />

der Beschluss auch - zumindest vordergründig - insofern als zu abstrakt angesehen werden<br />

könnte, als er das Paintball-Verbot in seinem Dispositiv weder explizit räumlich (d.h. auf bestimmte<br />

Gelände bezogen), zeitlich noch sachlich beschränkt verhängt, so darf hieraus dennoch<br />

nicht abgeleitet werden, es würde damit kein bestimmter Sachverhalt geregelt. Vielmehr<br />

ergibt sich der Verzicht auf eine explizite räumliche und zeitliche Beschränkung in<br />

Übereinstimmung mit der Beschwerdeführerin dadurch, dass der Paintballverein p. seine Aktivitäten<br />

in der Vergangenheit immer wieder an anderen Orten in der Gemeinde U. und zu unregelmässigen<br />

Zeiten ausübte (...). Die Beschwerdeführerin hat damit grundsätzlich jederzeit<br />

und überall mit dem Auftreten des Paintballvereins p. rechnen müssen, was ein auf eine einzelne<br />

Parzelle und einen bestimmten Zeitpunkt bezogenes Verbot unweigerlich jeweils sofort<br />

wieder obsolet gemacht hätte. Entsprechend sah sich die Beschwerdeführerin veranlasst, für<br />

den Paintballverein p. quasi hinsichtlich jeder einzelnen für das Paintballspiel geeigneten Parzelle<br />

ein Verbot zu statuieren. Das flächendeckende Verbot stellt somit keinen unbestimmten,<br />

sondern vielmehr einen aus Praktikabilitätsgründen räumlich nicht näher bestimmbaren<br />

Akt dar. Aus den auch dem Paintballverein p. bekannten Anforderungen an den Betrieb des<br />

Paintballspiels ist es zudem klar, dass sich das Paintball-Verbot von vornherein auf die für<br />

das Paintballspiel geeigneten Flächen beschränkte.<br />

Selbst wenn vorliegend davon ausgegangen würde, dass bezüglich der Qualifikation des gemeinderätlichen<br />

Beschlusses als Verfügung ein Grenz- bzw. Interpretationsfall vorläge, müsste<br />

die Möglichkeit einer direkten Anfechtung angesichts des aktuellen Rechtsschutzinteresses<br />

gutgeheissen werden. So besteht seitens des Paintballvereins p. nach wie vor ein erhebliches<br />

Rechtsschutzinteresse, die materielle Zulässigkeit des über ihm schwebenden kommunalen<br />

Paintball-Verbotes durch die erstinstanzlich angerufene Beschwerdebehörde umfassend überprüfen<br />

zu lassen.<br />

b) Zusammenfassend ist der Beschluss des Gemeinderates U. vom 17. September 2001 somit<br />

als beschwerdefähige Verfügung einzustufen. Da die Vorinstanz den Beschluss folglich<br />

zu Unrecht als Rechtssatz behandelte und ihn aus rein formellen Gründen aufhob, ohne auf<br />

das darin enthaltene Paintball-Verbot materiell einzugehen, ist der vorinstanzliche Entscheid<br />

aufzuheben. Gleichzeitig ist die Angelegenheit zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz<br />

zurückzuweisen. (...)<br />

- 60 -


VB.2000.00248 vom 29. August 2000 / Verein gegen Tierfabriken<br />

Fragen:<br />

1. Was ist an diesem Sachverhalt alles wesentlich?<br />

2. Warum beantragen die Beschwerdeführer eine Feststellungsverfügung und warum erheben<br />

sie nicht eine Beschwerde gegen die Wegweisung?<br />

3. Gäbe es eine Möglichkeit, zu beantragen, dass das Gericht der Polizei verbietet, in solchen<br />

Fällen Flugblätter verteilende Jugendliche auf öffentlichem Grund wegzuweisen?<br />

4. Welche verwaltungsrechtlichen Grundsätze werden in der Beschwerde als Argument verwendet?<br />

5. Teilen Sie die Meinung des Bezirksrates, wonach jedermann berechtigt ist, auf öffentlichem<br />

Grund Flugblätter zu verteilen? Was könnte dagegen sprechen?<br />

6. Ist der Entscheid des Bezirksrates eine Feststellungsverfügung?<br />

7. Welches sind die Anträge im Beschwerdeverfahren des VgT vor dem Regierungsrat?<br />

8. Worin besteht die Hauptargumentation?<br />

9. War der Regierungsrat verpflichtet, die Angelegenheit dem Verwaltungsgericht zu übertragen?<br />

10. Ist der Hinweis des Verwaltungsgerichts, dass Art. 6 EMRK nur bei zivilrechtlichen Streitigkeiten<br />

Anwendung findet richtig?<br />

11. Teilen sie die Meinung, dass Art. 6 EMRK nicht Anwendung findet?<br />

12. Warum muss der Begriff des schutzwürdigen Interesses bei der Feststellungsverfügung<br />

zunächst gleich interpretiert werden wie bei der Legitimation? Geht es um die gleiche<br />

Frage?<br />

13. Teilen Sie die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Schutzwürdigkeit noch von<br />

weiteren Fragen abhängt? Welches sind diese weiteren Kriterien?<br />

14. Warum ist der Verein und sind nicht die Jugendlichen, welche die Flugblätter verteilt haben<br />

und weggewiesen wurden, beschwerdeberechtigt?<br />

15. Warum ist das Verteilen von Flugblättern auf öffentlichem Grund nicht bewilligungspflichtig?<br />

16. Kann der ungeklärte Sachverhalt einen Grund für die Ablehnung eines schutzwürdigen<br />

Interesses an der Feststellungsverfügung darstellen?<br />

17. Wäre die Wegweisung eine Verfügung nach VwVG des Bundes? War es zulässig, ohne<br />

formelles Verfahren eine solche Verfügung zu erlassen?<br />

- 61 -


Verwaltungsgericht des Kantons Zürich<br />

Regeste<br />

Wegweisung vom öffentlichen Grund (anlässlich einer Verteilung eines Vereinsjournals):<br />

Kein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung gestützt auf Art. 6 EMRK, da das Verteilen<br />

eines Vereinsjournals in den Bereich allgemeiner Freiheitsausübung und damit nicht in den<br />

Schutzbereich dieser EMRK-Norm fällt (E. 2 b). Die Rekursinstanz hat - im Gegensatz zum<br />

Nichteintreten der kommunalen Behörde - das Feststellungsbegehren teilweise gutgeheissen,<br />

wonach die Wegweisung zu Unrecht erfolgt sei (E. 3 am Anfang). Soweit das vor der kommunalen<br />

Behörde geltend gemachte Begehren als blosse Aufsichtsbeschwerde zu verstehen<br />

ist, kann kein Rekurs erhoben werden, und das Nichteintreten der kommunalen Behörde ist<br />

nicht zu beanstanden (E. 3 a). Soweit das Begehren als eigentliches Feststellungsbegehren<br />

zu verstehen ist, ist die Voraussetzung eines hinreichenden aktuellen schutzwürdigen Interesses<br />

an der Feststellung zu prüfen (E. 3 b/aa). Ein solches Interesse liegt insofern nicht vor,<br />

als die Feststellung der Unrechtmässigkeit der beanstandeten Wegweisung von den damaligen<br />

konkreten Umständen abhängig ist, die jedoch ungeklärt geblieben sind und kaum wieder<br />

eintreten werden. Auf das Erfordernis eines a k t u e l l e n schutzwürdigen Interesses kann<br />

mangels sich stellender Grundsatzfragen nicht verzichtet werden (E. 3 b/cc).<br />

Sachverhalt<br />

I. Am 7. Februar 1999 verteilten zwei Jugendliche, die Mitglieder des Vereins gegen Tierfabriken<br />

Schweiz (VgT) sind, im Auftrag des VgT in der Nähe des Kinos ABC in Bülach auf öffentlichem<br />

Grund das Journal "VgT-Nachrichten". Dabei wurde einer der beiden von einem in<br />

Zivilkleidung vorbeigehenden Stadtpolizisten angesprochen, der im Verlaufe des folgenden<br />

Gespräches, dessen Inhalt aufgrund der vorliegenden Akten unklar und umstritten ist, beide<br />

Jugendliche aufforderte, die Passanten nicht zu belästigen und sich zu entfernen. Aufgrund<br />

dieses Vorfalls reichte der VgT am 10. Februar 1999 beim Stadtrat Bülach "Verwaltungsbeschwerde<br />

gegen einen unbekannten Beamten der Stadtpolizei Bü-lach" ein mit dem Antrag,<br />

"es sei festzustellen, dass die Wegweisung von VgT-Aktivisten, die am 7.2.1999 in der Nähe<br />

des Kinos ABC Bülach auf öffentlichem Grund ein Journal verteilten, zu Unrecht erfolgte".<br />

Der Stadtrat Bülach beschloss am 10. März 1999, auf die Beschwerde im Sinn der Erwägungen<br />

nicht einzutreten. Nach der glaubwürdigen Darstellung des in den Vorfall involvierten Beamten<br />

G.P. habe sich dieser nicht als Kantonspolizist ausgegeben und habe er die Jugendlichen<br />

deswegen aufgefordert sich zu entfernen, weil er festgestellt habe, dass sich einer der<br />

beiden den Passanten und Kinobesuchern so in den Weg gestellt habe, dass diese dadurch<br />

behindert und "fast genötigt" worden seien, ein VgT-Journal entgegenzunehmen. Das Verhalten<br />

des Beamten sei daher nicht zu beanstanden; namentlich liege darin keine Dienstverletzung<br />

und kein Disziplinarvergehen, welches ein Einschreiten nach Art. 47 ff. der städtischen<br />

Besoldungsverordnung erfordern würde.<br />

II. Dagegen erhob der VgT am 22. März 1999 Rekurs an den Bezirksrat Bülach, worin er sein<br />

Feststellungsbegehren wiederholte. Zur Begründung wurde vorgebracht, der Stadtrat habe<br />

sich einseitig auf die von der Sachverhaltsdarstellung des VgT abweichenden Aussagen des<br />

fehlbaren Beamten gestützt. Entgegen dessen Aussagen seien die Passanten nicht von einem<br />

der beiden Aktivisten behindert worden. Selbst wenn dem aber so gewesen wäre, habe kein<br />

Grund bestanden, die beiden Aktivisten wegzuweisen; diesfalls hätte die Aufforderung, die<br />

- 62 -


Passanten nicht zu behindern, genügt; die Wegweisung der beiden Aktivisten sei jedenfalls<br />

unverhältnismässig und damit rechtswidrig gewesen.<br />

Nach Durchführung eines doppelten Schriftenwechsels fasste der Bezirksrat am 16. Dezember<br />

1999 Beschluss über die Angelegenheit. Dabei stellte er in Dispositiv Ziffer I "im Sinn der<br />

Erwägungen" fest, "dass die VgT-Aktivisten berechtigt gewesen sind, Journale auf öffentlichem<br />

Grund zu verteilen, soweit Dritte nicht unverhältnismässig behindert worden sind". Als<br />

zulässiges Rechtsmittel wurde der Rekurs an den Regierungsrat bezeichnet. Der Bezirksrat<br />

erwog, das Verteilen von Flugblättern auf öffentlichem Grund sei verfassungsrechtlich durch<br />

verschiedene Freiheitsrechte gewährleistet; Einschränkungen einer derartigen Nutzung des<br />

öffentlichen Grundes seien nur zulässig, sofern sie auf gesetzlicher Grundlage beruhten, einem<br />

öffentlichem Interesse dienten und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahrten;<br />

sodann sei "auch der Schutz von Grundrechten Dritter zu beachten und zu garantieren".<br />

Hieraus ergebe sich für den vorliegenden Fall, "dass in positivem Sinn festzustellen ist, dass<br />

die VgT-Aktivisten berechtigt gewesen sind, Journale auf öffentlichem Grund zu verteilen,<br />

soweit Dritte – wegen des Schutzes ihrer Grundrechte – wiederum nicht unverhältnismässig<br />

behindert worden sind".<br />

III. Dagegen erhob der VgT am 10. Januar 2000 Rekurs an den Regierungsrat mit den Anträgen,<br />

es sei festzustellen, dass der Beschluss des Bezirksrats eine Rechtsverweigerung darstelle<br />

(1); es sei in Aufhebung des Entscheids des Stadtrats Bülach festzustellen, dass die<br />

Wegweisung von VgT-Aktivisten am 7. Februar 1999 in der Nähe des Kinos ABC in Bülach<br />

auf öffentlichem Grund zu Unrecht erfolgte (2); eventuell sei die Sache zur Behandlung an<br />

den Bezirksrat zurückzuweisen (3), unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten des<br />

fehlbaren Polizeibeamten, eventuell zu Lasten der Stadt Bülach. Zur Begründung wurde vorgebracht,<br />

mit der Weigerung, die Widerrechtlichkeit der Wegweisung festzustellen, habe der<br />

Bezirksrat eine Rechtsverweigerung begangen. Die Wegweisung sei widerrechtlich aus den<br />

Gründen, die in der Rekursschrift an den Bezirksrat dargelegt worden seien, auf welche verwiesen<br />

werde. Schliesslich habe der Bezirksrat das Öffentlichkeitsgebot gemäss Art 6 Abs. 1<br />

der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) missachtet, indem er entgegen dem<br />

ausdrücklichen Antrag des Beschwerdeführers keine öffentliche Verhandlung durchgeführt<br />

habe. Eine solche Verhandlung sei im zweitinstanzlichen Rechtsmittelverfahren nachzuholen.<br />

Im Rekursverfahren vor Regierungsrat verzichteten der Stadtrat und der Bezirksrat Bülach auf<br />

Vernehmlassung. Der Regierungsrat beschloss am 5. Juli 2000, auf den Rekurs nicht einzutreten<br />

und die Akten dem Verwaltungsgericht zu überweisen.<br />

Erwägungen<br />

1. Zur Behandlung des Rekurses vom 10. Januar 2000 gegen den Beschluss des Bezirksrats<br />

Bülach vom 16. Dezember 1999 ist nicht der Regierungsrat, sondern nach § 19c Abs. 2 in<br />

Verbindung mit § 41 des <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflegegesetzes vom 24. Mai 1959/ 8. Juni 1997<br />

(VRG) das Verwaltungsgericht als Beschwerdeinstanz funktionell und sachlich zuständig. Das<br />

ergibt sich ohne weiteres daraus, dass der vom Bezirksrat Bülach überprüfte Beschluss des<br />

Stadtrats Bülach vom 10. März 1999 unter keinen der in § 43 Abs. 1 VRG genannten Ausnahmetatbestände<br />

fällt; nähere Erörterungen zum Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens,<br />

wie sie der Regierungsrat in seinem Nichteintretens- und Überweisungsbeschluss angestellt<br />

hat, erübrigen sich.<br />

- 63 -


2. a) Weil der Regierungsrat dem Beschwerdegegner sowie der Vorinstanz bereits Gelegenheit<br />

zur Einreichung einer Vernehmlassung eingeräumt hat, erübrigt sich die Anordnung eines<br />

Schriftenwechsels nach § 58 VRG.<br />

b) Eine mündliche Verhandlung ist nicht durchzuführen. Die Anordnung einer solchen Verhandlung<br />

nach § 59 VRG steht im Ermessen des Gerichts. Art. 6 Abs. 1 EMRK verschafft<br />

einem Beschwerdeführer einen Anspruch auf mündliche Verhandlung nur in Fällen, in denen<br />

eine zivilrechtliche Streitigkeit oder eine strafrechtlichen Anklage im Sinn dieser Konventionsbestimmung<br />

vorliegt. Beides trifft hier nicht zu. Insbesondere geht es nicht um eine zivilrechtliche<br />

Streitigkeit. Der vorliegende Streitfall betrifft die Benützung des öffentlichen Grundes<br />

zu ideellen Zwecken. Nach einer überzeugenden Lehrmeinung (Ruth Herzog, Art. 6 EMRK<br />

und kantonale <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege, Bern 1995, S. 175 ff.), der sich das Verwaltungsgericht<br />

angeschlossen hat (RB 1999 Nr. 33), ist zu unterscheiden, ob die auf dem öffentlichen<br />

Grund beabsichtigte Tätigkeit oder Vorkehr in den Bereich allgemeiner Freiheitsausübung<br />

fällt oder ob die ersuchende Person ein Schutzbedürfnis wirtschaftlich-pekuniärer oder<br />

persönlichkeitsrechtlicher Art darzutun vermag; nur bei einem derartigen Schutzbedürfnis<br />

wirtschaftlicher oder persönlichkeitsrechtlicher Art fallen Streitigkeiten über die Nutzung des<br />

öffentlichen Grundes in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK.<br />

Wie angemerkt werden kann, war der Bezirksrat zur Anordnung einer öffentlichen Verhandlung<br />

nach Art. 6 Abs. 1 EMRK von vornherein deswegen nicht verpflichtet, weil er auch in<br />

seiner rechtsprechenden Funktion keine gerichtliche Instanz im Sinn dieser Konventionsbestimmung<br />

ist (Alfred Kölz/Jürg Bosshart/Martin Röhl, Kommentar zum <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflegegesetz<br />

des Kantons Zürich, 2. A., Zürich 1999, § 19 N. 82, § 52 N. 11).<br />

3. Der Stadtrat Bülach ist auf das Begehren, "es sei festzustellen, dass die Wegweisung von<br />

VgT-Aktivisten, die am 7.2.1999 in der Nähe des Kinos ABC Bülach auf öffentlichem Grund<br />

ein Journal verteilten, zu Unrecht erfolgte", nicht eingetreten. Den dagegen erhobenen Rekurs<br />

hat der Bezirksrat Bülach sinngemäss teilweise gutgeheissen, indem er anstelle des<br />

Stadtrats "im Sinne der Erwägungen" feststellte, "dass die VgT-Aktivisten berechtigt gewesen<br />

sind, Journale auf öffentlichem Grund zu verteilen, soweit Dritte nicht unverhältnismässig<br />

behindert worden sind". Mit der vorliegenden Beschwerde rügt der Beschwerdeführer,<br />

dass seinem Feststellungsbegehren nicht entsprochen worden ist.<br />

a) Das Feststellungsbegehren des Beschwerdeführers kann sinngemäss auch als Aufsichtsbeschwerde<br />

verstanden werden, nämlich insofern, als die angestrebte Feststellung die<br />

Grundlage für die Verhängung von Sanktionen gegenüber dem involvierten Polizeibeamten<br />

bilden würde. So ist es offenbar vom Stadtrat Bülach – zumindest unter anderem – aufgefasst<br />

worden. Bei der Aufsichtsbeschwerde handelt es sich um einen blossen Rechtsbehelf,<br />

der keinen Anspruch auf einen förmlichen Beschwerdeentscheid gibt; dementsprechend kann<br />

gegen den ablehnenden Bescheid auf eine Aufsichtsbeschwerde kein Rekurs erhoben werden<br />

(Kölz/Bosshart/Röhl, Vorbem. zu §§ 19-28 N. 30 und 43). Aus dieser Sicht ist es nicht zu<br />

beanstanden, wenn der Stadtrat Bülach auf das streitige Begehren, soweit er es als Aufsichtsbeschwerde<br />

verstanden hat, nicht eingetreten ist.<br />

b) Zu prüfen bleibt, ob der Stadtrat Bülach auf das ihm gestellte Begehren zu Recht auch insoweit<br />

nicht eingetreten ist, als dieses Gesuch als - eigentliches - Feststellungsbegehren zu<br />

verstehen ist.<br />

aa) Dem Begehren um Erlass einer Feststellungsverfügung ist zu entsprechen, wenn der Gesuchsteller<br />

ein schutzwürdiges Interesse an der anbegehrten Feststellung hat. Ist diese ver-<br />

- 64 -


fahrensrechtliche Voraussetzung erfüllt, bedeutet dies – ähnlich wie bei der Erhebung eines<br />

Rechtsmittels gegen eine Anordnung – lediglich, dass Anspruch auf materielle Prüfung der<br />

mit dem Feststellungsbegehren aufgeworfenen Fragen besteht. Deswegen sind für die Bejahung<br />

eines schutzwürdigen Interesses zunächst die gleichen Kriterien wie bei der Rekurslegitimation<br />

massgebend, darüber hinaus aber auch spezifische Kriterien für die Schutzwürdigkeit<br />

des Feststellungsinteresses: Über den Bestand, Nichtbestand oder Umfang öffentlichrechtlicher<br />

Rechte und Pflichten muss Unklarheit bestehen. Das Feststellungsinteresse muss<br />

sodann in dem Sinn aktuell sein, dass der Gesuchsteller bei der Verweigerung Gefahr laufen<br />

würde, Massnahmen zu treffen oder zu unterlassen mit der Folge, dass ihm daraus Nachteile<br />

erwachsen könnten. Ferner muss Gegenstand der anbegehrten Feststellungsverfügung ein<br />

konkretes Rechtsverhältnis sein. Ausgeschlossen sind damit Feststellungsbegehren zur Ermittlung<br />

von Tatsachen sowie solche zur Klärung bloss theoretischer oder abstrakter Rechtsfragen<br />

(Kölz/Bosshart/Röhl, § 19 N. 60 f.).<br />

bb) Wie vorab festzuhalten ist, kann vorliegend ein schutzwürdiges Interesse des Beschwerdeführers<br />

an der anbegehrten Feststellung nicht schon deswegen verneint werden, weil er<br />

ein Verein ist, während die nachgesuchte Feststellung das Verhalten einiger seiner Mitglieder<br />

betrifft. Unabhängig davon, ob die Voraussetzungen der egoistischen Verbandsbeschwerde<br />

erfüllt sind, ist der Beschwerdeführer als Verein vom genannten Vorfall betroffen, weil dabei<br />

von ihm herausgegebene Journale verteilt worden sind.<br />

cc) Hingegen fehlt es bezüglich der vom Beschwerdeführer angestrebten Feststellung an den<br />

Voraussetzungen, die spezifisch das Vorliegen eines schutzwürdigen Feststellungsinteresses<br />

betreffen.<br />

Das Verteilen von Drucksachen und Zeitungen, welche für die ideellen Anliegen des VgT<br />

werben, auf öffentlichem Grund ist zulässig. Besondere Umstände vorbehalten, die hier nicht<br />

in Frage stehen (zum Vorliegen solcher Umstände vgl. RB 1999 Nr. 44), stellt eine derartige<br />

Nutzung des öffentlichen Grundes noch keinen gesteigerten Gemeingebrauch dar und unterliegt<br />

daher auch nicht der Bewilligungspflicht. Es handelt sich nicht um eine bewilligungspflichtige<br />

Veranstaltung im Sinn von Art. 27 der Polizeiverordnung der Stadt Bülach vom 10.<br />

Mai 1995, jedenfalls dann nicht, wenn diese kommunale Bestimmung verfassungskonform<br />

ausgelegt wird. Von dieser Rechtslage sind im vorliegenden Verfahren auch der Stadtrat und<br />

der Bezirksrat Bülach ausgegangen. Letzterer hat diese Beurteilung wie erwähnt in teilweiser<br />

Gutheissung des Rekurses zum Gegenstand eines förmlichen Feststellungsentscheides gemacht.<br />

Es fragt sich allerdings, ob der von ihm getroffene Feststellungsentscheid (der dem<br />

vom Beschwerdeführer angestrebten Entscheid inhaltlich nicht entspricht) dem Grundsatz<br />

widerspricht, dass Feststellungsbegehren nicht der Klärung theoretischer, abstrakter Rechtsfragen<br />

dienen dürfen. Soweit die angestrebte Feststellung über einen konkreten Vorfall in der<br />

Vergangenheit dem Gesuchsteller als Beurteilungsgrundlage für sein künftiges Verhalten dienen<br />

kann, ist ein schutzwürdiges Interesse auch in solchen Fällen zu bejahen. So betrachtet,<br />

war der Feststellungsentscheid des Bezirksrats zulässig.<br />

Der Beschwerdeführer will sich indessen mit der Feststellung des Bezirksrats nicht begnügen,<br />

sondern beharrt auf einem weiter gehenden Feststellungsentscheid, wonach die Wegweisung<br />

der beiden VgT-Aktivisten am 7. Februar 1999 in der Nähe des Kinos ABC in Bülach auf öffentlichen<br />

Grund durch einen Polizeibeamten unrechtmässig gewesen sei. Die Beantwortung<br />

dieser Frage hängt von den näheren Umständen ab, unter denen sich der Vorfall abspielte<br />

und die ungeklärt und umstritten sind. Soll der die Würdigung eines vergangenen Ereignisses<br />

betreffende Feststellungsentscheid dem Gesuchsteller ein taugliche Beurteilungsgrundlage für<br />

sein künftiges Verhalten abgeben, setzt dies voraus, dass sich Letzteres unter gleichen oder<br />

- 65 -


annähernd gleichen Umständen abspielt. Da dies kaum der Fall sein dürfte, ist ein hinreichendes<br />

aktuelles Interesse zu verneinen.<br />

Diese Beurteilung steht im Einklang mit der Praxis zum Erfordernis eines aktuellen Rechtsschutzinteresses<br />

im Zusammenhang mit der Rekurs- und Beschwerdelegitimation. Danach ist<br />

auf das Erfordernis des aktuellen Interesses nur dann zu verzichten, wenn es um eine<br />

Grundsatzfrage geht, über die sonst kaum je ein rechtzeitiger Entscheid gefällt werden könnte<br />

und die sich jederzeit unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen könnte (BGE<br />

111 Ib 56 E. 2 S. 59; RB 1998 Nr. 41, 1987 Nr. 5). Eine Frage, der in diesem Sinn grundsätzliche<br />

Bedeutung zukäme, steht im vorliegenden Fall nicht zur Entscheidung an. Es ist daher<br />

nicht rechtsverletzend, wenn der Bezirksrat Bülach davon abgesehen hat, die näheren<br />

Umstände des streitbetroffenen Vorfalles beweismässig abzuklären, gestützt darauf zu beurteilen,<br />

ob die in der Fragestellung des Beschwerdeführers implizierte Behauptung einer<br />

"Wegweisung" zutreffe und bejahendenfalls mittels förmlichem Entscheid die vom Beschwerdeführer<br />

gestellte Frage zu beantworten, ob die Wegweisung unrechtmässig gewesen<br />

sei.<br />

Demgemäss entscheidet das Verwaltungsgericht: Die Beschwerde wird abgewiesen.<br />

- 66 -


VB.2003.00336 vom 10. März 2004 / Mega-Poster<br />

Fragen:<br />

1. Warum braucht es für ein Werbeplakat eine Bewilligung? Um welche Art von Bewilligung<br />

handelt es sich dabei?<br />

2. Warum führt die Baurekurskommission einen Augenschein durch? Teilen Sie die Auffassung<br />

des Verwaltungsgerichtes, dass ohne Augenschein der Sachverhalt nur mit Fotographien<br />

bestimmt werden kann?<br />

3. Wer ist Beschwerdeführer? In welchem Interesse ist diese Legitimation?<br />

4. Warum muss bei neuen Tatsachen ein zweiter Schriftenwechsel durchgeführt werden?<br />

5. Kann sich auch eine öffentliche Behörde auf die Grundsätze des rechtlichen Gehörs stützen?<br />

Kann sie sich auch auf Art. 6 EMRK stützen?<br />

6. Sind die besonderen Anforderungen an das Warenhaus Jelmoi aus Gründen des kommunalen<br />

Inventars „schutzwürdige Bauten“ unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftsfreiheit<br />

bzw. der Eigentumsgarantie zulässig?<br />

7. Was ist die Funktion des Ermessens der Baubewilligungsbehörde?<br />

8. Welcher rechtliche Zusammenhang besteht zwischen dem Ermessen und der Gemeindeautonomie?<br />

9. Weshalb ist die im Konzept der Stadt Zürich vorgesehene unterschiedliche Behandlung<br />

von Eigen- und Fremdwerbung unzulässig?<br />

10. Weshalb tritt das Verwaltungsgericht auf den Eventualantrag der Stadt Zürich nicht ein?<br />

Können Sie die dahingehende Argumentation nachvollziehen?<br />

----------<br />

Verwaltungsgericht des Kantons Zürich<br />

Regeste<br />

Erteilt die Baubehörde die Baubewilligung aus Einordnungsgründen nur unter Auflagen, darf<br />

die Baurekurskommission nur prüfen, ob die Baubehörde aus vernünftigen Gründen annehmen<br />

durfte, dass mit der Nebenbestimmung Mängel des Bauvorhabens ohne besondere<br />

Schwierigkeiten behoben werden können (E. 2.2). Verletzung der Gemeindeautonomie (E.<br />

3.1). Besondere Situation: Schutzobjekt ist hier ein Warenhaus (Jelmoli), das auf Werbung<br />

angewiesen ist; die Glasfassade ist von besonderer Qualität, so dass sie während 6 Monaten<br />

pro Jahr unbeschränkt (d.h. ohne Werbung) sichtbar sein sollte (E. 3.2). Befristung der Baubewilligung<br />

zulässig, da es sich bei den grossformatigen Werbepostern um ein vergleichsweise<br />

neues Phänomen handelt (E. 4). Teilweise Gutheissung (E. 5).<br />

- 67 -


Sachverhalt<br />

I. Am 25. Oktober 2002 erteilte das Amt für Städtebau der Stadt Zürich der Jelmoli AG die<br />

Baubewilligung für ein grossflächiges Werbebild ("Megaposter") an der südöstlichen Ecke des<br />

Warenhauses Jelmoli in Zürich (Ecke Sihlstrasse/Seidengasse; Kat.Nr. 01). Gemäss der Verfügung<br />

darf Werbung indes nur während vier Monaten pro Jahr gezeigt werden; die Bewilligung<br />

wurde zudem auf zwei Jahre befristet.<br />

II. Die Jelmoli AG erhob gegen die Befristung der Verfügung sowie die Beschränkung der<br />

jährlichen Werbeflächenbelegung Rekurs an die Baurekurskommission I. Nach Durchführung<br />

eines Augenscheins hiess diese den Rekurs am 11. Juli 2003 gut und hob die angefochtenen<br />

Nebenbestimmungen auf.<br />

III. Am 19. September 2003 erhob die Stadt Zürich gegen den Rekursentscheid Beschwerde<br />

ans Verwaltungsgericht. Der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die aufgehobenen<br />

Nebenbestimmungen der Baubewilligung wieder herzustellen, eventualiter das Reklamegesuch<br />

zur Neubeurteilung an das Amt für Städtebau der Stadt Zürich zurückzuweisen, alles<br />

unter Kostenfolge zulasten der Jelmoli AG. Die Baurekurskommission I beantragte am 7. Oktober<br />

2003 die Abweisung der Beschwerde, ebenso die Jelmoli AG am 15. Oktober 2003<br />

unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.<br />

Erwägungen<br />

1. Verfahrensanträge<br />

1.1 Die Beschwerdeführerin verlangt in verfahrensrechtlicher Hinsicht zunächst die Durchführung<br />

eines Augenscheins. – Der Sachverhalt ist in den vorinstanzlichen Akten bereits hinreichend<br />

durch Fotografien dokumentiert. Streitgegenstand bilden zudem nur die Nebenbestimmungen<br />

der Bewilligung, nicht jedoch die Frage der Bewilligungsfähigkeit bzw. -erteilung an<br />

sich. Die Rechtmässigkeit der Nebenbestimmungen kann ohne weiteres aufgrund der fotografischen<br />

Dokumentation sowie den übrigen Akten beurteilt werden, womit vom beantragten<br />

Augenschein abzusehen ist.<br />

1.2 Die Beschwerdeführerin verlangt weiter die Zustellung der Beschwerdeantwort zur Stellungnahme,<br />

eventualiter zur Kenntnisnahme. – Gemäss § 58 Satz 2 des <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflegegesetzes<br />

vom 24. Mai 1959 (VRG) ist die Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels<br />

fakultativ. Aufgrund des Gehörsanspruchs in Art. 29 Abs. 2 der Bundesverfassung vom<br />

18. April 1999 (BV) muss dagegen ein zweiter Schriftenwechsel zwingend durchgeführt<br />

werden, wenn das Gericht auf neue tatsächliche Behauptungen und rechtliche Vorbringen<br />

abstellen will, die erst in der Beschwerdeantwort vorgebracht wurden (Alfred Kölz/Jürg<br />

Bosshart/Martin Röhl, Kommentar zum <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflegegesetz, 2. A., Zürich 1999,<br />

§ 58 Rz. 10). Vorliegend enthielt die Beschwerdeantwort weder neue rechtliche Vorbringen<br />

noch neue tatsächliche Behauptungen (Letztere wären vorliegend ohnehin in aller Regel unzulässig;<br />

§ 52 Abs. 2 VRG). Damit reichte es aus, die Beschwerdeantwort der Beschwerdeführerin<br />

zur Kenntnisnahme zuzustellen. Weiter gehende Ansprüche aus Art. 6 der Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention (dazu VGr, 4. Dezember 2003, VB.2002.00376, E. 3b/aa,<br />

www.vgrzh.ch) stehen der beschwerdeführenden Gemeinde aufgrund von Art. 1 (bzw. Art.<br />

34) EMRK nicht zu.<br />

2. Nebenbestimmungen von Einordnungsentscheiden<br />

2.1 Das Warenhaus Jelmoli, an dem das Megaposter angebracht werden soll, steht im kommunalen<br />

Inventar der schutzwürdigen Bauten. Aus der Inventarisierung gemäss § 203 Abs. 2<br />

des Planungs- und Baugesetzes vom 7. September 1975 (PBG) ergibt sich, dass das Bauvor-<br />

- 68 -


haben den erhöhten Einordnungsanforderungen von § 238 Abs. 2 PBG genügen muss. Das<br />

Bauvorhaben muss mithin nicht nur eine befriedigende (§ 238 Abs. 1 PBG), sondern eine gute<br />

Gesamtwirkung erreichen (§ 238 Abs. 2 PBG; im selben Sinn auch der für Kernzonen geltende<br />

§ 43 Abs. 1 der Bau- und Zonenordnung der Stadt Zürich vom 23. Oktober 1991). Der<br />

private Gestaltungsplan "Warenhaus Jelmoli" vom 6. Februar 2002 erhöht diese Anforderungen<br />

noch, indem er in Art. 12 Abs. 1 für bauliche Massnahmen eine "besonders gute" architektonische<br />

und städtebauliche Wirkung verlangt.<br />

Der kommunalen Baubehörde steht bei der Anwendung der genannten Vorschriften Ermessen<br />

zu. Der Baurekurskommission könnte diesen Spielraum aufgrund des Wortlauts von § 20<br />

Abs. 1 VRG an sich frei überprüfen. Aufgrund der Gemeindeautonomie (Art. 48 der Kantonsverfassung<br />

vom 18. April 1869 in Verbindung mit Art. 50 Abs. 1 BV) wird diese Überprüfungsbefugnis<br />

jedoch wesentlich eingeschränkt (BGE 115 Ia 363 E. 3b; VGr, 15. März 2000,<br />

VB.2001.00340, E. 2c, www.vgrzh.ch; Kölz/Bosshart/Röhl, § 20 Rz. 19, je mit Hinweisen).<br />

Lässt sich der kommunale Entscheid auf vernünftige Gründe stützen, darf ihn die Baurekurskommission<br />

nicht allein deshalb aufheben, weil ihr eine gegenteilige Begründung ebenfalls als<br />

vertretbar erscheint.<br />

2.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass sie die Bewilligung für das Megaposter aufgrund<br />

von § 238 Abs. 2 PBG an sich hätte verweigern müssen. Anstelle der vollständigen<br />

Verweigerung sei nun die befristete Bewilligung unter Auflagen als mildere Massnahme getreten.<br />

Die Nebenbestimmungen seien demnach zulässig, weil sie dem Verhältnismässigkeitsprinzip<br />

Rechnung trügen. Indem die Baurekurskommission die Nebenbestimmungen aufhob,<br />

habe sie ihr Ermessen zu Unrecht anstelle jenes der Beschwerdeführerin gesetzt.<br />

Anordnungen betreffend die maximale Dauer von Werbung tangieren die Wirtschaftsfreiheit<br />

(Art. 27 BV; vgl. BGE 128 I 3 E. 3a). Die vorliegend zu beurteilenden Nebenbestimmungen<br />

müssen somit auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen (Art. 36 Abs. 1 BV). Nebenbestimmungen<br />

von Baubewilligungen können in der Regel auf § 321 Abs. 1 PBG abgestützt werden.<br />

Danach ist die Baubewilligung mit den erforderlichen Nebenbestimmungen (Auflagen,<br />

Bedingungen, Befristungen) zu verknüpfen, wenn damit Mängel des Bauvorhabens ohne besondere<br />

Schwierigkeiten behoben werden können. Die Zulässigkeit von Nebenbestimmungen<br />

kann sich auch aus dem mit dem Gesetz verfolgten Zweck ergeben; sie können insbesondere<br />

dann gerechtfertigt sein, falls eine Bewilligung ohne Nebenstimmungen hätte verweigert<br />

werden müssen (Art. 5 Abs. 2 BV; BGE 121 II 88 E. 3; VGr, 23. Januar 2003,<br />

VB.2002.00351, E. 3a, www.vgrzh.ch; Ulrich Häfelin/Georg Müller, <strong>Allgemeines</strong> <strong>Verwaltungsrecht</strong>,<br />

4. A., Zürich/etc. 2002, Rz. 902 und 918).<br />

Erteilt die Baubehörde, wie hier, eine Baubewilligung aus Einordnungsgründen nur unter Auflagen,<br />

so darf die Baurekurskommission aufgrund ihrer eingeschränkten Kognition nur überprüfen,<br />

ob die Baubehörde aus vernünftigen Gründen annehmen durfte, dass mit der Nebenbestimmung<br />

Mängel des Bauvorhabens ohne besondere Schwierigkeiten behoben werden<br />

können (vgl. § 321 Abs. 1 PBG sowie vorn E. 2.1). Lassen sich ebenso vernünftige Gründe<br />

für weniger oder andere Nebenbestimmungen finden, darf die Rekurskommission nicht ihr<br />

Ermessen anstelle jenes der Baubehörde setzen. Die Baurekurskommission darf jedoch dann<br />

eingreifen, wenn die Gemeinde ihr Ermessen missbrauchte, überschritt oder sonst in irgendeiner<br />

Weise rechtsverletzend handhabte. Damit ist im Folgenden zu prüfen, ob die angeordnete<br />

"Brache" und die Befristung der Baubewilligung geeignete und erforderliche Massnahmen<br />

darstellen, um die mit den Einordnungsvorschriften verfolgten öffentlichen Interessen zu<br />

erreichen (Art. 36 Abs. 3 BV) beziehungsweise Mängel des Bauvorhabens zu beheben (§<br />

321 Abs. 1 PBG).<br />

- 69 -


3. Begrenzung der jährlichen Werbezeit<br />

3.1 Die Baubehörde ordnete in der Bewilligung eine "Brache" an; damit ist ein Zeitraum gemeint,<br />

in dem die Fläche nicht mit Werbung versehen werden darf. Die Rekurskommission<br />

hob diese Auflage auf, da sich die Plakatwerbestelle genügend einordne. Die Beschwerdeführerin<br />

macht dagegen wie bereits im Rekursverfahren geltend, dass die besondere Rücksichtnahme<br />

gegenüber dem schützenswerten Gebäude (§ 238 Abs. 2 PBG) nur durch längere<br />

Phasen mit freier Sicht auf Gebäude und Fassade gewährleistet werden könne. Würde man<br />

den gläsernen Eckturm permanent abdecken, würde sich dies negativ auf das Erscheinungsbild<br />

der anschliessenden Fassaden auswirken. – Angesichts der vorliegend anwendbaren besonders<br />

hohen Einordnungsanforderungen (E. 2.1) sowie der besonderen baulichen Qualitäten<br />

des Warenhauses "Jelmoli" leuchtet die Argumentation der Beschwerdeführerin ohne<br />

weiteres ein. Die gläserne Fassade des Warenhauses wird in ihrer Gesamtheit besser sichtbar,<br />

wenn der Plakatwerbeträger über dem Eingang von Zeit zu Zeit frei bleibt. Für die Auffassung<br />

der Baurekurskommission mögen ebenso vertretbare Gründe gesprochen haben. Allerdings<br />

durfte sie deswegen ihr Ermessen nicht an Stelle desjenigen der Beschwerdeführerin<br />

setzen. Der Entscheid verletzt insoweit die Gemeindeautonomie.<br />

3.2 Gemäss der Baubewilligung darf Werbung nur während 4 Monaten pro Jahr gezeigt werden.<br />

Diese Dauer deckt sich mit dem von der Beschwerdeführerin gemeinsam mit Vertretern<br />

der Werbebranche entwickelten Konzept "grossflächige Werbebilder in der Stadt Zürich".<br />

Danach gilt für ortsgebundene Fremdwerbung eine "Brache" von drei Monaten, für ortsgebundene<br />

Eigenwerbung dagegen eine "Brache" von acht Monaten. – Die im Konzept getroffene<br />

Unterscheidung leuchtet nicht ein. Anordnungen betreffend die maximale Dauer von<br />

Werbung tangieren die Wirtschaftsfreiheit (vorn E. 2.2). Bei der deshalb gebotenen Interessenabwägung<br />

wiegt nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung das private Interesse an Eigenwerbung<br />

schwerer als bei Fremdwerbung (BGE 128 I 3 E. 4b). Zusätzlich ist hier zu beachten,<br />

dass das Schutzobjekt ein Warenhaus ist und die Weiterführung dieser angestammten<br />

und für die Erhaltung des Schutzobjekts entscheidenden Nutzung insofern besondere Anforderungen<br />

an die Werbung stellt, als das Publikum auf das Angebot des Warenhauses und<br />

insbesondere auch auf saisonal wechselnde Angebote oder Aktionen aufmerksam gemacht<br />

werden soll. Das auf andere Bedürfnisse ausgerichtete "Megaposter-Konzept" lässt deshalb<br />

keine dem vorliegenden Einzelfall gerecht werdende Auslegung der Einordnungsbestimmung<br />

zu und ist folglich unbeachtlich (vgl. BGE 122 V 19, 25 E. 5 b/bb). Damit im Interesse des<br />

Denkmalschutzes die Glasfassade auch ungestört wahrgenommen werden kann, genügt eine<br />

Beschränkung der jährlichen Werbezeit auf sechs Monate; eine Verpflichtung zum monatlichen<br />

Wechsel der Sujets ist nicht erforderlich, da bereits durch die sich laufend ändernden<br />

Werbebedürfnisse des Warenhauses für einen hinreichenden Wechsel gesorgt ist. Indem die<br />

Beschwerdeführerin eine "Brache" von mehr als sechs Monaten anordnete, hat sie ihr Ermessen<br />

unter unvollständiger Würdigung der in Frage stehenden öffentlichen und privaten Interessen<br />

und damit rechtsverletzend ausgeübt. Die Baubewilligung ist folglich insoweit abzuändern.<br />

3.3 Die Beschwerdeführerin beantragt eventualiter die Aufhebung des angefochtenen Entscheids<br />

und die Rückweisung der Sache an die Bewilligungsbehörde zur neuen Beurteilung.<br />

Aus der Begründung des Antrages geht hervor, dass die Sache an die Baubehörde zurückgewiesen<br />

soll, damit diese das Reklamegesuch ablehnen könne. Eine solche Rückweisung kann<br />

indessen nicht Gegenstand dieses Verfahrens sein. Die Beschwerdeführerin hat die Bewilligung<br />

für die Plakatwerbung rechtskräftig erteilt. Im vorliegenden Rekurs- und Gerichtsverfahren<br />

sind einzig die angeordneten "Brachen" und die Befristung der Bewilligung streitig. Die<br />

Bewilligungsfähigkeit des Vorhabens an sich bildet dagegen nicht Gegenstand des Verfah-<br />

- 70 -


ens. Der Eventualantrag erweist sich damit als unzulässige Erweiterung des Prozessthemas<br />

und ist folglich abzuweisen.<br />

4. Befristung<br />

Die Beschwerdeführerin befristete die Baubewilligung für die Dauer von zwei Jahren. Auch<br />

diese Nebenbestimmung wurde von der Baurekurskommission aufgehoben.<br />

Verglichen mit der vollständigen Bauverweigerung kann sich eine befristete Baubewilligung<br />

als eine ebenfalls geeignete, aber mildere Massnahme erweisen, um die mit dem Gesetz verfolgten<br />

öffentlichen Interessen zu erreichen (vgl. RB 1990 Nr. 83). So darf die Baubehörde<br />

eine UKW-Antenne nicht allein deshalb verweigern, weil sie Bedenken hat, dass mit der Zeit<br />

ganze "Antennenwälder" entstehen und so die Einordnungsvorschrift gewissermassen mit<br />

der Zeit verletzt wird. Vielmehr ist sie in so einem Fall gehalten, die Bewilligung so lange zu<br />

erteilen, bis eine entsprechende Anlage zum gemeinschaftlichen Empfang von Radiosendungen<br />

erstellt worden ist (VGr, 17. Januar 1984, BEZ 1984 Nr. 28 E. 4c = ZBl 86/1985, S.<br />

70, 75). – Vorliegend durfte die Beschwerdeführerin bei der Befristung der Bewilligung der<br />

Tatsache Rechnung tragen, dass es sich bei den grossformatigen Werbeflächen um ein vergleichsweise<br />

neues Phänomen handelt. In so einem Fall liegt es innerhalb des der Bewilligungsbehörde<br />

zustehenden Ermessensspielraums, die Bewilligung nur für eine beschränkte<br />

Dauer zu erteilen. Stellt der Bauherr vor Ablauf der Bewilligungsdauer ein neues Gesuch,<br />

kann die Behörde gestützt auf die bereits mit Megapostern gemachten Erfahrungen die Bewilligung<br />

erneut erteilen, diese gegebenenfalls mit Nebenbestimmungen versehen oder aber<br />

ganz verweigern. Indem die Baurekurskommission die Befristung der Bewilligung aufhob,<br />

setzte sie ihr eigenes Ermessen anstelle desjenigen der Beschwerdeführerin. Der angefochtene<br />

Entscheid ist insoweit wegen Verletzung der Gemeindeautonomie aufzuheben.<br />

5.<br />

Nach dem Gesagten ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen. Die Befristung der Baubewilligung<br />

ist wieder herzustellen und die jährliche Werbezeit auf sechs Monate festzulegen. Weil<br />

keine der Parteien überwiegend oder gar vollständig obsiegt hat, sind ihnen die Verfahrenskosten<br />

je zur Hälfte aufzuerlegen (§ 13 Abs. 2 VRG) und der Beschwerdegegnerin keine Parteientschädigung<br />

zuzusprechen (§ 17 Abs. 2 VRG; Kölz/Bosshart/Röhl § 13 N. 15 und § 17<br />

N. 32). Die Kosten des Rekursverfahrens sind analog der Kostenverteilung im vorliegenden<br />

Verfahren neu zu verlegen. An der Entschädigungsregelung des Rekursentscheids ist dagegen<br />

nichts zu ändern, da auch im Rekursverfahren keine der Parteien überwiegend obsiegt<br />

hat.<br />

Demgemäss entscheidet die Kammer:<br />

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid der Baurekurskommission I<br />

vom 11. Juli 2003 teilweise aufgehoben. Demgemäss wird Ziff. I./2 der Verfügung des<br />

Amtes für Städtebau der Stadt Zürich vom 25. Oktober 2002 wieder hergestellt. Ziff.<br />

I./1. wird unter Aufhebung von Erwägung lit. b und folgender Neufassung von Erwägung<br />

lit. c wieder hergestellt:<br />

"Die Bewilligung wird für 2 Jahre erteilt. Die Fläche kann maximal 6 Monate pro Jahr<br />

mit Bildern belegt werden."<br />

- 71 -


Sachverhalte<br />

1. Liestaler Banntag<br />

Der Banntag ist ein in der Nordwestschweiz, vor allem im Kanton Basel-Landschaft, seit<br />

Jahrhunderten geübter Brauch. Dabei werden jeweils im Frühjahr in Rotten die Gemeindegrenzen<br />

abgeschritten. In manchen Gemeinden, so unter anderem in Liestal, werden Gewehre<br />

mitgeführt, mit denen ohne Kugeln geschossen wird. Der Stadtrat Liestal erliess am 26.<br />

März 1996 Weisungen betreffend das Schiessen am Banntag 1996 in Liestal.<br />

Gegen diese Weisungen erhob Ruth Gonseth Beschwerde beim Regierungsrat des Kantons<br />

Basel-Landschaft. Für den Banntag 1997 erliess der Stadtrat neue, teilweise geänderte Weisungen,<br />

welche Ruth Gonseth abermals mit Beschwerde beim Regierungsrat anfocht. Der<br />

Regierungsrat wies die Beschwerden am 7. Juli 1998 ab.<br />

Ruth Gonseth gelangte gegen diesen Entscheid an das Verwaltungsgericht des Kantons Basel-Landschaft.<br />

Am 1. Januar 1999 trat eine Verordnung des Regierungsrates vom 15. Dezember<br />

1998 über das Schiessen am Banntag in Kraft. Diese erlaubt das Schiessen ohne Kugeln<br />

im Siedlungsgebiet während einer bestimmten Zeit innerhalb von festgesetzten Schiesszonen<br />

und beauftragt den Gemeinderat, die Schiesszeiten und Schiesszonen festzulegen. Mit<br />

Urteil vom 7. April 1999 erwog das Verwaltungsgericht, die Weisungen verletzten weder das<br />

eidgenössische Umweltschutz- und Sprengstoffrecht noch das Grundrecht auf Leben und<br />

körperliche Unversehrtheit. Demgemäss wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde ab.<br />

Ruth Gonseth erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht mit dem Antrag,<br />

das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass die Weisungen<br />

des Stadtrats Liestal 1996 und 1997 Bundesrecht und die EMRK verletzten.<br />

Fragen zur Falllösung:<br />

1) Wie sind die Weisungen der Gemeinde Liestal rechtlich zu qualifizieren?<br />

2) Prüfen Sie, ob die Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorliegend zulässig ist?<br />

3) Welche Überlegungen können zu dem von der Beschwerdeführerin vorgebrachten<br />

Rechtsbegehren auf Feststellung der Rechtswidrigkeit angestellt werden?<br />

[126 II 300 / Liestaler Banntag]<br />

- 72 -


2. Mehrfamilienhaus<br />

Am 28. Juli 1998 stellte der Beschwerdeführer bei der Gemeinde ein Baugesuch für folgendes<br />

Bauvorhaben: "Neubau Mehrfamilienhaus mit Gewerberäumen und Autoeinstellhalle.<br />

Wärmepumpenheizung". Das Bauprojekt sieht zwei Baukörper vor, die durch den Erschliessungstrakt<br />

verbunden sind. In beiden Baukörpern ist sowohl Gewerbe- als auch Wohnnutzung<br />

vorgesehen.<br />

Am 17. Dezember 1998 erteilte der Regierungsstatthalter die Gesamtbewilligung und versah<br />

diese auf Antrag der Gemeinde unter anderem mit folgenden Nebenbestimmungen:<br />

Nebenbestimmung Ziff. 2.4:<br />

Die Überbauung darf, gestützt auf Art. 41 Abs. 3 GBR, nicht in Etappen ausgeführt werden.<br />

Zur Sicherstellung hat die Bauherrschaft vor Baubeginn einen Finanzierungsnachweis einer<br />

Bank für das gesamte Bauvorhaben beizubringen.<br />

Art. 41 Abs. 3 GBR besagt, dass die Wohnnutzung in den Wohn- und Arbeitszonen höchstens<br />

50% der effektiven Ausnützungsziffer (AZ) betragen dürfe. Die Gemeinde erläutert dazu,<br />

dass diese Bestimmung erlassen worden sei, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen<br />

Bevölkerung und Arbeitsplätzen anzustreben. Würde nun die bewilligte Überbauung in Etappen<br />

erstellt und zunächst nur das Haus A – welches einen geringeren Gewerbeanteil aufweist<br />

- errichtet, ohne dass sichergestellt sei, dass das Haus B mit der höheren Gewerbenutzung<br />

ebenfalls erstellt wird, wäre Art. 41 Abs. 3 GBR verletzt. Eine Etappierung wäre nur<br />

möglich, wenn beide Baukörper je 50% Wohn- oder Gewerbenutzung aufweisen würden;<br />

dies treffe hier nicht zu.<br />

Nebenbestimmung Ziff. 2.6:<br />

Zudem hat die Bauherrschaft vor Baubeginn zur Sicherstellung der Errichtung des Kinderspielplatzes<br />

und Aufenthaltsbereiches eine bedingungslose, unwiderrufliche Bankgarantie zugunsten<br />

der Gemeinde in der Höhe von Fr. 20’000.-- zu erbringen.<br />

Die Gemeinde führt dazu aus, der Beschwerdeführer habe 1994 auf dem Nachbargrundstück<br />

ein Mehrfamilienhaus erstellt und den in den Plänen vorgesehenen Kinderspielplatz und Aufenthaltsbereich<br />

erst 1998, nur auf Druck der Gemeinde hin und zudem nur provisorisch errichtet.<br />

Nebenbestimmung Ziff. 2.8:<br />

Spätestens drei Monate nach Bezug der ersten Wohnung müssen folgende Anlagen fertigerstellt<br />

sein: -- der Kinderspielplatz/Aufenthaltsbereich -- die Gehweganlage, wobei die Ausführungsart<br />

und Materialwahl nach Weisungen der Baupolizei zu erfolgen hat.<br />

- 73 -


Gesetzliche Grundlagen:<br />

Baugesetz (BauG) vom 9. Juni 1985<br />

Art. 29 3. Nebenbestimmungen und Anmerkungen im Grundbuch<br />

1 Ausnahmebewilligungen können für eine bestimmte Zeitdauer oder mit dem Vorbehalt jederzeitigen<br />

Widerrufs gewährt werden. Bei Ablauf der Befristung und bei Widerruf ist die bewilligte Baute oder<br />

Anlage vom jeweiligen Eigentümer innert angemessener Frist zu entfernen; er hat keinen Anspruch auf<br />

Entschädigung.<br />

2<br />

Ausnahmebewilligungen können an Bedingungen geknüpft und mit Auflagen verbunden werden. Zulässig<br />

sind insbesondere Bestimmungen, wonach<br />

a) für wertvermehrende Aufwendungen, die als Ausnahme bewilligt werden, im Enteignungsfall<br />

keine Entschädigung geleistet wird; Bauten und Anlagen,<br />

b) die nur im Hinblick auf einen bestimmten Zweck bewilligt werden, nicht zweckentfremdet, abparzelliert<br />

oder in Stockwerkeigentum aufgeteilt werden dürfen;<br />

c) Sicherheit zu leisten ist für die Einhaltung von Pflichten, die mit der Baubewilligung verbunden<br />

sind.<br />

3 Die Befristung, der Vorbehalt des Widerrufs, die Wegbedingung der Entschädigung (Beseitigungs-<br />

und Mehrwertrevers), die Zweckentfremdungs-, Abparzellierungs- und Aufteilungsverbote sowie die<br />

Pflicht zur Sicherheitsleistung sind vor Baubeginn im Grundbuch anzumerken.<br />

Art. 38 8. Bauentscheid<br />

8.1 Prüfung; Gegenstände<br />

1 Nach der formellen Prüfung leitet die Gemeindeverwaltung die Bau- und Ausnahmegesuche sofort an<br />

die Baubewilligungsbehörde weiter und weist auf offenkundige materielle Mängel hin.<br />

2 Im Bauentscheid wird geurteilt über das Baugesuch und die zugehörigen Ausnahmegesuche sowie<br />

die Kostenpflicht. Der Bauentscheid setzt sich mit den unerledigten Einsprachen auseinander.<br />

3<br />

Mit der Baubewilligung können Bedingungen und Auflagen verbunden werden; Artikel 29 Absatz 2<br />

ist sinngemäss anwendbar.<br />

4 Im Dispositiv des Bauentscheides ist anzugeben,<br />

a) welche weiteren Bewilligungen der Bauherr im Fall von Artikel 2a Absatz 2 Buchstabe b noch<br />

beizubringen hat,<br />

b) welche Gesuchsgegenstände im Fall der Teilbaubewilligung (Art. 32 Abs. 2) noch beurteilt<br />

werden müssen.<br />

Fragen zur Falllösung:<br />

1) In welchen Konstellationen können Nebenbestimmungen bei (Bau-) Bewilligungen<br />

sinnvollerweise vorgesehen werden?<br />

2) Wie ist die Nebenbestimmung Ziff. 2.4 rechtlich zu qualifizieren?<br />

Wie ihre die Zulässigkeit zu beurteilen?<br />

Müsste sie allenfalls griffiger ausgestaltet werden?<br />

3) Welches ist die Rechtsnatur der Nebenbestimmung Ziff. 2.6, wie ist ihre Zulässigkeit<br />

zu beurteilen?<br />

- 74 -


4) Welche Beurteilung kann bezüglich der Nebenbestimmung Ziff. 2.8 abgegeben<br />

werden, insbesondere bezüglich der Vereinbarkeit mit Art. 29 BauG?<br />

[BVR 2000 71 / Mehrfamilienhaus]<br />

- 75 -


3. Schulweg<br />

A. und B. sind die Eltern von C., geb. 1994, welcher auf den Beginn des Schuljahres<br />

2001/2002 in die erste Primarklasse eingeschult wurde. Mit Schreiben vom 8. Juni 2001<br />

orientierte der Schulrat der Gemeinde Schwyz unter anderem A. und B., dass im kommenden<br />

Jahr die Kinder der St. Martin-Strasse nicht wie in den Vorjahren in das Schulhaus Herrengasse,<br />

sondern in das Schulhaus Lücken eingeteilt würden. Mit dieser Zuteilung verlängert<br />

sich der Suchlweg von 300 m um 500 m.<br />

Auf ein Wiedererwägungsgesuch hin hielt der Schulrat mit Schreiben vom 4. Juli 2001 an<br />

der Einteilung fest und lehnte die Umteilung in das Schulhaus Herrengasse ab.<br />

Der Regierungsrat des Kantons Schwyz trat mit Beschluss vom 14. August 2001 auf eine<br />

dagegen erhobene Beschwerde im Sinne der Erwägungen nicht ein, weil die Zuteilung eines<br />

Schülers in ein Schulhaus keine anfechtbare Verfügung darstelle. Die dagegen eingereichte<br />

Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit Entscheid vom 30. Oktober<br />

2001, versandt am 13. November 2001, im Sinne der Erwägungen ab.<br />

Dagegen erheben A. und B. mit Eingabe vom 13. Dezember 2001 beim Bundesgericht<br />

staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den angefochtenen Entscheid aufzuheben. Der<br />

Regierungsrat des Kantons Schwyz und der Schulrat der Gemeinde Schwyz schliessen auf<br />

Abweisung der Beschwerde. Das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz beantragt, die<br />

Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.<br />

Gesetzliche Grundlage:<br />

Verordnung über die <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege des Kanton Schwyz vom 6. Juni 1974<br />

§ 6 b) Verfügungen<br />

1<br />

Verfügungen sind hoheitliche, individuelle und einseitige Anordnungen einer<br />

Behörde, mit welchen:<br />

a) Rechte und Pflichten bestimmter Personen begründet, abgeändert oder<br />

aufgehoben werden;<br />

b) das Bestehen, Nichtbestehen oder der Inhalt von Rechten und Pflichten<br />

festgestellt wird;<br />

c) Begehren auf Begründung, Änderung, Aufhebung oder Feststellung von<br />

Rechten und Pflichten abgewiesen oder durch Nichteintreten erledigt werden;<br />

d) die Vollstreckung von öffentlich-rechtlichen Ansprüchen angeordnet wird.<br />

2<br />

Den Verfügungen ist die unrechtmässige Verweigerung oder Verzögerung<br />

gleichgestellt.<br />

3 Den Verfügungen sind Anordnungen gleichgestellt, welche Verwaltungsbehörden<br />

von Gemeinwesen in Anwendung privatrechtlicher Vorschriften treffen.<br />

- 76 -


Fragen zur Falllösung:<br />

1) Handelt es sich bei der Zuteilung eines Schülers in ein Schulhaus um eine Verfügung?<br />

2) Wie ist folglich der Nichteintretensentscheid zu beurteilen?<br />

3) Inwiefern ist in casu das kantonale Recht, also insbesondere der abgedruckte § 6<br />

der Verordnung über die <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege relevant? Welche Rolle spielt<br />

Art. 5 VwVG im vorliegenden Fall?<br />

4) Welche Bedeutung ist dem Argument der Behörde beizumessen, dass die getroffene<br />

Regelung ein Sonderstatusverhältnis betreffe?<br />

5) Wie wären andere Entscheide im schulischen Bereich, wie z.B. Verweis, Ausschluss,<br />

Änderung des Stundenplans, Zuweisung in eine andere Klasse in demselben<br />

Schulhaus etc., zu bewerten?<br />

[2P.324/2001; Urteil vom 28. März 2002 / Schulweg]<br />

- 77 -


4. Eidgenössische Bankenkommission<br />

X. ist bankengesetzliche Revisionsstelle einer schweizerischen Bank Y., gleichzeitig auch<br />

Kontrollstelle im Sinne von Art. 727 ff. OR. Mit Verfügung vom 3. Dezember 1976 (Ziff. 1<br />

Abs. 1) drückte die schweizerische Bankenkommission gegenüber X. ihr Missfallen hinsichtlich<br />

der bankengesetzlichen Revision der Y. zum Geschäftsjahr 1974 aus. Der X. wird eine<br />

Verletzung der Meldepflicht gegenüber der Bankenkommission sowie der Sorgfaltspflicht<br />

vorgeworfen. Die Bankenkommission beanstandet vor allem eine ungerechtfertigte Unterbrechung<br />

der Revisionsarbeiten im Sommer 1975, passives Verhalten im Falle von strafbaren<br />

Unregelmässigkeiten eines ehemaligen Direktors der Y., sowie die unsorgfältige Bewertung<br />

von Immobilien und Grundpfandrechten der Y.<br />

Die Bankenkommission weist X. sodann an, innert einer bestimmten Frist sein Inspektorat<br />

entsprechend dem Stand der Revisionsmandate auszubauen (Ziff. 1 Abs. 2 und 4), unter<br />

Vorlage eines Ausbauprojektes (Ziff. 1 Abs. 3) und stufenweiser Realisierung bei Anstellung<br />

zusätzlicher Revisoren (Ziff. 1 Abs. 5).<br />

Schliesslich wird X. für den Fall der Nichtbefolgung der Weisungen der Entzug der Anerkennung<br />

als bankengesetzliche Revisionsstelle angedroht (Ziff. 1 Abs. 6); ferner Kenntnis von<br />

einer Strafanzeige zu Handen des eidgenössischen Finanzdepartements wegen Widerhandlung<br />

gegen das Bankengesetz gegeben (Ziff. 2).<br />

X. erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Beanstandungen der Bankenkommission.<br />

Fragen zur Falllösung:<br />

1) Handelt es sich bei den Anweisungen Ziff. 1 Abs. 1, 2, 3, 4, 5, 6 sowie Ziff. 2<br />

der schweizerischen Bankenkommission um Verfügungen?<br />

2) Welche Konsequenz hat die Beantwortung der Frage 1) auf die Beurteilung der<br />

vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde vor dem Bundesgericht?<br />

3) Welches ist das Verhältnis zwischen der Beschwerdelegitimation und dem Vorliegen<br />

einer Verfügung?<br />

4) Welche Parallelen können zum Schluweg-Fall gezogen werden?<br />

[103 Ib 350 / Eidgenössische Bankenkommission]<br />

- 78 -


BGE 113 Ia 81 / Trüllikon<br />

Fragen:<br />

Modul VI<br />

Verfahren auf Erlass von Verfügungen<br />

1. Wie ist der Entscheid über die Begründung eines Nutzungsplanes rechtlich zu qualitzieren:<br />

Handelt es sich um ein Gesetz, eine Verordnung, eine Verfügung, eine Weisung oder etwas<br />

anderes?<br />

2. Welche rechtlichen Konequenzen lassen sich aus dieser Qualifikation ableiten für die<br />

Rechtmässigkeit, Anfechtbarkeit, spätere Abänderbarkeit?<br />

3. Warum hat die Gemeindeversammlung über den Nutzungsplan entschieden? Ist es zwingend,<br />

dass die Gemeinde entscheidet?<br />

4. Was beinhaltet ein Nutzungsplan? Worin unterscheidet er sich inhaltlich vom Richtplan?<br />

Vom Fahrplan? Vom Vorlesungsplan? Vom Finanzplan?<br />

5. Was versteht man unter einer Kernzone?<br />

6. Wie ändert sich der Wert eines Grundstückes, das von einer Einfamilienhauszone in eine<br />

Kernzone eingegliedert wird?<br />

7. Nach welchen Kriterien sind die Zonen festzulegen? Wer hat die letztinstanzliche Entscheidbefugnis<br />

für die Auslegung dieser Kriterien?<br />

8. Welche Funktion hat das Genehmigungsverfahren durch den Regierungsrat?<br />

9. Inwieweit hat der Regierungsrat der Gemeindeautonomie Rechnung zu tragen?<br />

10. Welche Rechte kann ein Grundstückeigentümer aus dem Grundrecht der Eigentumsgarantie<br />

gegenüber einer Zonenplanung geltend machen?<br />

11. Welches ist im vorliegenden Fall der rechtserhebliche Sachverhalt?<br />

12. Welchen Stellenwert hat der Augenschein in einem Rechtsmittelverfahren?<br />

13. Warum müssen die Parteien bei einem Augenschein anwesend sein können? Was hätte<br />

der Beschwerdeführer im konkreten Fall beispielsweise geltend machen können?<br />

14. Warum wurde durch die Durchführung des Augenscheins ohne den Beschwerdeführer<br />

nach dessen Auffassung das rechtliche Gehör verletzt?<br />

15. Was ist letztlich die Funktion des rechtlichen Gehörs?<br />

16. Welche Argumente macht der Regierungsrat geltend?<br />

17. Welche Stellung hat der Baudirektor im Verfahren gegenüber dem Entscheid des Regierungsrates?<br />

18. Warum handelt es sich nach Meinung des Bundesgerichts um einen Augenschein, d.h. ein<br />

formelles Beweisverfahren und nicht bloss um eine informelle Besichtigung?<br />

- 79 -


19. Warum folgt das Bundesgericht nicht der Auffassung der Regierung, wonach der Baudirektor<br />

erst auf Grund des Augenscheins zum Antrag auf Nichtgenehmigung gekommen<br />

sei, weshalb es sich hier nicht um ein formelles Beweisverfahren gehandelt habe? Wie<br />

stellen Sie sich zu diesem Argument? Was hätte man tun müssen, falls dieses Argument<br />

stichhaltig ist?<br />

--------<br />

15. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 22. Mai 1987 i.S. E.<br />

gegen Gemeinde Trüllikon und Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)<br />

Regeste<br />

Art. 4 BV; rechtliches Gehör, Teilnahme am Augenschein. Wird im Rahmen der Genehmigung<br />

einer kommunalen Nutzungsplanung ein Augenschein ohne Beteiligung der Grundeigentümer<br />

durchgeführt und im Anschluss daran die Einzonung eines Grundstücks verweigert, ohne<br />

dass ein zweiter Augenschein unter Beizug des betreffenden Eigentümers vorgenommen<br />

worden wäre, so wird dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.<br />

Sachverhalt<br />

E. ist Eigentümer eines Grundstückes im Ortsteil Rudolfingen der Politischen Gemeinde Trüllikon.<br />

Die Gemeindeversammlung von Trüllikon setzte am 13. Dezember 1985 die kommunale Nutzungsplanung<br />

fest, wobei sie auf Antrag von E. auch dessen Grundstück in die Kernzone I<br />

miteinbezog, um dem Eigentümer den Bau eines Ökonomiegebäudes zu ermöglichen. Im Genehmigungsverfahren<br />

gelangte der Regierungsrat des Kantons Zürich zur Auffassung, ein<br />

Neubau an dieser Stelle würde das unter Schutz stehende Ortsbild von Rudolfingen schwer<br />

beeinträchtigen, und nahm deshalb die Kernzonen- Erweiterung im Bereiche der fraglichen<br />

Parzelle von der Genehmigung aus. Gegen diesen Beschluss hat E. staatsrechtliche Beschwerde<br />

wegen Verletzung von Art. 4 BV sowie der Eigentumsgarantie erhoben. Das Bundesgericht<br />

heisst die Beschwerde gut.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

2. -- Der Beschwerdeführer rügt zunächst, der Regierungsrat habe ihm das rechtliche Gehör<br />

verweigert, da der Baudirektor am 17. Juni 1986 in Anwesenheit eines Vertreters des Amtes<br />

für Raumplanung, des Gemeindepräsidenten von Trüllikon sowie des Gemeindeschreibers einen<br />

Augenschein durchgeführt habe, zu welchem er nicht eingeladen worden sei. In der Folge<br />

habe ihm die Baudirektion zwar am 2. Juli 1986 mitgeteilt, sie nehme in Aussicht, dem<br />

Regierungsrat die Verweigerung der Genehmigung für die Festsetzung der Kernzone im Bereich<br />

seines Grundstückes zu beantragen, und habe ihm noch Gelegenheit gegeben, sich<br />

schriftlich zu äussern. Diese nachträgliche Anhörung habe indessen nur noch Alibifunktion<br />

gehabt; die Würfel seien bereits an der Augenscheinsverhandlung gefallen. Die Direktion der<br />

öffentlichen Bauten erklärt demgegenüber, der Baudirektor habe die Örtlichkeit besichtigt, um<br />

sich ein eigenes Bild für den dem Regierungsrat zu unterbreitenden Antrag über die Genehmigung<br />

der Nutzungsplanung der Gemeinde Trüllikon zu machen. Es habe sich nicht um eine<br />

Augenscheinsverhandlung mit der Gemeinde als beteiligter Partei gehandelt; die Anwesenheit<br />

des Gemeindepräsidenten habe lediglich der Gepflogenheit entsprochen, dass der Baudirektor<br />

- 80 -


Besichtigungen mit einer Kontaktnahme mit der Gemeindebehörde verbinde. Über die Nichtgenehmigung<br />

einer von der Gemeindeversammlung beschlossenen Einzonung entscheide<br />

nicht der Baudirektor, sondern der Gesamtregierungsrat. Dieser Entscheid sei nicht an der<br />

Augenscheinsverhandlung vom 17. Juni 1986 erfolgt, sondern erst in der Regierungsratssitzung<br />

vom 27. August 1986. Dem Beschwerdeführer sei ausreichend Gelegenheit gegeben<br />

worden, sich zum in Aussicht gestellten Nichtgenehmigungsantrag zu äussern. Die vorgenommene<br />

Anhörung genüge dem verfassungsrechtlichen Gehörsanspruch, und es sei kein<br />

weitergehendes, formelles Verfahren nötig.<br />

3. --a) Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird zunächst von den kantonalen<br />

Verfahrensbestimmungen umschrieben; erst wo sich dieser Rechtsschutz als ungenügend<br />

erweist, greifen die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden bundesrechtlichen Minimalgarantien<br />

Platz. Da der Beschwerdeführer keine Verletzung kantonaler Verfahrensvorschriften rügt, ist<br />

einzig und zwar mit freier Kognition zu prüfen, ob unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Regeln<br />

missachtet wurden (BGE 112-IA-5, 110-IA-81/82 E. 5b, 85 E. 3b, je mit Hinweisen). Entgegen<br />

der Auffassung der Vorinstanz ist es ohne Belang, ob sie überhaupt verpflichtet war, einen<br />

Augenschein durchzuführen. Wenn eine Behörde zu diesem Beweismittel greifen will, hat<br />

sie das in den verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Formen zu tun und die Grundsätze des<br />

rechtlichen Gehörs zu beachten. Die an einem Verfahren Beteiligten, zu denen hier auch der<br />

Beschwerdeführer gehört, haben Anspruch darauf, zu einem Augenschein gehörig beigezogen<br />

zu werden. Eine Ausnahme würde nur gelten, wenn schützenswerte Interessen Dritter<br />

oder des Staates oder eine besondere Dringlichkeit etwas anderes gebieten, oder wenn der<br />

Augenschein seinen Zweck nur erfüllen kann, wenn er unangemeldet durchgeführt wird. In<br />

einem solchen Fall genügt es, wenn die betreffende Partei nachträglich zum Beweisergebnis<br />

Stellung nehmen kann (BGE 112-IA-5 f. E. 2c mit Hinweisen auf weitere Entscheide). b) Wie<br />

die Direktion der öffentlichen Bauten in ihrer Vernehmlassung erklärt, verschaffte im vorliegenden<br />

Fall der Augenschein dem Baudirektor die Grundlage für seinen Antrag an den Gesamtregierungsrat.<br />

Damit diente die Ortsschau aber nicht nur einer bloss informellen Orientierung,<br />

sondern der Feststellung von wesentlichen Tatsachen, die als beweisbedürftig zu gelten<br />

hatten und auch als solche eingeschätzt wurden (vgl. BGE 104-IA-121 E. 2a). Dass irgendwelche<br />

schützenswerten Interessen Dritter oder die Besonderheit der Situation die Vornahme<br />

eines Augenscheins ohne Voranmeldung geboten hätten, wird von niemandem behauptet<br />

und ist offensichtlich nicht der Fall. Die Behörden hätten daher den Beschwerdeführer<br />

zur Ortsschau einladen müssen; dessen nachträgliche Anhörung genügte gemäss den in<br />

der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen dem Anspruch auf rechtliches Gehör nicht.<br />

Nun wendet die Direktion für öffentliche Bauten in der Beschwerdeantwort ein, der Baudirektor<br />

habe keinen Anlass zur Anhörung des Beschwerdeführers gehabt, bevor er überhaupt<br />

aufgrund des Augenscheines zur Auffassung gelangt sei, hinsichtlich der Einzonung der fraglichen<br />

Parzelle sei Antrag auf Nichtgenehmigung zu stellen. Dies trifft zwar an sich zu. Indessen<br />

war bereits aufgrund der Akten bekannt, dass die Gemeindeversammlung in der für das<br />

geschützte Ortsbild empfindlichen Dorfrand-Zone eine Änderung des Zonenplan-Entwurfes<br />

vorgenommen hatte, und musste insofern eine Nichtgenehmigung jedenfalls in Betracht gezogen<br />

werden, um so mehr, als das kantonale Amt für Raumplanung schon vor dem Augenschein<br />

einen entsprechenden Antrag gestellt hatte. Der Beschwerdeführer hätte deshalb vorsorglich<br />

zum Augenschein eingeladen werden können. Wollte der Baudirektor das nicht tun,<br />

so hätte ein zweiter Augenschein in Anwesenheit des Beschwerdeführers durchgeführt werden<br />

müssen. Da dies nicht geschehen ist, ist die Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4<br />

BV gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Dabei kommt es nicht darauf<br />

an, ob Aussicht bestehe, dass nach erneuter Prüfung des Falles in einem korrekten Verfahren<br />

anders entschieden würde (BGE 112-IA-7, 105-IA-51 E. 2c).-- Unter diesen Umständen muss<br />

- 81 -


die vom Beschwerdeführer ebenfalls erhobene Rüge der Verletzung der Eigentumsgarantie<br />

unbehandelt bleiben.<br />

- 82 -


Sachverhalt<br />

Assistentenstelle<br />

Am 26. Februar 1976 wurde P. von der Eidgenössisch Technischen Hochschule Lausanne<br />

(EPFL) auf unbestimmte Zeit als erster Assistent von Professor X. angestellt. Am 7. Dezember<br />

1977 entschied der Präsident der EPFL das Dienstverhältnis mit P. auf den 31. Januar<br />

1978 zu kündigen, wobei angemerkt wurde, dass die Kündigung ohne Verschulden seitens<br />

des Angestellten erfolgte, angefochten werden konnte und dem Umstand erfolgte, dass Professor<br />

X., auf dessen Vorschlag hin P. angestellt worden war, von seiner Stelle an der EPFL<br />

demissioniert habe. Der Präsident der EPFL hatte dem Assistenten zuvor bei einer kurzen Unterredung<br />

nahegelegt, eine ihm an der ETH Zürich angebotene Stelle anzunehmen.<br />

P. führte gegen diesen Kündigungsentscheid beim ETH-Rat Beschwerde. Mit Entscheid vom<br />

30. Juni 1978 bestätigte der ETH-Rat unter Ausstand des Präsidenten der EPFL die angefochtene<br />

Kündigung.<br />

Gegen das Urteil des ETH-Rates führt P. Beschwerde mit dem Begehren die beiden Entscheidungen<br />

seien aufzuheben und seine Weiterbeschäftigung zu gewährleisten.<br />

Fragen zur Falllösung:<br />

1) Kann sich der Beschwerdeführer auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs stützen?<br />

2) Mit welcher Argumentation könnte diese Rüge allenfalls abgewiesen werden?<br />

3) Inwiefern könnte die Annäherung des Status der Staatsangestellten an privatrechtliche<br />

Anstellungsverhältnisse allenfalls ein Einfluss auf die Vorkehren im Kündigungsverfahren<br />

haben?<br />

[BGE 105 Ib 171 / Assistentenstelle]<br />

- 83 -


VPB 67.94 / Präservative<br />

Fragen:<br />

1. Nach welchem Gesetz entscheidet die Rekurskommission?<br />

2. Welche Kognitionsbefugnis steht ihr zu?<br />

3. Welches sind die Beschwerdegründe?<br />

4. Warum wird die Nichtigkeit nicht angefochten, sondern lediglich das Begehren auf Feststellung<br />

gestellt? Was wären die „Folgen“ einer nichtigen Verfügung? Worin besteht der<br />

Unterschied zur anfechtbaren Verfügung?<br />

5. Warum muss die Person, an die sich eine Verfügung richtet, genannt sein?<br />

6. Was bedeutet im konkreten Fall der Hinweis der Rekurskommission auf die analoge Übernahme<br />

z.B. von OR 55?<br />

7. Warum kann ein Fehler des rechtlichen Gehörs geheilt werden?<br />

8. Teilen Sie die Auffassung, der Rekurskommission, dass keine Verletzung von Treu und<br />

Glauben vorliegt?<br />

9. Teilen Sie die Auffassung der Rekurskommission über den Sinn und den Zweck der Begründung<br />

einer Verfügung?<br />

--------<br />

(Entscheid der Eidgenössischen Rekurskommission für Heilmittel vom 16. August 2002 i.S.<br />

Y. AG [HM 02.005/009]. Eine hiegegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde hat das<br />

Bundesgericht mit Urteil vom 17. März 2003 [2A.474/2002] abgewiesen.)<br />

Regeste<br />

Modul VII<br />

Fehlerhaftigkeit und Änderungen von Verfügungen<br />

Medizinprodukte. Verfahren der Marktüberwachung. Bezeichnung des Verfügungsadressaten.<br />

Rechtliches Gehör.<br />

Art. 29 Abs. 2 BV. Art. 6, Art. 30 Abs. 1, Art. 35 Abs. 1 und Art. 48 VwVG. Art. 55 und<br />

101 OR. Art. 45 Abs. 5 HMG.<br />

- Parteifähigkeit: Für nicht rechts- und parteifähige Geschäftsbetriebe handeln in Beschwerdeverfahren<br />

ihre parteifähigen Inhaber (E. 1.2).<br />

- Nennung einer Hilfsperson als Verfügungsadressatin: Die unrichtige oder unvollständige<br />

Bezeichnung des Verfügungsadressaten führt nicht zur Nichtigkeit einer Verfügung, wenn<br />

- 84 -


sich der ins Recht gefasste Adressat aus dem Sachzusammenhang eindeutig ergibt. Im<br />

Rahmen der Marktüberwachung ist die Eröffnung einer Verfügung an einen Geschäftsbetrieb,<br />

in dem Hilfspersonen des Adressaten tätig sind, rechtsgenüglich (E. 3).<br />

- Rechtliches Gehör: Der Gehörsanspruch ist ausreichend gewahrt, wenn die Hilfsperson<br />

einer Partei vor Erlass einer belastenden Verfügung aufgefordert wird mitzuteilen, wie sie<br />

den rechtmässigen Zustand wieder herstellen will (E. 4.1). Ist einer Partei bekannt, dass<br />

ein Verfahren der Marktüberwachung durchgeführt wird und eine Verfügung erlassen<br />

werden könnte, ist ihr die Akteneinsicht nur auf Gesuch hin zu gewähren (E. 4.2). In der<br />

Begründung einer Verfügung müssen vorgängig mitgeteilte Beanstandungen nicht detailliert<br />

wiederholt werden (E. 4.3).<br />

Aus den Erwägungen:<br />

1. Angefochten ist einerseits eine Verfügung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) vom<br />

12. Juli 2001, mit welcher Z. untersagt wurde, neun namentlich bezeichnete Präservative in<br />

nicht-konformer Ausführung in Verkehr zu bringen, und Z. zudem verpflichtet wurde, bis zum<br />

31. August 2001 eine Liste des Lagerbestandes der genannten Präservative einzureichen.<br />

Andererseits ist eine Gebührenverfügung des BAG mit gleichem Datum angefochten, mit<br />

welcher die Gebühr für die nachträgliche Kontrolle der erwähnten Produkte auf Fr. 1'440.-<br />

festgelegt worden ist.<br />

1.1. (Zuständigkeit)<br />

1.2. Zur Beschwerdeführung ist nur befugt, wer parteifähig ist - wer also am Beschwerdeverfahren<br />

als Partei teilnehmen kann (Art. 48 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968<br />

über das Verwaltungsverfahren [VwVG], SR 172.021; vgl. U. Zimmerli/W. Kälin/R. Kiener,<br />

Grundlagen des öffentlichen Verfahrensrechts, Bern 1997, S. 112). Die Parteifähigkeit stellt<br />

eine Sachurteilsvoraussetzung dar, die von Amtes wegen zu prüfen ist (vgl. etwa B. Bovay,<br />

Procédure administrative, Berne 2000, p. 137).<br />

In den zu beurteilenden Beschwerden wird Z. als Beschwerdeführerin bezeichnet. Wie es sich<br />

im Laufe des Beschwerdeverfahrens gezeigt hat, handelt es sich bei Z. bloss um ein Geschäftslokal,<br />

dessen Inhaberin die Y. AG ist. Z. ist weder eine selbständige juristische Person<br />

noch als Firma einer natürlichen Person oder einer Kollektiv- oder Kommanditgesellschaft zuzuordnen<br />

(was sich allein schon aus der Bezeichnung ergibt, vgl. Art. 945 und 947 des Bundesgesetzes<br />

vom 30. März 1911 betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches<br />

[OR], SR 220). Das Geschäft ist nicht rechtsfähig und - da kein Ausnahmefall gegeben<br />

ist - auch nicht parteifähig (vgl. I. Häner, Die Beteiligten im Verwaltungsverfahren und<br />

Verwaltungsprozess, Zürich 2000, Rz. 469 ff.; A. Kölz/I. Häner, Verwaltungsverfahren und<br />

<strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, Rz. 260).<br />

Die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin hat sich in den Beschwerdeverfahren durch<br />

Vollmachten der Y. AG ausgewiesen. In ihrer Eingabe vom 22. Oktober 2001 hat sie ausgeführt,<br />

auf die Beschwerden könne entweder als solche von Z. oder der Y. AG eingetreten<br />

werden. Sie widersetzt sich damit der Parteistellung der Y. AG nicht - was sich auch daraus<br />

ergibt, dass in der Replik vom 25. April 2002 die Y. AG als Beschwerdeführerin genannt<br />

wird, und dass sich diese anlässlich der mündlichen und öffentlichen Verhandlung vom 5.<br />

August 2002 durch ihren Geschäftsführer vertreten liess.<br />

- 85 -


Da der Y. AG ohne Zweifel Parteifähigkeit zukommt und nur sie im vorliegenden Verfahren in<br />

der Lage ist, sowohl die Feststellung der Nichtigkeit als auch die Aufhebung der angefochtenen<br />

Verfügungen zu beantragen, hat diese als Beschwerdeführerin zu gelten.<br />

1.3. Die Beschwerdeführerin ist als Inhaberin des Geschäftes Z. in ausreichender Weise<br />

durch die Anordnungen des BAG berührt. Sie hat ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung<br />

der Nichtigkeit, bzw. an der Aufhebung der angefochtenen Verfügungen, sind doch<br />

das angeordnete Vertriebsverbot und die Gebührenauflage geeignet, ihre wirtschaftlichen Interessen<br />

zu beeinträchtigen (Art. 48 Bst. a VwVG). Auf die frist- und formgerecht eingereichten<br />

Beschwerden ist daher einzutreten.<br />

3. Im vorliegenden Verfahren ist in erster Linie umstritten, ob die angefochtenen Verfügungen<br />

als nichtig zu qualifizieren sind, weil sie das nicht rechtsfähige Geschäft Z. als Verfügungsadressatin<br />

nennen.<br />

3.1. Gemäss Art. 45 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 15. Dezember 2000 über Arzneimittel<br />

und Medizinprodukte (HMG, SR 812.21) muss derjenige, der ein Medizinprodukt in der<br />

Schweiz in Verkehr bringt, nachweisen können, dass es die grundlegenden Anforderungen<br />

gemäss Art. 4 der Medizinprodukteverordnung vom 17. Oktober 2001 (MepV, SR 812.213)<br />

erfüllt. Diese gesundheitspolizeiliche Pflicht trifft eine bestimmte natürliche oder juristische<br />

Person oder allenfalls Personenmehrheit. Subjekt öffentlichrechtlicher Pflichten kann grundsätzlich<br />

nur sein, wer rechts- und in der Regel auch handlungsfähig ist (vgl. U. Häfelin/G.<br />

Müller, Grundriss des Allgemeinen <strong>Verwaltungsrecht</strong>s, 3. Aufl., Zürich 1998, S. 157, Rz.<br />

604). Die Beschwerdeführerin und nicht etwa ihr (nicht rechtsfähiger) Geschäftsbetrieb Z.<br />

hat im vorliegenden Verfahren als Inverkehrbringerin zu gelten, lässt diese doch die zu beurteilenden<br />

Medizinprodukte in der erwähnten Betriebsstätte verkaufen. Die Pflicht, jederzeit<br />

die Konformität der angebotenen Produkte mit den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen<br />

belegen zu können, trifft daher die Beschwerdeführerin.<br />

Aufgrund des Geschäftsgebarens der Beschwerdeführerin durfte die Vorinstanz davon ausgehen,<br />

dass die Inverkehrbringerin bei der Abgabe der zu beurteilenden Produkte Hilfspersonen<br />

beigezogen hat (Personal des Geschäftes Z.). Wer sich bei der Erfüllung öffentlichrechtlicher<br />

Pflichten durch Hilfspersonen vertreten lässt, hat für deren Handlungen einzustehen<br />

(Art. 55 und 101 OR in analogiam, vgl. etwa BGE 114 Ib 66 ff. E. 2, BGE 107 Ia 169 ff.,<br />

BGE 94 I 251 f. E. 2.b). Das Tun und Unterlassen des im Geschäft Z. tätigen Personals im<br />

Zusammenhang mit dem Inverkehrbringen der zu beurteilenden Produkte und dem nachträglichen<br />

Kontrollverfahren ist damit der Beschwerdeführerin zuzurechnen. Unbeachtlich ist dabei,<br />

ob die Beschwerdeführerin bei der Instruktion ihrer Hilfspersonen die nötige Sorgfalt hat<br />

walten lassen, wie sie dies behauptet. Von Bedeutung ist einzig, «ob dem Geschäftsherrn<br />

eine Verletzung seiner Pflichten vorgeworfen werden könnte, wenn er sich selber so verhalten<br />

hätte, wie die Hilfsperson» (BGE 94 I 251; vgl. T. Guhl/A. Koller, Das Schweizerische<br />

Obligationenrecht, 9. Aufl., Zürich 2000, S. 247 f.). Die Einvernahme des von der Beschwerdeführerin<br />

in diesem Zusammenhang genannten Zeugen erübrigt sich daher.<br />

3.2. Es trifft zu, dass die angefochtenen Verfügungen an das Geschäft Z. adressiert waren<br />

und dieses teilweise auch im Dispositiv nennen. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin<br />

wurde damit aber nicht etwa eine «Nichtperson» ins Recht gefasst, sondern einzig<br />

und allein die ins Recht gefasste Person (also die Y. AG) unrichtig, bzw. unvollständig bezeichnet.<br />

- 86 -


Nach dem Willen der verfügenden Behörde sollte diejenige Person verpflichtet werden, die als<br />

Inverkehrbringerin verantwortlich ist - was sich ohne weiteres aus der Begründung der Verfügungen<br />

und dem Umstand, dass die Verfügung in der Hauptsache an die Geschäftsführung<br />

von Z. eröffnet wurde, ergibt. Der Beschwerdeführerin, bzw. den in ihrer Vertretung handelnden<br />

Hilfspersonen im Geschäft Z. musste spätestens ab Erhalt des eingeschriebenen<br />

Briefes des BAG vom 10. Mai 2001 bewusst sein, dass bezüglich der zu beurteilenden Produkte<br />

ein Verfahren der Marktüberwachung geführt wurde; und sie mussten auch erkennen,<br />

dass die angefochtenen Verfügungen diesen Sachverhalt und die dafür öffentlichrechtlich<br />

verantwortliche Person betrafen. Dass dies auch tatsächlich der Fall gewesen ist zeigt sich<br />

darin, dass die Beschwerdeführerin am 10. August 2001 eine Rechtsvertreterin beauftragte<br />

und durch diese fristgerecht Beschwerden einreichen liess.<br />

Obwohl nicht zu verkennen ist, dass das BAG kaum alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um<br />

die Identität der Inverkehrbringerin zu ermitteln, ist die fehlerhafte Parteibezeichnung in den<br />

angefochtenen Verfügungen doch in erster Linie auf das Verhalten der Beschwerdeführerin<br />

zurückzuführen, die sich in Verletzung ihrer Mitwirkungspflicht (Art. 13 Abs. 1 Bst. c VwVG<br />

in Verbindung mit Art. 45 Abs. 2 HMG, bzw. Art. 10 des Bundesgesetzes vom 19. März<br />

1976 über die Sicherheit von technischen Einrichtungen und Geräten [STEG], SR 819.1)<br />

während dem gesamten Verfahren vor der Vorinstanz nicht zu erkennen gab. Es grenzt an<br />

Rechtsmissbrauch, wenn sich die Beschwerdeführerin nun auf den Standpunkt stellt, Verfügungsadressat<br />

der angefochtenen Verfügungen sei eine «Nichtperson».<br />

Aus diesen Gründen ist davon auszugehen, dass Verfügungsadressatin der angefochtenen<br />

Verfügungen die Beschwerdeführerin ist. Die fehlerhafte Parteibezeichnung kann im Rahmen<br />

des Beschwerdeverfahrens - im Sinne einer Präzisierung - ohne weiteres korrigiert werden<br />

(Devolutiveffekt, Art. 54 VwVG).<br />

3.3. Die Nichtigkeit einer Verfügung ist nur dann anzunehmen, wenn diese unter einem besonders<br />

schweren und offensichtlichen oder zumindest leicht erkennbaren Mangel leidet. Zudem<br />

darf durch die Feststellung der Nichtigkeit die Rechtssicherheit nicht ernsthaft gefährdet<br />

werden (vgl. etwa BGE 122 I 99, BGE 117 Ia 220 f., BGE 116 Ia 219 f.). Schwerwiegende<br />

Form- und Eröffnungsfehler können grundsätzlich die Nichtigkeit begründen. So wurde in der<br />

Praxis etwa entschieden, dass eine Verfügung, die den Adressaten nicht nennt, oder die einer<br />

Person oder Organisation eröffnet wurde, die nicht befugt ist, diese in Empfang zu nehmen,<br />

nichtig ist (vgl. U. Häfelin/G. Müller, a.a.O., N. 784 ff; mit weiteren Hinweisen).<br />

Wie bereits festgehalten wurde, besteht der Mangel der angefochtenen Verfügungen in einer<br />

unrichtigen bzw. unvollständigen Bezeichnung des Verfügungsadressaten - und nicht etwa<br />

darin, dass kein oder ein unrichtiger Adressat ins Recht gefasst worden wäre. Den Verfügungen<br />

kann durchaus entnommen werden, dass sie sich an die Inverkehrbringerin der zu beurteilenden<br />

Produkte richten und sie wurden an Personen eröffnet, die als Hilfspersonen der<br />

Beschwerdeführerin auftraten und daher nicht nur berechtigt sondern verpflichtet waren, im<br />

Rahmen des behördlichen Marktüberwachungsverfahrens für die Inverkehrbringerin tätig zu<br />

werden und die Verfügungen in Empfang zu nehmen. Durch die mangelhafte Bezeichnung<br />

der Verfügungsadressatin und die Eröffnung an das Geschäft Z. (bzw. an dessen Geschäftsleitung)<br />

ist der Beschwerdeführerin denn auch kein Nachteil erwachsen (vgl. Art. 38 VwVG),<br />

konnte sie doch ihre Rechte durch die fristgerechte Anfechtung der Verfügungen ausreichend<br />

wahren. Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin mit der Beschwerdeführung finanzielle<br />

Risiken auf sich nehmen musste, ist im Rahmen der Beurteilung der Nichtigkeit ohne Bedeutung.<br />

- 87 -


Die Eidgenössische Rekurskommission für Heilmittel (REKO HM) erachtet aus diesen Gründen<br />

den Mangel der angefochtenen Verfügungen nicht als derart gravierend, dass er die Nichtigkeit<br />

zur Folge hätte. Da dieser rein formelle Mangel zudem im vorliegenden Beschwerdeverfahren<br />

geheilt werden konnte, rechtfertigt er für sich allein auch nicht die Aufhebung der angefochtenen<br />

Verfügungen.<br />

4. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe ihren Anspruch auf rechtliches<br />

Gehör sowie Treu und Glauben verletzt (Art. 9 und Art. 29 Abs. 2 der Bundesverfassung<br />

der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 [BV], SR 101), indem sie<br />

die nun verfügten Massnahmen nicht oder zumindest nicht ausreichend detailliert angedroht<br />

und ihr keine Gelegenheit gegeben habe, sich vor Erlass der Verfügungen zu äussern. Zudem<br />

habe sie nicht vollumfängliche Akteneinsicht erhalten und es seien die Verfügungen ungenügend<br />

begründet.<br />

4.1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet in erster Linie, dass die Parteien in der Regel<br />

vor Erlass einer Verfügung angehört werden (Art. 30 VwVG, vgl. etwa BGE 122 II 273,<br />

BGE 119 Ia 260). Im Rahmen der Marktüberwachung von Medizinprodukten muss die Inverkehrbringerin<br />

insbesondere über das Ergebnis von Kontrollen informiert werden und es ist ihr<br />

Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen (Art. 27 Abs. 1 MepV, vgl. Art. 17 Abs. 1 der<br />

Medizinprodukteverordnung vom 24. Januar 1996 [MepV von 1996], AS 1996 987, AS<br />

1998 1496).<br />

Die Vorinstanz hat die Beschwerdeführerin verschiedentlich in Schreiben an das Geschäft Z.,<br />

mithin an Hilfspersonen der Beschwerdeführerin, aufgefordert, zu den festgestellten Mängeln<br />

der zu beurteilenden Produkte Stellung zu nehmen. Wenn auch nicht feststeht, ob die (eingeschriebenen)<br />

Schreiben vom 15. Dezember 2000 und 19. Januar 2001 der Beschwerdeführerin<br />

oder ihren Hilfspersonen tatsächlich zugekommen sind, muss es als erwiesen gelten,<br />

dass zumindest das Schreiben vom 10. Mai 2001 im Geschäft Z. von einer Hilfsperson der<br />

Beschwerdeführerin entgegengenommen worden ist (Rückschein vom 14. Mai 2001). Es finden<br />

sich keine Anzeichen dafür und es wird auch nicht geltend gemacht, dass die Person,<br />

welche das Schreiben in Empfang nahm, nicht zum Personal des Geschäftes gehört hätte.<br />

Als Hilfsperson der Beschwerdeführerin wäre diese Person verpflichtet gewesen, das Schreiben<br />

an die bei der Beschwerdeführerin zuständige Stelle weiterzuleiten. Sollte dies nicht der<br />

Fall gewesen sein - was die Beschwerdeführerin behauptet - so müsste sie selbst für diese<br />

Unterlassung der Hilfsperson einstehen (Art. 101 OR in analogiam). Es ist davon auszugehen,<br />

dass der Beschwerdeführerin das Schreiben vom 10. Mai 2001 zur Kenntnis gekommen ist.<br />

Mit Schreiben vom 10. Mai 2001 wurde die Beschwerdeführerin ausdrücklich darauf aufmerksam<br />

gemacht, dass eine nachträgliche Kontrolle gemäss Art. 14 MepV von 1996 stattgefunden<br />

habe (heute Kontrolle im Rahmen der Marktüberwachung, Art. 23 MepV) und dass<br />

die zu beurteilenden, namentlich genannten Produkte in nicht konformer Weise vertrieben<br />

würden. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass Präservative nur doppelt verpackt<br />

sowie mit einer CE-Kennzeichnung und einem Verfalldatum versehen in Verkehr gebracht<br />

werden dürfen. Die Beschwerdeführerin wurde zudem aufgefordert, bis zum 1. Juli 2001<br />

mitzuteilen, auf welche Weise und bis wann sie künftig den konformen Vertrieb sicherstellen<br />

werde. Weiter wurde der Beschwerdeführerin mitgeteilt, dass die Vorinstanz Verwaltungsmassnahmen<br />

gemäss Art. 17 MepV von 1996 (heute Art. 27 MepV) einleiten werde, wenn<br />

sie der Aufforderung zur Zustellung der angeforderten Angaben nicht fristgerecht nachkommen<br />

sollte.<br />

- 88 -


Der Beschwerdeführerin wurde damit Gelegenheit gegeben, sich im Rahmen der angeforderten<br />

Mitteilung - in ausreichender Kenntnis des Sachverhaltes - zu äussern. Auch wenn sie<br />

nicht ausdrücklich zu einer Stellungnahme aufgefordert worden ist, genügt nach Auffassung<br />

der REKO HM die Einladung zur Mitteilung der vorgesehenen risikomindernden Massnahmen -<br />

unter Androhung von Verwaltungsmassnahmen - den Anforderungen von Art. 30 VwVG und<br />

Art. 27 MepV. Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll als persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht<br />

unter anderem garantieren, dass die Parteien sich vor Erlass eines in ihre Rechtsstellung<br />

eingreifenden Entscheides äussern können (vgl. BGE 122 II 274 mit weiteren Hinweisen).<br />

Durch die Aufforderung, die zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes<br />

vorgesehenen Massnahmen mitzuteilen, wurde die Beschwerdeführerin in den Ablauf des<br />

Marktüberwachungsverfahrens einbezogen und es wurde ihr ermöglicht, vor Erlass von weiteren<br />

Anordnungen mitzuwirken. Mit fristgerechter Eingabe an die Vorinstanz hätte sie den<br />

Erlass der angefochtenen Verfügungen beeinflussen können (…). Von einer Verletzung des<br />

Anspruchs auf rechtliches Gehör kann daher keine Rede sein.<br />

Vor Erlass der angefochtenen Verfügungen wurde die Beschwerdeführerin zudem in ausreichender,<br />

den Grundsatz von Treu und Glauben beachtender Weise darauf aufmerksam gemacht,<br />

dass Verwaltungsmassnahmen angeordnet werden könnten. Eine ausdrückliche Androhung<br />

des Verkaufsverbotes war nicht erforderlich, musste die Beschwerdeführerin als Inverkehrbringerin<br />

doch wissen, dass Medizinprodukte, die den grundlegenden Anforderungen<br />

gemäss Medizinprodukterecht nicht entsprechen, nicht in Verkehr gebracht, bzw. verkauft<br />

werden dürfen, und somit im Rahmen der Marktkontrolle der rechtmässige Zustand durch<br />

Erlass eines Verkaufsverbotes durchgesetzt werden könnte. Ebenso musste die Beschwerdeführerin<br />

wissen, dass für Kontrollverfahren, wenn nicht-konforme Produkte beanstandet werden,<br />

Gebühren erhoben werden können.<br />

Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass im Schreiben vom 10. Mai 2001 nicht darauf hingewiesen<br />

wurde, dass die Stichprobe eines der Produkte ein abgelaufenes Verfalldatum aufgewiesen<br />

hat. Der Beschwerdeführerin ist es daher nicht möglich gewesen, sich vorgängig<br />

zu diesem Punkt zu äussern. Im vorliegenden Beschwerdeverfahren, in welchem die angefochtenen<br />

Verfügungen mit voller Kognition überprüft werden können (Art. 49 VwVG), erhielt<br />

die Beschwerdeführerin aber ausreichend Gelegenheit, sich zu dieser Beanstandung (wie<br />

auch zu allen übrigen Aspekten) zu äussern, so dass diese nicht besonders schwerwiegende<br />

Gehörsverletzung als geheilt gelten kann (vgl. BGE 120 V 363, BGE 118 Ib 120 f., BGE 117<br />

Ib 481; VPB 61.30 E 3.1).<br />

4.2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt weiter, dass den Parteien Gelegenheit gegeben<br />

wird, die Akten (unter Vorbehalt überwiegender Geheimhaltungsinteressen) einzusehen<br />

(Art. 26 f. VwVG; vgl. etwa BGE 122 I 113). Die Akteneinsicht muss nur auf Gesuch<br />

hin gewährt werden, wobei allerdings die Parteien Kenntnis davon haben müssen, gestützt<br />

auf welche Akten eine Verfügung erlassen werden wird (vgl. A. Kölz/I. Häner, a.a.O., Rz.<br />

298, mit weiteren Hinweisen).<br />

Die Beschwerdeführerin hat im Verfahren vor der Vorinstanz nie ein Gesuch um Akteneinsicht<br />

gestellt, obwohl ihr spätestens seit Erhalt des Schreibens vom 10. Mai 2001 bekannt<br />

war, dass der Erlass einer Verfügung drohte. Sie musste aufgrund dieses Schreibens auch<br />

wissen, dass die zu beurteilenden Produkte im Geschäft Z. erhoben und auf ihre Konformität<br />

hin überprüft worden waren (Art. 23 MepV) - und dass sich somit in den amtlichen Akten<br />

entsprechende Unterlagen befinden mussten. Von einer Verletzung des Anspruchs auf Akteneinsicht<br />

kann unter diesen Umständen nicht gesprochen werden.<br />

- 89 -


Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens hatte die Beschwerdeführerin zudem ausreichend Gelegenheit,<br />

die Akten einzusehen, wovon sie teilweise auch Gebrauch gemacht hat. Eine allfällige<br />

Gehörsverletzung wäre daher ohnehin geheilt.<br />

4.3. Der dem rechtlichen Gehör zuzuordnende Anspruch auf eine ausreichende Begründung<br />

von Verfügungen (Art. 35 Abs. 1 VwVG; vgl. BGE 121 I 57, BGE 112 Ib 109) verlangt, dass<br />

behördliche Anordnungen derart einlässlich begründet werden, dass die Betroffenen die Verfügung<br />

sachgerecht anfechten können. Dabei kann sich die verfügende Behörde auf die wesentlichen<br />

Gesichtspunkte beschränken. Je grösser der Ermessensspielraum einer Behörde<br />

und die mit der Verfügung verbundenen Eingriffe sind, umso detaillierter muss die Begründung<br />

erfolgen (vgl. zum Ganzen A. Kölz/I. Häner, a.a.O., Rz. 355 ff., mit weiteren Hinweisen).<br />

Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin vermögen sowohl die Verfügung in der<br />

Hauptsache als auch die Gebührenverfügung diesen Anforderungen zu genügen. Die Gründe<br />

für die angeordneten Massnahmen und die gesetzlichen Grundlagen werden angegeben,<br />

wenn auch die einzelnen Beanstandungen nicht mehr aufgeführt werden, sondern - mit Ausnahme<br />

des Hinweises auf das abgelaufene Verfalldatum eines der Produkte - generell auf die<br />

fehlende Konformität hingewiesen wird. Nachdem die Beschwerdeführerin mit Schreiben<br />

vom 10. Mai 2001 relativ detailliert auf die Mängel aufmerksam gemacht worden war, musste<br />

sie bereits wissen, welche konkreten Konformitätsmängel beanstandet wurden. Zudem<br />

wurde in der angefochtenen Verfügung in der Hauptsache auch auf die früheren Aufforderungen<br />

vom 15. Dezember 2000 und 19. Januar 2001 hingewiesen, so dass es Sache der<br />

Beschwerdeführerin gewesen wäre, sich diese Schreiben (sollten sie nicht ordentlich zugestellt<br />

worden sein) zu beschaffen. In der angefochtenen Gebührenverfügung wird auf diese<br />

Marktüberwachung Bezug genommen und es werden sämtliche zur Gebührenbemessung relevanten<br />

Elemente erwähnt. Aufgrund all dieser Angaben war die Beschwerdeführerin durchaus<br />

in der Lage, die Verfügungen mit einlässlicher Begründung anzufechten - was sie ja auch<br />

getan hat.<br />

Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass die Begründung der Verfügung in der Hauptsache -<br />

obwohl den gesetzlichen Anforderungen entsprechend - nach Auffassung der REKO HM relativ<br />

knapp ausgefallen ist. Es wäre von Vorteil, wenn das Institut künftig in verfahrensabschliessenden<br />

Verfügungen die einzelnen Beanstandungen detaillierter darstellen, bzw. wiederholen<br />

würde.<br />

- 90 -


ZBl 2000 41 / Jakobsbrunnen<br />

Bundesgericht, I. Öffentlichrechtliche Abteilung, 28. April 1998, 1P.98/1998.<br />

Planungs- und Baurecht -- Verfahren.<br />

Regeste<br />

Gemeindeautonomie, Denkmalschutz, Aufhebung einer Unterschutzstellung. Widerruf rechtskräftiger<br />

Verfügungen im allgemeinen (Erw. 3). Kein Widerruf der Unterschutzstellung wegen<br />

der finanziellen Folgen für den Gemeindehaushalt, vorbehältlich des Falls einer eigentlichen<br />

finanziellen Notlage ( Erw. 4). Abwägung der privaten und öffentlichen Interessen an der<br />

Aufrechterhaltung der Unterschutzstellung (Erw. 5).<br />

Sachverhalt<br />

Der Bauausschuss der Stadt Winterthur stellte im Jahre 1991 die Liegenschaft "Jakobsbrunnen"<br />

im Gebiet "Inneres Lind" unter kommunalen Denkmalschutz; der Stadtrat Winterthur<br />

genehmigte die Unterschutzstellung. Die Liegenschaft "Jakobsbrunnen" umfasst u.a. die Villa<br />

aus dem Jahre 1790 im spätbarock-frühklassizistischen Stil, das ebenfalls aus dem Jahre<br />

1790 stammende Ökonomiegebäude, die im Jahre 1868 im Stil des Historismus erstellten<br />

Pferdestallungen und einen grösseren Villengarten, der mit geschwungenen Wegen, einer<br />

Grotte und dem sog. "Jakobsbrunnen" als Parkanlage gestaltet ist.<br />

Die Grundeigentümer meldeten in der Folge eine Entschädigungsforderung aus materieller<br />

Enteignung an. 1995 sprach die Schätzungskommission IV des Kantons Zürich den Grundeigentümern<br />

eine Entschädigung aus materieller Enteignung von Fr. 3,3 Mio. zu und stellte<br />

fest, dass ihnen das Heimschlagsrecht zustehe; für den Heimschlagsfall wurde die Stadtgemeinde<br />

Winterthur verpflichtet, den Grundeigentümern eine Entschädigung von Fr. 6 Mio. zu<br />

bezahlen. Dieser Entscheid erwuchs unangefochten in Rechtskraft.<br />

1995 erklärten die Grundeigentümer den Heimschlag der Liegenschaft. Daraufhin hob der<br />

Stadtrat Winterthur die Unterschutzstellung im Jahre 1996 wieder auf. Zur Begründung gab<br />

er an, die Finanzlage erlaube es der Stadt Winterthur nicht, die finanziellen Folgen der Unterschutzstellung<br />

zu tragen.<br />

Die Zürcherische Vereinigung für Heimatschutz focht den Widerruf der Unterschutzstellung<br />

bei der Baurekurskommission IV des Kantons Zürich an. Diese hob den Widerrufsbeschluss<br />

des Stadtrats auf. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich bestätigte in der Folge, dass<br />

die Liegenschaft "Jakobsbrunnen" unter Schutz zu bleiben habe.<br />

Gegen diesen Entscheid des Verwaltungsgerichts erhob die Stadt Winterthur beim Bundesgericht<br />

Beschwerde wegen Verletzung der Gemeindeautonomie. Das Bundesgericht hat die<br />

staatsrechtliche Beschwerde (im Verfahren nach Art. 36b OG) abgewiesen.<br />

- 91 -


Aus den Erwägungen<br />

3. a) Die Unterschutzstellungsverfügung der Stadtbehörden von Winterthur von 1991 ist unangefochten<br />

geblieben und in Rechtskraft erwachsen. Auch eine rechtskräftige Verfügung ist<br />

jedoch nicht unabänderlich. Unter bestimmten Voraussetzungen, die das kantonale Recht näher<br />

umschreiben kann, besteht ein Anspruch auf Neubeurteilung, oder die Behörde kann auf<br />

einen Verwaltungsakt zurückkommen. Ist eine Wiedererwägung weder gesetzlich vorgesehen<br />

noch von einer ständigen Verwaltungs- bzw. Verwaltungsgerichtspraxis anerkannt, sind die<br />

aus Art. 4 BV abgeleiteten Grundsätze massgebend. Sie gehen dem kantonalen Recht vor,<br />

wenn dieses eine Verpflichtung überhaupt verneint oder einer solchen nur eine hinter den Anforderungen<br />

von Art. 4 BV zurückbleibende Tragweite verleiht (BGE 113 Ia 146 Erw. 3a S.<br />

151).<br />

b) Das zürcherische Recht regelt den Widerruf von Verfügungen nicht ausdrücklich. Nach<br />

den Ausführungen des Verwaltungsgerichts und der Baurekurskommission anerkennen die<br />

kantonalen Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbehörden die Widerrufbarkeit von Verfügungen<br />

aber im Sinne eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes nach Massgabe der vom Bundesgericht<br />

entwickelten Kriterien (vgl. auch Alfred Kölz, Kommentar zum <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflegegesetz<br />

des Kantons Zürich, Zürich 1978, N. 51 ff. zu § 20). Danach können Verwaltungsakte,<br />

die wegen wesentlicher Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse<br />

dem Gesetz nicht oder nicht mehr entsprechen, grundsätzlich widerrufen werden. Der Widerruf<br />

ist allerdings nur zulässig, wenn eine allgemeine Interessen- bzw. Wertabwägung ergibt,<br />

dass das Interesse an der richtigen Durchsetzung des objektiven Rechts dasjenige an der<br />

Wahrung der Rechtssicherheit bzw. am Vertrauensschutz überwiegt. Dem Postulat der<br />

Rechtssicherheit kommt in der Regel dann der Vorrang zu, wenn durch die frühere Verfügung<br />

ein subjektives Recht begründet worden oder die Verfügung in einem Verfahren ergangen ist,<br />

in welchem die sich gegenüberstehenden Interessen allseitig zu prüfen und gegeneinander<br />

abzuwägen waren, oder wenn der Private von einer ihm durch die fragliche Verfügung eingeräumten<br />

Befugnis bereits Gebrauch gemacht hat. Diese Regel gilt allerdings nicht absolut; ein<br />

Widerruf kann auch in einem der drei genannten Fälle in Frage kommen, wenn er durch ein<br />

besonders gewichtiges öffentliches Interesse geboten ist (BGE 121 II 273 Erw. 1a/aa S.<br />

276; 119 Ia 305 Erw. 4c S. 310). Ob die kantonale Behörde diese im kantonalen Verfahrensrecht<br />

anerkannten Grundsätze richtig angewendet hat, prüft das Bundesgericht auf Willkür<br />

hin (BGE 119 Ia 305 Erw. 4d S. 310 und vorne Erw. 2c).<br />

4. a) Das Verwaltungsgericht hat erwogen, die Schutzwürdigkeit der Liegenschaft "Jakobsbrunnen"<br />

sei gestützt auf eine kunst- und gartenhistorische Analyse erfolgt und unbestritten.<br />

Eine ursprüngliche Fehlerhaftigkeit der Schutzverfügung sei deshalb nicht ersichtlich und<br />

werde auch nicht behauptet. Ebensowenig berufe sich die Stadtgemeinde Winterthur auf eine<br />

den Widerruf rechtfertigende nachträgliche Änderung der Rechtslage. Sie mache nur eine<br />

nicht vorhersehbare Verknappung der Finanzen seit 1991 geltend. Dieser Umstand könne<br />

jedoch nicht als eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse betrachtet werden,<br />

die einen Widerruf begründen könne. Zwar handle es sich bei der zu leistenden Entschädigung<br />

um einen beträchtlichen Betrag. Der Zahlung stehe jedoch einerseits der Liegenschaftswert<br />

gegenüber. Andererseits mache die Beschwerdeführerin nicht geltend, dass sie<br />

durch die Bezahlung der Heimschlagsentschädigung in eine finanzielle Notlage gerate. Zudem<br />

erscheine ihr Vorbringen wenig glaubhaft, die ungünstige finanzielle Entwicklung sei im Zeitpunkt<br />

der Unterschutzstellung nicht vorhersehbar gewesen, denn die Verschlechterung der<br />

Finanzlage habe sich bereits in den Jahren 1990/1991 abgezeichnet. Mit Blick auf die derzeitige<br />

finanzielle Lage der Stadtgemeinde erweise sich die 1991 erfolgte Unterschutzstellung<br />

- 92 -


heute höchstens als unzweckmässig. Das genüge jedoch von vornherein nicht für einen Widerruf<br />

der Schutzverfügung.<br />

b) Die Beschwerdeführerin wendet ein, das Verwaltungsgericht argumentiere widersprüchlich.<br />

Es messe den finanziellen Interessen der Grundeigentümer ein erhebliches Gewicht zu.<br />

Die kommunale Finanzlage wolle es aber nicht als wesentlich gelten lassen, solange die Entschädigungszahlung<br />

für die Gemeinde keine finanzielle Notlage zur Folge habe. Es liege im<br />

Ermessen der Gemeinde zu entscheiden, ob eine Ausgabe noch tragbar sei. Im Zeitpunkt der<br />

Unterschutzstellung habe man die Finanzlage noch nicht so pessimistisch wie im Zeitpunkt<br />

des Widerrufs beurteilt und mit einer kurz- bis mittelfristigen Verbesserung gerechnet. Im übrigen<br />

sei mit dem Erlass der Planungszone "Inneres Lind" im Hinblick auf eine Quartiererhaltungszone<br />

nunmehr ein zwar weniger weitgehender, aber doch nicht zu vernachlässigender<br />

planungsrechtlicher Schutz für die betroffene Liegenschaft verfügt worden, der die Aufhebung<br />

der Unterschutzstellung erlaube.<br />

c) aa) Die Beschwerdeführerin verkennt, dass die Überlegungen des Verwaltungsgerichts zu<br />

den Auswirkungen der Entschädigungspflicht auf die kommunale Finanzlage im Zusammenhang<br />

mit der Frage stehen, ob überhaupt ein Grund für ein Zurückkommen auf die Unterschutzstellung<br />

gegeben sei. Demgegenüber beziehen sich die verwaltungsgerichtlichen Ausführungen<br />

zum finanziellen Interesse der Grundeigentümer auf die Gewichtung der verschiedenen<br />

Interessen. Eine widersprüchliche Argumentation liegt deshalb nicht vor. Es ist dem<br />

Verwaltungsgericht darin zuzustimmen, dass Verwaltungsentscheide, die in Rechtskraft erwachsen<br />

sind, nicht beliebig in Wiedererwägung gezogen werden können. Die Wiedererwägung<br />

darf namentlich nicht dazu dienen, rechtskräftige Verwaltungsentscheide immer wieder<br />

in Frage zu stellen oder die Fristen für das Ergreifen von Rechtsmitteln zu umgehen (BGE 120<br />

Ib 42 Erw. 2b S. 47 mit Hinweisen). Will das verfügende Gemeinwesen auf einen rechtskräftigen<br />

Verwaltungsakt wegen veränderter Verhältnisse zurückkommen, muss deshalb eine<br />

wesentliche Änderung vorausgesetzt werden (vgl. dazu auch § 213 Abs. 3 PBG, wonach<br />

Schutzmassnahmen nur noch "bei wesentlich veränderten Verhältnissen" angeordnet werden<br />

können, wenn die Frist zum Entscheid über die Schutzwürdigkeit unbenützt abgelaufen ist).<br />

Das Bundesgericht hat im Zusammenhang mit dem Widerruf von Eigentumsbeschränkungen,<br />

die eine Entschädigungspflicht wegen materieller Enteignung nach sich ziehen, ein Zurückkommen<br />

auf die entschädigungsauslösende Planungsmassnahme allein aus finanziellen Gründen<br />

von starken Auswirkungen auf das finanzielle Gleichgewicht der Gemeinde bzw. einer<br />

notstandsähnlichen Situation abhängig gemacht (BGE 107 Ia 240 Erw. 4 S. 245). Vor diesem<br />

Hintergrund erscheinen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, wonach ein Zurückkommen<br />

auf die rechtskräftige Schutzverfügung allein aus finanziellen Gründen nur bei sehr<br />

erheblichen Auswirkungen auf den Gemeindehaushalt zulässig sei, keineswegs als willkürlich.<br />

Sie sind vielmehr sachlich begründet und zutreffend. Bei anderer Betrachtungsweise könnte<br />

ein Gemeinwesen Verwaltungsakte mit finanziellen Folgen je nach der aktuellen Finanzlage<br />

immer wieder abändern, was mit den oben erwähnten Grundsätzen und dem Prinzip der materiellen<br />

Rechtskraft unvereinbar wäre. Dass es im freien Ermessen der Gemeinde liege, über<br />

die Tragbarkeit von Entschädigungsfolgen zu befinden und gegebenenfalls auf einen entschädigungsauslösenden,<br />

rechtskräftigen Eingriff zurückzukommen, trifft klarerweise nicht<br />

zu.<br />

bb) Das Verwaltungsgericht hat die von der Schätzungskommission festgesetzte Entschädigung<br />

von Fr. 6 Mio. zwar als beträchtlich bezeichnet, diesen Betrag aber nicht als einen wesentlichen<br />

neuen Umstand betrachtet, der den Widerruf rechtfertigen könne. Es ist richtig,<br />

dass die absolut betrachtet hohe Entschädigungssumme relativiert werden muss. Zum einen<br />

- 93 -


steht ihr ein geschätzter Gegenwert der Liegenschaft von ca. Fr. 2,7 Mio. gegenüber. Zum<br />

andern kann eine einmalige Entschädigungszahlung von (netto) Fr. 3,3 Mio. bei einem Gemeindehaushalt<br />

mit jährlichen Aufwendungen von rund Fr. 800 Mio. nicht als sehr bedeutend<br />

bezeichnet werden. Es kommt hinzu, dass die Gemeinde schon im Zeitpunkt der Unterschutzstellung<br />

mit einer erheblichen Entschädigung rechnen musste. Die Beschwerdeführerin<br />

wusste seit Mitte 1993, dass die Grundeigentümer eine Entschädigungsforderung aus materieller<br />

Enteignung von Fr. 5 Mio. stellten und das Heimschlagsrecht ausüben wollten. Anfangs<br />

1994 nahm der Stadtrat von der Entschädigungspflicht und dem Heimfallsrecht förmlich<br />

Kenntnis. Offenbar traf ihn diese Entwicklung der tatsächlichen Gegebenheiten nicht unvorbereitet,<br />

weil er in der Folge während zweier Jahre -- bis nach der erneuten Erklärung des<br />

Heimschlags nach Festsetzung des Entschädigungsbetrags -- nichts unternahm.<br />

Wesentlich sind sodann die Feststellungen der kantonalen Behörden, wonach sich die ungünstige<br />

Entwicklung der kommunalen Finanzen bereits im Zeitpunkt der Unterschutzstellung<br />

abzeichnete. Die Baurekurskommission hat darauf hingewiesen, dass die Stadtgemeinde Winterthur<br />

bereits im Jahre 1991 einen Aufwandüberschuss von mehr als Fr. 16 Mio. verzeichnete.<br />

Den Akten ist weiter zu entnehmen, dass die damalige ungünstige finanzielle Entwicklung<br />

im Jahre 1992 anhielt und zu einem Aufwandüberschuss von fast Fr. 36 Mio. führte.<br />

Danach (in den Jahren 1993 bis 1996) waren nur mehr geringe Defizite von weniger als Fr.<br />

2 Mio. zu verzeichnen. Die Finanzplanung rechnete nach den im November 1996 vorgestellten<br />

Zahlen für die Jahre 1997 bis 2000 mit vorerst grösseren, danach wieder abnehmenden<br />

Defiziten. Ab 2001 wurden Aktivüberschüsse als möglich bezeichnet. Die Finanzlage und die<br />

finanziellen Aussichten der Beschwerdeführerin waren somit im Zeitpunkt der Unterschutzstellung<br />

keineswegs wesentlich günstiger als 1996, als der Widerruf verfügt wurde. Es liegen<br />

auch keine Hinweise oder Belege dafür vor, dass der Stadtrat die finanziellen Aussichten anfangs<br />

der 90er Jahre grundlegend falsch eingeschätzt hätte. Es mag zwar zutreffen, dass er<br />

zu optimistisch war und schon früher mit einer Erholung der kommunalen Finanzsituation<br />

rechnete als einige Jahre später. Der eigentliche finanzielle Einbruch im Stadthaushalt erfolgte<br />

jedoch bereits anfangs der 90er Jahre, als die Unterschutzstellung mit voraussehbaren<br />

Entschädigungsfolgen verfügt wurde. In den folgenden Jahren konnten die Defizite stark reduziert<br />

werden, und im Zeitpunkt des Widerrufs wurde wieder eine positive Rechnung in absehbarer<br />

Zeit prognostiziert. Bei dieser Sachlage leuchtet die Argumentation des Verwaltungsgerichts<br />

ein, wonach die finanzielle Entwicklung in den grossen Zügen schon im Zeitpunkt<br />

der Unterschutzstellung absehbar war und bis zum Widerruf keine überraschende,<br />

markante Verschlechterung der kommunalen Finanzsituation eintrat, die ein Zurückkommen<br />

auf die Schutzverfügung rechtfertigen konnte. Mit gewissen Schwankungen im Gemeindehaushalt<br />

muss stets gerechnet werden, und eine ungünstige finanzielle Entwicklung kann nur<br />

dann ein Zurückkommen auf rechtskräftige Anordnungen wie die hier interessierende rechtfertigen,<br />

wenn sie bedeutend ist und aus dem Rahmen des zu Erwartenden fällt. Wollte man<br />

anders urteilen, wäre es der Beschwerdeführerin unbenommen, später selbst auf den Widerruf<br />

zurückzukommen und die Liegenschaft wieder unter Schutz zu stellen, zum Beispiel wenn<br />

sich die Finanzlage in wenigen Jahren erwartungsgemäss verbessern sollte. Ein derartiges<br />

Hin und Her würde aber -- wie erwähnt -- gegen grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien<br />

verstossen und wäre für die Grundeigentümer unzumutbar.<br />

Das Verwaltungsgericht hat das Vorliegen hinreichend veränderter finanzieller Verhältnisse<br />

deshalb mit haltbaren Gründen verneint. Es kann ihm nicht vorgeworfen werden, dass es in<br />

Überschreitung seiner Prüfungsbefugnis in die Finanzautonomie der Gemeinde eingegriffen<br />

habe.<br />

- 94 -


cc) Der verfassungsrechtlichen Kontrolle hält ebenfalls stand, dass das Verwaltungsgericht<br />

das Erlassen einer Planungszone über das Gebiet des "Inneren Lind" nicht als massgebliche<br />

Veränderung der rechtlichen Verhältnisse betrachtet hat. Selbst wenn man davon ausgeht,<br />

dass die Planungszone dereinst durch die angestrebte Quartiererhaltungszone abgelöst wird,<br />

kann nicht von einer Schutzmassnahme gesprochen werden, die mit der Unterschutzstellung<br />

vergleichbar wäre. Das Verwaltungsgericht konnte ohne Willkür annehmen, eine Quartiererhaltungszone<br />

im Sinne von § 50a PBG vermöge die Unterschutzstellung nicht zu ersetzen.<br />

d) Es ergibt sich somit, dass das Verwaltungsgericht mit haltbaren Gründen schliessen durfte,<br />

es lägen keine veränderten tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse vor, die ein Zurückkommen<br />

auf die Unterschutzstellung rechtfertigen könnten. Die staatsrechtliche Beschwerde<br />

erweist sich bereits aus diesem Grunde als unbegründet.<br />

5. Dem Verwaltungsgericht könnte selbst dann keine unsachliche Würdigung der Umstände<br />

vorgeworfen werden, wenn man allein auf eine Interessenabwägung abstellen wollte. Wohl<br />

mag es zutreffen, dass die privaten Interessen am Bestand der Schutzverfügung und des<br />

Heimschlags bzw. an der Wahrung der Rechtssicherheit nicht allzu stark gewichtet werden<br />

dürfen, weil die Grundeigentümer zu verschiedenen Zeiten verschiedene Meinungen vertreten<br />

haben und ihr privates Interesse an der -- aus heutiger Sicht möglicherweise zu hoch bemessenen<br />

-- Entschädigungszahlung jedenfalls nicht als besonders schutzwürdig bezeichnet werden<br />

könnte. Den Grundeigentümern kann jedoch auch nicht jegliches Interesse am Fortbestand<br />

der Unterschutzstellung abgesprochen werden. Sie haben ihre Dispositionen während<br />

einer längeren Zeit auf die verfügten Schutzmassnahmen ausrichten müssen, und es ist deshalb<br />

durchaus legitim und gebührend miteinzubeziehen, dass sie sich dem Widerruf nun widersetzen.<br />

Dies umso mehr, als die Beschwerdeführerin mit dem Erlass der Planungszone für<br />

die in Frage stehende Liegenschaft wiederum recht weitgehende Eigentumsbeschränkungen<br />

in Aussicht genommen hat.<br />

Massgebend ist im Rahmen der Interessenabwägung jedoch die vom Verwaltungsgericht in<br />

den Vordergrund gestellte Überlegung, dass der Liegenschaft "Jakobsbrunnen" gestützt auf<br />

eingehende fachliche Abklärungen eine hohe Schutzwürdigkeit beigemessen worden ist und<br />

diese Einschätzung nach wie vor von keiner Partei in Zweifel gezogen wird. Demnach sprechen<br />

nicht nur die privaten Interessen an der Rechtssicherheit, sondern auch sehr bedeutende<br />

öffentliche Anliegen des Natur- und Heimatschutzes für den Weiterbestand des Schutzes.<br />

Die Feststellung der Baurekurskommission, wonach in der Stadt Winterthur bisher kein vergleichbares<br />

Objekt unter Schutz gestellt worden ist und eine Entschädigungspflicht ausgelöst<br />

hat, ist unbestritten geblieben. Was die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf veränderte<br />

Prioritäten und andere zu wahrende öffentliche Interessen des Natur- und Heimatschutzes<br />

vorbringt, überzeugt schon deshalb nicht, weil sie unter dem Gesichtswinkel der Prioritätensetzung<br />

allein ihre Finanzlage erwähnt und beispielsweise keine Schutzanliegen genannt hat,<br />

denen aus heutiger Sicht grössere Bedeutung beigemessen werden müsste und die verstärkte<br />

Anstrengungen erforderten. Da die Liegenschaft "Jakobsbrunnen" gestützt auf ein Verfahren<br />

unter Schutz gestellt worden ist, in dem die sich gegenüberstehenden Interessen allseits<br />

zu prüfen und gegeneinander abzuwägen waren, käme ein Widerruf der Schutzverfügung nur<br />

in Frage, wenn ihn ein besonders gewichtiges öffentliches Interesse gebieten würde (vgl.<br />

vorne Erw. 3b). Ein derartiges Gewicht kann den ausschliesslich finanziellen Interessen der<br />

Beschwerdeführerin an einem Zurückkommen auf die Unterschutzstellung klarerweise nicht<br />

beigemessen werden (vgl. dazu vorne Erw. 4c). Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts<br />

halten der Willkürprüfung daher auch unter dem Blickwinkel der Interessen- bzw. Wertabwä-<br />

- 95 -


gung ohne weiteres stand. -- Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich in allen Punkten<br />

als unbegründet und ist abzuweisen.<br />

- 96 -


Sachverhalte<br />

1. Gontenschwil<br />

M. ist Eigentümer der beiden Parzellen Nrn. 1327 und 1328 im Gebiet Wannental in der Gemeinde<br />

Gontenschwil. Auf diesen Grundstücken, die ausserhalb der Bauzone liegen, standen<br />

im April 1980 ein altes, baufälliges Wohnhaus mit Scheune (Nr. 211) und ein altes Waschhaus.<br />

Gestützt auf einen positiven Vorentscheid des Gemeinderates Gontenschwil vom 16.<br />

April 1980 stellte M. am 7. Juni 1980 ein Baugesuch für einen "Um- und Anbau am Gebäude<br />

Nr. 211", wobei als "gewerbliche Benützung" angegeben wurde: "Pferdestallungen und<br />

Räume für Kleintierhaltung". Das Bauvorhaben umfasste zwei neue Gebäude, nämlich ein<br />

zweistöckiges Einfamilienhaus mit 192 m2 Nutzfläche und einen Pferdestall mit vier Boxen<br />

und einer Tenne, sowie einen Umbau der Scheune. Der Gemeinderat Gontenschwil erteilte<br />

am 16. Juli 1980 die Baubewilligung für den "Umbau von Gebäude Nr. 211 und Neubau eines<br />

Einfamilienhauses im Wannental". Mit den Bauarbeiten wurde im Herbst 1980 begonnen<br />

und das Wohnhaus im Dezember 1981 bezogen; die gesamten Arbeiten mit Kostenpunkt von<br />

ungefähr 2 Mio. Franken waren im Frühjahr 1982 vollendet. Im September 1981 hatte sich<br />

ein Mitglied des Grossen Rates des Kantons Aargau beim Baudepartement erkundigt, ob das<br />

Bewilligungsverfahren ordnungsgemäss abgewickelt worden sei und das Departement die<br />

Bewilligung für die Bauten im Wannental gegeben habe. Nachdem derselbe Grossrat deswegen<br />

im November 1981 eine Interpellation an den Aargauer Regierungsrat gerichtet hatte,<br />

liess dieser die erforderlichen Abklärungen vornehmen. Mit Beschluss vom 28. Februar 1983<br />

stellte die Regierung fest, die vom Gemeinderat Gontenschwil am 16. Juli 1980 erteilte Baubewilligung<br />

widerspreche Art. 24 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom<br />

22. Juni 1979 (RPG); sie verweigerte die Zustimmung gemäss Art. 25 Abs. 2 RPG, widerrief<br />

den Vorentscheid und die Baubewilligung des Gemeinderates und verpflichtete M., die neu<br />

erstellten Bauten (Wohnhaus und Pferdestall) innert Jahresfrist, von der Rechtskraft des Beschlusses<br />

an gerechnet, abzubrechen und innert der gleichen Frist die als Pferdevolte umgebaute<br />

Scheune wieder der ursprünglichen Zweckbestimmung zuzuführen. Das Verwaltungsgericht<br />

des Kantons Aargau wies eine dagegen erhobene Beschwerde ab.<br />

Gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts hat M. beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

eingereicht.<br />

Gesetzliche Grundlagen:<br />

Bundesgesetz über die Raumplanung (RPG) vom 22. Juni 1979<br />

Art. 24 Ausnahmen für Bauten und Anlagen ausserhalb der Bauzonen<br />

Abweichend von Artikel 22 Absatz 2 Buchstabe a können Bewilligungen erteilt werden, Bauten und<br />

Anlagen zu errichten oder ihren Zweck zu ändern, wenn:<br />

a. der Zweck der Bauten und Anlagen einen Standort ausserhalb der Bauzonen erfordert; und<br />

b. keine überwiegenden Interessen entgegenstehen.<br />

- 97 -


Art. 25 Kantonale Zuständigkeiten<br />

1<br />

Die Kantone ordnen Zuständigkeiten und Verfahren.<br />

1bis<br />

Sie legen für alle Verfahren zur Errichtung, Änderung oder Zweckänderung von Bauten und Anlagen<br />

Fristen und deren Wirkungen fest.<br />

2<br />

Die zuständige kantonale Behörde entscheidet bei allen Bauvorhaben ausserhalb der Bauzonen, ob<br />

sie zonenkonform sind oder ob für sie eine Ausnahmebewilligung erteilt werden kann.<br />

Fragen zur Falllösung:<br />

1) Angenommen die errichteten Gebäulichkeiten seien nicht zonenkonform errichtet<br />

worden: Wie ist die Baubewilligung des Gemeinderats Gontenschwil zu beurteilen?<br />

Welche Argumentation vertritt hierzu wohl der Beschwerdeführer?<br />

2) Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Beurteilung?<br />

3) Mit welchen juristischen Vorbringen kann sich der Beschwerdeführer gegen die<br />

Wiederherstellung wehren? Sind die Voraussetzungen hierfür in casu gegeben?<br />

[BGE 111 Ib 213 / Gontenschwil]<br />

- 98 -


Die Wasserversorgungsgenossenschaft X beantragte mit Gesuch vom 15. Juni 1997 für ihr<br />

Projekt eine Investitionszulage von Fr. 42 750.-. Am 17. März 1998 lehnte das Bundesamt<br />

für Konjunkturfragen (neue Zuständigkeit ab 1. Januar 1998 beim Bundesamt für Wirtschaft<br />

und Arbeit; seit 1. Juli 1999: Staatssekretariat für Wirtschaft: alle nachfolgend Staatssekretariat<br />

genannt) das Gesuch wegen ungenügender verfügbarer Mittel ab. Am 1. Oktober 1998<br />

erhielt die Wasserversorgungsgenossenschaft X vom kantonalen Tiefbauamt ein «an die<br />

Empfänger der Investitionszulage 1997» adressiertes Schreiben mit der Vorankündigung einer<br />

Projektbesichtigung durch Vertreter des Staatssekretariats, welche dann am 19. Oktober<br />

1998 auch stattfand. Am 10. Dezember 1998 reichte die Wasserversorgungsgenossenschaft<br />

X ihre Abrechnung ein, worauf das Staatssekretariat mit Verfügung vom 24. Februar 1999<br />

die anrechenbaren Kosten auf Fr. 383 408.70 festsetzte und eine Investitionszulage von Fr.<br />

43 500.- ausbezahlte. Mit Verfügung vom 6. Mai 1999 forderte das Staatssekretariat den<br />

ausgerichteten Betrag vollumfänglich zurück, weil es erst nach Einreichung des Auszahlungsbegehrens<br />

der Gemeinde Wasserversorgung Z festgestellt habe, dass die beiden Projekte<br />

verwechselt worden seien.<br />

Gegen diese Verfügung erhebt die Wasserversorgungsgenossenschaft Beschwerde bei der<br />

Rekurskommission des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (Rekurskommission<br />

EVD, REKO/EVD).<br />

Gesetzliche Grundlagen:<br />

Bundesgesetz über Finanzhilfen und Abgeltungen (SuG) vom 5. Oktober 1990<br />

Art. 30 Widerruf von Finanzhilfe- und Abgeltungsverfügungen<br />

1<br />

Die zuständige Behörde widerruft eine Finanzhilfe- oder Abgeltungsverfügung, wenn sie die Leistung<br />

in Verletzung von Rechtsvorschriften oder aufgrund eines unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalts<br />

zu Unrecht gewährt hat.<br />

2<br />

Sie verzichtet auf den Widerruf, wenn:<br />

a. der Empfänger aufgrund der Verfügung Massnahmen getroffen hat, die nicht ohne unzumutbare<br />

finanzielle Einbussen rückgängig gemacht werden können;<br />

b. die Rechtsverletzung für ihn nicht leicht erkennbar war;<br />

c. eine allfällig unrichtige oder unvollständige Feststellung des Sachverhalts nicht auf schuldhaftes<br />

Handeln des Empfängers zurückzuführen ist.<br />

3<br />

2. Subventionsvergabe<br />

Mit dem Widerruf fordert die Behörde die bereits ausgerichteten Leistungen zurück. Hat der Empfän-<br />

ger schuldhaft gehandelt, so erhebt sie zudem einen Zins von jährlich 5 Prozent seit der Auszahlung.<br />

4<br />

Vorbehalten bleiben Rückforderungen nach Artikel 12 des Verwaltungsstrafrechtsgesetzes<br />

Art. 35 Rechtsmittel<br />

1<br />

Verfügungen können mit Beschwerde nach den allgemeinen Bestimmungen über die Bundesverwaltungsrechtspflege<br />

angefochten werden.<br />

2<br />

Letztinstanzliche Verfügungen der Kantone können, wenn die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an<br />

das Bundesgericht nicht offensteht, mit Beschwerde an den Bundesrat weitergezogen werden.<br />

3<br />

Ist vorgesehen, dass die zuständige Behörde infolge der grossen Zahl gleichartiger Gesuche bloss<br />

summarisch begründete Verfügungen erlässt, so kann dagegen Einsprache erhoben werden.<br />

- 99 -


Fragen zur Falllösung:<br />

1) Worin liegt der Rechtsgrund für die Subventionsauszahlung vom 24. Februar<br />

1999?<br />

2) Ist der durch die Verfügung vom 6. Mai 1999 erfolgte Widerruf der Auszahlungsverfügung<br />

zulässig?<br />

3) Wie wäre die Rechtslage zu beurteilen, wenn keine spezifische Norm vorläge, die<br />

den Widerruf regelt?<br />

4) Verfahrensrechtliches: Kann gegen den in der vorliegenden Sache zu erlassenden<br />

Entscheid der Rekurskommission des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements<br />

ein Rechtsmittel ans Bundesgericht ergriffen werden?<br />

[VPB 66.22 / Subventionsvergabe]<br />

- 100 -


ZBl 1993 231 / Arkadenbau<br />

Vereinbarung zwischen Gemeinde und Grundeigentümer über die Benutzung einer Parzelle<br />

(Arkandenbaurecht).<br />

Regeste<br />

Privatrechtlicher oder öffentlichrechtlicher Vertrag (Erw. 1)? Mit dem Inkrafttreten öffentlichrechtlicher<br />

Eigentumsbeschränkungen fallen frühere entsprechende Beschränkungen enthaltende<br />

Verträge nicht ohne weiteres dahin (Erw. 2 ). Zwischen den dem Privatrecht und den<br />

dem öffentlichen Recht angehörenden Parteien eines öffentlichrechtlichen Vertrags besteht<br />

nicht notwendigerweise ein Subordinationsverhältnis, weiches eine besondere Schutzbedürftigkeit<br />

der privaten Partei begründen würde (Erw. 3a). Unter weichen Voraussetzungen kann<br />

eine Änderung des Vertrags unter Berufung auf die Clausula rebus sic stantibus verlangt<br />

werden (Erw. 3b)?<br />

Sachverhalt<br />

Modul VII<br />

<strong>Verwaltungsrecht</strong>licher Vertrag<br />

Schlichtes und informelles Verwaltungshandeln<br />

Mitte der sechziger Jahre beabsichtigte die Gemeinde S., bei einem unmittelbar an die Kantonsstrasse<br />

angrenzenden Gebäude mittels eines Arkadenbaus ein Trottoir zu erstellen. Dadurch<br />

wurde das an die Strasse angrenzende Ladenlokal von F. verkleinert. Zu diesem Zweck<br />

schlossen am 7. September 1965 F. als Eigentümer der an die Kantonsstrasse grenzenden<br />

Liegenschaft und die Gemeinde S. einen Vertrag, welcher der Gemeinde ein "Benutzungsrecht<br />

des Trottoirs zugunsten der Öffentlichkeit zu Lasten der Parzelle ..." gewährte. Als<br />

Entgelt hatte die Gemeinde den Grundeigentümer F. und dessen Rechtsnachfolger für entgangene<br />

Mietzinseinnahmen aus dem Ladenlokal mit Fr. 1000.-- jährlich zu entschädigen. In<br />

der Folge erstellte die Gemeinde auf der Liegenschaft ein Trottoir und überdeckte es mit einer<br />

Arkade. Im Jahre 1976 wurde auf derselben Fläche entlang der Kantonsstrasse eine Arkadenbaulinie<br />

gezogen und damit auf die betroffenen Grundstücke eine öffentlichrechtliche Eigentumsbeschränkung<br />

gelegt. Im Jahre 1990 gelangte die Rechtsnachfolgerin von F. an den<br />

Gemeinderat und ersuchte um eine Neuregelung der Entschädigung, wobei sie eine jährliche<br />

Entschädigung von Fr. 5000.-- sowie eine Indexierung vorschlug. Der Gemeinderat lehnte<br />

eine Erhöhung der Entschädigung ab, erklärte sich allerdings bereit, an die notwendige Isolation<br />

der Arkade einen einmaligen Beitrag von Fr. 6000.-- zu leisten. Die Klägerin gelangte in<br />

der Folge ans Verwaltungsgericht und verlangte, den Vertrag vom 7. September 1965 zu<br />

indexieren und eine jährliche Entschädigung von Fr. 5000.-- festzusetzen. Das Gericht hat die<br />

Klage abgewiesen.<br />

- 101 -


Aus den Erwägungen<br />

1.<br />

a) Nach Art. 62 Abs. 1 Bst. a des Gesetzes über die Gerichtsorganisation vom 12. Januar/4.<br />

März 1973 (GOG) beurteilt das Verwaltungsgericht als einzige Instanz öffentlichrechtliche<br />

Streitsachen aus öffentlichrechtlichen Verträgen. Zu klären ist zunächst die Frage, ob der<br />

Vertrag vom 7. September 1965 verwaltungsrechtlicher oder privatrechtlicher Natur sei. Entscheidend<br />

für die Zuordnung von Verträgen zum privaten oder öffentlichen Recht ist deren<br />

Gegenstand (BGE 109 II 79, 105 Ia 394, mit Hinweisen). Ein verwaltungsrechtlicher Vertrag<br />

liegt vor, wenn die Materie vom öffentlichen Recht geregelt wird, wenn das öffentliche Interesse<br />

betroffen ist oder wenn damit eine öffentliche Aufgabe erfüllt wird (vgl. René A. Rhinow/Beat<br />

Krähenmann, Schweizerische <strong>Verwaltungsrecht</strong>sprechung, Ergänzungsband, Basel<br />

1990, Nr. 46 XIb; BGE 105 Ia 394, mit Hinweisen).<br />

b) Der Vertrag zwischen den Parteien vom 7. September 1965 bezieht sich auf eine Materie,<br />

die vom öffentlichen Recht geregelt wird. Das nur wenige Monate vor Abschluss des Vertrags<br />

am 16. Mai 1965 in Kraft getretene Baugesetz sieht in Art. 9 Abs. 6 vor, dass die Abstände<br />

von Strassen durch Baulinien den besonderen Verhältnissen angepasst werden können.<br />

Mit dem Vertragsabschluss gelang es der Gemeinde, die für die Schaffung einer Fussgängerpassage<br />

erforderliche Fläche der Liegenschaft freizuhalten. Damit wurden öffentliche<br />

Interessen verfolgt und diente der Vertrag der Gemeinde unmittelbar zur Erfüllung ihrer öffentlichen<br />

Aufgabe, Strassen und Verkehrswege zu erstellen. Es handelt sich daher um einen<br />

öffentlichrechtlichen Vertrag. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich die Parteien<br />

zur Verwirklichung ihrer Ziele eines Mittels des Privatrechts bedienten. Der Rechtsgrund für<br />

die Errichtung und grundbuchliche Sicherung von Dienstbarkeiten kann nämlich durchaus öffentlichrechtlicher<br />

Natur sein (BGE 103 Ia 34 Erw. 2a). Das Verwaltungsgericht ist gestützt<br />

auf Art. 62 Abs. 1 Bst. a GOG als einzige Instanz zuständig, daraus entstehende Streitigkeiten<br />

zu beurteilen. Auf die Klage ist daher einzutreten.<br />

c) Immerhin hat der Umstand, dass sich die Parteien des Mittels des Vertrags bedienten, zur<br />

Folge, dass privatrechtliche Grundsätze ins öffentliche Recht übernommen werden, wenn im<br />

öffentlichen Recht Lücken vorliegen, die ausgefüllt werden müssen. Bei öffentlichrechtlichen<br />

Verträgen können insbesondere auch die privatrechtlichen Grundsätze über den Schutz von<br />

Treu und Glauben, über Willensmängel, die Clausula rebus sic stantibus, die Verrechnung<br />

und Verjährung angewendet werden, soweit nicht besondere Bedürfnisse eine abweichende<br />

Ordnung rechtfertigen (Rhinow/Krähenmann, a.a.O., Nr. 2, V.d).<br />

2. Im Jahre 1976 wurde entlang der Kantonsstrasse eine Arkadenbaulinie gezogen und damit<br />

auf die betroffenen Grundstücke eine öffentlichrechtliche Eigentumsbeschränkung gelegt. Es<br />

fragt sich, ob der Vertrag vom 7. September 1965 damit seine Geltung verloren hat. Das<br />

Bundesgericht hat in BGE 103 Ia 31 ff. einen ähnlichen Fall beurteilt. Dabei handelte es sich<br />

um Vereinbarungen zwischen O.B. und der Einwohnergemeinde Engelberg, durch welche vor<br />

Erlass des Gemeindekanalisationsreglements eine Dienstbarkeit sowie ein unentgeltliches Kanalisationsanschlussrecht<br />

begründet worden waren; beide Rechte wurden im Grundbuch eingetragen.<br />

Das Bundesgericht stellte fest, dass das vertraglich gültig begründete Rechtsverhältnis<br />

mit dem Inkrafttreten des Kanalisationsreglements nicht eo ipso untergegangen sei,<br />

nicht zuletzt deshalb, weil wohlerworbene Rechte zu schützen seien. Ganz ähnlich änderte<br />

auch im vorliegenden Fall die Errichtung der Arkadenbaulinie im Jahre 1976 grundsätzlich<br />

- 102 -


nichts an der Wirksamkeit des Vertrags vom 7. September 1965. Namentlich bedeutete das<br />

Ziehen der Baulinie im Jahre 1976 für die klägerische Liegenschaft keine zusätzliche<br />

Eigentumsbeschränkung.<br />

3. In ihrer Begründung führt die Klägerin insbesondere aus, die Vertragsparteien stünden zueinander<br />

in einem Subordinationsverhältnis, weil die Gemeinde als Trägerin hoheitlicher Gewalt<br />

mit einem Privaten eine Vereinbarung getroffen habe. Deshalb sei der Vertrag in besonderem<br />

Mass unter dem Gesichtswinkel des Legalitätsprinzips, des Gleichbehandlungsgebots<br />

und des Vertrauensgrundsatzes zu prüfen; gestützt auf die Gewährleistung des Eigentums<br />

müsse die Entschädigung den Umständen angemessen sein.<br />

a) In der Frage des Subordination gilt es zu differenzieren: Wenn auch zwischen den Vertragsparteien,<br />

bezogen auf die allgemeine Rechtsstellung ausserhalb der streitigen besonderen<br />

Rechtsbeziehung, keine Gleichwertigkeit bestand, kam den von ihnen abgegebenen Willenserklärungen,<br />

den für den Vertrag konstitutiven rechtsgeschäftlichen Parteierklärungen,<br />

durchaus gleiches Gewicht zu, entstand doch die konkrete Rechtsbeziehung ausschliesslich<br />

durch die Erklärung der Parteien (vgl. dazu Max Imboden, Der verwaltungsrechtliche Vertrag,<br />

ZSR 77 II Ziffer 31 ff.). Darauf kommt es aber an. Beim Abschluss des Vertrags am 7. September<br />

1965 waren die Parteien grundsätzlich frei, ob und wie sie die Vereinbarung treffen<br />

wollten, auch wenn diese im öffentlichen Interesse erfolgte. Jedenfalls vermag der Hinweis<br />

auf die grundsätzlich übergeordnete Rechtsstellung der Gemeinde keinen Anspruch der Klägerin<br />

auf einen erhöhten, über die im allgemeinen Vertragsrecht vorgesehenen Regeln hinausgehenden<br />

Schutz zu begründen. Insbesondere braucht auch nicht geprüft zu werden, ob<br />

die ausgehandelte Entschädigung beim Abschluss des Vertrags angemessen war.<br />

b) Nach dem auch für öffentlichrechtliche Verträge geltenden Grundsatz "pacta sunt servanda"<br />

sind Verträge grundsätzlich nicht einseitig abänderbar. Aufgrund einer analogen Anwendung<br />

der Bestimmungen des Obligationenrechts (siehe Erw. 1c) ist aber zu prüfen, ob der<br />

Klägerin allenfalls nach den Regeln der "Clausula rebus sic stantibus" ein Revisionsanspruch<br />

zusteht (vgl. auch Imboden, a.a.O., Ziffer 106). Die Clausula rebus sic stantibus stützt sich<br />

auf das Verbot des Rechtsmissbrauchs gemäss Art. 2 Abs. 2 ZGB (vgl. Keller/Schöbi, Allgemeine<br />

Lehren des Vertragsrechts, 3. Auflage, Basel 1988, S. 255, mit Hinweisen). Zwar gilt<br />

grundsätzlich das Postulat der Rechtssicherheit, dass Verträge so zu halten sind, wie sie abgeschlossen<br />

wurden. Doch können sich die Verhältnisse so stark ändern, dass die wortgetreue<br />

Erfüllung des Vertrags zu ungerechten Ergebnissen führen würde und deshalb die Vertragsgerechtigkeit<br />

gegenüber der Rechtssicherheit vorgehen muss. In diesen Füllen kann der<br />

Richter unter Anwendung der Regeln der Clausula rebus sic stantibus einen Vertrag abändern<br />

oder sogar ganz aufheben (vgl. BGE 97 II 398). Der Vertrag vom 7. September 1965 ist auf<br />

die Frage hin auszulegen, ob sich die übereinstimmende gegenseitige Willensäusserung der<br />

Parteien nur auf die damals bestehenden und geplanten Verhältnisse bezog oder ob die zukünftige<br />

Entwicklung im verwirklichten Umfang berücksichtigt wurde und werden konnte.<br />

Gestützt darauf ist dann zu entscheiden, ob eine Änderung oder gar Aufhebung des Vertrags<br />

gerechtfertigt sei (vgl. BGE 103 Ia 37, mit Hinweisen). Mit der Einräumung des Benutzungsrechts<br />

auf einem Teil der Parzelle wurde zugunsten der Öffentlichkeit, das heisst zugunsten<br />

der Gemeinde eine irreguläre Personalservitut nach Massgabe von Art. 781 ZGB begründet.<br />

Zur Bemessung der Entschädigung wurde auf die entgangenen Mietzinseinnahmen aus dem<br />

Ladenlokal abgestellt, welches durch den Arkadenbau um rund 26,5 m2 verkleinert wurde.<br />

Man einigte sich diesbezüglich auf eine wiederkehrende jährliche Rente von Fr. 1000.--. Ein<br />

künftige Anpassung der Entschädigung war nicht vorgesehen. In bezug auf die Zumutbarkeit<br />

- 103 -


der von den Parteien hinsichtlich der Entschädigung getroffenen Regelung kann es nicht darauf<br />

ankommen, wie hoch heute die wegen der Verkleinerung des Ladenlokals entgehenden<br />

Mietzinseinnahmen geschätzt würden. Die Parteien hatten ja nicht vereinbart, jeweils die<br />

jährlich entfallenden Mietzinseinnahmen zu ersetzen. Vielmehr setzten sie die aufgrund der<br />

damals geschätzten entgangenen Mietzinseinnahmen bemessene periodische Entschädigung<br />

für die Einräumung der Dienstbarkeit ein für allemal auf Fr. 1000.-- fest. Es bestehen keine<br />

Anhaltspunkte dafür, dass der damalige Parteiwille durch die Veränderung der Verhältnisse<br />

überholt worden sei. Darauf kommt es aber an. Die Clausula rebus sic stantibus kann nicht<br />

dazu dienen, anstelle der von den Parteien getroffenen subjektiv-willkürlichen Lösung später<br />

eine als objektiv-richtig empfundene durchzusetzen. Sodann setzt die Clausula rebus sic<br />

stantibus objektiv ausserordentliche Veränderungen voraus, woran strenge Anforderungen zu<br />

stellen sind. Davon ausgeschlossen sind insbesondere Ereignisse, die sich auch nur einigermassen<br />

im Rahmen einer durchschnittlich normalen Entwicklung bewegen, wie etwa konjunkturelle<br />

Schwankungen oder die langsame Geldentwertung (vgl. Keller/Schöbi, a.a.O., S.<br />

257; Eugen Bucher, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Zürich<br />

1988, S. 396). Dies leuchtet auch mit Bezug auf den vorliegenden Fall durchaus ein, mussten<br />

doch die Parteien schon am 7. September 1965 wissen oder hätten sie wissen müssen,<br />

dass sich die Preise in Zukunft verändern würden. Wie zu urteilen wäre, hätte beispielsweise<br />

ein dramatischer Währungszerfall stattgefunden, braucht nicht beurteilt zu werden, liegt<br />

doch keine solche Situation vor. Indessen geht es nicht an, dass der Richter einen Vertrag<br />

abändert oder gar aufhebt, bei dem das Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung wegen<br />

einer grundsätzlich -- wenn auch vielleicht nicht in der ganzen Tragweite -- voraussehbaren<br />

und allgemein bekannten Entwicklung für die eine Partei etwas ungünstiger ausfällt, als<br />

sie sich dies bei Vertragsabschluss vielleicht vorgestellt hatte.<br />

(Verwaltungsgericht, 17. Dezember 1991).<br />

- 104 -


Sachverhalt<br />

Hoffmann AG<br />

Die Gebrüder Hoffmann AG, Thun, beschäftigte im Jahre 1960 rund 800 Personen und galt<br />

als zweitgrösstes privates Unternehmen in der Gemeinde Thun. Die Firmenleitung sah sich<br />

seit Ende der fünfziger Jahre veranlasst, eine Verlegung und Erweiterung des Betriebs zu planen.<br />

Im Jahre 1959 traten die Gebr. Hoffmann AG und die Einwohnergemeinde Thun in Verhandlungen<br />

über die Beschaffung eines Baugrundstücks auf dem Gebiet der Gemeinde Thun.<br />

Für die Gebr. Hoffmann AG stand im damaligen Zeitpunkt neben der Neuerrichtung des Betriebs<br />

in Thun eine Verlegung in die Ostschweiz in Frage, wo die Firma bereits ein geeignetes<br />

Baugrundstück besass, oder in eine der Nachbargemeinden von Thun, von woher die Firma<br />

bereits günstige Baulandangebote erhalten hatte. Am 9. Juli 1960 schlossen die Gebr. Hoffmann<br />

AG und die Einwohnergemeinde Thun nach längeren Verhandlungen einen öffentlich<br />

beurkundeten Tauschvertrag und eine damit im Zusammenhang stehende Vereinbarung. Im<br />

Tauschvertrag verpflichtete sich die Einwohnergemeinde, der Gebr. Hoffmann AG ein Industrieareal<br />

im Halte von 50536 m2 zu übertragen. Die Gemeinde gab dieses Land, das sie zum<br />

Teil von Dritten hatte beschaffen müssen, zu einem Tauschwert ab, der teilweise unter den<br />

Anschaffungskosten lag. Im Laufe der Vertragsverhandlungen verlangte die Beschwerdeführerin<br />

– die an sich gewillt war in Thun zu bleiben, den finanziellen Fragen jedoch entscheidende<br />

Wichtigkeit zumass -, dass die Kosten der Kanalisation von der Gemeinde zu tragen<br />

seien. Dazu haben sich die Gemeindevertreter jedoch nicht bereitgefunden und erklärt, ein<br />

Verzicht auf die in der Bauordnung festgelegten Kanalisationsanschlussgebühren sei rechtlich<br />

nicht möglich. In der schliesslich erreichten Vereinbarung wurde die Erschliessung des Industrieareals<br />

geregelt und hinsichtlich der Kanalisation unter anderem bestimmt, dass sich<br />

die gesetzlichen Einkaufsgebühren in die städtische Kanalisation nach den stabilisierten<br />

Brandversicherungswerten der zu erstellenden Gebäude richteten. Hinzu komme ein kleiner<br />

Zuschlag pro m2 Bodenfläche des Grundstücks. Über die Höhe der Gebühren sei Art. 20 der<br />

Bauordnung der Gemeinde Thun (BauO) massgebend.<br />

Diese Bestimmung wurde in der bei Abschluss der Vereinbarung geltenden Fassung vom 11.<br />

Oktober 1942 wörtlich wiedergegeben.<br />

Am 15. September 1960 beantragte das Stadtbauamt dem Bauvorsteher der Einwohnergemeinde<br />

Thun, Art. 20 der Bauordnung von 11. Oktober 1942 sei im Sinne einer Erhöhung<br />

der Kanalisationsanschlussgebühren zu ändern. Dieser Antrag den die Baubehörden kurzfristig<br />

stellten und den sie bei Abschluss des Tauschvertrages und der Vereinbarung noch nicht<br />

erwogen hatten, wurde damit begründet, die Erhöhung der Anschlussgebühren dränge sich<br />

auf, da die Gemeinde vor sehr kostspieligen Kanalisationsbauten stehe. Mit Stadtratsbeschluss<br />

vom 28. Oktober 1960, gebilligt in der Gemeindeabstimmung vom 3./4. Dezember<br />

1960, wurde Art. 20 BauO antragsgemäss geändert, wobei die Gebührensätze erhöht und<br />

als Bemessungsgrundlage der geschätzte Zustandswert der Gebäude, statt wie bis anhin der<br />

stabilisierte Brandversicherungswert, gewählt wurde.<br />

Im Herbst 1962 wurde die Liegenschaft der Gebr. Hoffmann AG an die Kanalisation angeschlossen.<br />

Mit Rechnung vom 12. Mai 1964 forderte die Einwohnergemeinde Thun von der<br />

Firma gestützt auf den geänderten Art. 20 BauO eine Kanalisationsanschlussgebühr von Fr.<br />

164211.20, was 20% der Brandversicherungssumme des Fabrikneubaus entspricht, ferner<br />

mit Rechnung vom 20. Mai 1965 eine Kanalisationsanschlussgebühr von Fr. 40065.90 für<br />

- 105 -


die durch einen Lagerhausanbau geschaffene Wertvermehrung. Die Gebr. Hoffmann AG bezahlte<br />

in der Folge Fr. 55466.10 und 10952.--, entsprechend der bisherigen Fassung von<br />

Art. 20 BauO. Im übrigen bestritt sie die Forderung mit der Begründung, die Parteien hätten<br />

sich in der Vereinbarung darauf geeinigt, die bei Anschluss der Liegenschaft an die Kanalisation<br />

zu entrichtenden Gebühren seien nach Massgabe des bei Vertragsschluss geltenden Reglements<br />

zu berechnen.<br />

Auf Klage der Einwohnergemeinde Thun hin verurteilte der Regierungsstatthalter von Thun<br />

die Gebr. Hoffmann AG zur Zahlung der Gebührenrestanz. Das Verwaltungsgericht des Kantons<br />

Bern bestätigte diesen Entscheid, im wesentlichen mit der Begründung, der wörtlichen<br />

Wiedergabe des alten Art. 20 BauO in der Vereinbarung vom 9. Juli 1960 komme nicht der<br />

Sinn zu, dass die Elemente der Gebührenerhebung ein für allemal festgelegt worden seien<br />

und dass sie von einer allfälligen Reglementsänderung nicht berührt würden. Vielmehr sei anzunehmen,<br />

dass der fragliche Teil der Vereinbarung nur dazu bestimmt gewesen sei, die<br />

Gebr. Hoffmann AG auf ihre reglementarischen Pflichten hinzuweisen.<br />

Fragen zur Falllösung<br />

1) Wie ist der Tauschvertrag, bzw. der Vertrag über die Erschliessung des Industrieareals<br />

rechtlich zu qualifizieren?<br />

2) Nach welchen Grundsätzen müssen die genannten Vereinbarungen ausgelegt werden?<br />

Welche Rolle spielt hierbei die Wahrung des öffentlichen Interesses?<br />

3) Wie muss die Abrede bezüglich der Kanalisationsanschlussgebühr folglich interpretiert<br />

werden?<br />

4) Sind die obgenannten Abreden zulässig? Inwiefern könnte es sich dabei um eine<br />

verpönte Abgabenvergünstigung handeln? Welche Argumente sprechen gegen eine<br />

solche Qualifikation?<br />

5) Welche Regeln könnten für den Widerruf eines fehlerhaften verwaltungsrechtlichen<br />

Vertrages Anwendung finden? Welche Interessen sind hierbei zu beachten?<br />

[103 Ia 505 / Hoffmann AG]<br />

- 106 -


BGE 121 I 87 / Verein zur Föderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM)<br />

12. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18. Januar 1995 i.S.<br />

Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM) und Mitbeteiligte gegen<br />

Erziehungsdirektion und Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)<br />

Regeste<br />

Art. 84 OG;<br />

Art. 13 EMRK; Zulässigkeit der staatsrechtlichen Beschwerde gegen Aufsichtsentscheide.<br />

Entscheide, mit welchen auf eine Aufsichtsbeschwerde nicht eingetreten, diese abgewiesen<br />

oder ihr keine Folge gegeben wird, sind nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar<br />

(E. 1a; Bestätigung der Rechtsprechung).<br />

Soweit auf kantonaler Ebene die Möglichkeit besteht, sich gegen Grundrechtsverletzungen<br />

durch Realakte auf andere Weise als allein mittels Aufsichtsbeschwerde zur Wehr zu setzen,<br />

erfordert die Garantie eines wirksamen Rechtsschutzes gemäss Art. 13 EMRK nicht, die<br />

staatsrechtliche Beschwerde auch gegen abschlägige Aufsichtsentscheide zuzulassen (E.<br />

1b).<br />

Sachverhalt<br />

Im November 1992 erschien im Werd Verlag in Zürich das Buch "Das Paradies kann warten".<br />

Das von mehreren Autoren verfasste Werk ist als Informationsschrift über Gruppierungen mit<br />

totalitärer Tendenz gedacht. Es enthält kritische Beiträge über neun solche Gemeinschaften,<br />

eingeschobene sog. Gespräche zur Vertiefung und zahlreiche praktische Hinweise. Unter anderem<br />

finden sich im Buch kritische Darstellungen des Opus Dei, der Evangelikalen und des<br />

Vereins zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM). Die Schrift entstand<br />

im Auftrag und mit Unterstützung der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich. Sie wurde<br />

vom Pestalozzianum Zürich herausgegeben. Anlass für die Erstellung des Buchs war ein Postulat,<br />

mit dem der Zürcher Kantonsrat am 1. Oktober 1990 den Regierungsrat aufforderte,<br />

Massnahmen zu ergreifen, welche die Aufklärung von Schule und Elternhaus über die Gefahren<br />

von Jugendreligionen ermöglichten.<br />

Die Publikation des Werks "Das Paradies kann warten" löste ein grosses Echo aus. In kurzer<br />

Zeit waren zwei Auflagen ausverkauft.<br />

Inzwischen ist eine dritte, überarbeitete Auflage erschienen. Die Erziehungsdirektion stellte<br />

das Werk im November 1992 allen Schulhäusern und Schulbehörden des Kantons zu. Bei<br />

den dargestellten Gruppierungen stiess die Schrift meist auf Ablehnung.<br />

Im Dezember 1992 und Januar 1993 erhoben unter anderem der VPM, der Förderverein zur<br />

Unterstützung des VPM "Für Familie und Gesellschaft", der Schweizerische Bund aktiver Protestanten,<br />

A. und acht Mitunterzeichner beim Regierungsrat des Kantons Zürich wegen der<br />

Publikation des Buchs "Das Paradies kann warten" Aufsichtsbeschwerden gegen die Erzie-<br />

- 107 -


hungsdirektion. Sie verlangten vor allem die Einstellung des weiteren Vertriebs des Werks,<br />

die Entfernung der Schrift aus den Schulbibliotheken, ferner die Berichtigung des Kapitels<br />

über die evangelischen Freikirchen und die Veröffentlichung derselben mit einer Entschuldigung.<br />

Der Regierungsrat entschied am 25. August 1993, den Aufsichtsbeschwerden keine Folge zu<br />

geben. Wie schon bei der Beantwortung der parlamentarischen Vorstösse vertrat er die Auffassung,<br />

die Publikation des umstrittenen Buchs verletze weder die Glaubens- und Gewissensfreiheit,<br />

die Kultusfreiheit oder die Vereinsfreiheit noch die Verpflichtung des Staates zur<br />

religiösen Neutralität. Die Orientierung insbesondere junger Leute über Gefahren, die von<br />

Gruppierungen mit totalitärer Tendenz ausgingen, falle in die Verantwortung des Staates und<br />

störe den Religions- und Schulfrieden im Kanton Zürich nicht. Er räumte allerdings ein, dass<br />

das Kapitel über die Evangelikalen in den ersten zwei Auflagen nicht voll befriedigt habe und<br />

deshalb für die dritte Auflage neu und differenzierter geschrieben worden sei. Bei der Darstellung<br />

des VPM seien in der dritten Auflage die zwei Ausdrücke gestrichen worden, die der<br />

Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich in seiner Verfügung vom 22. Dezember 1992 beanstandet<br />

habe. Die Grundaussagen der beiden Kapitel könnten aber nach wie vor Gültigkeit<br />

beanspruchen. Die genannten Aufsichtsbeschwerdeführer haben gegen den Entscheid des<br />

Regierungsrats vom 25. August 1992 eine staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht<br />

eingereicht. Nach ihrer Auffassung verstösst der angefochtene Entscheid, vor allem aber die<br />

Publikation des Buchs gegen Art. 4, 31, 49 und 55 BV sowie gegen die ungeschriebenen<br />

Grundrechte der persönlichen Freiheit, der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit<br />

sowie gegen Art. 13 EMRK.<br />

Aus den Erwägungen<br />

1.-- Die Beschwerdeführer fechten einen Entscheid an, der ihren zuvor eingereichten Aufsichtsbeschwerden<br />

keine Folge gibt. Sie erklären, sich im Grunde gegen eine Reihe von staatlichen<br />

Realakten im Zusammenhang mit der Herausgabe des Buchs "Das Paradies kann warten"<br />

wehren zu wollen. Da gegen solches verfügungsfreies Staatshandeln nur die Aufsichtsbeschwerde<br />

ergriffen werden könne, müsse gegen den Entscheid der Aufsichtsbehörde die<br />

staatsrechtliche Beschwerde zulässig sein. Andernfalls sei gegenüber staatlichen Realakten<br />

der Grundrechtsschutz, wie ihn Art. 13 EMRK verlange, nicht gewährleistet.<br />

a) Nach der ständigen Rechtsprechung kann der Entscheid einer Behörde, auf eine Aufsichtsbeschwerde<br />

nicht einzutreten, sie abzuweisen oder ihr keine Folge zu geben, nicht mit<br />

staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden (BGE 116 Ia 8 E. 1a S. 10; 109 Ia 251 E.<br />

3 S. 252; 106 Ia 310<br />

E. 6 S. 321). Dem Aufsichtsmassnahmen ablehnenden Beschluss fehlt der Verfügungscharakter,<br />

da er keinen Akt darstellt, der ein Verhältnis zwischen der Verwaltung und einem<br />

Bürger verbindlich regelt (BGE 102 Ib 81<br />

E. 3 S. 85). Zugleich geht dem Aufsichtsbeschwerdeführer das nach Art. 88 OG vorausgesetzte<br />

rechtlich geschützte Interesse ab, da die Einreichung einer Aufsichtsbeschwerde keinen<br />

Anspruch auf materielle Prüfung und Erledigung vermittelt (BGE 109 Ia 251 E. 3 S.<br />

252). Der VPM, A. und die acht Mitunterzeichner haben im Januar 1993 beim Regierungsrat<br />

des Kantons Zürich ausdrücklich eine Aufsichtsbeschwerde erhoben. Der Förderverein zur<br />

Unterstützung des VPM "Für Familie und Gesellschaft" und der Schweizerische Bund aktiver<br />

Protestanten wandten sich je in einem Schreiben an den Regierungsrat, in dem sie gegen die<br />

- 108 -


Veröffentlichung des Buchs "Das Paradies kann warten" protestierten und Massnahmen zur<br />

Verhinderung weiterer Diffamierungen verlangten. Der Regierungsrat behandelte unbestrittenermassen<br />

alle diese Eingaben als Aufsichtsbeschwerden. Der Umstand, dass die Erwägungen<br />

und das Dispositiv seines Entscheids wie bei Rechtsmitteln abgefasst sind, ändert an<br />

diesem Befund nichts.<br />

Der Beschluss des Regierungsrats vom 25. August 1993 qualifiziert sich somit als abschlägiger<br />

Aufsichtsentscheid, der nach der angeführten Rechtsprechung grundsätzlich nicht mit<br />

staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar ist.<br />

b) Die Beschwerdeführer wenden sich mit dem Argument gegen diese Betrachtungsweise,<br />

dass ihnen dadurch ein wirksamer Rechtsschutz gegen Grundrechtsverletzungen, wie ihn<br />

Art. 13 EMRK vorschreibe, versagt bleibe.<br />

Nach Art. 13 EMRK hat derjenige, der sich in den durch die Konvention garantierten Rechten<br />

und Freiheiten für beeinträchtigt hält, Anspruch darauf, bei einer nationalen Instanz eine<br />

wirksame Beschwerde einlegen zu können. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass ein Rechtsmittel<br />

an ein Gericht zur Verfügung stehen muss. Eine Beschwerdemöglichkeit an eine hinreichend<br />

unabhängige Verwaltungsbehörde kann genügen. Hingegen ist erforderlich, dass der<br />

Beschwerdeführer Anspruch auf Prüfung seiner Vorbringen hat und dass die Beschwerdebehörde<br />

den angefochtenen Akt gegebenenfalls aufheben kann. Ausserdem müssen die rechtsstaatlich<br />

notwendigen minimalen Verfahrensrechte gewährleistet sein, namentlich der Anspruch<br />

auf rechtliches Gehör und auf Begründung des Entscheids (BGE 118 Ib 277 E. 5b S.<br />

283; 111 Ib 68 E. 4 S. 72 f; vgl. auch MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention (EMRK), Zürich 1993, N. 25). Die Aufsichtsbeschwerde erfüllt<br />

diese Anforderungen nicht und kann daher nicht als wirksame Beschwerde im Sinne von Art.<br />

13 EMRK betrachtet werden.<br />

Soweit Grundrechtsverletzungen ihre Ursache nicht in förmlichen, sondern in bloss tatsächlichen<br />

Staatsakten, sog. Realakten, haben, ist der einzuschlagende Rechtsweg nicht immer<br />

offenkundig, da die Rechtsmittel regelmässig eine Verfügung oder allenfalls einen Erlass als<br />

Anfechtungsobjekt voraussetzen. Die Beschwerdeführer behaupten, sie hätten sich gegen die<br />

Realakte der Erziehungsdirektion im Zusammenhang mit der Herausgabe des Buchs "Das Paradies<br />

kann warten" nur mit der Aufsichtsbeschwerde an den Regierungsrat zur Wehr setzen<br />

können, womit Art. 13 EMRK nicht Genüge geleistet worden sei. Um dieser Norm zu entsprechen,<br />

sei es daher erforderlich, die staatsrechtliche Beschwerde gegen den angefochtenen<br />

kantonalen Aufsichtsentscheid zuzulassen.<br />

Ob abweisende Aufsichtsentscheide oder allenfalls auch Realakte selber mit staatsrechtlicher<br />

Beschwerde anfechtbar sind, wenn sonst der nach Art. 13 EMRK gebotene Rechtsschutz<br />

nicht sichergestellt wäre (vgl. dazu WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde,<br />

2. Aufl. 1994, S. 115 ff.), kann offenbleiben. Auch ohne eine solche Erweiterung<br />

des Anfechtungsobjekts verfügten die Beschwerdeführer über ausreichende Instrumente des<br />

Rechtsschutzes, um sich wirksam gegen die staatlichen Realakte im Zusammenhang mit der<br />

Herausgabe des Buchs "Das Paradies kann warten" zur Wehr zu setzen.<br />

Zwar mag es fraglich erscheinen, ob die Beschwerdeführer die von ihnen beanstandeten Realakte<br />

direkt mit Rekurs gemäss § 19 ff. des Gesetzes über den Rechtsschutz in Verwaltungssachen<br />

vom 24. Mai 1959 (VRG) hätten anfechten können (vgl. ALFRED KÖLZ, Kommentar<br />

zum <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflegegesetz des Kantons Zürich, 1978, § 19, N. 11 ff.). Es<br />

- 109 -


estand jedoch auch die Möglichkeit, eine Feststellungsverfügung über die Grundrechtskonformität<br />

der umstrittenen Realakte zu verlangen. Im Kanton Zürich anerkennt die Rechtsprechung<br />

-- in Übereinstimmung mit der Rechtslage im Bund (vgl. Art. 25 VwVG; SR-172-021) -<br />

- einen Anspruch auf Erlass einer Feststellungsverfügung, wenn der Ansprecher ein schutzwürdiges<br />

Interesse nachweist (Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichts vom 21. Dezember<br />

1972 in ZBl 74/1973 209 f; vgl. ausserdem KÖLZ, a.a.O., § 19, N. 38). Schliesslich war<br />

ebenfalls an die Einleitung einer Zivilklage gegen Herausgeber und Autoren des Buchs wegen<br />

Verletzung der Persönlichkeit gemäss Art. 28 ZGB zu denken, eine Möglichkeit, von der nach<br />

den vorhandenen Akten zumindest der beschwerdeführende VPM auch Gebrauch gemacht<br />

hat.<br />

Ob und in welchem Umfang die Beschwerdeführer mit den genannten Instrumenten Grundrechtsverletzungen<br />

im Sinne von Art. 13 EMRK tatsächlich hätten geltend machen können,<br />

ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Jedenfalls war ihnen die Benützung dieser Abwehrmöglichkeiten<br />

zuzumuten. Allfällige Nichteintretensentscheide hätten sie auf dem Rechtsmittelweg<br />

weiterziehen können. Letztinstanzliche kantonale Entscheide wären -- im Gegensatz<br />

zu blossen negativen Aufsichtsentscheiden -- gemäss Art. 84 Abs. 1 lit. a OG mit staatsrechtlicher<br />

Beschwerde anfechtbar gewesen, soweit nicht andere Bundesrechtsmittel zur<br />

Verfügung gestanden hätten.<br />

Gegen die von den Beschwerdeführern beanstandeten Realakte waren demnach ausreichende<br />

Rechtsschutzmöglichkeiten im Sinne von Art. 13 EMRK gegeben, so dass kein Anlass besteht,<br />

die staatsrechtliche Beschwerde gegen den angefochtenen abschlägigen Aufsichtsentscheid<br />

zuzulassen.<br />

- 110 -


BGE 120 Ia 321 / ökologisches Bauen<br />

46. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 21. Dezember 1994<br />

i.S. Verein für den Einsatz ökologisch und ökonomisch sinnvoller PVC Produkte gegen Amt<br />

für Technische Anlagen und Lufthygiene (ATAL) sowie Hochbauamt des Kantons Zürich<br />

(staatsrechtliche Beschwerde)<br />

Regeste<br />

Art. 84 OG; Kantonale Merkblätter über "ökologisches Bauen".<br />

Beweisverffahren (Offizialmaxime): Die Stellungnahme eines Bundesamts, das in einem bestimmten<br />

Sachbereich über Fachkenntnisse verfügt, wird gestützt auf Art. 95 Abs. 1 OG als<br />

Amtsbericht zu den Akten genommen (E. 1).<br />

Die kantonalen Merkblätter über "ökologisches Bauen" sind Empfehlungen ohne Rechtsverbindlichkeit<br />

für Personen ausserhalb der Verwaltung (E. 3b). Sie enthalten vorwiegend blosse<br />

Dienstanweisungen an Beamtinnen und Beamte, die mit Submissionsgeschäften betraut sind<br />

(E. 3c), und haben auch über diesen Bereich hinaus keine Aussenwirkungen (E. 3d).<br />

Sachverhalt<br />

Das Amt für Technische Anlagen und Lufthygiene (ATAL) und das Hochbauamt des Kantons<br />

Zürich (HBA) haben im November 1993 unter dem Titel"OEKOLOGISCH BAUEN" Merkblätter<br />

nach Baukostenplan (BKP) für Ausschreibungen herausgegeben.<br />

Im Vorwort zu diesen Merkblättern schreibt der Kantonsbaumeister des Kantons Zürich an<br />

die Adressaten unter anderem, sie würden als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder als Beauftragte<br />

mit den vorliegenden Arbeitsblättern einmal mehr aufgerufen, den ökologischen<br />

Aspekten im Bauen ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. In den letzten Jahren seien verschiedene<br />

Gesetze und Verordnungen zum Schutz der Umwelt entstanden, und die Kenntnis<br />

der Umweltproblematik weite sich aus. Von allen am Bau Beteiligten sei eine umweltbewusste<br />

Haltung gefordert. Zu deren Umsetzung in die tägliche Arbeit müssten die rechtlichen Vorgaben<br />

bekannt sein und die Kenntnisse über das vorhandene Wissen erweitert werden.<br />

Diesem Zweck sollten die Merkblätter dienen; die nach Baukostenplan geordneten Arbeitsblätter<br />

sollten insbesondere ermöglichen, die ökologischen Aspekte bis ins Detail zu verwirklichen.<br />

Die Blätter seien indessen unvollständig und würden sogar Widersprüche aufweisen<br />

wie etwa in den Bereichen Ökologie/Ökonomie, Ökologie/Hygiene und Haltbarkeit, weshalb<br />

man um zeitintensive Abwägungen nicht herumkommen werde. Die Hinweise in den Arbeitsblättern<br />

sollten dabei als Arbeitshilfe dienen und zu selbständigem Abwägen zwischen verschiedenen<br />

Lösungsmöglichkeiten anregen, da für jede Bauaufgabe aufeinander abgestimmte<br />

Konstruktions- und Materialentscheide zu treffen seien. Hierauf werden zehn Leitsätze wiedergegeben,<br />

die einen allgemeinen Orientierungsrahmen für ökologisches Verhalten im Bauen<br />

bilden sollten; die ökologische Gewichtung könne im Einzelfall unterschiedlich sein. Die Leitsätze<br />

sieben und acht haben zum Beispiel folgenden Wortlaut:<br />

- 111 -


"7. Baumaterialien aus erneuerbaren und einheimischen Rohstoffen bevorzugen<br />

Die Verwendung von erneuerbaren Rohstoffen belastet, bei Beachtung nachhaltiger Nutzung,<br />

die Rohstoffhaushalte längerfristig nicht. Durch den Einsatz von einheimischen (europäischen)<br />

Rohstoffen wird die Umwelt durch kürzere Transportwege weniger belastet.<br />

8. Schwierig zu entsorgende Baumaterialien möglichst vermeiden<br />

Um künftige Entsorgungsprobleme zu vermeiden, sollen in Neu- und Umbauten möglichst<br />

keine Materialien oder Materialkombinationen verwendet werden, die schwierig zu entsorgen<br />

sind. Das betrifft vor allem Materialien und Produkte, die nach VVS (Verordnung über den<br />

Verkehr mit Sonderabfällen vom 12. 1 1.1986) als Sonderabfall zu behandeln sind, ferner<br />

Stoffe, die nach StoV nicht unschädlich vernichtbar (verbrennbar) sind, sowie Verbundmaterialien<br />

und -bauteile, die sich nur schwer trennen und deshalb nicht verwerten lassen."<br />

Im nächsten Abschnitt wird unter dem Titel "Hinweise für die Anwendung" erklärt, die Arbeitsblätter<br />

richteten sich in erster Linie "an die Baufachleute unserer Ämter sowie an die<br />

von uns beauftragten Architekten und Ingenieure. Sie sind anzuwenden für Neu- und Umbauten,<br />

ebenso für Unterhaltsarbeiten. Es wird empfohlen, sie auch anzuwenden für Bauten der<br />

Beamtenversicherungskasse und für Bauten, die Staatsbeiträge erhalten." Weiter wird in diesem<br />

Abschnitt festgehalten, Bauten würden zusammengesetzt aus einer grossen Zahl von<br />

Arbeitspositionen, welche über Arbeitsbeschriebe verschiedener Arbeitsgattungen an die Unternehmer<br />

zur Ausführung gelangten. In Ausrichtung auf Submissionen sei für die Arbeitsblätter<br />

das Ordnungsprinzip des Baukostenplanes (BKP) übernommen worden. Zu vielen Arbeitsgattungen<br />

wolle die Behörde mit den Arbeitsblättern durch Hinweise auf kritische Materialien<br />

oder auf problematische Entsorgungswege den Anwendern Entscheidungshilfen bieten.<br />

In den Merkblättern selbst werden dann in detaillierten Listen verschiedene Materialien (für<br />

Erdbewegungen, Baumeisterarbeiten, Spenglerarbeiten, Fenster, Bedachungsarbeiten, usw).<br />

in "problematisch" und "ökologisch empfehlenswert" aufgeteilt und einander gegenübergestellt.<br />

Dabei werden Materialien aus PVC (Polyvinylchlorid) an verschiedenen Stellen als problematisch<br />

und PVC-freie Produkte als ökologisch empfehlenswert bezeichnet (Merkblätter BKP<br />

211, 221, 224, 226, 230 ff., 241-243, 251-255, 271, 281, 282). Verschiedentlich wird<br />

darauf hingewiesen, Produkte aus PVC seien nicht unschädlich vernichtbar (die Höchstwerte<br />

für unschädliche Vernichtbarkeit nach Stoffverordnung (SR-814-013), Anhang 4.11., würden<br />

überschritten). In bezug auf Kabelmaterial, Rohre und Kanäle aus PVC wird erklärt, diese Materialien<br />

seien in der Entsorgung problematisch, im Brandfall setzten sie sehr giftige und korrosive<br />

Gase frei. Halogenfreie Produkte enthielten hingegen kein PVC; ihr Brandverhalten sei<br />

gegenüber PVC besser.<br />

Gegen diese Merkblätter führt der Verein für den Einsatz ökologisch und ökonomisch sinnvoller<br />

PVC Produkte mit Eingabe vom 14. Januar 1994 staatsrechtliche Beschwerde und beantragt<br />

im wesentlichen, die Merkblätter seien aufzuheben; eventualiter seien sie insoweit aufzuheben,<br />

als alle Aussagen in bezug auf PVC für nichtig erklärt werden.<br />

Mit Präsidialverfügung vom 12. Juli 1994 wurde das Eidgenössische Departement des Innern<br />

(EDI) zur Vernehmlassung eingeladen. Im Auftrag des EDI kam das Bundesamt für Umwelt,<br />

- 112 -


Wald und Landschaft (BUWAL) am 30. September 1994 dieser Einladung nach. Es beantragt,<br />

auf die staatsrechtliche Beschwerde sei nicht einzutreten.<br />

Aus den Erwägungen<br />

1.-- Der Beschwerdeführer vertritt die Auffassung, es fehle der Präsidialverfügung vom 12.<br />

Juli 1994, mit welcher das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) zu einer Stellungnahme<br />

an das Bundesgericht eingeladen worden sei, die gesetzliche Grundlage.<br />

Insbesondere würden die Art. 93 und 95 OG die Einholung einer solchen Stellungnahme<br />

nicht zulassen. Dies ist unzutreffend. Die Stellungnahme vom 30. September 1994, welche<br />

das BUWAL im Auftrag des EDI eingereicht hat, stellt einen Amtsbericht dar, dessen Beizug<br />

durch das Bundesgericht gestützt auf Art. 95 Abs. 1 OG durchaus zulässig ist. Nach dieser<br />

Bestimmung ordnet der Instruktionsrichter die zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen<br />

Beweismassnahmen an; für das Beweisverfahren im Sinne von Art. 95 Abs. 1 OG gilt die<br />

Offizialmaxime (BGE 107 Ia 187 E. 2b S. 191 mit Hinweis). Dabei kann das Bundesgericht<br />

selbständig massgebliche Sachverhaltsfeststellungen vornehmen. Als Beweismittel kommen<br />

vor allem Urkunden, Augenscheine sowie die Einholung von Amtsberichten zur Anwendung<br />

(WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Auflage, S. 382). Der<br />

Antrag, die Stellungnahme des EDI vom 30. September 1994 sei aus den Akten zu weisen,<br />

ist daher abzuweisen.<br />

3.-- a) Mit staatsrechtlicher Beschwerde können Hoheitsakte angefochten werden, die in irgendeiner<br />

Weise die Rechtsstellung des einzelnen Bürgers berühren, indem sie ihn verbindlich<br />

und erzwingbar zu einem Tun, Unterlassen oder Dulden verpflichten oder sonstwie seine<br />

Rechtsbeziehung zum Staat autoritativ festlegen (BGE 114 Ia 452 E. 1a, S. 455 mit Hinweisen).<br />

Das Bundesgericht stellt primär auf den materiellen Inhalt des angefochtenen Hoheitsakts<br />

und nicht auf dessen Bezeichnung ab (Urteil des Bundesgerichts vom 30. Mai 1984 in<br />

ZBl 85/1984, S. 538 ff. E. 5c; RHINOW/KRÄHENMANN, <strong>Verwaltungsrecht</strong>sprechung, Ergänzungsband<br />

Nr. 9 IV). Die umstrittenen Merkblätter und Leitsätze fallen unter den Begriff<br />

der Verwaltungsverordnung, die mit staatsrechtlicher Beschwerde nur anfechtbar ist, wenn<br />

sie über den Verwaltungsbereich hinaus Aussenwirkungen auf die Rechtsstellung der Bürger<br />

entfaltet und wenn gestützt auf sie keine Verfügungen getroffen werden, deren Anfechtung<br />

möglich ist und den Betroffenen zugemutet werden kann (BGE 114 Ia 452 ff. E. 1a, S. 455<br />

mit Hinweisen).<br />

b) Die angefochtenen Merkblätter enthalten Grundsätze für die ökologisch ausgerichtete<br />

Wahl von Baumaterialien, welche von ihrem Inhalt her lediglich Wertungshilfen für die Materialauswahl<br />

darstellen, diese jedoch nicht verbindlich regeln. Die Bewertung der Materialien in<br />

den einzelnen Blättern soll als Arbeitshilfe dienen und zum Abwägen zwischen verschiedenen<br />

Lösungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Umwelt anregen.<br />

Die Merkblätter richten sich ausdrücklich nur an "Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter" der öffentlichen<br />

Verwaltung sowie an "Beauftragte". Adressat ist somit vor allem ein verwaltungsinterner<br />

Kreis von Beamtinnen und Beamten sowie von diesen beauftragte verwaltungsexterne<br />

Architekten und Ingenieure. Weitere Personen werden durch diese Verwaltungsverordnung<br />

nicht verpflichtet. Soweit sie an Personen ausserhalb der Verwaltung verteilt oder von<br />

solchen beigezogen und verwendet werden, stellen die Merkblätter für diese Personen unverbindliche<br />

Empfehlungen dar, und damit keine mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbaren<br />

Hoheitsakte, weil solchen Empfehlungen jede Rechtsverbindlichkeit fehlt (vgl. Urteil des<br />

- 113 -


Bundesgerichts vom 11. September 1989 in ZBl 92/1991, S. 117 f; BGE 108 Ia 264 E. 5 S.<br />

268; KÄLIN, a.a.O., S. 129). Dabei ist unerheblich, ob Art. 6 des Bundesgesetzes über den<br />

Umweltschutz vom 7. Oktober 1983 (USG) als gesetzliche Grundlage für die umstrittenen<br />

Merkblätter betrachtet werden kann.<br />

c) Die angefochtenen Merkblätter enthalten vorwiegend Dienstanweisungen an Beamtinnen<br />

und Beamte, welche mit Submissionsgeschäften betraut sind. So sollen die nach Baukostenplan<br />

geordneten Arbeitsblätter ausdrücklich bei der Devisierung der einzelnen Arbeitsgattungen<br />

helfen, die ökologischen Aspekte bis ins Detail zu verwirklichen. Es handelt sich somit<br />

bei den Merkblättern und Leitsätzen in erster Linie um Richtlinien, die bei der Durchführung<br />

von Submissionsverfahren zu berücksichtigen sind. Verstösse gegen rein interne Richtlinien<br />

für die vergebende Behörde kann der Bewerber regelmässig nicht mit einer förmlichen Beschwerde,<br />

sondern nur mit einer Aufsichtsbeschwerde bei einer oberen Verwaltungsinstanz<br />

rügen. Die Aufsichtsbeschwerde gibt ihm keinen Anspruch auf Erledigung (BGE 103 Ib 154<br />

ff. E. 2c). Submissionsvorschriften stellen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts<br />

grundsätzlich keine öffentlichrechtlichen Bestimmungen mit Rechtssatzcharakter dar. Soweit<br />

der Bewerber aus der Submissionsordnung überhaupt Ansprüche ableiten kann, sind sie privatrechtlicher<br />

Natur und daher vor dem Zivilrichter geltend zu machen.<br />

Einzig wenn Submissionsbestimmungen den Schutz der unmittelbaren Interessen der Bewerber<br />

bezwecken, bejaht das Bundesgericht implizit den Rechtssatzcharakter solcher Bestimmungen<br />

(BGE 115 Ia 76 E. 1d S. 79, 102 Ia 533 ff; KÄLIN, a.a.O., S. 122; RHI-<br />

NOW/KRÄHENMANN, a.a.O., Nr. 47 BV). In solchen Fällen ist die staatsrechtliche Beschwerde<br />

nicht nur zulässig, wenn diese Submissionsbestimmungen im einzelnen Anwendungsfall<br />

verletzt werden, sondern es muss auch die abstrakte Normenkontrolle gegen sie<br />

zugelassen werden. Die hier umstrittene Verwaltungsverordnung enthält keine Submissionsgrundsätze<br />

und insbesondere keine solchen, welche den Schutz der unmittelbaren Interessen<br />

der Bewerber bezwecken. Die angefochtenen Merkblätter sollen vielmehr den vergebenden<br />

Behörden Entscheidungshilfen für die Materialauswahl vermitteln und stellen insoweit keinen<br />

mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbaren Hoheitsakt (Erlass) dar; ferner ist die Legitimation<br />

des Beschwerdeführers nach Art. 88 OG zu verneinen (BGE 115 Ia 76 E. 1d S. 79<br />

mit Hinweis).<br />

d) Die Empfehlungen in den angefochtenen Merkblättern haben entgegen der Auffassung des<br />

Beschwerdeführers auch ausserhalb des eben behandelten Bereichs der Submission keine<br />

Aussenwirkung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 114 Ia 452 E. 1a S.<br />

455, 105 Ia 349 E. 2a S. 353; KÄLIN, a.a.O., S. 143). Die vom Beschwerdeführer behauptete<br />

"Aussenwirkung" bezieht sich nicht auf seine Rechtsstellung im Verhältnis zum Staat; er<br />

beschwert sich vielmehr über allfällige indirekte im vorliegenden Zusammenhang jedoch<br />

rechtlich unerhebliche Auswirkungen auf die privatrechtliche Tätigkeit seiner Mitglieder.<br />

Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, dass die in den angefochtenen Merkblättern enthaltenen<br />

Empfehlungen auch an die Baubewilligungsbehörden gerichtet seien, welche diese im<br />

Baubewilligungsverfahren anzuwenden hätten. Sie würden in diesem Sinne Aussenwirkungen<br />

entfalten. Selbst wenn diese Behauptung des Beschwerdeführers zuträfe, was die Baudirektion<br />

bestreitet und hier offengelassen werden kann, könnte auf die staatsrechtliche Beschwerde<br />

nicht eingetreten werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine<br />

Verwaltungsverordnung nur mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar, wenn gestützt auf<br />

sie keine Verfügungen ergehen, deren Anfechtung möglich ist und den Betroffenen zugemutet<br />

werden kann (BGE 114 Ia 455, 105 Ia 353). Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die<br />

- 114 -


umstrittenen Empfehlungen entgegen der Darstellung der Baudirektion in einem baurechtlichen<br />

Bewilligungsverfahren dennoch in unzulässiger Weise angewendet würden, könnten der<br />

Bauherr oder die betroffenen Nachbarn die Baubewilligungsverfügung ohne weiteres anfechten,<br />

und eine entsprechende Anfechtung wäre auch zumutbar.<br />

e) Nach dem Gesagten sind die angefochtenen Merkblätter als Verwaltungsverordnung ohne<br />

Aussenwirkung und damit ohne Erlasscharakter zu bezeichnen. Sie stellen keinen staatlichen<br />

Hoheitsakt dar und sind somit nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar. Auf die<br />

staatsrechtliche Beschwerde kann daher nicht eingetreten werden.<br />

- 115 -


Sachverhalt:<br />

Modul IX und X<br />

<strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege<br />

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. April 2007<br />

(Nichtzulassung zum Zivildienst, B-2125/2006)<br />

A. Der Beschwerdeführer stellte am 4. November 2003 ein Gesuch um Zulassung zum Zivildienst.<br />

Nach einer mündlichen Anhörung wies die Zulassungskommission für den Zivildienst<br />

(Zulassungskommission) sein Gesuch mit Entscheid vom 29. Januar 2004 ab. Die dagegen<br />

erhobene Beschwerde wurde von der Rekurskommission EVD am 3. November 2004 abgewiesen.<br />

Am 12. Juli 2006 reichte der Beschwerdeführer ein neues Gesuch ein mit dem Begehren,<br />

zum Zivildienst zugelassen zu werden. In der schriftlichen Begründung zu dieser Eingabe,<br />

welche beim Regionalzentrum Nottwil am 17. August 2006 einging, erklärte er unter<br />

anderem, sein Gewissenskonflikt gegenüber dem Militärdienst habe sich massiv verstärkt.<br />

Früher habe er sein moralisches Problem mit dem Militärdienst nicht genau benennen können,<br />

heute wisse er, dass seine Überzeugung es nicht zulasse, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Bei<br />

seinen Reisen habe er Menschen aus anderen Ländern und Kulturen getroffen und habe gelernt,<br />

dass jeder Mensch ein Recht auf Respekt und Würde habe. In Kambodscha habe er gesehen,<br />

wie viele unschuldige Menschen wegen der Gewalt und dem Krieg litten. Dies zu sehen,<br />

schockiere ihn im Innersten. Er habe Seminare zur Schulung seiner Persönlichkeit besucht,<br />

wobei ihm immer klarer geworden sei, dass es keinen Grund gebe, in irgendeiner Form<br />

Gewalt gegen Menschen anzuwenden.<br />

B. Mit Verfügung vom 26. September 2006 stellte die Zulassungskommission fest, die Eingabe<br />

des Beschwerdeführers betreffend Zulassung zum Zivildienst werde als Wiedererwägungsgesuch<br />

behandelt (Dispositiv Ziffer 1), und trat auf das Wiedererwägungsgesuch nicht<br />

ein (Dispositiv Ziffer 2). Sie führte aus, weder der geringe zeitliche Abstand zum ersten Verfahren<br />

noch die Ausführungen in der Eingabe, die heute zu beurteilen sei, liessen auf ein<br />

neues Gesuch im Sinne des Zivildienstgesetzes schliessen. Das Begehren des Beschwerdeführers<br />

könne daher nur als Wiedererwägungsgesuch beurteilt werden. Das Gesuch enthalte<br />

aber weder Tatsachen noch Beweise, die vor zwei Jahren nicht bekannt gewesen seien oder<br />

welche vorzutragen der Beschwerdeführer keinen Grund gehabt hätte oder ihm nicht möglich<br />

gewesen sei. Ferner hätten sich die Umstände nicht wesentlich geändert, soweit sich dies<br />

aus der neuen Eingabe schliessen lasse. Somit lägen keine Gründe vor, die als Voraussetzung<br />

genügten, damit auf das Wiedererwägungsgesuch eingetreten werden könne.<br />

C. Gegen diesen Entscheid erhob der Beschwerdeführer am 3. November 2006 Beschwerde<br />

bei der Rekurskommission EVD. Er führte aus, es dürfe nicht sein, dass sein zweites Gesuch<br />

ohne Anhörung von derselben Kommission/ Person, welche ihn bereits beim ersten Gesuch<br />

nicht verstanden habe, abgewiesen werde. In den zweieinhalb Jahren, die zwischen den beiden<br />

Gesuchen lägen, habe er sich stark verändert und sich intensiv mit sich selbst und dem<br />

Militärdienst auseinander gesetzt. Er könne keinen Militärdienst leisten, weil das Militär eine<br />

- 116 -


auf Gewalt ausgerichtete Organisation sei. Es sei ihm aber wichtig, der Gesellschaft einen<br />

Dienst zu erweisen. Deshalb möchte er Zivildienst leisten und sich nicht einfach ausmustern<br />

lassen. Er verlange eine zweite Anhörung, damit er weitere Erklärungen abgeben könne, und<br />

eine Beurteilung seines Gesuches durch eine andere Kommission.<br />

D. Im Dezember 2006 teilte die Rekurskommission EVD den Parteien mit, dass sie am 31.<br />

Dezember 2006 durch das Bundesverwaltungsgericht ersetzt werde, welches seine Tätigkeit<br />

am 1. Januar 2007 in Bern aufnehme und die Beurteilung der bisher bei der Rekurskommission<br />

EVD hängigen Rechtsmittel übernehme. In der Folge überwies sie die Akten auf den 1.<br />

Januar 2007 an das neu geschaffene Bundesverwaltungsgericht. Dieses bestätigte die Übernahme<br />

des Verfahrens mit Verfügung vom 19. Januar 2007.<br />

Mit Vernehmlassung vom 9. Januar 2007 beantragt die Zulassungskommission die Abweisung<br />

der Beschwerde. Sie verweist auf die angefochtene Verfügung und hält fest, nach den<br />

gesetzlichen Bestimmungen liege die Befugnis für den Entscheid, ob auf ein Wiedererwägungsgesuch<br />

einzutreten sei, in der Hand des Regionalgruppenverantwortlichen. Es bestehe<br />

zudem kein Anlass, eine Befangenheit des im ersten Verfahren zuständigen Ausschusses der<br />

Zulassungskommission oder des Regionalgruppenverantwortlichen anzunehmen, welche einen<br />

Ausstand gerechtfertigt oder geboten hätte. Im Rahmen der Beurteilung, ob die formellen<br />

Voraussetzungen für ein Eintreten auf das Wiedererwägungsgesuch vorlägen, bestehe kein<br />

Anspruch auf eine mündliche Anhörung. Der Beschwerdeführer spreche zwar allgemein von<br />

Veränderungen, die er durchgemacht habe. Was aber seine Einstellung zum Militärdienst<br />

betreffe, bleibe er bei sehr allgemeinen Andeutungen, die der Substantiierungspflicht nicht<br />

genügten. Nicht jede Veränderung, auch nicht eine solche in psychischer Hinsicht, ziehe automatisch<br />

einen Wandel in der Haltung gegenüber dem Militärdienst nach sich. Die Behauptung,<br />

er wolle und könne keine Gewalt anwenden, habe der Beschwerdeführer nicht näher<br />

begründet. Der Umstand, dass er seit dem Jahr 2003 keinen Militärdienst geleistet habe,<br />

könnte zwar möglicherweise als neue Tatsache betrachtet werden. Doch auch hier bleibe<br />

seine Begründung sehr allgemein. Ausserdem sei ein Argument, das erst im Rahmen der Beschwerde<br />

vorgetragen werde und nicht bereits im Wiedererwägungsgesuch, verspätet und<br />

falle ausser Betracht. Mit Schreiben vom 28. Februar 2007 verzichtete das Eidgenössische<br />

Volkswirtschaftsdepartement – unter Verweis auf die Vorakten – auf eine Stellungnahme.<br />

Eine Parteiverhandlung wurde nicht durchgeführt (Art. 40 VGG, zitiert in E. 1.). Auf die Vorbringen<br />

der Parteien wird, soweit sie für den Entscheid als erheblich erscheinen, in den Erwägungen<br />

eingegangen.<br />

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:<br />

1. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 1. Januar 2007 seine Tätigkeit aufgenommen und<br />

übernimmt, sofern es zuständig ist, die Beurteilung der am 1. Januar 2007 bei Eidgenössischen<br />

Rekurs- oder Schiedskommissionen oder bei den Beschwerdediensten der Departemente<br />

hängigen Rechtsmittel (Art. 53 Abs. 2 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni<br />

2005 [VGG, SR 173.32]). Der Nichteintretensentscheid der Zulassungskommission vom 26.<br />

September 2006 stellt eine Verfügung im Sinne des Bundesgesetzes vom 20. Dezember<br />

1968 über das Verwaltungsverfahren dar (Art. 5 Abs. 1 Bst. c VwVG, SR 172.021). Diese<br />

Verfügung kann nach Art. 63 des Zivildienstgesetzes (zitiert in E. 2) im Rahmen der allgemeinen<br />

Bestimmungen über die Bundesverwaltungsrechtspflege (Art. 44 ff. VwVG i. V. m.<br />

Art. 31 ff. und 37 ff. VGG) mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht angefochten<br />

werden. Die Beurteilung erfolgt nach neuem Verfahrensrecht (Art. 53 Abs. 2 VGG am Ende).<br />

Der Beschwerdeführer hat vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen; er ist durch die<br />

- 117 -


angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren<br />

Aufhebung oder Änderung (Art. 48 Abs. 1 VwVG). Er ist daher zur Beschwerdeführung legitimiert.<br />

Die Eingabefrist sowie die Anforderungen an Form und Inhalt der Beschwerdeschrift<br />

sind gewahrt (Art. 50 und Art. 52 Abs. 1 VwVG), und die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen<br />

liegen vor (Art. 44 und 47 VwVG).<br />

2. Militärdienstpflichtige, die glaubhaft darlegen, dass sie den Militärdienst mit ihrem Gewissen<br />

nicht vereinbaren können, leisten einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst) nach dem Zivildienstgesetz<br />

(Art. 1 Abs. 1 des Zivildienstgesetzes vom 6. Oktober 1995 [ZDG, SR 824.0]).<br />

Nach Art. 16 Abs. 2 ZDG können Militärdienstpflichtige jederzeit ein Gesuch einreichen. Das<br />

Gesuch ist schriftlich bei der Vollzugsstelle einzureichen. Darin legt der Militärdienstpflichtige<br />

seinen Gewissenskonflikt dar (Art. 16a Abs. 1 und 2 Bst. a i. V. m. Art. 1 Abs. 2 und 3<br />

ZDG). Über die Zulassung zum Zivildienst und die Anzahl der zu leistenden Zivildiensttage<br />

entscheidet die Zulassungskommission (Art. 18 Abs. 1 ZDG). Sie hört die gesuchstellenden<br />

Personen an (Art. 18a Abs. 1 ZDG i. V. m. Art. 8 der Verordnung vom 5. Dezember 2003<br />

über das Verfahren der Zu5 lassung zum Zivildienst [SR 824.016]) und beurteilt die Darlegung<br />

des Gewissenskonfliktes in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit entsprechend den Kriterien<br />

nach Artikel 18b ZDG. Die Zulassungskommission besteht aus mindestens 9 Mitgliedern pro<br />

Regionalzentrum des Zivildienstes, die in der Lage sind zu beurteilen, ob eine Person glaubhaft<br />

darlegt, dass sie den Militärdienst mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren kann (Art. 8<br />

Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 der Verordnung vom 5. Dezember 2003 über die Kommissionen<br />

des Zivildienstes [VKZD, SR 824.013]). Die Verantwortlichen der Regionalgruppen der Zulassungskommission<br />

entscheiden, ob auf Gesuche um Wiedererwägung nach einem rechtskräftigen,<br />

ablehnenden Entscheid eingetreten wird (Art. 14 Abs. 2 Bst. c VKZD).<br />

3. Über den Antrag des Beschwerdeführers, zum Zivildienst zugelassen zu werden, hatte die<br />

Zulassungskommission bereits am 29. Januar 2004 entschieden. Mit der Abweisung der dagegen<br />

erhobenen Beschwerde durch die Rekurskommission EVD am 3. November 2004 erwuchs<br />

dieser Entscheid in Rechtskraft. Die Zulassungskommission führte in den Erwägungen<br />

der angefochtenen Verfügung vom 26. September 2006 aus, beim Gesuch des Beschwerdeführers<br />

handle es sich nicht um ein neues Gesuch im Sinn von Art. 16 Abs. 2 ZDG, denn<br />

weder der geringe zeitliche Abstand zum ersten Zulassungsverfahren noch seine Ausführungen<br />

in der Eingabe liessen auf ein solches schliessen. Das Schreiben vom 12. Juli 2006 könne<br />

daher nur als Wiedererwägungsgesuch an die Hand genommen werden. Im Folgenden trat<br />

sie auf das Wiedererwägungsgesuch nicht ein, weil das Gesuch weder Tatsachen noch Beweise<br />

enthalte, die vor zwei Jahren nicht bekannt gewesen seien oder welche vorzutragen<br />

der Beschwerdeführer keinen Grund gehabt hätte oder ihm nicht möglich gewesen sei. Auch<br />

hätten sich die Umstände nicht wesentlich geändert, soweit sich dies aus der neuen Eingabe<br />

schliessen lasse. Der Beschwerdeführer hält dem in seiner Beschwerde vom 3. November<br />

2006 entgegen, er habe zweieinhalb Jahre nach seinem ersten Gesuch ein neues Gesuch<br />

eingereicht. Es dürfe nicht sein, dass dieselbe Kommission/Person, welche ihn bereits letztes<br />

Mal nicht verstanden habe, über sein neues Gesuch entscheide. In der Zeit, die zwischen den<br />

beiden Gesuchen liege, habe er sich stark verändert und sich intensiv mit sich selbst und<br />

dem Militärdienst auseinander gesetzt. Zunächst ist demnach die Frage zu beantworten, ob<br />

es sich bei der Eingabe des Beschwerdeführers um ein neues Gesuch im Sinne von Art. 16<br />

Abs. 2 ZDG handelt.<br />

3.1 In seiner Eingabe vom 12. Juli 2006 erklärt der Beschwerdeführer, durch die Erfahrungen<br />

der letzten Jahre habe sich sein Gewissenskonflikt in Be6 zug auf den Militärdienst massiv<br />

verstärkt. Er habe Seminare zu Schulung seiner Persönlichkeit besucht und dabei habe sich<br />

- 118 -


immer deutlicher herauskristallisiert, dass es keinen Grund gebe, Gewalt gegen Menschen<br />

anzuwenden. In diesen Seminaren sei seine Auffassung, dass alle Menschen, gleich welcher<br />

Kultur und Religion, zu achten seien, bestätigt worden. Durch seine Reisen habe er die Möglichkeit<br />

gehabt, seine Erfahrungen über das Zusammenleben von Menschen kontinuierlich zu<br />

erweitern. Er habe gelernt, dass alle Menschen gleich seien und jedes Leben ein Recht auf<br />

Respekt und Würde habe. In Kambodscha habe er erlebt, was Gewalt und Krieg bewirkten<br />

und wie viele unschuldige Menschen darunter litten; es schockiere ihn, Menschen leiden zu<br />

sehen. Im Falle eines militärischen Einsatzes wäre es ihm nicht möglich, Gewalt gegen Menschen<br />

anzuwenden, insbesondere auch weil er während seinen Reisen viele Freunde in anderen<br />

Ländern gewonnen habe. Bereits in seiner Kindheit sei ihm vermittelt worden, dass die<br />

Achtung und der Schutz des Lebens das höchste Gut bedeute. Er habe einen ausgeprägten<br />

Sinn für Gerechtigkeit. Er habe gemerkt, dass Gewalt nicht die Lösung von Problemen sei;<br />

sein Ziel sei die konstruktive Konfliktlösung. Das Absolvieren der RS habe grosse Traurigkeit<br />

in ihm ausgelöst, da das Militär zum Verletzen ausbilde. Er habe schon damals gespürt, dass<br />

dies ein moralisches Problem für ihn sei, habe es aber nicht genauer benennen können. Seit<br />

August 2004 sei er zudem Mitglied bei Greenpeace, um aktiv einen Beitrag für eine bessere<br />

Welt zu leisten.<br />

In seinem ersten Gesuch vom 4. November 2003 gab der Beschwerdeführer an, er habe auf<br />

seinen vielen Reisen Kontakt zu Menschen gehabt, die in jüngster Zeit selber einen Krieg miterlebt<br />

und ihm erzählt hätten, wie Familienangehörige vor ihren Augen gefoltert und getötet<br />

worden seien. Er sei zur Auffassung gelangt, dass militärische Gewalt - selbst zu Verteidigungszwecken<br />

- keine Antwort auf Gewalt sein dürfe. Begegnung zwischen den Völkern sei<br />

die beste Erziehung zum Frieden und gegen Rassismus und Klischees, aus denen oft Gewalt<br />

resultiere. Er möchte sich für eine Welt ohne Gewalt einsetzen und nie mehr einen Krieg unterstützen.<br />

Er bemühe sich, in seinem Alltag und Umfeld diese Einstellung zu leben. Er tue<br />

dies in kleinen konkreten Schritten und in Achtung älteren und hilfsbedürftigen Menschen<br />

gegenüber. An der Anhörung vom 29. Januar 2004 führte der Beschwerdeführer aus, seine<br />

Eltern hätten ihm die Werte Ehrlichkeit und Pflichtbewusstsein wie auch die katholischen<br />

Grundwerte vermittelt. Er habe sich für Psychologie interessiert und er habe herausgefunden,<br />

dass es nicht nur eine Wahrheit gebe. In Kambodscha sei viel zerstört worden und die Menschen<br />

hätten viel verloren durch den Krieg. Es gebe keinen Gewinner bei diesen Kriegen. Er<br />

habe das Schiessen verweigert, weil es ihn gestresst habe. Es sei ein sehr unangenehmes<br />

Gefühl gewesen, im Militär mitmachen zu müssen; das sei wohl das Gewissen, er wisse aber<br />

nicht, was dahinter stecke. Es sei falsch, für etwas zu kämpfen, das bedeute nämlich, nicht<br />

zu reden und den Konflikt nicht zu bewältigen. Das Zusammenarbeiten sei ihm wichtig; miteinander<br />

könne man mehr erreichen als gegeneinander. Er möchte keinem anderen Menschen<br />

wehtun. Im Alltag merke er, wenn dies geschehe, aber im Militärdienst könne er nicht entscheiden.<br />

Er dürfe niemanden umbringen oder Hilfe dazu bieten. Diese Gegenüberstellung<br />

zeigt auf, dass der Beschwerdeführer sich zwar nach wie vor auf das Motiv der Gewaltlosigkeit<br />

stützt und einige Elemente seiner Argumentation gleich geblieben sind (z. B. die auf seinen<br />

Reisen gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse). Der Beschwerdeführer beruft sich indessen<br />

auch auf zuvor nicht genannte Werte, wie die Achtung und den Schutz des Lebens,<br />

das Recht auf Respekt und Würde und die Gerechtigkeit. Zudem macht der Beschwerdeführer<br />

geltend, er habe seine Persönlichkeit in Seminaren massgebend weiterentwickelt und er<br />

leiste seit dem Jahr 2004 als Mitglied von Greenpeace (vgl. Bestätigung von Greenpeace<br />

vom 31. Oktober 2006) einen aktiven Beitrag für eine bessere Welt.<br />

3.2 Nach dem klaren und unzweideutigen Wortlaut des Gesetzes können Militärdienstpflichtige<br />

jederzeit ein Gesuch einreichen (Art. 16 Abs. 2 ZDG). In der Botschaft vom 22. Juni<br />

1994 zum Bundesgesetz über den zivilen Ersatzdienst (BBl 1994 III 1609, Botschaft I, S.<br />

- 119 -


1669) wird hierzu ausgeführt, die Frage, ob nach der Ablehnung des ersten Zulassungsgesuchs<br />

weitere Zulassungsgesuche gestellt werden könnten, beurteile sich nach den Regeln<br />

des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts. Würden im Gesuch neue Gründe geltend gemacht,<br />

so werde ein neues Verfahren einzuleiten sein. Werde erneut dieselbe Begründung<br />

beigezogen, so handle es sich um ein Wiedererwägungsgesuch. Im Gesetz sei bewusst von<br />

der Formulierung eines Missbrauchsartikels abgesehen worden. Sollten sich Massnahmen<br />

gegen Missbräuche aufdrängen, könnte sie der Bundesrat jederzeit gestützt auf das Gesetz<br />

ergreifen. Entsprechende Massnahmen wären jedoch sehr eng zu fassen. Eine weite Fassung<br />

könnte den Kernbereich des ZDG und der Bundesverfassung verletzen, denn wer wirklich den<br />

Militärdienst mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könne, solle dies jederzeit geltend machen<br />

können. In der Botschaft vom 21. September 2001 zur Änderung des Bundesgesetzes<br />

über den zivilen Ersatzdienst (BBl 2001 VII 6127, Botschaft II, S. 6135, 6160 und 6180 f.)<br />

hält der Bundesrat fest, die Möglichkeit, nach der Rekrutierung jederzeit ein Zulassungsgesuch<br />

einzureichen, bleibe unangetastet. Die Zahl allfälliger Folgegesuche sei nicht beschränkt.<br />

Gewissen und Moral jedes Menschen seien Wandlungen unterworfen und könnten<br />

sich in eine Richtung entwickeln, die eine weitere Militärdienstleistung nicht mehr erlaube.<br />

Militärdienstpflichtige Personen müssten daher weiterhin jederzeit ein Gesuch um Zulassung<br />

zum Zivildienst einreichen können. Ohne diese Möglichkeit würde der Verfassungsauftrag<br />

(Art. 59 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April<br />

1999 [BV, SR 101]) nicht erfüllt.<br />

3.3 Die Möglichkeit der jederzeitigen und wiederholten Gesuchseinreichung rechtfertigt sich<br />

damit, dass sich die persönlichen Verhältnisse von jungen Gesuchstellern erfahrungsgemäss<br />

innert kurzer Zeit entscheidend entwickeln können. Die Beurteilung eines Zulassungsgesuchs<br />

beruht insofern auf einer Momentaufnahme, die wesentlich von den Lebensumständen des<br />

Gesuchstellers im Zeitpunkt der Anhörung geprägt ist. Zwar ist ein Missbrauch dieser sehr<br />

offenen Regelung nicht auszuschliessen, die Möglichkeit eines solchen wurde aber – wie die<br />

Materialien aufzeigen – erkannt und bewusst in Kauf genommen. Die Wahrnehmung des<br />

Rechts, jederzeit ein Gesuch um Zulassung zum Zivildienst zu stellen, steht selbstverständlich<br />

- wie die Rechtsausübung schlechthin - unter dem Vorbehalt des Handelns nach Treu<br />

und Glauben. Auf Gesuche, die in unvernünftig kurzen Abständen (querulatorisch) gestellt<br />

werden, ist mangels eines schutzwürdigen Interesses an deren Prüfung nicht einzutreten.<br />

Diese Auffassung hat das Bundesgericht namentlich im Zusammenhang mit einem wiederholt<br />

gestellten Gesuch um Entlassung aus dem fürsorgerischen Freiheitsentzug (Art. 397d des<br />

Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 10. Dezember 1907 [ZGB, SR 210]) gestützt (vgl.<br />

BGE 130 III 729, E. 2.1.1: "Ist der Freiheitsentzug von persönlichen Eigenschaften [z.B.<br />

Geisteskrankheit] oder sonstigen veränderlichen Umständen abhängig, besteht ein Recht auf<br />

Haftprüfung in "angemessenen" bzw. "vernünftigen Abständen"). Dies muss ebenso für Gesuche<br />

gelten, die keine neuen Elemente, sondern eine weitgehend identische Begründung<br />

enthalten. Denn aus prozessökonomischen Gründen rechtfertigt es sich nicht, ein neues<br />

(aufwändiges) Zulassungsverfahren - mitsamt einer Anhörung (vgl. Art. 15 Abs. 2 VKZD) -<br />

durchzuführen, wenn der Gesuchsteller in seinem neuen Gesuch im Wesentlichen dieselbe<br />

Argumentation wie bereits im rechtskräftig entschiedenen Gesuch vorträgt (vgl. zum Ganzen<br />

den unveröffentlichten Beschwerdeentscheid der REKO/EVD vom 20. Mai 2005 i. S. H.<br />

[5C/2004-141] E. 4.2).<br />

3.4 Anders als einem neuen Gesuch nach Art. 16 Abs. 2 ZDG liegt einem Wiedererwägungs-<br />

wie auch einem Revisionsgesuch - ein rückwärtsgerichteter Blick zu Grunde, der sich auf das<br />

ursprüngliche Gesuch und das abgeschlossene Verfahren bezieht (vgl. unveröffentlichter Beschwerdeentscheid<br />

der REKO/EVD vom 20. Mai 2005, a. a. O., E. 4.1.1). Ein Anspruch auf<br />

Wiedererwägung einer rechtskräftigen Verfügung besteht gemäss Lehre und Rechtsprechung<br />

- 120 -


nämlich dann, wenn analog zu der gesetzlichen Regelung von Art. 66 VwVG Revisionsgründe<br />

geltend gemacht werden (das heisst u. a. dann, wenn neue erhebliche Tatsachen oder<br />

Beweismittel vorgebracht werden oder nachgewiesen wird, dass aktenkundige erhebliche<br />

Tatsachen oder bestimmte Begehren übersehen wurden, wobei als "neu" nur solche Tatsachen<br />

gelten, die zum Zeitpunkt der Erstbeurteilung der Sache bereits bestanden, jedoch erst<br />

danach in Erfahrung gebracht wurden). Das in diesem Sinne verstandene Institut des «qualifizierten<br />

Wiedererwägungsgesuches» wird zum eigentlichen (ausserordentlichen) Rechtsmittel<br />

und bezweckt die Beseitigung einer formell rechtskräftigen, aber ursprünglich fehlerhaften<br />

Verfügung. Liegen Revisionsgründe im Sinne von Art. 66 VwVG vor, wird die fehlerhafte<br />

Verfügung aufgehoben und durch eine neue Verfügung ersetzt (vgl. ALFRED KÖLZ/ISABELLE<br />

HÄNER, Verwaltungsverfahren und <strong>Verwaltungsrecht</strong>spflege des Bundes, Zürich 1998, Rz.<br />

425 ff., FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, Bern 1983, S. 262 f.; VPB 60.37 E.<br />

1.b). Als Wiedererwägung wird ferner auch die Anpassung einer ursprünglich fehlerfreien<br />

Verfügung an nachträglich eingetretene Veränderungen der Sach- oder Rechtslage bezeichnet.<br />

Diese Art der Wiedererwägung haben Lehre und Rechtsprechung aus dem Verbot der<br />

formellen Rechtsverweigerung (Art. 29 BV) abgeleitet (Kölz/Häner, a. a. O., Rz. 438 ff.; BGE<br />

113 Ia 146 E. 3a). Ein Anspruch auf Behandlung eines entsprechenden Gesuchs besteht bereits<br />

dann, wenn eine seit Erlass der früheren Verfügung eingetretene, anspruchsbegründende<br />

neue Sach- oder Rechtslage geltend gemacht wird (VPB 63.7 E. 6a; 60.37 E. 1c). Eine in<br />

diesem Sinne verstandene Wiedererwägung berührt die formelle und materielle Rechtskraft<br />

der ursprünglich fehlerfreien Verfügung, die sich ja einzig auf die damals bestehende Sach-<br />

und Rechtslage beziehen konnte, allerdings nicht. Die in diesem Sinne bezeichnete «Wiedererwägung»<br />

führt nicht zu einer Neubeurteilung des in der ursprünglichen Verfügung (fehlerlos)<br />

geregelten Gegenstandes; vielmehr wird in diesem Fall ein eigenständiges, vom Gegenstand<br />

der früheren Verfügung unabhängiges Begehren um Regelung eines neuen Rechtsverhältnisses<br />

beurteilt (vgl. FRITZ GYGI, <strong>Verwaltungsrecht</strong>, Bern 1986, S. 311, GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege,<br />

a. a. O., 324 f.). 3.5 Das hier zu beurteilende Zulassungsgesuch<br />

wurde etwas mehr als zweieinhalb Jahre nach dem ersten Gesuch eingereicht. Dies stellt,<br />

entgegen der Ansicht der Zulassungskommission, einen Zeithorizont dar, in welchem sich<br />

gerade junge Leute entscheidend entwickeln und verändern können. Im Weitern handelt es<br />

sich, wie oben dargelegt, weder um ein identisches Gesuch noch um ein Gesuch, das besonders<br />

stark auf das erste Gesuch bezogen ist (mal abgesehen vom Lebenslauf, der aber im<br />

Falle des Beschwerdeführers nur eine chronologische Aufzählung der Eckdaten seines Lebens<br />

enthält, während die eigentliche Begründung des Gewissenskonflikts in einem separaten Teils<br />

des Gesuchs zu finden ist). Der Beschwerdeführer macht auch nicht geltend, die erste Verfügung<br />

sei ursprünglich fehlerhaft und müsse daher in Wiedererwägung bzw. in Revision gezogen<br />

werden, sondern er beruft sich darauf, dass er heute nicht mehr dieselbe Person sei<br />

wie damals und dass er sich in den vergangen Jahren intensiv mit sich selbst und der Militärdienstpflicht<br />

auseinandergesetzt habe. Der Beschwerdeführer bringt in seinem Gesuch<br />

neue Überlegungen und Ein10 sichten in Bezug auf einen möglichen Gewissenskonflikt wie<br />

auch neue Sachverhaltselemente vor. Es bestehen somit zumindest gewisse Anhaltspunkte<br />

dafür, dass sich die Verhältnisse des Beschwerdeführers erheblich geändert haben. Die Frage,<br />

ob der Beschwerdeführer glaubhaft darlegen kann, dass ihm diese Entwicklungen das<br />

Leisten des Militärdienstes verunmöglichen, wird von der Zulassungskommission zu beantworten<br />

sein. Aus diesen Gründen ist es angezeigt, dass die Zulassungskommission den Beschwerdeführer<br />

erneut persönlich anhört und anschliessend über die Glaubhaftigkeit des geltend<br />

gemachten Gewissenskonfliktes befindet.<br />

4. Die Vorinstanz hat daher zu Unrecht entschieden, dass es sich bei der Eingabe des Beschwerdeführers<br />

vom 12. Juli 2006 nicht um ein neues Gesuch, sondern um ein Wiedererwägungsgesuch<br />

handle. Die Beschwerde erweist sich somit als begründet und der angefoch-<br />

- 121 -


tene Entscheid ist aufzuheben. Die Streitsache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Zulassungskommission<br />

hat den Beschwerdeführer in neuer Zusammensetzung nochmals und<br />

vor allem im Hinblick auf die geltend gemachten neuen Überlegungen, Werte und Sachumstände<br />

anzuhören und danach darüber zu befinden, ob er glaubhaft darzulegen vermochte,<br />

das Leisten des Militärdienstes mit seinem Gewissen nicht vereinbaren zu können.<br />

5. Nach Art. 65 ZDG sind keine Verfahrenskosten aufzuerlegen und es ist keine Parteientschädigung<br />

zuzusprechen.<br />

6. Dieser Entscheid kann nicht mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an<br />

das Bundesgericht weiter gezogen werden (Art. 1 Abs. 2 VGG i. V. m. Art. 83 Bst. i des<br />

Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]). Er ist somit endgültig.<br />

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:<br />

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen und die angefochtene Verfügung vom 26. September<br />

2006 wird aufgehoben. Die Streitsache wird an die Zulassungskommission zurückgewiesen<br />

mit der Weisung, in anderer Zusammensetzung eine neue Anhörung durchzuführen, sich mit<br />

den neu geltend gemachten Sachumständen und Motiven des Beschwerdeführers auseinander<br />

zu setzen und alsdann gestützt darauf über dessen Zulassung zum Zivildienst zu befinden.<br />

2. Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt und es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.<br />

3. Dieses Urteil wird eröffnet: (…)<br />

- 122 -


Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16. August 2007<br />

(Höhere Fachprüfung, B-2214/2006)<br />

Sachverhalt:<br />

A. Die Beschwerdeführerin legte im Sommer/Herbst 2004 die Höhere Fachprüfung für Steuerexperten<br />

ab. Mit Verfügung vom 26. Oktober 2004 teilte ihr die Prüfungskommission der<br />

Trägerorganisation für die höhere Fachprüfung für Steuerexperten (Prüfungskommission) mit,<br />

sie habe die Prüfung nicht bestanden. Sie habe in folgenden Fächern ungenügende Fachnoten<br />

erzielt: "Steuern" (schriftlich) 3.0; "Betriebswirtschaft, Rechnungswesen, Finanzierung"<br />

(schriftlich) 1.5 und "Steuern" (mündlich) 3.5; ihre Endnote betrage 3.5.<br />

Gegen diesen Entscheid erhob die Beschwerdeführerin am 16. November bzw. 9. Dezember<br />

2004 Beschwerde beim Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (Bundesamt). Sie<br />

stellte den Antrag, es sei ihr in den Fächern "Diplomarbeit (einschliesslich Kolloquium)" und<br />

"Recht" je die Note 5.5, im Fach "Betriebswirtschaft, Rechnungswesen, Finanzierung" die<br />

Note 5.0 sowie in den Fächern "Steuern" (schriftlich) und "Steuern" (mündlich) je die Note<br />

4.5 zu erteilen. Zur Begründung machte sie im Wesentlichen geltend, ihre Leistung sei in allen<br />

Fächern unterbewertet worden. Im Fach "Steuern" (schriftlich) lägen Verfahrensfehler vor<br />

und die Musterlösungen seien nicht herausgegeben worden. Die Aufgabenstellung im Fach<br />

"Betriebswirtschaft, Rechnungswesen, Finanzierung" sei krass einseitig aufgebaut gewesen.<br />

Im Fach "Steuern" (mündlich) sei der Experte X. befangen gewesen und es sei ihr das Protokoll<br />

nicht ediert worden. Im Fach "Diplomarbeit" (einschliesslich Kolloquium) sei ihr das Akteneinsichtsrecht<br />

verweigert und sie sei rechtsungleich behandelt worden. Im Fach "Recht"<br />

lägen Verfahrensfehler vor.<br />

Mit Vernehmlassung vom 18. März 2005 beantragte die Prüfungskommission, die Beschwerde<br />

sei abzuweisen. Die Nachkorrektur habe zwar gezeigt, dass im Fach "Betriebswirtschaft,<br />

Rechnungswesen, Finanzierung" ihre Note auf eine 2.5 angehoben werden könne,<br />

aber die Prüfung gelte trotzdem weiterhin als nicht bestanden.<br />

Mit Replik vom 2. Mai 2005 hielt die Beschwerdeführerin ihre Beschwerde aufrecht. Mit<br />

Duplik vom 11. Juli 2005 beantragte die Prüfungskommission sinngemäss erneut, die Beschwerde<br />

sei abzuweisen. Mit Schreiben vom 12. September 2005 hielt die Beschwerdeführerin<br />

weiterhin an ihrer Beschwerde fest.<br />

Mit Entscheid vom 8. Februar 2006 wies das Bundesamt die Beschwerde ab. Zur Begründung<br />

führte es zur Rüge im Fach "Steuern" (schriftlich) aus, dass ein Einsichtsrecht in sog.<br />

"Musterlösungen" nicht bestehe. Betreffend das Fach "Steuern" (mündlich) legte es dar,<br />

dass weder das Reglement noch die Wegleitung eine Protokollierungspflicht vorsähen. Einzig<br />

das "Grundlagenpapier für die mündlichen Prüfungen", welches den Kandidaten nicht bekannt<br />

gegeben worden sei, bestimme, dass die Beurteilung gemäss Bewertungsschema auf<br />

dem Protokoll zu erfolgen habe. Ein Einsichtsrecht in die handschriftlichen Notizen der Experten<br />

könne daraus aber nicht abgeleitet werden. Zum Fach "Steuern" (schriftlich) erklärte die<br />

Vorinstanz, dass die Beschwerdeführerin auf Grund eines der Prüfungskommission anzulastenden<br />

Fehlers bei der Verteilung der Prüfungsaufgaben zwar nicht sogleich mit dem Bearbeiten<br />

der Mehrwertsteueraufgabe beginnen konnte, wie sie es beabsichtigt hatte. Doch könne<br />

- 123 -


allein aus dem Umstand, dass sie für einige Minuten nicht die gewünschten Aufgaben lösen<br />

konnte, keine schwerwiegende Beeinträchtigung des Prüfungsablaufs abgeleitet werden.<br />

Weiter merkte die Vorinstanz an, dass keine Pflicht bestehe, bereits bei der Prüfungsaufgabe<br />

Hinweise auf die Gewichtung der einzelnen Teilaufgaben anzubringen. Die Experten dürften<br />

nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung von der Beschwerdeführerin verlangen, dass diese<br />

bei der Lösung der Prüfungsfragen selber erkenne, wo Schwerpunkte zu setzen seien, um die<br />

ihr zur Verfügung stehende Zeit entsprechend einzuteilen. Die Beschwerdeführerin behaupte,<br />

dass einige Kandidaten sich durch das Verwenden von unzulässigen Hilfsmitteln Vorteile verschafft<br />

hätten und erwarte nun, dass dem bei der Bewertung ihrer Leistung Rechnung getragen<br />

werde. Sie verlange mithin eine Gleichbehandlung mit Kandidaten, die sich mit ihren<br />

Handlungen eindeutig ins Unrecht gesetzt hätten. Ein solcher Anspruch bestehe jedoch nicht,<br />

weil der Grundsatz der Gesetzmässigkeit vorgehe. Zudem sei die Rüge der Beschwerdeführerin<br />

als verspätet zu betrachten, da es ihr möglich gewesen wäre, das Verwenden von angeblich<br />

verbotenen Hilfsmitteln während der Prüfung zu rügen. In Bezug auf die Rüge der Befangenheit<br />

eines Experten führte die Vorinstanz aus, dass allein die Behauptung der Beschwerdeführerin,<br />

der Experte X. sei befangen, weil er für eine Konkurrenzfirma arbeite, nicht für<br />

die Annahme der Parteilichkeit genüge. Denn der Umstand, dass der Arbeitgeber der Beschwerdeführerin<br />

und derjenige des Experten in der Arbeitswelt Konkurrenten seien, sei unerheblich,<br />

solange es keinen konkreten Vorfall gebe, der die Vorbehalte der Beschwerdeführerin<br />

gegenüber dem Experten X. als begründet erscheinen lasse. Weiter rügte die Beschwerdeführerin,<br />

dass ihre Leistung in den Fächern "Steuern" (schriftlich) und "Steuern"<br />

(mündlich) unterbewertet worden sei. Die Vorinstanz kam zum Schluss, dass der Beschwerdeführerin<br />

zu Recht im Fach "Steuern" (schriftlich) die Note 3,0 und im Fach "Steuern"<br />

(mündlich) die Note 3,5 erteilt worden seien. Damit gelte die Prüfung bereits aus diesem<br />

Grund als nicht bestanden, denn auch wenn die Note im Fach "Diplomarbeit" (einschliesslich<br />

Kolloquium), wie beantragt, auf eine 5.5 angehoben würde, würde die gewichtete Durchschnittnote<br />

nur 3.9 betragen. Deshalb erübrige es sich, auf die Rügen zu den Fächern "Diplomarbeit"<br />

(einschliesslich Kolloquium), "Recht" und "Betriebswirtschaft, Rechnungswesen,<br />

Finanzierung" einzugehen.<br />

B. Gegen diesen Entscheid erhob die Beschwerdeführerin am 10. März 2006 Verwaltungsbeschwerde<br />

bei der Rekurskommission EVD und stellte folgende Anträge:<br />

"1. Es sei die Diplomarbeit der Beschwerdeführerin mit der Note 5.5, eventualiter mit der Note<br />

5, zu bewerten.<br />

2. Eventualiter sei die Steuerexperten-Prüfung 2004 der Beschwerdeführerin als Ganzes neu<br />

zu beurteilen, die Grenzfallklausel anzuwenden und die Prüfung als bestanden zu werten.<br />

3. Eventualiter sei die Rechtssache zur materiellen Beurteilung des Faches "Diplomarbeit" an<br />

die Vorinstanz zurückzuweisen mit der Anweisung, sich substantiiert mit den Rügen der Beschwerdeführerin<br />

auseinander zu setzen.<br />

4.Alles unter Kosten- und Entschädigungsfolge zu Lasten der Beschwerdegegnerin.<br />

5. Bei (ganz oder teilweisem) Obsiegen der Beschwerdeführerin beantragt diese eine Parteientschädigung<br />

von Fr. 1'000.- zur Deckung der ihr aus dem Verfahren entstandenen Kosten."<br />

- 124 -


Die Beschwerdeführerin rügt, dass zur Diplomarbeit sachlich fundierte Begründungen der<br />

Bewertung fehlten, wie auch aussagekräftige, übersichtliche und nachvollziehbare Lösungs-,<br />

Punkte- und Notenschemen. Die Aussagen der Experten seien überwiegend unbegründet und<br />

würden nicht belegt. Die Äusserungen der Experten würden sich teilweise auch widersprechen<br />

und seien inkonsistent. Die Vorinstanz gehe in diesem Zusammenhang fälschlicherweise<br />

davon aus, dass das Nichtbeurteilen der Rügen im Fach "Diplomarbeit" keine Auswirkungen<br />

auf das Prüfungsresultat habe. Da bei einer Prüfungswiederholung gemäss Prüfungsreglement<br />

nur die Fächer zu wiederholen seien, in denen bei der ersten Prüfung nicht mindestens<br />

die Note 5 erzielt worden sei, treffe dies nicht zu. Indem die Vorinstanz auf die Rügen in<br />

Bezug auf die Diplomarbeit nicht eingegangen sei, habe sie das rechtliche Gehör, insbesondere<br />

die Garantie verfahrensrechtlicher Kommunikation, verletzt. Gemäss der Beschwerdeführerin<br />

kann ihre Feststellung, dass sich Bemerkungen der Experten offensichtlich nicht auf ihre<br />

Diplomarbeit bezögen, ein Indiz dafür sein, dass ihre Diplomarbeit verwechselt worden sei.<br />

Deshalb ersuche sie um Überprüfung und allfällige Richtigstellung des Sachverhaltes durch<br />

die Beschwerdeinstanz. Aus den dargelegten Gründen dürfe die Rekurskommission EVD nicht<br />

auf die Meinung der Experten abstellen und habe die Rügen in Bezug auf die Diplomarbeit<br />

selbständig und frei zu prüfen oder diese mittels Rückweisung der Sache und verbindlicher<br />

Weisung durch die Vorinstanz materiell überprüfen zu lassen. Dabei müsse die Rekurskommission<br />

EVD bzw. die Vorinstanz auf Bewertungsraster, Punkteschema und Notenskala der<br />

Diplomarbeit sowie auf Begründungen der Experten zurückgreifen können und diese in ihre<br />

Bewertung mit einbeziehen. Sofern die Stellungnahmen der Experten Y. und Z. vom 2. Februar<br />

und 1. Juli 2005 keine inhaltliche und sachliche Begründung zu den Vorbringen der Beschwerdeführerin<br />

enthielten und daraus nicht hervorgehe, wo Mängel festgestellt worden<br />

seien, und, vor allem, welches die richtigen Antworten gewesen wären, müsse der Entscheid<br />

der Prüfungskommission bzw. der Vorinstanz aufgehoben und dem Antrag der Beschwerdeführerin<br />

stattgegeben werden.<br />

C. Mit Vernehmlassung vom 19. April 2006 beantragt das Bundesamt, die Beschwerde sei<br />

abzuweisen. Es führt aus, dass gemäss der anwendbaren Grenzfallregelung die Note im Fach<br />

"Steuern" (mündlich) angehoben werden könne, wenn die prüfenden Experten eine Aufrundungsmöglichkeit<br />

vorgesehen hätten. Die Note im Fach "Steuern " (schriftlich) könnte angehoben<br />

werden, wenn der Beschwerdeführerin nur 2 Punkte zum Bestehen der Prüfung fehlten.<br />

In der Stellungnahme vom 25. Juni 2005 hätten die zuständigen Experten jedoch festgehalten,<br />

dass im Fach "Steuern" (mündlich) keine Aufwertungsmöglichkeit bestehe. Im<br />

Fach "Steuern“ (schriftlich) fehlten der Beschwerdeführerin 5.5 Punkte zur nächsthöheren<br />

Note. In dieser Situation erübrige es sich, auf die Rüge zum Fach "Diplomarbeit" (einschliesslich<br />

Kolloquium) einzugehen.<br />

Die Prüfungskommission beantragt in ihrer Vernehmlassung vom 20. April 2006 die Abweisung<br />

der Beschwerde. Sie führt ergänzend an, dass die Beschwerdeführerin sich mit den materiellen<br />

Erwägungen der Vorinstanz gar nicht auseinandersetze, sondern sich darauf beschränke,<br />

das von dieser - aus prozessökonomischen Gründen - nicht Behandelte (die damaligen<br />

Rügen der Beschwerdeführerin betreffend die Fächer "Diplomarbeit", "Recht" sowie<br />

"Betriebswirtschaft, Rechnungswesen, Finanzierung") bezüglich der Benotung im Fach "Diplomarbeit"<br />

zu kritisieren. Allerdings seien dieses Fach und das diesbezüglich im Verfahren vor<br />

der Rekurskommission EVD durch die Beschwerdeführerin Vorgebrachte materiell nicht Prozessgegenstand.<br />

Sollte der Auffassung der Beschwerdeführerin gefolgt werden, wonach wegen<br />

der Möglichkeit zur "Mitnahme von Noten " für eine allfällige Repetitionsprüfung auch<br />

bei Nichtbestehen ein Interesse an einer Anhebung der Note im Fach "Diplomarbeit" bestehe,<br />

so wäre die Streitsache an die Vorinstanz zurückzuweisen.<br />

- 125 -


D. Da die Beschwerdeführerin die Prüfung im Sommer/Herbst 2006 wiederholte, wurde das<br />

Verfahren bis zum Vorliegen des Prüfungsergebnisses nicht weiter behandelt. Eine Anfrage<br />

beim Prüfungssekretariat ergab, dass die Beschwerdeführerin die Prüfung wiederum nicht<br />

bestanden hatte. Gestützt darauf wurde das Verfahren wieder an die Hand genommen. Mit<br />

Schreiben vom 14. Dezember 2006 forderte die Rekurskommission EVD die Beschwerdeführerin<br />

auf, sich mit dem angefochtenen Entscheid auseinanderzusetzen sowie eine Begründung<br />

für die angefochtenen Bewertungen der Fächer "Steuern" (schriftlich) und "Steuern"<br />

(mündlich) zu liefern. Die Beschwerdeführerin reichte daraufhin keine Stellungnahme ein.<br />

E. Die Beschwerde wurde am 1. Januar 2007 zuständigkeitshalber an das Bundesverwaltungsgericht<br />

überwiesen. Auf die erwähnten und weiteren Argumente wird, soweit sie<br />

rechtserheblich sind, in den Erwägungen eingegangen.<br />

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:<br />

1. Das Bundesverwaltungsgericht übernimmt, sofern es zuständig ist, die Beurteilung der am<br />

1. Januar 2007 bei den Eidgenössischen Rekurs- oder Schiedskommissionen oder bei den<br />

Beschwerdediensten der Departemente hängigen Rechtsmittel (Art. 53 Abs. 2 des Verwaltungsgerichtsgesetzes<br />

vom 17. Juni 2005, VGG, SR 173.32). Der Beschwerdeentscheid des<br />

Bundesamtes vom 8. Februar 2006 stellt eine Verfügung im Sinne von Art. 5 des Bundesgesetzes<br />

über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968 dar (VwVG, SR 172.021).<br />

Nach Verwaltungsgerichtsgesetz unterliegen Verfügungen des Bundesamtes für Berufsbildung<br />

und Technologie der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Art. 31, Art. 33<br />

Bst. d VGG i.V.m. Art. 44 VwVG). Die Beurteilung erfolgt nach neuem Verfahrensrecht (Art.<br />

53 Abs. 2 letzter Satz VGG).<br />

Die Beschwerdeführerin hat am Verfahren vor dem Bundesamt teilgenommen und ist durch<br />

die angefochtene Verfügung besonders berührt. Sie hat zudem ein als schutzwürdig anzuerkennendes<br />

Interesse an deren Aufhebung oder Änderung, weshalb sie zur Beschwerde legitimiert<br />

ist (Art. 48 Bst. a VwVG). Eingabefrist und -form sind gewahrt (Art. 50 und 52 Abs.<br />

1 VwVG), der Kostenvorschuss wurde fristgemäss bezahlt (Art. 63 Abs. 4 VwVG) und die<br />

übrigen Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor (Art. 46 ff. VwVG). Auf die Beschwerde ist<br />

daher einzutreten.<br />

2. Am 1. Januar 2004 ist das Berufsbildungsgesetz vom 13. Dezember 2002 (BBG, SR<br />

412.10) in Kraft getreten. Es löste das (alte) Berufsbildungsgesetz vom 19. April 1978 ab<br />

(aBBG, AS 1979 1687, 1985 660, 1987 600, 1991 857, 1992 288 2521, 1996 2588,<br />

1998 1822, 1999 2374, 2003 187 4557). Zum selben Zeitpunkt hat die Berufsbildungsverordnung<br />

vom 19. November 2003 (BBV, SR 412.101) die (alte) Berufsbildungverordnung<br />

vom 7. November 1979 abgelöst (aBBV, AS 1979 1712, 1985 670, 1990 848, 1993 7,<br />

1996 208, 1998 1822, 2001 979). Nach (neuem) BBG kann die höhere Berufsbildung durch<br />

eine eidgenössische Berufsprüfung, eine eidgenössische höhere Fachprüfung oder durch eine<br />

eidgenössisch anerkannte Bildung an einer höheren Fachschule erworben werden (Art. 27<br />

Bst. a und b BBG). Die Vorschriften unterliegen der Genehmigung durch das Bundesamt (Art.<br />

28 Abs. 2 BBG).<br />

Nach dem bisherigen Recht konnten die Berufsverbände vom Bund anerkannte höhere Fachprüfungen<br />

veranstalten (Art. 51 Abs. 1 aBBG und Art. 44 Abs. 1 aBBV). Sie hatten darüber<br />

ein Reglement aufzustellen, das der Genehmigung des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements<br />

bedurfte (Art. 51 Abs. 2 aBBG und Art. 45 aBBV). Die Schweizerische Kammer<br />

- 126 -


der Wirtschaftsprüfer, Steuerexperten und Treuhandexperten, der Schweizerische Anwaltsverband,<br />

die Konferenz Staatlicher Steuerbeamter, der Schweizerische Treuhänderverband<br />

und die Schweizerische Vereinigung diplomierter Steuerexperten schlossen sich zu einer Trägerschaft<br />

zusammen, um die höhere Fachprüfung auf dem Gebiet des Steuerwesens für die<br />

ganze Schweiz durchzuführen. Gestützt auf die - damals geltenden - Delegationsbestimmungen<br />

des alten Berufsbildungsgesetzes erliess diese Trägerschaft das Reglement über die höhere<br />

Fachprüfung für Steuerexperten vom 20. Dezember 1993 (Reglement; vgl. BBl 1995 I<br />

369). Die Prüfung erstreckt sich auf folgende Tätigkeitsgebiete des Steuerexperten: "Steuern",<br />

"Recht" und "Betriebswirtschaft, Rechnungswesen, Finanzierung". Der Prüfungsstoff<br />

ist in der Wegleitung zum Reglement über die höhere Fachprüfung für Steuerexperten (Wegleitung)<br />

näher umschrieben. Die Prüfung besteht aus einer schriftlichen und einer mündlichen<br />

Prüfung. Die schriftliche Prüfung umfasst eine Diplomarbeit und Klausurarbeiten (Art. 23<br />

Reglement).<br />

Die Klausurarbeiten erstrecken sich auf die Fächer "Steuern", "Recht" sowie "Betriebswirtschaft,<br />

Rechnungswesen, Finanzierung" (Art. 25 Abs. 1 Reglement). Die mündliche Prüfung<br />

erstreckt sich auf die folgenden Fächer: a) "Steuern", b) nach Wahl: "Recht" oder "Betriebswirtschaft,<br />

Rechnungswesen, Finanzierung", c) Kurzreferat über ein Thema aus dem Fachgebiet<br />

des Steuerexperten (Art. 26 Reglement). Über die Diplomarbeit wird ein Kolloquium von<br />

ungefähr 30 Minuten Dauer durchgeführt, in welchem die Vertrautheit der Kandidaten mit<br />

dem behandelten Stoff geprüft wird (Art. 24 Abs. 5 Reglement).<br />

Die Prüfungsarbeiten werden mit den Noten 1 bis 6 bewertet, wobei die Note 4 und höhere<br />

Noten genügende Leistungen, Noten unter 4 ungenügende Leistungen bezeichnen. Andere<br />

als halbe Zwischennoten sind nicht zulässig (Art. 27 Reglement). Die Prüfung ist bestanden,<br />

wenn die Gesamtnote mindestens 4.0 und der gewichtete Durchschnitt der Fächer "Diplomarbeit"<br />

(einschliesslich Kolloquium), "Steuern" (schriftlich) und "Steuern" (mündlich) ebenfalls<br />

mindestens 4.0 betragen. Für die Berechnung der Gesamtnote bzw. des gewichteten<br />

Durchschnitts werden die Prüfung "Steuern" (schriftlich) dreifach, die "Diplomarbeit" sowie<br />

die mündlichen Prüfungen zweifach gewichtet. Dabei dürfen nicht mehr als zwei Noten unter<br />

4.0 liegen (Art. 28 Reglement).<br />

3. Nach Art. 49 VwVG kann mit der Verwaltungsbeschwerde die Verletzung von Bundesrecht,<br />

einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, unrichtige oder unvollständige<br />

Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts sowie Unangemessenheit der angefochtenen<br />

Verfügung, gerügt werden.<br />

Bei der Überprüfung von Examensleistungen auferlegte sich seinerzeit die Rekurskommission<br />

EVD entsprechend der Praxis des Bundesrates (VPB 62.62 E. 3; 56.16 E. 2.1), des Bundesgerichts<br />

(BGE 121 I 225 E. 4b; 118 Ia 488 E. 4c; 106 Ia 1 E. 3c) sowie anderer verwaltungsunabhängiger<br />

Rekurskommissionen (VPB 66.62 E. 4; vgl. auch VPB 64.122 E. 2) Zurückhaltung,<br />

indem sie in Fragen, die durch die Verwaltungsjustizbehörden naturgemäss schwer<br />

überprüfbar sind, nicht ohne Not von der Beurteilung der erstinstanzlichen Prüfungsorgane<br />

und Experten abwich. Begründet wurde dies mit dem Argument, der Rechtsmittelbehörde<br />

seien zumeist nicht alle massgebenden Faktoren der Bewertung bekannt, weshalb es ihr in<br />

der Regel nicht möglich sei, sich ein zuverlässiges Bild über die Gesamtheit der Leistungen<br />

des Beschwerdeführers in der Prüfung und der Leistungen der übrigen Kandidaten zu machen.<br />

Überdies hätten Prüfungen häufig Spezialgebiete zum Gegenstand, in denen die<br />

Rechtsmittelbehörde über keine eigenen Fachkenntnisse verfüge. Eine freie Überprüfung der<br />

Examensbewertung würde zudem die Gefahr von Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten ge-<br />

- 127 -


genüber anderen Kandidaten in sich bergen. Daher hat sich die Auffassung durchgesetzt,<br />

dass die Bewertung von schulischen Leistungen von der Rechtsmittelbehörde nicht umfassend,<br />

sondern nur mit Zurückhaltung zu überprüfen ist (vgl. BGE 118 Ia 488 E. 4c; 106 Ia 1<br />

E. 3c mit Verweis auf MAX IMBODEN/RENÉ RHINOW, Schweizerische <strong>Verwaltungsrecht</strong>sprechung,<br />

Band I, Basel und Frankfurt am Main 1986, Nr. 66 B II a, d und V a, und Nr. 67<br />

B III c).<br />

In einem Beschwerdeverfahren nehmen die Examinatoren, deren Notenbewertung beanstandet<br />

wird, im Rahmen der Beschwerdeantwort der Prüfungskommission Stellung (Art. 57 Abs.<br />

1 VwVG). In der Regel überprüfen sie bei dieser Gelegenheit ihre Bewertungen nochmals und<br />

geben bekannt, ob sie eine Korrektur als gerechtfertigt erachten oder nicht. Solange konkrete<br />

Hinweise auf Befangenheit fehlen und die Beurteilung nicht als fehlerhaft oder völlig unangemessen<br />

erscheint, war nach der Praxis der Rekurskommission EVD auf die Meinung der<br />

Examinatoren abzustellen. Vorausgesetzt wurde aber stets, dass die Stellungnahme insofern<br />

vollständig war, als darin substantiierte Rügen des Beschwerdeführers beantwortet wurden,<br />

und dass die Auffassung der Examinatoren, insbesondere soweit sie von derjenigen des Beschwerdeführers<br />

abwich, nachvollziehbar und einleuchtend war (vgl. die unveröffentlichten<br />

Beschwerdeentscheide der REKO/EVD vom 13. Januar 1998 i.S. F. [97/HB-001] E. 8 und<br />

vom 10. April 2001 i.S. Z. [00/HB-021] E. 4.1).<br />

Es sind keine Gründe ersichtlich, von dieser Praxis abzuweichen. Insofern hat sich auch das<br />

Bundesverwaltungsgericht bei der Überprüfung von Examensleistungen im obenerwähnten<br />

Rahmen Zurückhaltung aufzuerlegen. Eine solche Zurückhaltung rechtfertigt sich allerdings<br />

nur bei der inhaltlichen Bewertung von fachlichen Prüfungsleistungen. Sind dagegen die Auslegung<br />

und die Anwendung von Rechtsvorschriften streitig oder werden Verfahrensmängel<br />

im Prüfungsablauf gerügt, hat die angerufene Rechtsmittelbehörde die erhobenen Einwendungen<br />

mit freier Kognition zu prüfen, andernfalls sie eine formelle Rechtsverweigerung begehen<br />

würde (vgl. BGE 106 Ia 1 E. 3c; VPB 56.16 E. 2.2; RENÉ RHINOW/BEAT KRÄHEN-<br />

MANN, Schweizerische <strong>Verwaltungsrecht</strong>sprechung, Ergänzungsband, Basel 1990, Nr. 80 B<br />

I f).<br />

4. Die Beschwerdeführerin beantragt im Fach "Diplomarbeit" die Note 5.5, evtl. die Note 5.<br />

Die Vorinstanz gehe in diesem Zusammenhang fälschlicherweise davon aus, dass das Nichtbeurteilen<br />

der entsprechenden Rügen in diesem Fach keine Auswirkungen auf das Prüfungsresultat<br />

habe. Da bei einer Prüfungswiederholung gemäss Prüfungsreglement nur die Fächer<br />

zu wiederholen seien, in denen bei der ersten Prüfung nicht mindestens die Note 5 erzielt<br />

worden sei, treffe dies nicht zu. Aus diesem Grunde habe die Vorinstanz den Anspruch der<br />

Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör verletzt.<br />

4.1 Aus dem Inhalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 BV) wird unter anderem<br />

eine Prüfungspflicht und eine Begründungspflicht abgeleitet. Die Prüfungspflicht der entscheidenden<br />

Behörde erstreckt sich auf sämtliche für den Entscheid erheblichen Sachverhaltselemente.<br />

Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die entscheidende Behörde über alle<br />

Vorbringen der Beschwerdeführerin auszusprechen hätte. Vielmehr kann sie sich dabei auf<br />

die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (VPB 46.54 E. 6; BGE 112<br />

Ia 107 E. 2).<br />

Dem Entscheid der Vorinstanz ist zu entnehmen, dass diese die Bewertung in den Fächern<br />

"Steuern" (schriftlich) und "Steuern" (mündlich) prüfte und zum Schluss kam, dass der Beschwerdeführerin<br />

zu Recht ungenügende Noten erteilt wurden. Weil die Prüfung bereits aus<br />

- 128 -


diesem Grunde nicht als bestanden gilt, verzichtete die Vorinstanz unter anderem darauf, die<br />

gerügte Bewertung im Fach "Diplomarbeit" (einschliesslich Kolloquium) zu überprüfen. Dieses<br />

Vorgehen der Vorinstanz ist gestützt auf die oben dargelegten Grundsätze an und für sich<br />

zulässig. Es stellt sich jedoch im vorliegenden Fall die Frage, ob unter dem Aspekt der "Prüfungswiederholung"<br />

die Überprüfung der Bewertung im Fach "Diplomarbeit" angezeigt gewesen<br />

wäre.<br />

4.2 Lehre und Praxis gehen mehrheitlich davon aus, dass einzelne Fachnoten nur Begründungselemente<br />

darstellen, die letztlich zur Gesamtbeurteilung führen, weshalb auch nur das<br />

Prüfungsergebnis (d.h. die Nichterteilung eines Diploms) als Streitgegenstand aufzufassen ist.<br />

Da die einzelnen Prüfungsnoten kein Rechtsverhältnis regeln und infolgedessen für sich allein<br />

betrachtet auch keinen selbständigen Streitgegenstand zu bilden vermögen, können sie nicht<br />

als Entscheid betrachtet werden; sie gehören grundsätzlich nicht zum Streitgegenstand und<br />

nehmen auch nicht an der formellen Rechtskraft teil (REKO/EVD 95/4K-037 E. 3.2.1, publiziert<br />

in: VPB 61.31, mit Verweis auf BGE 113 V 159 E. 1c; 110 V 48 E. 3c). Daher wird die<br />

selbständige Anfechtbarkeit von Einzelnoten grundsätzlich verneint (MARTIN AUBERT, Bildungsrechtliche<br />

Leistungsbeurteilungen im Verwaltungsprozess, Diss. Bern 1997, S. 31 ff.,<br />

73; WERNER SCHNYDER, Rechtsfragen der beruflichen Weiterbildung in der Schweiz, Zürich,<br />

1999, Rz. 234; REKO/EVD 96/JC-002 E. 2.3, publiziert in : VPB 61.37). Eine Anfechtung<br />

wird nur insofern als zulässig erachtet, als damit gleichzeitig eine Änderung im Dispositiv<br />

bewirkt werden kann (REKO/EVD 95/4K-037 E. 3.1.1 und E. 3.2.1, a. a. O., mit Verweis<br />

auf FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, Bern, 1982, S. 154). Es ist zwar nicht<br />

ausgeschlossen, dass einzelne Noten ein selbständiges Anfechtungsobjekt bilden könnten:<br />

Dies ist dann der Fall, wenn an die Höhe der einzelnen Noten bestimmte Rechtsfolgen geknüpft<br />

sind, z.B. die Möglichkeit, bestimmte zusätzliche Kurse oder Weiterbildungen zu absolvieren<br />

oder besondere Qualifikationen zu erwerben, oder wenn die Noten sich später als<br />

Erfahrungsnoten in weiteren Prüfungen auswirken (BGE 2P.177/2002 vom 7. November<br />

2002 E. 5.2.2, BVGE 2007/6, E. 1.2 f., AUBERT, a.a.O., S. 31 f., 74 f. mit Hinweisen;<br />

HERBERT PLOTKE, Schweizerisches Schulrecht, Bern/Stuttgart/ Wien 2003, S. 713 f.;<br />

SCHNYDER, a.a.O., Rz. 236 und 292).<br />

4.3 Nach dem Reglement sind bei der zweiten Prüfung nur die Fächer (einschliesslich Diplomarbeit)<br />

zu wiederholen, in denen bei der ersten Prüfung nicht mindestens die Note 5 erzielt<br />

wurde und in der dritten Prüfung alle Fächer der zweiten Prüfung (Art. 30 Abs. 2). Falls<br />

die Vorinstanz im vorinstanzlichen Verfahren die Bewertung der Diplomarbeit überprüft und<br />

gutgeheissen hätte, wäre der Beschwerdeführerin demnach an der zweiten Prüfung dieses<br />

Fach erlassen worden und auch bei einer dritten Prüfung müsste sie dieses Fach nicht mehr<br />

ablegen. Daraus folgt, dass an die Höhe der Note für die Diplomarbeit bestimmte Rechtsfolgen<br />

geknüpft sind. Aus diesem Grunde ist die selbständige Anfechtbarkeit dieser Note zu bejahen.<br />

Die Rekurskommission EVD, eine Vorgängerorganisation des Bundesverwaltungsgerichts,<br />

lehnte die Anfechtbarkeit einer einzelnen Fachnote unter dem Aspekt der Prüfungswiederholung<br />

in ihrer Rechtsprechung ab. Sie argumentierte hauptsächlich, dass die allfälligen<br />

mit einer Wiederholung der Prüfung verbundenen Vor- bzw. Nachteile nicht Gegenstand<br />

des Verfah11 rens vor der Rekurskommission EVD sind (vgl. unveröffentlichte Entscheide der<br />

REKO/EVD vom 3. November 2006 i.S. B. [HB/2005-15], E. 4.1. ff., vom 13. Dezember<br />

2002 i.S. B. [HB/2002-10], E. 5.3, je mit weiteren Hinweisen sowie vom 13. Dezember<br />

1999 i.S. A. [99/HB-021], E. 4 f.). Aus den dargelegten Gründen ist an dieser Rechtsprechung<br />

nicht festzuhalten.<br />

- 129 -


4.4 Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet reformatorisch oder kann die Sache ausnahmsweise<br />

an die Vorinstanz zurückweisen (Art. 61 VwVG). Da dem Bundesverwaltungsgericht<br />

in diesem Verfahren die Aufgabe zukommt, als zweite und letzte Rechtsmittelinstanz<br />

zu urteilen, hat es über diese Frage nicht als erste Instanz einen Entscheid zu fällen. Aus diesen<br />

Gründen ist die Sache zur Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.<br />

5. Die Beschwerdeführerin beantragt eventualiter eine Neubeurteilung der gesamten Steuerexperten-Prüfung<br />

2004. Es sei die Grenzfallklausel anzuwenden und die Prüfung als bestanden<br />

zu bewerten.<br />

5.1 Mit Schreiben vom 14. Dezember 2006 hat die Rekurskommission EVD die Beschwerdeführerin<br />

zu einer substantiellen Begründung ihres Eventualantrages, ihre Prüfung als Ganzes<br />

neu zu beurteilen und die Prüfung als bestanden zu bewerten, sowie zu einer Auseinandersetzung<br />

mit dem angefochtenen Entscheid der Vorinstanz aufgefordert. Die Beschwerdeführerin<br />

reichte diesbezüglich jedoch keine Stellungnahme ein. Das Bundesverwaltungsgericht<br />

stellt, wie erwähnt, auf die Meinung der Examinatoren ab, solange konkrete Hinweise auf<br />

Befangenheit fehlen und die Beurteilung nicht als fehlerhaft oder völlig unangemessen erscheint.<br />

Mit Bezug auf das Fach "Steuern" (schriftlich) führte die Vorinstanz in ihrem Entscheid<br />

aus, dass die Experten auf alle wesentlichen Rügen der Beschwerdeführerin eingegangen<br />

seien und sich in teils ausführlicher, teils rechtsgenüglicher Weise mit den Rügen<br />

auseinandergesetzt hätten. Es bestehe kein Anlass, an der korrekten Beurteilung der Leistung<br />

der Beschwerdeführerin zu zweifeln. Mit Bezug auf das Fach "Steuern" (mündlich) haben die<br />

Experten gemäss der Vorinstanz den Prüfungsablauf zumindest in den Grundzügen nachvollziehbar<br />

aufgezeigt und dabei auch für Laien einleuchtend ausgeführt, wie sie zu ihrer Bewertung<br />

gekommen seien. Da die Beschwerdeführerin die Gelegenheit nicht wahrnahm, ihre Rügen<br />

mit Blick auf den vorinstanzlichen Entscheid zu formulieren, fehlt es an einer inhaltlichen<br />

Auseinandersetzung mit diesem. Für das Bundesverwaltungsgericht sind jedenfalls keine Anhaltspunkte<br />

ersichtlich, um die Beurteilung der Vorinstanz in Frage zu stellen. Aus diesem<br />

Grunde ist auf den vorinstanzlichen Entscheid abzustellen.<br />

5.2 Gemäss der vorliegend anwendbaren Grenzfallregelung der Prüfungskommission kann die<br />

Note im Fach "Steuern" (mündlich) angehoben werden, wenn die prüfenden Experten eine<br />

Aufrundungsmöglichkeit vorgesehen haben. In ihrer Stellungnahme vom 25. Juni 2005 haben<br />

die zuständigen Experten festgehalten, dass im Fach "Steuern" (mündlich) keine Aufwertungsmöglichkeit<br />

besteht. Die Note im Fach "Steuern" (schriftlich) könnte angehoben werden,<br />

wenn der Beschwerdeführerin nur zwei Punkte zum Bestehen der Prüfung fehlen würden.<br />

Vorliegend fehlen ihr jedoch 5.5 Punkte zur nächsthöheren Note. Somit kann die Grenzfallregelung<br />

nicht angewendet werden.<br />

6. Das Bundesverwaltungsgericht kommt somit zum Schluss, dass die Beschwerde insoweit<br />

gutzuheissen ist, als die Verfügung aufzuheben ist und die Streitsache bezüglich die Diplomarbeit<br />

(inkl. Kolloquium) an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückzuweisen ist. Soweit<br />

weitergehend ist die Beschwerde abzuweisen.<br />

7. Die Beschwerdeinstanz auferlegt die Verfahrenskosten in der Regel der unterliegenden<br />

Partei. Unterliegt diese nur teilweise, so werden die Verfahrenskosten ermässigt (Art. 63<br />

Abs. 1 VwVG). Bei diesem Verfahrensausgang gilt die Beschwerdeführerin als hauptsächlich<br />

unterliegende Partei. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich, ihr die Verfahrenskosten<br />

zu 4/5 aufzuerlegen. Diese werden mit dem am 28. März 2006 geleisteten Kostenvorschuss<br />

von Fr. 1'000.-- verrechnet. Der ganz oder teilweise obsiegenden Partei kann von Amtes<br />

- 130 -


wegen oder auf Begehren eine Entschädigung zugesprochen werden. Da der nicht anwaltlich<br />

vertretenen Beschwerdeführerin keine notwendigen und verhältnismässig hohen Kosten im<br />

Sinne des Verwaltungsverfahrensgesetzes entstanden sind, ist jedoch von einer Parteientschädigung<br />

abzusehen (Art. 64 Abs. 1 VwVG).<br />

8. Dieser Entscheid kann nicht mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an<br />

das Bundesgericht weitergezogen werden (Art. 83 Bst. t des Bundesgerichtsgesetzes vom<br />

17. Juni 2005, BBG, SR 173.110). Er ist somit endgültig (Art. 74 Bst. c VwVG).<br />

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:<br />

1. Die Beschwerde wird insoweit gutgeheissen, als die Verfügung der Vorinstanz vom 8.<br />

Februar 2006 aufgehoben wird und die Streitsache bezüglich die Diplomarbeit (inkl. Kolloquium)<br />

an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückgewiesen wird. Soweit weitergehend wird<br />

die Beschwerde abgewiesen.<br />

2. Die Verfahrenskosten von Fr. 1'000.- werden der Beschwerdeführerin zu 4/5 auferlegt,<br />

ausmachend Fr. 800.- und mit dem geleisteten Kostenvorschuss von Fr. 1'000.- verrechnet.<br />

Der Beschwerderführerin sind Fr. 200.- aus der Gerichtskasse zurückzuerstatten.<br />

3. Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.<br />

4. Dieses Urteil wird eröffnet: (…)<br />

- 131 -


BGE 133 I 185 (Subsidiäre Verfassungsbeschwerde)<br />

22. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Justiz- und<br />

Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern (Subsidiäre Verfassungsbeschwerde) vom 30.<br />

April 2007<br />

Regeste:<br />

Art. 9 BV; Art. 113 in Verbindung mit Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG, Art. 115 lit. b BGG. Ausländerrechtliches<br />

Bewilligungsverfahren.<br />

Keine Legitimation des Ausländers zur subsidiären Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung<br />

des Willkürverbots, wenn kein Rechtsanspruch auf Bewilligung besteht. Verhältnis subsidiäre<br />

Verfassungsbeschwerde und Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten<br />

(E. 2.1 und 2.2); im konkreten Fall kann die Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung gemäss<br />

Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG nicht mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten<br />

angefochten werden, weil kein Rechtsanspruch auf die Bewilligung besteht (E. 2.2 und<br />

2.3).<br />

Legitimationsvoraussetzungen bei Willkürbeschwerden nach der Rechtsprechung zu Art. 88<br />

OG (E. 4). Entstehungsgeschichte von Art. 115 lit. b BGG; Zusammenhang mit der Rechtsprechung<br />

zu Art. 88 OG (E. 5). In Berücksichtigung der Materialien, der Zielsetzungen der<br />

Revision der Bundesrechtspflege und des Verhältnisses zu den verschiedenen in Art. 83 BGG<br />

enthaltenen Ausschlussgründen setzt die Berechtigung zur Erhebung der Willkürrüge bei der<br />

subsidiären Verfassungsbeschwerde nach Art. 115 lit. b BGG voraus, dass sich der Beschwerdeführer<br />

auf eine durch das Gesetz oder ein spezielles Grundrecht geschützte Rechtsstellung<br />

berufen kann (E. 6).<br />

Sachverhalt<br />

X., geboren 1950, ist Staatsangehöriger von Serbien. 1983, im Alter von 33 Jahren, reiste<br />

er aus dem damaligen Jugoslawien erstmals in die Schweiz ein, wo er zuerst als Saisonnier<br />

arbeitete und ab 1989 im Rahmen von Jahresaufenthaltsbewilligungen im Wesentlichen ohne<br />

Unterbruch verweilte. Er ist in dritter Ehe mit einer Kroatin verheiratet, mit welcher zusammen<br />

er einen 2005 geborenen Sohn hat. Ehefrau und Kind können sich in der Schweiz nur im<br />

begrenzten Rahmen von Besuchervisen aufhalten. Im Zeitraum von 1987 bis 2003 ergingen<br />

gegen X. insgesamt sechs Straferkenntnisse. Am stärksten ins Gewicht fällt die am 12. November<br />

1991 ausgesprochene Verurteilung zu einem Monat Gefängnis bedingt und zu einer<br />

Busse von Fr. 300.- wegen fahrlässiger Tötung, begangen mit Personenwagen durch Nichtgewährung<br />

des Vortritts gegenüber einem Fussgänger auf dem Fussgängerstreifen, Überschreiten<br />

der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerorts und Nichtanpassen der Geschwindigkeit<br />

an die Strassenverhältnisse.<br />

Seit Ende Juni 2001 war X. nie mehr erwerbstätig. Seit dem 1. April 2004 bezog er eine volle<br />

IV-Rente, ab 1. März 2005 wird ihm eine 3/4-IV-Rente ausgerichtet. Hinzu kommt eine<br />

Kinderrente für den Sohn, und seit Januar 2006 hat er Anspruch auf IV-<br />

Ergänzungsleistungen. Im Zeitraum von April 2003 bis Januar 2006 beanspruchte er Sozial-<br />

- 132 -


hilfeleistungen in einem fünfstelligen Betrag. Es liegen gegen ihn zahlreiche Betreibungen und<br />

Verlustscheine vor. 1988, 1996 und 2003 wurde X. fremdenpolizeilich verwarnt.<br />

Mit Verfügung vom 30. August 2006 lehnte das Amt für Migration des Kantons Luzern das<br />

Gesuch von X. um Erteilung der Niederlassungsbewilligung ab. Zugleich verweigerte es die<br />

Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung und ordnete unter Festsetzung einer Ausreisefrist<br />

die Wegweisung aus dem Kanton Luzern an. Das Justiz- und Sicherheitsdepartement des<br />

Kantons Luzern wies am 4. Januar 2007 die hiegegen erhobene Beschwerde ab.Am 5. Februar<br />

2007 hat X. den Entscheid des Justiz- und Sicherheitsdepartements mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde<br />

beim Bundesgericht angefochten; er rügt eine Verletzung des Willkürverbots.Gestützt<br />

auf Art. 23 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht<br />

(Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) hat die Vereinigung sämtlicher Abteilungen<br />

des Bundesgerichts am 30. April 2007 über die Frage der Legitimation zur Erhebung<br />

der Willkürrüge mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde (Art. 115 BGG) im Sinne der nachstehenden<br />

Erwägungen entschieden. Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

1. Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht in<br />

Kraft getreten (AS 2006 S. 1205 ff., 1242). Der angefochtene Entscheid ist nach diesem<br />

Zeitpunkt ergangen. Damit finden auf das vorliegende, am 5. Februar 2007 eingeleitete Beschwerdeverfahren<br />

die Vorschriften des Bundesgerichtsgesetzes Anwendung (Art. 132 Abs.<br />

1 BGG).<br />

2. Der Beschwerdeführer ficht den Entscheid des Departements mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde<br />

gemäss Art. 113 ff. BGG an. Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit<br />

bzw. die Zulässigkeit eines Rechtsmittels von Amtes wegen mit freier Kognition (Art. 29<br />

Abs. 1 BGG; s. auch BGE 131 II 352 E. 1 S. 353; 130 I 312 E. 1 S. 317; 130 II 509 E. 8.1<br />

S. 510).<br />

2.1 Unter der Herrschaft des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 1943 über die Organisation<br />

der Bundesrechtspflege (Bundesrechtspflegegesetz, OG; BS 3 S. 531) konnten grundsätzlich<br />

alle (auf Bundesrecht oder kantonales Recht gestützten) Entscheide kantonaler Behörden<br />

mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte beim Bundesgericht<br />

angefochten werden, wenn das ordentliche eidgenössische Rechtsmittel (Berufung,<br />

Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen, Verwaltungsgerichtsbeschwerde) unzulässig<br />

war. Mit der Einführung der drei Einheitsbeschwerden (Beschwerde in Zivilsachen, Beschwerde<br />

in Strafsachen und Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) können<br />

nunmehr dem Grundsatz nach alle kantonalen Entscheide, auch solche, die gestützt auf kantonales<br />

Recht ergangen sind, mit dem jeweiligen ordentlichen Rechtsmittel angefochten werden.<br />

Dies jedoch nur soweit, als das Gesetz keine Ausnahme vorsieht (für die Beschwerde in<br />

öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten Art. 83-85 BGG). Stünden ausschliesslich die drei<br />

Einheitsbeschwerden zur Verfügung, wie dies der bundesrätliche Entwurf vorsah (Botschaft<br />

vom 28. Februar 2001, BBl 2001 S. 4202 ff.), könnten - anders als bisher nach dem Bundesrechtspflegegesetz<br />

- nicht (mehr) alle kantonalen Entscheidungen beim Bundesgericht angefochten<br />

werden. Dies wurde, trotz der grundsätzlichen Ausweitung des gerichtlichen<br />

Rechtsschutzes (s. Art. 29a BV), als Mangel empfunden. Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens<br />

wurden daher verschiedene Vorschläge insbesondere über Gegenausnahmen zu den<br />

Ausnahmekatalogen unterbreitet (s. dazu etwa PHILIPPE GERBER, Le recours constitutionnel<br />

subsidiaire: un dérivé du recours unifié, in: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundes-<br />

- 133 -


amtes für Justiz [Hrsg.], Aus der Werkstatt des Rechts, Festschrift zum 65. Geburtstag von<br />

Heinrich Koller, Basel/Genf/München 2006, S. 245 ff.). Dies hätte zu einer unerwünschten<br />

Unübersichtlichkeit des Rechtsmittelsystems geführt. Schliesslich hat der Gesetzgeber als<br />

Ersatz für die staatsrechtliche Beschwerde die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ins Bundesgerichtsgesetz<br />

eingefügt (dazu Bericht des Bundesamtes für Justiz vom 18. März 2004<br />

an die Rechtskommission des Nationalrats zu den Normvorschlägen der Arbeitsgruppe Bundesgerichtsgesetz<br />

vom 16. März 2004, Ziff. 3.1 S. 2).<br />

2.2 Gemäss Art. 113 BGG beurteilt das Bundesgericht Verfassungsbeschwerden gegen Entscheide<br />

letzter kantonaler Instanzen, soweit keine Beschwerde nach den Artikeln 72-89 BGG<br />

zulässig ist. Angefochten ist vorliegend der Entscheid über eine ausländerrechtliche Bewilligung;<br />

es handelt sich um eine Angelegenheit des öffentlichen Rechts. Gegen derartige Entscheide<br />

kann im Grundsatz mit dem ordentlichen Rechtsmittel, mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen<br />

Angelegenheiten gemäss Art. 82-89 BGG, ans Bundesgericht gelangt werden.<br />

Gemäss Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten<br />

auf dem Gebiet des Ausländerrechts jedoch unzulässig gegen Entscheide betreffend<br />

Bewilligungen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch<br />

einräumen.<br />

2.3 Gemäss Art. 4 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung<br />

der Ausländer (ANAG; SR 142.20) entscheidet die zuständige Behörde, im Rahmen der<br />

gesetzlichen Vorschriften und der Verträge mit dem Ausland, nach freiem Ermessen über die<br />

Erteilung und Verweigerung von Bewilligungen. Es besteht kein Anspruch auf eine Erlaubnis,<br />

es sei denn, der Ausländer oder seine in der Schweiz lebenden Angehörigen könnten sich<br />

hierfür auf eine Sondernorm des Bundesrechts (einschliesslich des Bundesverfassungsrechts)<br />

oder eines Staatsvertrages berufen (BGE 130 II 281 E. 2.1 S. 284 mit Hinweis). Gleich verhält<br />

es sich nach dem am 1. Januar 2008 in Kraft tretenden Bundesgesetz vom 16. Dezember<br />

2005 über die Ausländerinnen und Ausländer (Ausländergesetz, AuG; BBl 2005 S. 7365<br />

ff.), welches unterscheidet zwischen Bewilligungen, auf deren Erteilung ein Rechtsanspruch<br />

besteht, und Bewilligungen, worüber die Behörde ermessensgeprägt entscheidet (vgl. insbesondere<br />

Art. 3 Abs. 1 und 2 sowie Art. 96 AuG; Botschaft des Bundesrats zum Ausländergesetz<br />

vom 8. März 2002, BBl 2002 S. 3709 ff., bspw. S. 3724-3728). Der Beschwerdeführer<br />

hat unter keinem Titel einen Rechtsanspruch auf Verlängerung der Bewilligung. Weder<br />

seine persönlichen Verhältnisse (Grad seiner Integration in der Schweiz, regelmässige Pflege<br />

von Beziehungen zu seiner Heimat, wo er bis ins Alter von 33 Jahren weilte) noch seine aktuellen<br />

familiären Beziehungen bilden eine taugliche Grundlage für die Geltendmachung eines<br />

Anwesenheitsrechts nach den Vorschriften der Ausländergesetzgebung oder nach Art. 8<br />

EMRK (vgl. insbesondere BGE 130 II 281). Ebenso wenig verschafft eine längere Aufenthaltsdauer<br />

für sich einen Anspruch auf Bewilligungserneuerung unter dem Gesichtswinkel<br />

von Treu und Glauben. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zur Anfechtung<br />

des für den Beschwerdeführer negativen Bewilligungsentscheids ist mithin ausgeschlossen,<br />

und als bundesrechtliches Rechtsmittel fällt in der Tat allein die subsidiäre Verfassungsbeschwerde<br />

in Betracht. Es ist nachfolgend zu prüfen, ob der Beschwerdeführer dazu<br />

legitimiert ist.<br />

3. Gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten<br />

berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit<br />

zur Teilnahme erhalten hat (lit. a), durch den angefochtenen Entscheid oder Erlass besonders<br />

berührt ist (lit. b) und ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung hat<br />

(lit. c).<br />

- 134 -


Die Legitimation zur subsidiären Verfassungsbeschwerde hat der Gesetzgeber enger gefasst.<br />

Gemäss Art. 115 BGG ist zur Verfassungsbeschwerde berechtigt, wer vor der Vorinstanz am<br />

Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a) und (kumulativ)<br />

ein "rechtlich geschütztes Interesse" an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen<br />

Entscheids (französisch: "intérêt juridique" à l'annulation ou à la modification de la<br />

décision attaquée; italienisch: "interesse legittimo" all'annullamento o alla modifica della decisione<br />

impugnata) hat (lit. b). Der Text von Art. 115 lit. b BGG weicht von demjenigen von<br />

Art. 88 OG ab, welcher die Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde regelte; danach<br />

stand das Recht zur Beschwerdeführung Bürgern (Privaten) und Korporationen bezüglich solcher<br />

Rechtsverletzungen zu, die sie durch allgemein verbindliche oder sie persönlich treffende<br />

Erlasse oder Verfügungen erlitten hatten. rIndessen hat die bundesgerichtliche Rechtsprechung<br />

die Legitimationsvoraussetzungen gemäss Art. 88 OG gleich umschrieben wie dies<br />

nunmehr Art. 115 lit. b BGG ausdrücklich tut. Zur staatsrechtlichen Beschwerde berechtigt<br />

war, wer in eigenen rechtlich geschützten Interessen betroffen ist (qui est atteint par l'acte<br />

attaqué dans ses intérêts propres et juridiquement protégés) bzw. ein rechtlich geschütztes<br />

Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids hat (BGE 129 I 217 E. 1 S. 219;<br />

126 I 81 E. 3b S. 85). In französischsprachigen Urteilen ist teilweise auch verkürzt von "intérêt<br />

juridique" die Rede (BGE 131 I 153 E. 1.2 S. 157, 386 E. 2.5 S. 390; 124 I 231 E. 1c<br />

S. 234), womit aber rechtlich geschützte Interessen gemeint sind. Der Gesetzgeber hat sich<br />

für die Umschreibung der Beschwerdeberechtigung an der Rechtsprechung zu Art. 88 OG<br />

orientiert (s. nachfolgend E. 5.1); diese bildet somit einen ersten Ausgangspunkt für die Auslegung<br />

von Art. 115 lit. b BGG. Nachfolgend ist daher näher auf die Legitimationsvoraussetzungen<br />

gemäss Art. 88 OG einzugehen.<br />

4. Die nach Art. 88 OG erforderlichen eigenen rechtlich geschützten Interessen können<br />

entweder durch kantonales oder eidgenössisches Gesetzesrecht oder aber unmittelbar durch<br />

ein angerufenes spezielles Grundrecht geschützt sein, sofern sie auf dem Gebiet liegen, das<br />

die betreffende Verfassungsbestimmung beschlägt. Besonderes gilt für den verfassungsrechtlich<br />

jeder Person gewährten Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür<br />

behandelt zu werden (Art. 9 BV; Willkürverbot).<br />

4.1 Vor dem Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 war das Willkürverbot<br />

nicht ausdrücklich in der Bundesverfassung enthalten. Es wurde aber aus Art. 4<br />

der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (aBV) abgeleitet und galt grundsätzlich als eigenständiges<br />

verfassungsmässiges Recht, welches dem Einzelnen einen Anspruch auf willkürfreies<br />

Handeln der Behörden einräumte. Seine Verletzung konnte daher im Verfahren der<br />

staatsrechtlichen Beschwerde, anders als andere verfassungsrechtliche Grundsätze - wie etwa<br />

das Verhältnismässigkeitsgebot -, selbständig gerügt werden. Nach feststehender Rechtsprechung<br />

verschaffte das Willkürverbot im Bereich der Rechtsanwendung für sich allein aber<br />

noch keine geschützte Rechtsstellung im Sinne von Art. 88 OG; nach dieser Norm war eine<br />

Partei bloss dann zur Willkürrüge legitimiert, wenn das Gesetzesrecht, dessen willkürliche<br />

Anwendung sie rügte, ihr einen Rechtsanspruch einräumte oder den Schutz ihrer angeblich<br />

verletzten Interessen bezweckte (BGE 121 I 267 E. 2 S. 268 f. mit Hinweisen). Keinen Anlass,<br />

von dieser Auslegung von Art. 88 OG bei Willkürbeschwerden abzuweichen, sah das<br />

Bundesgericht im Umstand, dass das Willkürverbot in kantonalen Verfassungen und in der<br />

am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 ausdrücklich<br />

als Grundrecht verankert wurde; es hielt dafür, der Umstand der Kodifikation ändere<br />

am Gehalt des ohnehin anerkannten Grundrechts nichts und vermöge sich insofern auf die<br />

Frage der Legitimation nicht auszuwirken (BGE 121 I 267 E. 3 S. 269 ff. zu Art. 11 Abs. 1<br />

der am 1. Januar 1995 in Kraft getretenen neuen Verfassung des Kantons Bern [SR<br />

131.212]; 126 I 81 zu Art. 9 der Bundesverfassung vom 18. April 1999, je betreffend aus-<br />

- 135 -


länderrechtliche Bewilligungen, auf die kein Rechtsanspruch besteht; s. auch BGE 129 I 217<br />

E. 1.3 S. 221 ff. betreffend Einbürgerung). Die restriktive Legitimation zur Willkürbeschwerde<br />

wurde mit der Besonderheit des Willkürverbots begründet. Dieses Grundrecht ist nicht mit<br />

einem spezifischen Schutzbereich verbunden, der an einen bestimmten menschlichen Lebensbereich<br />

oder an ein bestimmtes Institut anknüpft, sondern gilt, gleich wie das verwandte<br />

allgemeine Rechtsgleichheitsgebot (oder das nicht als verfassungsmässiges Recht anerkannte<br />

Gebot verhältnismässigen Handelns) als allgemeines Prinzip für sämtliche Bereiche staatlicher<br />

Tätigkeit. Das Bundesgericht hat daraus geschlossen, es ergebe sich nicht bereits aus dem -<br />

weit umrissenen - Inhalt dieser Garantie, wem die Befugnis zustehen soll, Verletzungen des<br />

Willkürverbots dem Verfassungsrichter zu unterbreiten; die Legitimation zur Geltendmachung<br />

des Willkürverbots bestimme sich vielmehr nach Massgabe der Anforderungen, die das jeweilige<br />

Prozessgesetz aufstellt (BGE 121 I 267 E. 3c S. 270; 126 I 81 E. 3b S. 85 f.).<br />

4.2 Die Doktrin war dieser Rechtsprechung gegenüber von jeher überwiegend kritisch eingestellt.<br />

Hervorgehoben wurde dabei, dass das Willkürverbot ein selbständiges Grundrecht<br />

darstelle, das der Bürger grundsätzlich in gleicher Weise anrufen können soll wie die übrigen<br />

Grundrechte; die Einschränkung der Legitimation durch Verfahrensvorschriften laufe auf eine<br />

Einschränkung des von der Verfassung grundsätzlich garantierten Rechts selber hinaus (s.<br />

Zusammenfassung der Kritik in BGE 126 I 81 E. 3c und 4a S. 86 ff.; ferner bei THOMAS<br />

GÄCHTER, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, unter besonderer Berücksichtigung des<br />

Bundessozialversicherungsrechts, Zürich 2005, S. 294 ff.). Eine Änderung der Rechtsprechung<br />

wurde mit Nachdruck auf das Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung verlangt,<br />

welche das Willkürverbot in Art. 9 ausdrücklich festschreibt. Die gemäss Art. 16 OG vereinigten<br />

Abteilungen des Bundesgerichts lehnten am 20. März 2000 eine Praxisänderung<br />

mehrheitlich ab. Im gestützt auf diesen Beschluss ergangenen, bereits mehrfach zitierten Urteil<br />

vom 3. April 2000 (BGE 126 I 81) hat die II. öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts<br />

auf die Kritik Bezug genommen und festgehalten, dass gute Gründe sowohl für die<br />

bisherige Rechtsprechung wie auch für die von der Doktrin vertretene gegenteilige Auffassung<br />

namhaft gemacht werden könnten. Indessen wurde erkannt, dass sich den Materialien<br />

zur neuen Bundesverfassung keine klaren Indizien für einen gesetzgeberischen Willen auf<br />

Ausweitung der Beschwerdeberechtigung bei Willkürbeschwerden entnehmen lasse (BGE<br />

126 I 81 E. 5 S. 90 ff.). Als ausschlaggebend für die Beibehaltung der restriktiven Auslegung<br />

von Art. 88 OG erwies sich jedoch der Umstand, dass die Revision der Bundesrechtspflege<br />

anstand. Das Bundesgericht erachtete es als wenig opportun, von einer seit Jahrzehnten geübten<br />

Praxis abzuweichen und neue Beschwerdemöglichkeiten zu öffnen, kurz bevor ein vom<br />

Gesetzgeber neu zu konzipierendes Rechtsmittelsystem eingeführt werde, nach welchem unter<br />

Umständen im Bereich von ausländerrechtlichen Bewilligungen (und in anderen vom Ausnahmenkatalog<br />

betroffenen Materien) jegliche Beschwerdemöglichkeit entfallen könnte; erforderlich<br />

sei eine - zunächst vom Gesetzgeber anzustellende - Gesamtbetrachtung, um ein<br />

insgesamt kohärentes System zu gewährleisten (BGE 126 I 81 E. 6 S. 93 f.). Die Doktrin<br />

hielt auch nach diesem Urteil an ihrer Kritik fest, welche sich primär auf die Erwägungen des<br />

Bundesgerichts zur Tragweite des Willkürverbots und auf die bundesgerichtliche Beurteilung<br />

der Materialien zu Art. 9 BV im Hinblick auf die Legitimationsfrage bezog (s. dazu, auch als<br />

Beispiel für andere: REGINA KIENER, Die staatsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts<br />

in den Jahren 2000 und 2001, in: ZBJV 138/2002 S. 605, Ziff. XI. 1.2 S. 699 ff., mit<br />

Hinweisen auf weitere Doktrin; THOMAS GÄCHTER, a.a.O.). Weniger ins Blickfeld der Kritik<br />

gerieten die Erwägungen zur Bedeutung der - seither verwirklichten - Revision der Bundesrechtspflege.<br />

Vielmehr erwogen auch Kritiker der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, dass<br />

es nunmehr Sache des Gesetzgebers sei, die streitige Frage zu entscheiden (etwa CLAUDE<br />

ROUILLER, Protection contre l'arbitraire et protection de la bonne foi, in: Daniel Thürer/Jean-<br />

François Aubert/Jörg Paul Müller [Hrsg.], Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, S.<br />

- 136 -


683; ANDREAS KLEY/RETO FELLER, Grundrechte, in: Walter Fellmann/Tomas Poledna<br />

[Hrsg.], Aktuelle Anwaltspraxis 2001, Bern 2002, S. 339 f.) Nachfolgend ist mithin auf die<br />

Entstehungsgeschichte von Art. 115 BGG einzugehen.<br />

5. Erklärte Ziele der Revision der Bundesrechtspflege waren primär eine wirksame und<br />

nachhaltige Entlastung des Bundesgerichts, zugleich die punktuelle Verbesserung des<br />

Rechtsschutzes sowie die Vereinfachung der Verfahren und Rechtswege (bundesrätliche<br />

Botschaft, BBl 2001 S. 4202, Übersicht S. 4208).<br />

5.1 Die Einführung der drei Einheitsbeschwerden bewirkt hinsichtlich der Anfechtung von<br />

auf kantonales Recht gestützten Entscheiden eine Verbesserung des Rechtsschutzes, wobei<br />

aber der Wegfall der staatsrechtlichen Beschwerde ohne kompensatorische Massnahmen in<br />

gewissen Bereichen als Rechtsschutzverlust empfunden worden wäre; dies war der hauptsächliche<br />

Grund für die nachträgliche Einführung der subsidiären Verfassungsbeschwerde (s.<br />

vorne E. 2.1); zudem wollte man erreichen, dass letztinstanzliche kantonale Entscheide über<br />

"civil rights" wegen Verletzung der EMRK zuerst beim Bundesgericht angefochten werden<br />

müssen, bevor sie an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergezogen werden<br />

können (HEINZ AEMISEGGER, Der Beschwerdegang in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten,<br />

in: Bernhard Ehrenzeller/Rainer J. Schweizer [Hrsg.], Reorganisation der Bundesrechtspflege<br />

- Neuerungen und Auswirkungen in der Praxis, St. Gallen 2006, S. 155). Der<br />

Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens lässt jedenfalls nicht auf eine Absicht des Gesetzgebers<br />

schliessen, mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde einen weitergehenden Rechtsschutz<br />

zu gewähren als unter der Herrschaft der staatsrechtlichen Beschwerde und insbesondere<br />

die Beschwerdeberechtigung auszudehnen. Die wenigen vorhandenen Dokumente<br />

sprechen klar für das Gegenteil. Im Bericht des Bundesamtes für Justiz vom 18. März 2004<br />

an die Rechtskommission des Nationalrats zu den Normvorschlägen der Arbeitsgruppe Bundesgerichtsgesetz<br />

vom 16. März 2004 steht dazu Folgendes: "Für die Legitimation zur subsidiären<br />

Verfassungsbeschwerde sollen die gleichen Anforderungen gelten wie bei der heutigen<br />

staatsrechtlichen Beschwerde (Erfordernis des rechtlich geschützten Interesses)" (Ziff.<br />

3.1 S. 2). Ebenso erklärte der Kommissionssprecher des Ständerats am 8. März 2005 im<br />

Rat: "Für die Legitimation bei der subsidiären Verfassungsbeschwerde sollen die Anforderungen<br />

wie bei der heutigen staatsrechtlichen Beschwerde gelten, also das Erfordernis des<br />

rechtlich geschützten Interesses" (AB 2005 S S. 139). Diese Aussage wurde weder in Frage<br />

gestellt noch diskutiert.<br />

5.2 Trotz des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte von Art. 115 lit. b BGG fordern<br />

verschiedene Autoren vom Bundesgericht nach wie vor, dass es seine bei der staatsrechtlichen<br />

Beschwerde entwickelte Legitimationspraxis lockere und das Recht zur Willkürbeschwerde<br />

für die subsidiäre Verfassungsbeschwerde vorbehaltlos anerkenne (ANDREAS AU-<br />

ER/GIORGIO MALINVERNI/MICHEL HOTTELIER, L'interdiction de l'arbitraire, in: Droit constitutionnel<br />

suisse, Bd. II, Les droits fondamentaux, 2. Aufl., Bern 2006, S. 541; BERNHARD<br />

EHRENZELLER, Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde, in: Anwaltsrevue 2007 S. 103 ff.,<br />

107; PHILIPPE GERBER, a.a.O., S. 251 ff.; MICHEL HOTTELIER, Entre tradition et modernité:<br />

Le recours constitutionnel subsidiaire, in: Les nouveaux recours fédéraux en droit public,<br />

Genf/Zürich/Basel 2006, S. 89 ff.; ULRICH ZIMMERLI, Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde,<br />

in: Pierre Tschannen [Hrsg.], Die neue Bundesrechtspflege, Berner Tage für die juristische<br />

Praxis 2006, Bern 2007, S. 299 ff.). Einige gegenüber der Rechtsprechung zu Art. 88 OG<br />

kritisch eingestellte Autoren äussern sich nunmehr, unter Berücksichtigung der Reformziele,<br />

in Bezug auf die Frage der Legitimationsbeschränkung gemäss Art. 115 BGG eher neutral<br />

(REGINA KIENER/ MATHIAS KUHN, Das neue Bundesgerichtsgesetz - eine [vorläufige] Wür-<br />

- 137 -


digung, in: ZBl 107/2006 S. 141 ff., 154; CHRISTOPH AUER, Die Beschwerdebefugnis nach<br />

dem neuen Bundesgerichtsgesetz, in: Festschrift Heinrich Koller, a.a.O., S. 203 ff.). Andere<br />

Autoren stellen fest, Art. 115 lit. b BGG "richtet sich offensichtlich gegen die selbständige<br />

Anrufung von Art. 9 BV" (FELIX UHLMANN, Das Willkürverbot [Art. 4 BV], Bern 2005, S.<br />

440), oder räumen unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der subsidiären Verfassungsbeschwerde<br />

ein, dass "das Bundesgericht im Bereich der subsidiären Verfassungsbeschwerde<br />

seine restriktive Praxis bei der Zulässigkeit von Willkürrügen, der Rügen wegen ungleicher<br />

Rechtsanwendung (...) weiterführen" könne (RAINER J. SCHWEIZER, Die subsidiäre<br />

Verfassungsbeschwerde nach dem neuen Bundesgerichtsgesetz, in: Reorganisation der Bundesrechtspflege,<br />

a.a.O., S. 242), oder heben hervor, dass auf eine gesetzgeberische Lösung<br />

verzichtet worden sei, der Umfang des Rechtsschutzes nach der gesetzgeberischen Vorstellung<br />

aber im Wesentlichen dem Status quo entspreche (PETER KARLEN, Das neue Bundesgerichtsgesetz,<br />

Die wesentlichen Neuerungen und was sie bedeuten, Basel 2006, S. 58 Fn.<br />

219). Für mehrere Autoren scheint es klar zu sein, dass die restriktive Legitimationspraxis<br />

unter der Herrschaft des neuen Rechts beizubehalten sei (TARKAN GÖKSU, Die Beschwerden<br />

ans Bundesgericht, St. Gallen 2007, S. 77; HEINRICH KOLLER, Grundzüge der neuen<br />

Bundesrechtspflege und des vereinheitlichten Prozessrechts, in: Reorganisation der Bundesrechtspflege,<br />

a.a.O., S. 41 ff.; HANSJÖRG SEILER, Stämpflis Handkommentar zum Bundesgerichtsgesetz<br />

[BGG], Bern 2007, Rz. 10-16 zu Art. 115 BGG, S. 491 f.; KARL SPÜH-<br />

LER/ANNETTE DOLGE/DOMINIK VOCK, Kurzkommentar zum Bundesgerichtsgesetz [BGG],<br />

Zürich/St. Gallen 2006, Kommentar zu Art. 115 BGG; ALAIN WURZBURGER, La nouvelle<br />

organisation judiciaire fédérale, JdT 2005 I S. 646 f.; derselbe, Présentation générale et<br />

système des recours, in: La nouvelle loi sur le Tribunal fédéral, Publication CEDIDAC 71,<br />

Lausanne 2007, S. 23). Hinzuweisen ist auch auf die Autoren, die bereits mit der bundesgerichtlichen<br />

Rechtsprechung zu Art. 88 OG im Prinzip einverstanden waren (ETIENNE GRISEL,<br />

Le recours au Tribunal fédéral pour inégalité, arbitraire ou discrimination - La question de l'intérêt<br />

juridiquement protégé [ATF 126 I 81], in: La mise en oeuvre et la protection des droits,<br />

Recueil des travaux publiés par la Faculté de droit de l'Université de Lausanne et le Journal<br />

des Tribunaux à l'occasion du congrès de la Société Suisse des Juristes tenu à Lausanne les<br />

7 et 8 juin 2002 en coopération avec la Fédération Suisse des Avocats, S. 150 ff.; CHRIS-<br />

TOPH ROHNER, in: Bernhard Ehrenzeller/Philippe Mastronardi/Rainer J. Schweizer/Klaus A.<br />

Vallender [Hrsg.], Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Zürich/Genf/Basel<br />

2002, Rz. 25-32 zu Art. 9 BV).<br />

5.3 Die Frage nach der Ausgestaltung der Legitimation zur Willkürbeschwerde lässt sich<br />

nach dem Gesagten nicht allein durch Auslegung der Verfassung bzw. von Art. 9 BV beantworten;<br />

eine strikt verfassungsrechtliche Sichtweise greift zu kurz. Massgebend für das<br />

Verständnis von Art. 115 lit. b BGG sind die bereits erwähnten, mit der Umgestaltung des<br />

gesamten Rechtsschutzsystems (Revision der Verfahrensordnung für das Bundesgericht,<br />

Schaffung des Bundesverwaltungs- und des Bundesstrafgerichts, Rechtsweggarantie gemäss<br />

Art. 29a BV) angestrebten Ziele. Dabei stehen das Bedürfnis nach Entlastung des Bundesgerichts<br />

einerseits und dasjenige nach Beibehaltung bzw. Verwesentlichung des Rechtsschutzes<br />

andererseits in einem Spannungsverhältnis.<br />

Zur Beurteilung der Qualität des Rechtsschutzes ist nebst dem Umfang der Zulässigkeit von<br />

Rechtsmitteln ans Bundesgericht auch die in Art. 29a BV statuierte Rechtsweggarantie zu<br />

beachten, welche spätestens nach Ablauf der den Kantonen angesetzten zweijährigen Anpassungsfrist<br />

demnächst Geltung erlangt (vgl. Art. 130 Abs. 3 BGG). Sie hat zur Folge, dass<br />

auch in den bundesgerichtlicher Überprüfung entzogenen Streitfällen nunmehr, soweit es<br />

sich um justiziable Materien handelt, in jedem Fall zumindest der Zugang zu einem unteren<br />

bzw. zu einem kantonalen Gericht offensteht. In vielen Kantonen war dies namentlich im Be-<br />

- 138 -


eich ausländerrechtlicher Bewilligungen ohne Rechtsanspruch bisher nicht der Fall. Was den<br />

Zugang zum Bundesgericht selber betrifft, hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des<br />

ordentlichen Rechtsmittels im öffentlichen Recht ausgedehnt (vorne E. 2.1). Zugleich hat er<br />

die Legitimation zur subsidiären Verfassungsbeschwerde - bewusst - enger gefasst als für die<br />

Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten; wenn die diesbezüglich spärlichen<br />

Materialien hierfür auf die staatsrechtliche Beschwerde verweisen, macht dies Sinn: Das Erfordernis<br />

des rechtlich geschützten Interesses wirkte sich unter der Herrschaft von Art. 88<br />

OG letztlich nur bei Beschwerden wegen Verletzung des Willkürverbots oder des allgemeinen<br />

Rechtsgleichheitsgebots aus; bei anderen verfassungsmässigen Rechten ergab sich die Beschwerdeberechtigung<br />

aus deren Gehalt selber. Es fragt sich, worin der offensichtlich gewollte<br />

Unterschied zwischen Art. 89 Abs. 1 lit. b und c BGG einerseits und Art. 115 lit. b<br />

BGG andererseits überhaupt bestehen würde, wenn das rechtlich geschützte Interesse zur<br />

Erhebung der Willkürrüge nun direkt aus dem Gehalt des Willkürverbots resultieren sollte.<br />

Dass - anders als bei der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten - nur die Verletzung<br />

verfassungsmässiger Rechte gerügt werden kann, ergibt sich bereits aus Art. 116<br />

BGG und hat mit der Beschränkung des Beschwerderechts nichts zu tun. Nichts gewinnen<br />

für die Auslegung von Art. 115 lit. b BGG lässt sich aus dem Umstand, dass auch das Recht<br />

zur Beschwerdeführung bei Beschwerden in Zivilsachen (Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG) und in<br />

Strafsachen (Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG) ein rechtlich geschütztes Interesse voraussetzt (zur<br />

Ausgangslage für diese Legitimationsbestimmungen s. Botschaft, BBl 2001 S. 4312 bzw.<br />

4138; ferner CHRISTOPH AUER, a.a.O., S. 199 und 201).<br />

6.1 In Bezug auf die Ausnahmekataloge zu den drei Einheitsbeschwerden ist der Zusammenhang<br />

zwischen diesen und der subsidiären Verfassungsbeschwerde zu beachten. Keine<br />

Probleme ergeben sich hinsichtlich der Ausschlussgründe, die am Streitwert anknüpfen. Anders<br />

verhält es sich dagegen bei jenen Tatbeständen, wo das Gesetz die Unzulässigkeit des<br />

ordentlichen Rechtsmittels vom Fehlen eines Rechtsanspruches abhängig macht (Art. 83 lit.<br />

c Ziff. 2 BGG: ausländerrechtliche Bewilligungen, auf die weder das Bundesrecht noch das<br />

Völkerrecht einen Anspruch einräumt; Art. 83 lit. d Ziff. 2 BGG: kantonale Entscheide über<br />

Bewilligungen auf dem Gebiet des Asyls, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht<br />

einen Anspruch einräumt; Art. 83 lit. k BGG: Entscheide betreffend Subventionen, auf<br />

die kein Anspruch besteht. Auch Art. 83 lit. m BGG, der die Beschwerde gegen Entscheide<br />

über die Stundung oder den Erlass von Abgaben ausschliesst, beruht auf dem Gedanken,<br />

dass es diesbezüglich nach vielen Steuergesetzen an einem Rechtsanspruch gebricht).<br />

An einem Rechtsanspruch fehlt es dann, wenn keine gesetzliche Norm die Voraussetzungen<br />

der Bewilligungserteilung (bzw. der Gewährung eines anderen Vorteils) näher regelt und<br />

diesbezügliche Kriterien aufstellt. Ohne eine solche Bestimmung aber lässt sich kaum eine<br />

fehlerhafte Anwendung materiellen Rechts rügen. Selbst wenn das ordentliche Rechtsmittel<br />

zulässig wäre, könnte daher als Bundesrechtsverletzung letztlich bloss die Verletzung des<br />

Willkürverbots und des allgemeinen Rechtsgleichheitsgebots geltend gemacht werden. Dürfte<br />

der Streit auch ohne Vorliegen eines Rechtsanspruchs durch Anrufung des Willkürverbots mit<br />

subsidiärer Verfassungsbeschwerde an das Bundesgericht weitergezogen werden, könnte<br />

dieses in praktisch gleichem Umfang angerufen werden wie mit dem - unzulässigen - ordentlichen<br />

Rechtsmittel. Es würde mit dem Zweck der am Fehlen eines Rechtsanspruchs anknüpfenden<br />

Ausschlussgründe schlecht harmonieren, wenn ein negativer Entscheid mit subsidiärer<br />

Verfassungsbeschwerde allein wegen Verletzung des Willkürverbots beim Bundesgericht<br />

angefochten werden könnte. Die Zulassungsschranke würde auf diese Weise praktisch unterlaufen<br />

und die für diese Rechtsgebiete angestrebte Entlastung des Bundesgerichts weitgehend<br />

in Frage gestellt, ohne dass für den Rechtsschutz der Betroffenen viel gewonnen wäre<br />

(zum vermeintlichen Rechtsschutzgewinn BGE 121 I 267 E. 3e S. 271; s. auch HANSJÖRG<br />

- 139 -


SEILER, a.a.O., N. 15 zu Art. 115 BGG). Wichtig ist dabei, dass, wie nachstehend dargelegt,<br />

trotz restriktiver Legitimationspraxis zur subsidiären Verfassungsbeschwerde ein weit reichender<br />

Rechtsschutz zur Verfügung steht. Davon, dass die subsidiäre Verfassungsbeschwerde<br />

im Bereich des öffentlichen Rechts weitgehend ihrer Substanz beraubt würde (so<br />

ULRICH ZIMMERLI, a.a.O., S. 301 f.), kann keine Rede sein.<br />

6.2 Fehlt einer Partei die Legitimation zur Geltendmachung der Verletzung des Willkürverbots,<br />

schliesst dies die Rüge der Verletzung anderer verfassungsmässiger Rechte, die nach<br />

ihrem Gehalt einer Partei unmittelbar eine rechtlich geschützte Position verschaffen, nicht<br />

aus. So kann, wie schon bisher bei fehlender Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde<br />

in der Sache selbst, in jedem Fall die Verletzung von Parteirechten gerügt werden, deren<br />

Missachtung auf eine formelle Rechtsverweigerung hinausläuft; Art. 115 lit. b BGG erlaubt<br />

auch bei restriktiver Auslegung die Weiterführung der so genannten "Star-Praxis" (BGE 114<br />

Ia 307 E. 3c S. 312 f.). So wird etwa eine Gehörsverweigerung bzw. eine formelle Rechtsverweigerung<br />

gerügt werden können, wenn der angefochtene Entscheid keine Begründung<br />

enthält. Auch die von der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleisteten Verfahrensgarantien<br />

(wie Art. 6 EMRK) können geltend gemacht werden, soweit sie in den Sachgebieten,<br />

für welche das ordentliche Rechtsmittel wegen Fehlens von Rechtsansprüchen ausgeschlossen<br />

ist, Anwendung finden. Für ausländerrechtliche Bewilligungen ist besonders Art.<br />

8 EMRK von Bedeutung. Die Verweigerung einer Bewilligung kann bei gewissen Konstellationen<br />

auf eine Verletzung des durch diese Konventionsnorm geschützten Rechts auf Achtung<br />

des Familien- oder Privatlebens hinauslaufen; diesfalls erweist sich Art. 8 EMRK als Norm,<br />

die einen Anspruch auf eine ausländerrechtliche Bewilligung verschafft (beispielhaft BGE 130<br />

II 281). Der Ausschlussgrund von Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG kommt dann nicht zum Tragen,<br />

und gegen die Bewilligungsverweigerung steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten<br />

offen. Das Bundesgericht prüft, wenn Art. 8 EMRK ins Spiel gebracht wird,<br />

regelmässig schon bei der Eintretensfrage, ob diese Konventionsnorm bei Berücksichtigung<br />

der tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalles für den geltend gemachten Anspruch von<br />

Belang ist. Trifft dies nicht zu und erklärt das Bundesgericht das ordentliche Rechtsmittel gestützt<br />

auf Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG als unzulässig, sodass nur die subsidiäre Verfassungsbeschwerde<br />

als bundesrechtliches Rechtsmittel bleibt, stellt sich die Frage einer allfälligen Verletzung<br />

von Art. 8 EMRK nicht (mehr) und bietet auch eine restriktive Handhabung von Art.<br />

115 lit. b BGG keine Probleme. Nicht anders verhält es sich grundsätzlich hinsichtlich anderer<br />

konkreter verfassungsmässiger Rechte, aus denen der Ausländer im Hinblick auf die Bewilligungserteilung<br />

rechtlich geschützte Interessen ableiten will. Auch eine Verletzung des Diskriminierungsverbots<br />

gemäss Art. 8 Abs. 2 BV wird bei Fehlen der Legitimation zur Willkürrüge<br />

- genügende Substantiierung vorausgesetzt - grundsätzlich immer angerufen werden<br />

können (BGE 129 I 217 für ordentliche Einbürgerungen), gegebenenfalls wiederum schon im<br />

Rahmen der Eintretensfrage zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (vgl.<br />

betreffend Art. 100 Abs. 1 lit. b OG BGE 126 II 377 E. 6 S. 392 ff., s. auch die übrigen Erwägungen<br />

hinsichtlich anderer verfassungsmässiger Rechte). Schliesslich ist in diesem Zusammenhang<br />

nochmals auf die in Art. 29a BV statuierte Rechtsweggarantie hinzuweisen.<br />

Der Rechtsuchende ist auch bei einer restriktiven Auslegung der Legitimationsvorschrift von<br />

Art. 115 lit. b BGG nicht schutzlos.<br />

6.3 Sowohl die Materialien wie auch die mit der Revision der Bundesrechtspflege verbundenen<br />

Zielsetzungen sowie die anzustrebende Konkordanz mit den verschiedenen in Art. 83<br />

BGG enthaltenen Ausschlussgründen führen zum Schluss, dass die Legitimationsvorschrift<br />

von Art. 115 lit. b BGG im Sinne der bisherigen Praxis zu interpretieren ist. Kantonale Entscheide,<br />

für welche Art. 83 BGG die Weiterziehbarkeit an das Bundesgericht vom Vorliegen<br />

eines Rechtsanspruchs abhängig macht, können bei Fehlen eines solchen nicht allein gestützt<br />

- 140 -


auf das Willkürverbot mittels subsidiärer Verfassungsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten<br />

werden.<br />

7. Der Beschwerdeführer, der keinen Rechtsanspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung<br />

hat, macht einzig geltend, der die Bewilligungsverweigerung bestätigende kantonale<br />

Entscheid verletze das Willkürverbot. Zu dieser Rüge ist er nach Art. 115 lit. b BGG nicht legitimiert,<br />

und auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist nicht einzutreten.<br />

- 141 -


Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 6. Juli 2007<br />

(Beschwerdeurteil vom 17. Mai 2006, Vollzug der Wegweisung / Revision;<br />

D-4949/2006)<br />

Sachverhalt:<br />

A. Das vom Gesuchsteller am 22. November 2000 gestellte Asylgesuch lehnte das Bundesamt<br />

für Flüchtlinge (BFF; seit dem 1. Januar 2005 Bundesamt für Migration, BFM) mit Verfügung<br />

vom 25. April 2003 ab und verfügte die Wegweisung aus der Schweiz sowie deren<br />

Vollzug. Die vom Gesuchsteller mit Eingabe vom 26. Mai 2003 in Bezug auf den Wegweisungsvollzug<br />

erhobene Beschwerde wurde mit Urteil der ARK vom 17. Mai 2006 abgewiesen.<br />

B. Mit Eingabe vom 29. Juni 2006 liess der Gesuchsteller um Revision des Beschwerdeurteils<br />

vom 17. Mai 2006 ersuchen und beantragen, er sei als Flüchtling anzuerkennen und<br />

die Wegweisungsverfügung sei zu sistieren. Mit der Revisionseingabe wurden vom Rechtsvertreter<br />

die folgenden Dokumente eingereicht:<br />

"1. Arztzeugnis betreffend Bruder meines Mandanten (z.Z. im Gefängnis).<br />

2. Eine Bittschrift der Schwester meines Mandanten.<br />

3. Ein Antwortschreiben der afghanischen Menschenrechtskommission."<br />

C. Mit Zwischenverfügung vom 7. Juli 2006 stellte der damals zuständige Instruktionsrichter<br />

der ARK vorweg fest, dass das vorliegende Revisionsverfahren ausschliesslich auf die Frage<br />

der Durchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs beschränkt sei, da das ordentliche Beschwerdeverfahren<br />

nur diese Frage zum Gegenstand gehabt habe. Zudem wurde das Gesuch<br />

um einstweilige Aussetzung des Vollzugs der Wegweisung gutgeheissen und auf die Erhebung<br />

eines Kostenvorschusses verzichtet.<br />

D. Mit Eingabe vom 12. Juli 2006 liess der Gesuchsteller durch seinen Rechtsvertreter die<br />

folgenden Dokumente zu den Akten reichen:<br />

"1. Vier Bilder von Verwandten bzw. Familie meines Mandanten in ihrem langjährigen Wohnort<br />

in B./Iran aufgenommen vor den bekannten historischen Gebäuden etc.<br />

2. Zwei Bilder vom Grab des Vaters meines Mandanten (C.. gestorben am ) im Friedhof D. in<br />

B..<br />

3. Rechnung des Friedhofs (Original).<br />

4. Ein Arztrezept für den verstorbenen Vater.<br />

5. Diverse weitere medizinische Belege im Zusammenhang mit dem verstorbenen Vater<br />

(Krankengeschichte, an E. gestorben).<br />

6. Schulzeugnisse der Kinder F., G. und H. von I. Schule in B. (samt detaillierter Noten).<br />

7. Bestätigung für G. von "Tekwando" Vereinigung (m.W. eine koreanische Kampfsportart).<br />

8. Das Schreiben der Schwester und Antwortschreiben der afghanischen Organisation für<br />

Menschenrechte (Original, bereits eingereicht)."<br />

E. Mit Zwischenverfügung vom 15. Januar 2007 forderte der zuständige Instruktionsrichter<br />

des Bundesverwaltungsgerichts den Gesuchsteller auf, die eingereichten fremdsprachigen<br />

Beweismittel in eine Amtssprache übersetzen zu lassen.<br />

F. Mit Eingabe vom 1. Februar 2007 wurden die Übersetzungen vom Gesuchsteller nachgereicht.<br />

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:<br />

1.<br />

1.1 Das Bundesverwaltungsgericht ist seit dem 1. Januar 2007 zuständig zur Behandlung<br />

von Revisionsgesuchen gegen Beschwerdeurteile, welche – wie vorliegend - von der ARK<br />

gefällt wurden (vgl. Koordinationsentscheid des Plenums des Bundesverwaltungsgerichts<br />

- 142 -


vom 25. Juni 2007). Dabei entscheidet es in der Regel in der Besetzung mit drei Richtern<br />

oder Richterinnen (Art. 21 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht<br />

[VGG, SR 173.32]), sofern das Revisionsgesuch nicht in die Zuständigkeit<br />

des Einzelrichters beziehungsweise der Einzelrichterin fällt (vgl. Art. 23 VGG, Art. 111<br />

Abs. 2 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG, SR 142.31]).<br />

1.2 Der Gesuchsteller hat ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung des<br />

Beschwerdeurteils und ist daher zur Einreichung eines Revisionsgesuches legitimiert (Art. 48<br />

Abs. 1 Bst. c des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren<br />

[VwVG, SR 172.021] in analogiam; vgl. URSINA BEERLI-BONORAND, Die ausserordentlichen<br />

Rechtsmittel des Bundes und der Kantone, Zürich 1985, S. 65 ff.).<br />

1.3 Da in casu das BGG nicht zur Anwendung gelangt (vgl. Art. 45 VGG e contrario), gelten<br />

für den vorliegenden Fall die Bestimmungen von Art. 66 ff. VwVG (vgl. den vorgenannten<br />

Entscheid des Gerichtsplenums vom 25. Juni 2007).<br />

1.4 Der Gesuchsteller ruft den Revisionsgrund von Art. 66 Abs. 2 Bst. a VwVG an und zeigt<br />

ausserdem die Rechtzeitigkeit des Revisionsbegehrens auf. Die Eingabe erweist sich damit<br />

als hinreichend begründet. Auf das im Übrigen frist- und formgerecht eingereichte (vgl. Art.<br />

67 Abs. 3 VwVG i.V.m. Art. 52 VwVG) Revisionsgesuch ist deshalb – vorbehältlich der<br />

nachfolgenden Erwägung – einzutreten.<br />

1.5 Die Beschwerde vom 26. Mai 2003 richtete sich lediglich gegen den vom BFF mit Verfügung<br />

vom 25. April 2003 angeordneten Wegweisungsvollzug, womit das Beschwerdeverfahren<br />

auf die Prüfung des Vollzugs der Wegweisung beschränkt war. Daraus ergibt sich, dass<br />

sich auch das vorliegende Revisionsverfahren nur den Wegweisungsvollzug beschlagen kann.<br />

Auf das mit dem Revisionsbegehren gestellte Gesuch um Anerkennung des Gesuchstellers<br />

als Flüchtling ist daher nicht einzutreten.<br />

2.<br />

2.1 Mit dem ausserordentlichen Rechtsmittel der Revision wird die Unabänderlichkeit und<br />

Massgeblichkeit eines rechtskräftigen Beschwerdeentscheides angefochten, im Hinblick darauf,<br />

dass die Rechtskraft beseitigt wird und über die Sache neu entschieden werden kann<br />

(vgl. FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 229 f.).<br />

2.2 Gemäss Art. 66 Abs. 2 VwVG zieht die Beschwerdeinstanz ihren Beschwerdeentscheid<br />

auf Begehren einer Partei in Revision, wenn neue erhebliche Tatsachen oder Beweismittel<br />

vorgebracht werden (Bst. a), und wenn nachgewiesen wird, dass sie aktenkundige erhebliche<br />

Tatsachen oder bestimmte Begehren übersehen (Bst. b) oder gewisse verfahrensrechtliche<br />

Bestimmungen verletzt hat (Bst. c).<br />

2.3 Gemäss Art. 66 Abs. 2 Bst. a VwVG müssen die zur Stützung eines Revisionsgesuches<br />

geltend gemachten Tatsachen und eingereichten Beweismittel neu und erheblich sein. Revisionsweise<br />

geltend gemachte Tatsachen gelten lediglich dann als neu, wenn sie zur Zeit der<br />

Erstbeurteilung der Sache bereits vorhanden waren, jedoch erst nachträglich in Erfahrung gebracht<br />

werden konnten. Erheblich im Sinne von Art. 66 Abs. 2 Bst. a VwVG sind neue Tatsachen<br />

dann, wenn sie geeignet sind, die tatbeständliche Grundlage des angefochtenen Entscheides<br />

zu verändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einem anderen, für die<br />

gesuchstellende Partei günstigeren Ergebnis zu führen, mit anderen Worten, wenn sie den<br />

Ausgang des Verfahrens beeinflussen können. Revisionsweise eingereichte Beweismittel sind<br />

nur dann als neu und erheblich zu qualifizieren, wenn sie entweder neue erhebliche Tatsachen<br />

erhärten oder geeignet sind, dem Beweis von Tatsachen zu dienen, die zwar im früheren<br />

Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil der gesuchstellenden Partei unbewiesen<br />

geblieben sind, resp. wenn sie bei Vorliegen im ordentlichen Verfahren vermutlich zu einem<br />

anderen Entscheid geführt hätten. Beweismittel müssen selber - im Gegensatz zu geltend<br />

gemachten neuen Tatsachen - nicht notwendigerweise aus der Zeit vor dem Beschwerdeentscheid<br />

stammen, um neu im revisionsrechtlichen Sinn zu sein (vgl. zum Ganzen Entscheidun-<br />

- 143 -


gen und Mitteilungen der ARK [EMARK] 2002 Nr. 13 E. 5a, S. 113 f. mit Hinweisen auf<br />

Doktrin und Praxis).<br />

2.4 Gründe im Sinne von Art. 66 Abs. 2 VwVG gelten nicht als Revisionsgründe, wenn die<br />

Partei sie im Verfahren, das dem Beschwerdeentscheid voranging, geltend machen konnte<br />

(Art. 66 Abs. 3 VwVG). So bilden sowohl neue Tatsachen als auch neue Beweismittel nur<br />

dann einen Revisionsgrund, wenn die gesuchstellende Partei sie auch bei zumutbarer Sorgfalt<br />

im erstinstanzlichen Verfahren oder im ordentlichen Rechtsmittelverfahren nicht kennen oder<br />

beibringen konnte oder sie aus entschuldbaren Gründen nicht vorgebracht hat (EMARK 2002<br />

Nr. 13 E. 5a und b S. 113 f.).<br />

3.<br />

3.1 Der Gesuchsteller ruft den Revisionsgrund der neuen und erheblichen Tatsachen und<br />

Beweismittel an. Dazu reicht er im Verlaufe des Revisionsverfahrens verschiedene Dokumente<br />

zu den Akten, welche in der Folge auf entsprechende Aufforderung hin ins Deutsche übersetzt<br />

wurden. Hiezu wird im Wesentlichen geltend gemacht, die Aussagen des Gesuchstellers<br />

anlässlich des ordentlichen Verfahrens würden damit bewiesen. Dazu komme, dass die<br />

Familie im Iran und nicht in Afghanistan lebe, weshalb eine Wegweisung nach Afghanistan<br />

wegen des fehlenden Beziehungsnetzes nicht in Frage komme.<br />

3.2 Ein grosser Teil der eingereichten Dokumente datiert dabei vor Erlass des Beschwerdeurteils,<br />

so verschiedene ärztliche Belege der Universität für für medizinische Wissenschaften,<br />

Gesundheit und heilende Dienstleistungen der Provinz B., des Laboratoriums K. in B., des Laboratoriums<br />

für medizinische Diagnostik, der Klinik für Radiologie und Sonographie in L., des<br />

Laboratoriums des M.-Spitals in B., des medizinischen Laboratoriums des N. in B., des Laboratoriums<br />

für medizinische Wissenschaft in B., des Ministeriums für Gesundheitspflege, Heilung<br />

und personelle Angelegenheiten, alle aus den Jahren 2001 und 2002 datierend und den<br />

Vater des Gesuchstellers betreffend sowie ein Dokument der Vereinigung der grundmedizinischen<br />

Dienstleistungen aus dem Jahre 2005 den Bruder des Gesuchstellers betreffend,<br />

Schulzeugnisse aus dem Schuljahr 2000 – 2001 wie auch ein Zeugnis der Tewando-<br />

Föderation vom 10. Dezember 2005. Hiezu ist festzuhalten, dass sich weder den Akten entnehmen<br />

lässt noch in der Revisionseingabe dargelegt wird, weshalb es dem Gesuchsteller<br />

weder möglich noch zumutbar gewesen sein sollte, diese - teilweise Jahre vor Erlass des Beschwerdeurteils<br />

entstandenen - Dokumente nicht bereits im Verlaufe des ordentlichen Verfahrens<br />

zu beschaffen und beizubringen, zumal Asylgesuchsteller erfahrungsgemäss bestrebt<br />

sind, alle ihre Asylgründe dokumentierenden und als tauglich erscheinenden Beweismittel zu<br />

den Akten zu reichen. Zudem obliegt es einem Gesuchsteller im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht<br />

während des ordentlichen Verfahrens, allfällige Beweismittel vollständig zu bezeichnen<br />

und beizubringen (vgl. Art. 8 Abs. 1 Bst. d AsylG). Diese vor dem Beschwerdeurteil datierenden<br />

Dokumente sind somit als verspätet eingereicht im Sinne von Art. 66 Abs. 3 VwVG<br />

zu betrachten. Verspätete Vorbringen sind nur dann revisionsrechtlich beachtlich, wenn aufgrund<br />

dieser Vorbringen offensichtlich wird, dass dem Gesuchsteller im Heimat- oder Herkunftsstaat<br />

Verfolgung oder menschenrechtswidrige Behandlung droht. Dabei genügt es<br />

nicht, dass die neuen Tatsachen oder Beweismittel geeignet sein können, zu einem anderen<br />

Ergebnis als im vorangegangenen ordentlichen Asylverfahren zu führen, sondern sie müssen<br />

derart sein, dass sie bei rechtzeitigem Bekanntwerden zu einem anderen Beschwerdeentscheid,<br />

und zwar zu einer Gutheissung zumindest bezüglich der Frage der Zulässigkeit des<br />

Wegweisungsvollzugs geführt hätten (vgl. EMARK 1995 Nr. 9 E. 7g S. 89 f.). Diese Voraussetzung<br />

ist vorliegend nicht gegeben, zumal sich die oben erwähnten, als Beweismittel eingereichten<br />

und vor Erlass des Beschwerdeurteils datierenden Dokumente einerseits auf Lebensumstände<br />

der angeblichen Familienmitglieder des Gesuchstellers beziehen, welche im Iran<br />

wohnen sollen. Andererseits wurde im Beschwerdeurteil der ARK auch auf Unglaubhaftigkeit<br />

der geltend gemachten Inhaftierung des Bruders des Gesuchstellers sowie auf dessen Wohnsitz<br />

in Kabul geschlossen (vgl. Urteil der ARK vom ). Die in diesem Zusammenhang mit der<br />

- 144 -


Revisionsgeingabe eingereichte, das Jahr 2005 betreffende, ärztliche Bestätigung ist ihrem<br />

Inhalt nach nicht geeignet, die geltend gemachte Inhaftierung des Bruders mit überwiegender<br />

Wahrscheinlichkeit zu belegen, zumal dieser nicht zu entnehmen ist, der Bruder des Gesuchstellers<br />

würde sich im Gefängnis befinden. Es lässt sich allein mit diesem Arztzeugnis<br />

nicht widerlegen, dass sich der Bruder des Gesuchstellers und/oder andere Familienangehörige<br />

in O. aufhalten würden, kam doch die an den Gesuchsteller gerichtete Post ausschliesslich<br />

aus O.. Indessen ist dies vorliegend nicht von Belang, zumal die Frage des Wohnsitzes<br />

der Familie des Gesuchstellers nicht die hier interessierende Zulässigkeit des Wegweisungsvollzugs<br />

beschlägt. So wird nämlich damit nicht ersichtlich, inwiefern der geltend gemachte<br />

Umstand der angeblich im Iran lebenden Familienmitglieder den Gesuchsteller bei einer Rückkehr<br />

in sein Heimatland einer konkreten Gefahr einer gegen die EMRK verstossenden Behandlung<br />

aussetzen würde. Diese Dokumente sind mithin auch unter diesem Aspekt revisionsrechtlich<br />

nicht beachtlich.<br />

3.3 Sodann reichte der Gesuchsteller diverse Dokumente ein, welche entweder nach dem<br />

Beschwerdeurteil entstanden sind, so drei Zeugnisse der kulturellen Bildungsinstitution vom<br />

5. Juni 2006, oder mangels Datierung keinem genauen Zeitpunkt zugeordnet werden können<br />

(ein Schreiben der Bezirksorganisation für Gesundheit und Heilung der Provinz B., ein Dokument<br />

des Iran- Laboratoriums für medizinische Diagnostik, ein Bericht der Universität für medizinische<br />

Wissenschaften B. sowie vier Zeugnisse der kulturellen Bildungsinstitution für das<br />

Schuljahr 2005 - 2006) sich aber auf im ordentlichen Verfahren unbewiesen gebliebene Tatsachen<br />

beziehen und deshalb nach Ansicht des Gesuchstellers revisionsrechtlich erheblich<br />

sein sollen. Darüber hinaus werden zwei vor Erlasse des Beschwerdeurteils datierende Dokumente<br />

zu den Akten gereicht, nämlich ein Bericht der Menschenrechtsorganisation vom<br />

13. Mai 2006 sowie eine Bittschrift der Schwester des Gesuchstellers vom 10. Mai 2006,<br />

welche als revisionsrechtlich neu zu bezeichnen, jedoch – wie die oben erwähnten weiteren<br />

Dokumente auch – nicht als erheblich zu betrachten sind. Denn selbst wenn es sich bei den<br />

auf den Arzt- und Schulzeugnissen angeführten Personen tatsächlich um Familienangehörige<br />

des Gesuchstellers handeln sollte, führt dieser Umstand zu keiner für den Gesuchsteller anderen<br />

Beurteilung unter dem Blickwinkel der Unzulässigkeit und Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs,<br />

zumal der Gesuchsteller einerseits als Einzelperson in seinem Heimatland Afghanistan<br />

nicht mit Unterhaltspflichten für seine Familienangehörigen belastet wäre und andererseits<br />

bei der Reintegration in sein Heimatland auf die Hilfe seines in O. lebenden Bruders<br />

– dessen Inhaftierung, wie oben angeführt wird – unglaubhaft ist, zählen könnte. Nicht relevant<br />

ist zudem, dass die Schwester des Beschwerdeführers allenfalls nicht in O. lebt. Deren<br />

Klageschrift vom sowie das Antwortschreiben der afghanischen Organisation für Menschenrechte<br />

und Umweltschutz vom 13. Mai 2006 vermögen die behauptete Inhaftierung des Bruders<br />

des Gesuchstellers nicht zu belegen, da aus dem genannten Schreiben der Menschenrechtsorganisation<br />

nicht hervorgeht, dass sich jener tatsächlich wie behauptet im Gefängnis<br />

befindet. Schliesslich vermögen die sechs eingereichten Fotografien, welche die Familienmitglieder<br />

im Iran zeigen sollen, an der Sachlage auch nichts zu ändern. So ist nicht klar, wann<br />

die Fotografien aufgenommen wurden. Abgesehen davon wird damit nicht belegt, dass die<br />

Familie tatsächlich im Iran lebt. Aber auch wenn dies der Fall sein sollte, würde ein Wegweisungsvollzug<br />

des Gesuchstellers dadurch auch nicht unzulässig oder unzumutbar, wie oben<br />

dargelegt wurde. Die Fotografien sind daher ebenfalls als revisionsrechtlich unerheblich zu<br />

bezeichnen.<br />

4. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass kein revisionsrechtlich relevanter Sachverhalt<br />

dargetan ist. Das Gesuch um Revision des Urteils der ARK vom 17. Mai 2006 ist demzufolge<br />

abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. 5. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die<br />

Kosten von insgesamt Fr. 1'200.-- dem Gesuchsteller aufzuerlegen (Art. 37 VGG i.V.m. Art.<br />

63 Abs. 1 VwVG; Art. 16 Abs. 1 Bst. a VGG i.V.m. Art. 2 und 3 des Reglements über die<br />

- 145 -


Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 11. Dezember 2006<br />

[VGKE, SR 173.320.2]). (Dispositiv nächste Seite)<br />

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:<br />

1. Das Revisionsgesuch wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.<br />

2. Die Verfahrenskosten, bestimmt auf Fr. 1'200.--, werden dem Gesuchsteller auferlegt.<br />

Dieser Betrag ist innert 30 Tagen zu Gunsten der Gerichtskasse zu überweisen.<br />

3. Dieses Urteil geht an:<br />

- den Rechtsvertreter des Gesuchstellers, 2 Expl. (eingeschrieben; Beilagen: die im Revisionsverfahren<br />

eingereichten Originaldokumente und Fotografien, Einzahlungsschein)<br />

- die Vorinstanz, Abteilung Aufenthalt und Rückkehrförderung, mit den Akten (Ref.-Nr. N )<br />

- das Migrationsamt des Kantons<br />

- 146 -


Sachverhalte:<br />

1. Familiennachzug<br />

Der türkische Staatsangehörige B. (geb. 1952) reiste im Jahr 1988 in die Schweiz ein und<br />

ersuchte um Asyl. Nach Abweisung seines Gesuchs verliess er Ende 1992 die Schweiz. Am<br />

3. Mai 1994 heiratete er in der Türkei eine Schweizer Bürgerin. Im Juli 1994 reiste er erneut<br />

in die Schweiz ein, wo er eine Aufenthaltsbewilligung zum Verbleib bei der Ehefrau im Kanton<br />

Zürich erhielt. Im April 1998 erwarb er das Schweizer Bürgerrecht. B. hat zwei Söhne, C<br />

(geb. 1982) und D. Ferhat (geb. 1986), die aus einer früheren Ehe mit einer türkischen<br />

Staatsangehörigen stammen. Diese Ehe war im April 1994 rechtskräftig geschieden und die<br />

elterliche Gewalt über die beiden Kinder B. zugesprochen worden. Auf ein erstes Nachzugsgesuch<br />

von B. wurde seinen Söhnen im August 1995 eine Aufenthaltsbewilligung erteilt. D.<br />

kehrte etwa 20 Tage nach seiner Einreise in die Türkei zurück, C. nach rund anderthalb Jahren.<br />

Am 22. Juli 1999 stellte B. ein neues Nachzugsgesuch, welches die Fremdenpolizei mit<br />

Verfügung vom 8. Dezember 1999 abwies. Der Regierungsrat des Kantons Zürich trat auf<br />

den dagegen erhobenen Rekurs zunächst nicht ein. Auf Beschwerde hin wies das Verwaltungsgericht<br />

des Kantons Zürich den Regierungsrat an, über den Rekurs materiell zu befinden.<br />

Der Regierungsrat wies diesen am 14. November 2001 ab, was das Verwaltungsgericht<br />

am 13. März 2002 bestätigte. Die Vorinstanzen haben dabei unter anderem ausgeführt, die<br />

Familientrennung sei von den Betroffenen ursprünglich selbst freiwillig herbeigeführt worden<br />

und es sei gänzlich unglaubwürdig, dass die Kinder nun allein seien und keine Bezugs- oder<br />

Betreuungsperson mehr hätten. Aus den Angaben des Beschwerdeführers ergebe sich, dass<br />

die Betreuung der Kinder durch andere Personen erfolgt sei.<br />

B. hat mit Postaufgabe vom 7. Mai 2002 beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

eingereicht und Folgendes beantragt:<br />

"1. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 13. März 2002 sei aufzuheben.<br />

2. Das Migrationsamt des Kantons Zürich sei anzuweisen, den Söhnen C., geb. 1982 und<br />

D., geb. 1986, den Aufenthalt zum Verbleib bei ihrem Vater im Kanton Zürich zu bewilligen<br />

und ihnen eine Niederlassungsbewilligung zu erteilen.<br />

3. Eventuell sei die Sache zur Beweisergänzung an die Vorinstanz zurückzuweisen."<br />

- 147 -


Gesetzliche Grundlagen:<br />

Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) vom 26. März 1931<br />

Art. 17<br />

1 In der Regel wird die Behörde dem Ausländer, auch wenn er voraussichtlich dauernd im Lande bleibt,<br />

zunächst nur Aufenthalt bewilligen. Das Bundesamt für Zuwanderung, Integration und Auswanderung<br />

setzt im einzelnen Fall fest, von wann an frühestens die Niederlassung bewilligt werden darf.<br />

2 Ist dieser Zeitpunkt bereits festgelegt oder ist der Ausländer im Besitz der Niederlassungsbewilligung,<br />

so hat sein Ehegatte Anspruch auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, solange die<br />

Ehegatten zusammen wohnen. Nach einem ordnungsgemässen und ununterbrochenen Aufenthalt von<br />

fünf Jahren hat der Ehegatte ebenfalls Anspruch auf die Niederlassungsbewilligung. Ledige Kinder unter<br />

18 Jahren haben Anspruch auf Einbezug in die Niederlassungsbewilligung, wenn sie mit ihren Eltern<br />

zusammen wohnen. Die Ansprüche erlöschen, wenn der Anspruchsberechtigte gegen die öffentliche<br />

Ordnung verstossen hat.<br />

Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft<br />

und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit<br />

Anhang I<br />

Art. 3 Familienangehörige<br />

1 Die Familienangehörigen einer Person, die Staatsangehörige einer Vertragspartei ist und ein Aufenthaltsrecht<br />

hat, haben das Recht, bei ihr Wohnung zu nehmen. Der Arbeitnehmer muss für seine Familie<br />

über eine Wohnung verfügen, die in dem Gebiet, in dem er beschäftigt ist, den für die inländischen<br />

Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen entspricht; diese Bestimmung darf jedoch nicht zu<br />

Diskriminierungen zwischen inländischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmern aus der anderen Vertragspartei<br />

führen.<br />

2 Als Familienangehörige gelten ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit:<br />

a) der Ehegatte und die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder<br />

denen Unterhalt gewährt wird;<br />

b) die Verwandten und die Verwandten des Ehegatten in aufsteigender Linie, denen Unterhalt gewährt<br />

wird;<br />

c) im Fall von Studierenden der Ehegatte und die unterhaltsberechtigten Kinder. Die Vertragsparteien<br />

begünstigen die Aufnahme aller nicht unter den Buchstaben a, b und c genannten Familienangehörigen,<br />

denen der Staatsangehörige einer Vertragspartei Unterhalt gewährt oder mit denen er<br />

im Herkunftsland in einer häuslichen Gemeinschaft lebt.<br />

3 Für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis für Familienangehörige eines Staatsangehörigen einer Vertragspartei<br />

dürfen die Vertragsparteien nur folgende Unterlagen verlangen:<br />

a) die Ausweise, mit denen sie in ihr Hoheitsgebiet eingereist sind;<br />

b) eine von der zuständigen Behörde des Heimat- oder Herkunftsstaats ausgestellte Bescheinigung,<br />

in der das Verwandtschaftsverhältnis bestätigt wird;<br />

c) für Personen, denen Unterhalt gewährt wird, eine von der zuständigen Behörde des Heimat-<br />

oder Herkunftsstaats ausgestellte Bescheinigung, in der bestätigt wird, dass die in Absatz 1 genannte<br />

Person ihnen Unterhalt gewährt oder sie in diesem Staat mit ihr in einer häuslichen Gemeinschaft<br />

leben.<br />

4<br />

Die einem Familienangehörigen erteilte Aufenthaltserlaubnis hat die gleiche Gültigkeit wie die der<br />

Person, von der das Recht hergeleitet ist.<br />

- 148 -


5 Der Ehegatte und die Kinder einer Person mit Aufenthaltsrecht, die noch nicht 21 Jahre alt oder unterhaltsberechtigt<br />

sind, haben ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit das Recht auf Zugang zu einer Erwerbstätigkeit.<br />

6 Die Kinder eines Staatsangehörigen einer Vertragspartei dürfen ungeachtet dessen, ob er im Hoheitsgebiet<br />

der anderen Vertragspartei eine Erwerbstätigkeit ausübt oder keine Erwerbstätigkeit ausübt<br />

oder eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen<br />

des Aufnahmestaates, sofern sie in dessen Hoheitsgebiet wohnen, am allgemeinen Unterricht sowie<br />

an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Die Vertragsparteien unterstützen alle Bemühungen,<br />

durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen an diesem<br />

Unterricht bzw. dieser Ausbildung teilzunehmen.<br />

Fragen zur Falllösung:<br />

1) Wie beurteilen Sie die Frage des Eintretens auf die eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde?<br />

Prüfen sie die einzelnen Voraussetzungen und insbesondere<br />

das Vorliegen eines Ausschlussgrundes im Sinne des Negativkataloges von Art. 99<br />

ff. OG.<br />

2) Würde sich Ihre Einschätzung ändern, falls B. (nach Inkrafttreten der Justizreform)<br />

eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen würde? Hätte B.<br />

noch weitere Beschwerdemöglichkeiten?<br />

3) Inwiefern könnte Art. 17 ANAG, Art. 3 Anhang I FZA oder die EMRK bei der Frage<br />

der Eintretensvoraussetzungen relevant sein?<br />

4) Die Freizügigkeitsabkommen sind bloss anwendbar auf Sachverhalte, die einen<br />

transnationalen Charakter im Verkehr mit einem EU Staat betreffen. Inwiefern ist<br />

dies in casu problematisch? Welche grundrechtlichen Überlegungen können dazu<br />

angstellt werden?<br />

[2A.226/2002 / Familiennachzug]<br />

- 149 -


2. Lotterie « Umwelt und Entwicklung »<br />

Neun gesamtschweizerisch tätige Umweltschutz- und Entwicklungshilfeorganisationen haben<br />

sich zwecks Beschaffung von Mitteln im Trägerverein "Lotterie Umwelt & Entwicklung"<br />

(nachfolgend: Trägerverein) zusammengeschlossen, welcher eine gesamtschweizerische Lotterie<br />

mit monatlicher Ziehung durchführen soll.<br />

Die Direktion für Soziales und Sicherheit des Kantons Zürich erteilte am 25. April 2000 dem<br />

Trägerverein die Bewilligung für die Durchführung einer Lotterie im Kanton Zürich unter verschiedenen<br />

Auflagen.<br />

Die Interkantonale Landeslotterie focht die Erteilung der Bewilligung am 25. Mai 2000 beim<br />

Regierungsrat an. Dieser wies den Rekurs mit Entscheid vom 6. September 2000 ab, soweit<br />

er darauf eintrat. Gegen diesen Entscheid des Regierungsrates erhob die Interkantonale Landeslotterie<br />

Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, welches diese mit Urteil<br />

vom 8. Dezember 2000 abwies.<br />

Gesetzliche Grundlagen:<br />

Bundesgesetz betreffend die Lotterien und die gewerbsmässigen Wetten vom 8. Juni 1923<br />

Art. 1<br />

Lotterieverbot<br />

1 Die Lotterien sind verboten.<br />

2 Als Lotterie gilt jede Veranstaltung, bei der gegen Leistung eines Einsatzes oder bei Abschluss eines<br />

Rechtsgeschäftes ein vermögensrechtlicher Vorteil als Gewinn in Aussicht gestellt wird, über dessen<br />

Erwerbung, Grösse oder Beschaffenheit planmässig durch Ziehung von Losen oder Nummern oder<br />

durch ein ähnliches auf Zufall gestelltes Mittel entschieden wird.<br />

Art. 5<br />

A. Gemeinnützige Lotterien nach Bundesrecht<br />

I. Im Ausgabekanton<br />

1. Bewilligung<br />

1<br />

Lotterien, die einem gemeinnützigen oder wohltätigen Zwecke dienen, können für das Gebiet des<br />

Ausgabekantons von der zuständigen kantonalen Behörde bewilligt werden.<br />

2<br />

In allen Fällen aber sind Lotterien zur Erfüllung öffentlichrechtlicher gesetzlicher Verpflichtungen von<br />

der Bewilligung ausgeschlossen.<br />

Art. 16<br />

B. Beschränkung der gemeinnützigen Lotterien durch kantonales Recht<br />

Die Kantone sind berechtigt, die gemeinnützigen oder wohltätigen Zwecken dienenden Lotterien in<br />

weitergehendem Masse einzuschränken oder ganz auszuschliessen.<br />

- 150 -


Gesetz über den Rechtsschutz in Verwaltungssachen des Kantons Zürich (vom 24. Mai 1959)<br />

§ 21<br />

Zulassung zum Rekurs<br />

zum Rekurs ist berechtigt,<br />

a) wer durch die angefochtene Anordnung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren<br />

Änderung oder Aufhebung hat;<br />

b) eine Gemeinde, eine andere Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts zur Wahrung<br />

der von ihr vertretenen schutzwürdigen Interesse<br />

Fragen zur Falllösung<br />

1) Welches Rechtsmittels kann sich die Interkantonale Landeslotterie bedienen, um<br />

den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich anzufechten (prüfen<br />

Sie auch auf Basis der Justizreform)?<br />

2) Welches sind die hierfür erforderlichen Voraussetzungen? Wie beurteilen Sie derenVorliegen<br />

im vorliegenden Fall?<br />

3) Welches ist die Bedeutung von § 21 des zürcherischen Gesetzes über den Rechtsschutz<br />

in Verwaltungssachen und wie artikuliert sich diese Bestimmung gegenüber<br />

der entsprechenden Norm auf Bundesebene?<br />

4) Inwiefern hat die Qualifizierung der Lotteriebewilligung Einfluss auf die Beurteilung<br />

der Beschwerdelegitimation?<br />

5) Müsste in einem Gebiet, auf dem freier Wettbewerb herrscht, die Beurteilung anders<br />

ausfallen? Was hielten Sie von einer solchen Unterscheidung?<br />

[BGE 127 II 268 / Lotterie « Umwelt und Entwicklung »]<br />

- 151 -


3. Waldabstand<br />

Am 29. April 1998 stellte der Gemeinderat der Einwohnergemeinde Meiringen beim Regierungsstatthalteramt<br />

des Amtsbezirks Oberhasli das Gesuch um Erstellung einer neuen Umfahrungsstrasse<br />

zum Kieswerk Funtenen mit Einfahrt in die Brünigstrasse auf den in der<br />

Landwirtschaftszone gelegenen Parzellen Nr. 106, 165, 221 und 1568. Das Baugesuch umfasste<br />

gleichzeitig ein Gesuch zum Bauen in Waldnähe nach der Waldgesetzgebung und um<br />

Bewilligung einer Ausnahme nach Art. 24 des Raumplanungsgesetzes des Bundes vom 22.<br />

Juni 1979. Mit Verfügung vom 1. Juni 1999 genehmigte das Amt für Gemeinden und<br />

Raumordnung die Überbauungsordnung und erteilte für das Bauvorhaben eine Gesamtbewilligung,<br />

welche unter anderem eine Ausnahmebewilligung für Bauten in Waldesnähe betreffend<br />

das Strassenstück auf Parzelle Nr. 106 bis zu einem Abstand von null Metern enthielt. Die<br />

Einsprache von T. und M., Eigentümer aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Überbauungsgebietes,<br />

werden vom Amt abgewiesen, soweit es darauf eintrat. Gegen den Genehmigungs-<br />

und Gesamtentscheid führten T. und M. Verwaltungsbeschwerde bei der Justiz-,<br />

Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern. Diese wies die Einsprache mit Entscheid<br />

vom 9. Dezember 1999 ab. Gegen diesen Entscheid erhoben T. und M. Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern.<br />

In vom Verwaltungsgericht angeforderten Amtsbericht vom 6. April 2000 führt die Waldabteilung<br />

Oberland Ost des Amtes für Wald des Kantons Bern aus, der Einfluss von Strassen im<br />

Waldabstandsbereich auf den Wald sei bedeutend geringer als der von Hochbauten. Während<br />

für Wohnbauten in günstiger Lage zum Wald Waldabstände unter 15 m im Allgemeinen nicht<br />

bewilligt würden, sei ein minimaler Waldabstand von 2 m für Erschliessungsstrassen üblich.<br />

Das fragliche Strassenprojekt liege im ebenen Gebiet. Im Gegensatz zu Hanglagen seien daher<br />

die Aushubarbeiten minimal und die Wurzelverletzung geringer. Zudem bestehe ein grosser<br />

Teil des fraglichen Waldrandes aus Sträuchern, deren Wurzeln meist weniger weit reichten<br />

als die von hochstämmigen Bäumen. Ein Waldabstand von null Meter sei in diesem Fall<br />

insbesondere auch in Anbetracht der im Kanton Bern geltenden Definition des Waldrandes<br />

verantwortbar. Aufgrund dieser Überlegungen wies das Verwaltungsgericht des Kantons<br />

Bern die erhobene Beschwerde mit Urteil vom 5. Oktober 2000 ab, soweit es darauf eintrat.<br />

Bundesgesetz über den Wald (WaG) vom 4. Oktober 1991<br />

Art. 17 Waldabstand<br />

1<br />

Bauten und Anlagen in Waldesnähe sind nur zulässig, wenn sie die Erhaltung, Pflege und Nutzung<br />

des Waldes nicht beeinträchtigen.<br />

2<br />

Die Kantone schreiben einen angemessenen Mindestabstand der Bauten und Anlagen vom Waldrand<br />

vor. Sie berücksichtigen dabei die Lage und die zu erwartende Höhe des Bestandes.<br />

- 152 -


Kantonales Waldgesetz (KWaG) des Kantons Bern<br />

vom 5. Mai 1997<br />

Art. 25 Waldabstand 1. Grundsatz<br />

1<br />

Die in der Verordnung bezeichneten Bauten und Anlagen haben einen Abstand zum Wald von mindestens<br />

30 Meter einzuhalten.<br />

2<br />

Neuaufforstungen haben einen Abstand von 30 Meter zu Bauten und Bauzonen einzuhalten.<br />

Art. 26 2. Ausnahmen<br />

1<br />

Die zuständige Stelle der Volkswirtschaftsdirektion kann beim Vorliegen besonderer Verhältnisse<br />

Ausnahmen bewilligen.<br />

2<br />

Liegen besondere Verhältnisse vor, kann der Waldabstand in Überbauungsordnungen und Baureglementen<br />

mit Zustimmung der zuständigen Stelle der Volkswirtschaftsdirektion mittels Baulinien verkürzt<br />

werden.<br />

3<br />

Diese Stelle kann ihre Zustimmung davon abhängig machen, dass die Gemeinde mit den betroffenen<br />

Waldeigentümerinnen und Waldeigentümern eine dauernde Regelung für die Waldrandpflege getroffen<br />

hat<br />

Fragen zur Falllösung<br />

1) Welches Rechtsmittel bietet sich den Beschwerdeführern gegen das Urteil des<br />

Berner Verwaltungsgerichts an? Prüfen Sie auch auf Basis der Justizreform.<br />

2) Wie ist das Vorliegen der hierfür erforderlichen Voraussetzungen zu beurteilen?<br />

[1A.293/2000 (=ZBL 2002 S. 485-490) / Waldabstand]<br />

- 153 -


VPB 67.28 / UMTS Konzession<br />

(Entscheid der Eidgenössischen Kommunikationskommission vom 25. Juni 2002)<br />

Fernmeldewesen. Änderung einer Konzession für Mobilfunk der 3. Generation (UMTS), welche<br />

mit einer Versorgungsauflage bis Ende 2002 erteilt worden war.<br />

- Die Kommunikationskommission ist gemäss Art. 5 FMG in Verbindung mit Art. 10 Abs. 1<br />

FMG für die Änderung der Konzession zuständig.<br />

- Veränderte tatsächliche Verhältnisse ergeben sich vorliegend daraus, dass wider Erwarten<br />

sowohl der technische Stand der Endgeräte als auch die verfügbaren Dienste noch nicht in<br />

genügendem Masse vorhanden sind, um die Netzabdeckung in der bei der Konzessionserteilung<br />

festgelegten Frist zu verlangen.<br />

- Ein wichtiges öffentliches Interesse an einer Konzessionsänderung besteht vorliegend darin,<br />

dass beim Markteintritt von UMTS-basierenden Diensten ein ausgereiftes, technisch genügend<br />

ausgetestetes und markt- bzw. diensterelevantes Netz aufgebaut ist und einschliesslich<br />

der zur Nutzung notwendigen markttauglichen Endgeräte zur Verfügung steht.<br />

Zusammenfassung des Sacherverhalts:<br />

Modul XI<br />

Monopole und Konzessionen<br />

Am 6. Dezember 2000 wurden die vier UMTS[80]- Konzessionen durch die Eidgenössische<br />

Kommunikationskommission (ComCom) versteigert. Der Konzessionärin Z. wurde anlässlich<br />

der Auktion zur Vergabe der 4 UMTS- Konzession eine Konzession zugeschlagen. Die entsprechende<br />

Konzession Nr. X für das Erbringen von Fernmeldediensten über ein landesweites<br />

digitales zellulares Mobilfunknetz auf der Basis des UMTS-Standards gemäss den Bedingungen<br />

für IMT-2000[81]-Familie der ITU-R[82] in der Schweiz wurde der Konzessionärin Z. am<br />

31. Januar 2001 erteilt.<br />

Bezüglich der Versorgungsauflage war in den Ausschreibungsunterlagen ursprünglich vorgesehen,<br />

dass sich die Konzessionärin verpflichtet, «bis am 31.12.2004 mindestens 50% der<br />

Bevölkerung der Schweiz mit IMT-2000/UMTS-Diensten, die mit eigener IMT-2000/UMTS-<br />

Netzinfrastruktur erbracht werden, zu versorgen.» Die definitive Konzession wurde in<br />

Ziff. 3.3.3 durch eine Staffelung ergänzt. Die Ergänzung lautete dahingehend, dass bis Ende<br />

2002 20% der Bevölkerung der Schweiz mit IMT-2000/UMTS-Diensten, die mit eigener IMT-<br />

2000/UMTS Netzinfrastruktur erbracht werden, versorgt werden müssten. Die ursprüngliche,<br />

50%-ige Abdeckung der Bevölkerung bis Ende 2004 wurde beibehalten. Die Zwischenstufe<br />

von 20% wurde insbesondere in die Konzession aufgenommen, um sicherzustellen, dass die<br />

Aufsichtsbehörden bei sich durch die Konzessionärinnen ergebenden Verzögerungen rechtzei-<br />

- 154 -


tig und nicht erst Ende 2004 einschreiten können. Die Konzession ist unbestritten in Rechtskraft<br />

erwachsen.<br />

Bei der Konzessionerteilung ging man anfänglich von der rechtzeitigen Verfügbarkeit von<br />

UMTS-Netzwerkinfrastruktur, Terminals sowie spezifischer UMTS-Dienste aus. Später mussten<br />

die anfänglich zu positiv ausgefallenen Prognosen revidiert werden. Nach Überprüfung<br />

der aktuellen Situation stellte die ComCom fest, dass insbesondere Zweifel bezüglich der<br />

termingerechten Verfügbarkeit der für den Markteintritt wichtigen «multimode» Endgeräten<br />

(d. h. alle drei Mobilfunkstandards [GSM[83]/GPRS[84]/UMTS] unterstützende Endgeräte)<br />

bestehen. Zudem befindet sich die Entwicklung von Diensten und Anwendungen, welche die<br />

Möglichkeiten von UMTS ausschöpfen, zur Zeit noch in der Anfangsphase und eine entsprechende<br />

Nachfrage hat sich noch nicht manifestiert.<br />

Aufgrund der veränderten Verhältnisse im Bereich des Marktes der dritten Mobilfunkgeneration<br />

(3G-Telekommunikation) erklärte sich deshalb die ComCom am 18. April 2002 bereit,<br />

eine Flexibilisierung der Versorgungsauflagen der UMTS- Konzession zu prüfen und auf die<br />

Zwischenstufe von 20% Bevölkerungsabdeckung per Ende 2002 zu verzichten. Gleichzeitig<br />

sollte aber eine spezifische, zusätzliche Berichterstattungspflicht bezüglich des Voranschreitens<br />

der Netzaufbauarbeiten eingeführt werden. Das BAKOM hat den UMTS-<br />

Konzessionärinnen die entsprechende Konzessionsänderung im Rahmen der Gewährung des<br />

rechtlichen Gehörs mit Schreiben vom 1. Mai 2002 zur Stellungnahme unterbreitet. Sämtliche<br />

Konzessionärinnen haben ihre Stellungnahmen fristgerecht bis zum 17. Mai 2002 beim<br />

BAKOM eingereicht.<br />

Aus den Erwägungen:<br />

2.1. Formelles<br />

Die Konzessionärin Z. ist gestützt auf Art. 4 und Art. 22 ff. des Fernmeldegesetzes vom<br />

30. April 1997 (FMG, SR 784.10) Inhaberin der UMTS-Konzession Nr. X. In der vorliegenden<br />

Verfügung steht eine Änderung der in der vorgenannten Konzessionenthaltenen Versorgungsauflage<br />

zur Diskussion. Für Änderungen einzelner Bestimmungen der Konzession vor<br />

Ablauf ihrer Dauer ist gemäss Art. 10 FMG die Konzessionsbehörde zuständig. Konzessionsbehörde<br />

ist in casu die Eidgenössische Kommunikationskommission (Art. 5 FMG).<br />

2.2 Materielles<br />

2.2.1 Gesetzliche Grundlage<br />

Gemäss Art. 10 Abs. 1 FMG kann die Konzessionsbehörde «einzelne Bestimmungen der<br />

Konzession vor Ablauf ihrer Dauer veränderten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen<br />

anpassen, wenn die Änderung zur Wahrung wichtiger öffentlicher Interessen notwendig ist.»<br />

Art. 10 Abs. 2 FMG hält weiter fest, dass die Konzessionärin angemessen entschädigt wird,<br />

wenn die Änderung der Konzession eine wesentliche Schmälerung der übertragenen Rechte<br />

bewirkt.<br />

2.2.2 Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse<br />

Vorliegend gilt es zu prüfen, ob sich im Sinne von Art. 10 Abs. 1 FMG die tatsächlichen oder<br />

rechtlichen Verhältnisse geändert haben und ob eine Änderung der heute geltenden Konzes-<br />

- 155 -


sionsbestimmungen zur Wahrung wichtiger öffentlicher Interessen notwendig ist und somit<br />

als gerechtfertigt erscheint.<br />

Veränderte tatsächliche Verhältnisse liegen dann vor, wenn sich der von der Konzessionsbehörde<br />

zugrunde gelegte Sachverhalt im Verlaufe der Zeit beispielsweise in technischer, politischer<br />

oder wirtschaftlicher Hinsicht anders entwickelt als dies anlässlich der Konzessionserteilung<br />

angenommen werden durfte und musste.<br />

Im Zeitpunkt der Vergabe der Konzessionen ging die ComCom davon aus, dass die Einführung<br />

der neuen UMTS-Infrastruktur sehr schnell vorangehen werde. Entsprechend positiv war<br />

auch die Stimmung auf dem Telekommunikationsmarkt und sie wurde durch entsprechende<br />

Aussagen seitens der Netzinfrastrukturanbieter und Geräteherstellern noch verstärkt. Im Verlaufe<br />

des Jahres 2001 zeichnete sich ab, dass diese Vorgaben zu euphorisch gewesen waren<br />

und entsprechend relativiert werden mussten. Auf Anfrage des Bundesamtes für Kommunikation<br />

(BAKOM) hin wurden bei den Infrastrukturherstellern Auskünfte über die Verfügbarkeit<br />

der Netzinfrastruktur wie auch von entsprechenden Endgeräten eingeholt. Die Anfragen ergaben,<br />

dass es zwar grundsätzlich technisch und organisatorisch möglich sein dürfte, die<br />

verlangte Netzabdeckung von 20% per Ende 2002 zu erreichen, jedoch Zweifel betreffend<br />

der termingerechten Verfügbarkeit der für den Markteintritt wichtigen «multimode» Endgeräten<br />

(GSM/GPRS/UMTS) bestehen. Zudem befindet sich die Entwicklung von Diensten und<br />

Anwendungen, welche die Möglichkeiten von UMTS ausschöpfen, noch in der Anfangsphase<br />

und die Entwicklung einer entsprechenden Marktnachfrage ist erst mit der Einführung leistungsfähiger,<br />

GPRS-basierender Dienste zu erwarten, die sich in Folge einer verspäteten<br />

kommerziellen Verfügbarkeit von leistungsfähigen GPRS-Endgeräten nur zögerlich entwickeln.<br />

Dementsprechend kann wohl auch kaum von einer eigentlichen Versorgung der Bevölkerung<br />

mit UMTS-basierenden Diensten die Rede sein.<br />

Aus den dargelegten Gründen ist zweifelsohne ersichtlich, dass der technische Stand der<br />

Endgeräte wie auch der verfügbaren Dienste in noch ungenügendem Masse vorangeschritten<br />

ist und der Kundennutzen im gegenwärtigen Zeitpunkt deshalb als noch gering qualifiziert<br />

werden muss. Es ist nicht zu erwarten, dass sich dies bis zum Jahresende 2002 wesentlich<br />

verändern wird. Die tatsächlichen Verhältnisse haben sich damit in der Zeitspanne vor der<br />

Konzessionvergabe und dem jetzigen Zeitpunkt massgeblich verändert. Mit einer derartigen<br />

Änderung wird die in Art. 10 Abs. 1 FMG verlangte Voraussetzung für eine Konzessionsänderung<br />

erfüllt.<br />

Änderungen rechtlicher Natur sind dann gegeben, wenn sich das objektive Recht seit der<br />

Konzessionserteilung geändert hat, sei dies durch Inkrafttreten neuer Gesetzes- oder Verordnungsbestimmungen.<br />

Vorliegend relevante Gesetzesänderungen sind nicht erfolgt. Inwiefern<br />

die Tatsache, dass im Zeitpunkt der Konzessionserteilung die Vollzugsinstrumente für die<br />

Anwendung der Verordnung vom 23. Dezember 1999 über den Schutz vor nichtionisierender<br />

Strahlung (NISV, SR 814.710) noch nicht definitiv festgelegt waren, eine solche Änderung<br />

der rechtlichen Verhältnisse darstellen könnte, kann hier offengelassen werden, da sich bereits<br />

die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben. Immerhin war zwar die NISV selber im<br />

Zeitpunkt der Konzessionserteilung bereits in Kraft, wichtige notwendige Vollzugsinstrumente<br />

(z. B. Messmethoden bzw. Messempfehlungen) für deren Anwendung lagen aber nur teilweise<br />

und nur in provisorischer, umstrittener Fassung vor. Dies führte mindestens zu einer<br />

Rechtsunsicherheit und zu einer zeitlichen Verzögerung bei den entsprechenden kantonalen<br />

Baubewilligungsbehörden.<br />

- 156 -


2.2.3 Öffentliches Interesse<br />

Zusätzlich zur oben erwähnten Voraussetzung einer Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen<br />

Verhältnisse ist erforderlich, dass die Konzessionsänderung der Wahrung wichtiger öffentlicher<br />

Interessen entspricht.<br />

Öffentliche Interessen sind Anliegen, welche die Öffentlichkeit (verstanden als Allgemeinheit)<br />

für schützenswert und verwirklichenswert erachtet. Die öffentlichen Interessen sind stets<br />

den zugehörigen Aufgabengesetzen zu entnehmen, wobei sie sich zumeist den Ziel- und<br />

Zweckartikeln des Gesetzes, mitunter aber auch spezifischen Umschreibungen oder Aufzählungen<br />

entnehmen lassen. Das Vorliegen eines bestimmten öffentlichen Interesses allein<br />

rechtfertigt staatliches Handeln noch nicht: Das öffentliche Interesse muss die entgegenstehenden<br />

(privaten oder öffentlichen) Interessen überwiegen. Ob dies der Fall ist, wird durch<br />

Interessenabwägung ermittelt (Tschannen / Zimmerli / Kiener; <strong>Allgemeines</strong> <strong>Verwaltungsrecht</strong>;<br />

Bern 2000; S. 101 ff.).<br />

Das FMG bezweckt gemäss Art. 1 Abs. 1 FMG, «der Bevölkerung und der Wirtschaft vielfältige,<br />

preiswerte, qualitativ hoch stehende sowie national und international konkurrenzfähige<br />

Fernmeldedienste» anzubieten. Im Rahmen einer volkswirtschaftlichen Gesamtbetrachtung<br />

und unter Berücksichtigung der vorerwähnten veränderten Rahmenbedingungen im Telekommunikationsmarkt<br />

erscheint es wenig sinnvoll, dass die Behörde an der ursprünglichen<br />

Versorgungsauflage festhält. Vielmehr muss sie darauf bedacht sein, dass dem Publikum<br />

Dienste angeboten werden, welche im Sinne des Zweckartikels (Art. 1 Abs. 1 FMG) für dieses<br />

auch einen gewissen Mehrwert beinhalten. Insofern macht es wenig Sinn, UMTS-<br />

Technologien und Dienste vor Erreichen der Marktreife regulatorisch zusätzlich zu forcieren.<br />

In diesem Zusammenhang sei als typisches Beispiel auf die verfrüht eingeführten und technisch<br />

noch nicht ausgereiften WAP-Dienstleistungen verwiesen, welche beim Zielpublikum<br />

nur auf geringe Akzeptanz gestossen sind und auch heute das Image von WAP stark negativ<br />

belasten. Letztlich ist es auch ein öffentliches Interesse, nicht regulatorisch zu Investitionen<br />

zu verpflichten, wenn der Markt noch nicht reif scheint bzw. die entscheidenden Endgeräte<br />

noch nicht zur Verfügung stehen.<br />

Diese Interessen überwiegen die Interessen an der Beibehaltung der Versorgungspflicht bis<br />

Ende 2002. Das weiterhin vorhandene öffentliche Interesse an der rechtzeitigen Einführung<br />

von UMTS-basierenden Diensten wird mit der Einführung einer zeitlich beschränkten spezifischen<br />

Meldepflicht über den Fortschritt des Aufbaus der Netzinfrastruktur berücksichtigt.<br />

Diese erlischt, wenn der ursprünglich vorgesehene Versorgungsgrad erreicht ist.<br />

Bezüglich eines allenfalls vorhandenen Arguments der Beeinträchtigung der Rechtssicherheit<br />

durch die Konzessionsänderung ist festzuhalten, dass der Kerngehalt der Konzession von der<br />

Änderung nicht betroffen ist. Die Änderung betrifft nur den Zeitpunkt des regulatorisch erzwungenen<br />

Markteintrittes. Diesen zu flexibilisieren beeinträchtigt die Rechtssicherheit im<br />

vorliegenden Umfeld wenig, zumal sich die Änderung zum Vorteil der Konzessionärin auswirkt.<br />

Es steht ihr weiterhin offen, bereits in einem früheren Zeitpunkt mit UMTSbasierenden<br />

Diensten am Markt aufzutreten. Sie erhält aber neu die Möglichkeit, damit etwas<br />

zuzuwarten. Ein allfälliges Interesse der Konzessionärin, dass neben ihr auch ihre Mitbewerber<br />

die für die Erreichung von 20% der Bevölkerung bis Ende 2002 nötigen Investitionen sofort<br />

tätigen müssen, tritt gegenüber dem Interesse der Konsumenten gemäss Art. 1 FMG zurück.<br />

- 157 -


Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es im öffentlichen Interesse liegt, dass<br />

beim Markteintritt von UMTS-basierenden Diensten ein ausgereiftes, technisch genügend<br />

ausgetestetes und markt- bzw. diensterelevantes Netz aufgebaut ist und einschliesslich der<br />

zur Nutzung notwendigen markttauglichen Endgeräte zur Verfügung steht.<br />

Auf die Bestimmung von Art. 10 Abs. 2 FMG braucht vorliegend nicht näher eingegangen zu<br />

werden, da die beabsichtigte Konzessionsänderung zu keiner Schmälerung der übertragenen<br />

Rechte führt.<br />

2.2.4 Stellungnahme der Konzessionärin Z.<br />

(…)<br />

Abschliessend kann gesagt werden, dass die Voraussetzungen gemäss Art. 10 Abs. 1 FMG<br />

gegeben sind. Es rechtfertigt sich deshalb, die Konzession auf Grund der veränderten tatsächlichen<br />

Verhältnisse und zur Wahrung der öffentlichen Interessen entsprechend zu modifizieren.<br />

Unter Berücksichtigung sämtlicher in Frage stehenden Interessen erscheint es angemessen,<br />

auf die Versorgungsauflage von 20% bis Ende 2002 zu verzichten. Die Versorgungsauflage<br />

von 50% der Bevölkerung bis Ende 2004 wird beibehalten.<br />

[80] «Universal Mobile Telecommunications System», Universelles mobiles Telekommunikationssystem:<br />

ein Standard für digitale Mobilfunknetze der 3. Generation.<br />

[81] «International Mobile Telecommunications 2000».<br />

[82] Internationale Fernmeldeunion - Radiocommunication.<br />

[83] «Global System for Mobile Communications», Globales Mobilkommunikationssystem:<br />

ein Standard für digitale Mobilfunknetze der 2. Generation.<br />

[84] «General Packet Radio Service», paketvermittelter Datendienst zur Verbesserung des<br />

Datendurchsatzes in GSM-Netzen (erlaubt Übertragungsraten von bis zu 115,2 kBit/s).<br />

- 158 -


BGE 127 II 69 / Wasserrechtskonzession aus dem 19. Jahrhundert<br />

7. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 30. Oktober 2000 i.S.<br />

A. AG gegen Regierung und Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)<br />

Regeste<br />

Wasserrechtskonzessionen sind nach heutigem Recht zwingend zu befristen (Art. 54 lit. e<br />

und Art. 58 WRG); dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Unveräusserlichkeit der öffentlichen<br />

Gewalt (E. 4). Altrechtliche Konzessionen, die noch ohne zeitliche Begrenzung erteilt<br />

wurden, sind nachträglich zu befristen. Massgeblichkeit des im Vertragsrecht geltenden Prinzips,<br />

dass keine Verträge auf "ewige" Zeiten abgeschlossen bzw. aufrechterhalten werden<br />

können. Es gibt kein wohlerworbenes Recht auf eine Konzession ohne zeitliche Beschränkung<br />

(E. 5). In concreto durfte die Konzession nach einer Dauer von 134 Jahren unter Gewährung<br />

einer angemessenen Übergangsfrist aufgelöst werden (E. 6).<br />

Sachverhalt<br />

Mit Beschluss Nr. 340 vom 16. Februar 1866 erteilte der Regierungsrat (heute: Regierung)<br />

des Kantons St. Gallen dem Oberverwaltungsrat von X. eine Wasserrechtskonzession am B.-<br />

Bach und C.-Bach bei Y. (Wasserrecht Nr. III/17). Nach Ziff. 5 der Urkunde erlischt die Konzession,<br />

"falls während einem vollen Jahre von der Erteilung an gerechnet, kein Gebrauch<br />

davon gemacht wird". Eine Bestimmung über die Konzessionsdauer fehlt. In der Folge wurde<br />

dieses Wasserrecht von der Ortsgemeinde X. auf die Weberei Y. AG übertragen.<br />

Im Jahr 1975 stellte die Weberei Y. AG ihren Betrieb ein. Ein Jahr später nahm die D. AG<br />

(später umbenannt in E. AG, seit 1980 A. AG,) die Produktion von Kunststoffschäumen und<br />

Styropor auf. Das 1977 von den kantonalen Behörden eingeleitete Zustimmungsverfahren<br />

zur Übertragung der Verleihung wurde mit der Begründung abgebrochen, dass lediglich eine<br />

Aktienübertragung und eine Änderung des Geschäftszwecks stattgefunden habe; die Rechtspersönlichkeit<br />

der Y. AG bleibe bestehen.<br />

Bei einer nach einem Ölunfall durchgeführten Kontrolle der A. AG im Jahr 1992 wurde festgestellt,<br />

dass das Wasser der Kraftanlage nicht nur energetisch, sondern auch anderweitig<br />

genutzt wird. Die Druckleitung speist eine Hydrantenleitung und eine Brauchwasserleitung.<br />

Das Brauchwasser wird vorwiegend zur Dampferzeugung für die Styroporherstellung benötigt.<br />

Im B.-Bach sind sodann immer wieder erhebliche Schäden am Fischbestand aufgetreten,<br />

was von den Behörden darauf zurückgeführt wird, dass die A. AG dem Gewässer in Niederwasserzeiten<br />

kein Restwasser belässt und beim Ausschwemmen, Ablassen und Wiederauffüllen<br />

des Stauweihers unsachgemäss vorgeht.<br />

Am 14. Oktober 1997 gab das Amt für Umweltschutz des Kantons St. Gallen der A. AG Gelegenheit,<br />

zu einem Entscheid-Entwurf Stellung zu nehmen, der vorsah, die Konzession aufzuheben.<br />

Der Gemeinderat X. seinerseits beantragte am 29./30. Dezember 1997, die Wasserrechtsverleihung<br />

zu befristen und Restwassermengen vorzuschreiben, dies unter Hinweis<br />

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darauf, dass die Trockenlegung des Bachs und verendete Fische immer wieder die Gemüter<br />

erhitzten. Die A. AG beantragte am 6. Februar 1998, das eingeleitete Verfahren aufzuheben.<br />

Am 30. Juni 1998 erliess das Baudepartement des Kantons St. Gallen nachstehende Verfügung:<br />

1. Die Wasserrechtsverleihung vom 16. Februar 1866 (RRB Nr. 340; Wasserrechtsverzeichnis<br />

Nr. III/17) wird befristet. Der A. AG, wird eine Übergangsfrist von fünf Jahren eingeräumt,<br />

in welcher sie den Betrieb der Wasserkraftanlage nach den Bestimmungen der altrechtlichen<br />

Konzession weiterführen darf. Mit Ende des Jahres 2003 erlischt die Verleihung<br />

unwiderruflich.<br />

2. Betreffend den Wasserbezug aus dem B.-Bach für die Dampferzeugung und die anderweitige<br />

Verwendung für Industriezwecke wird folgendes verfügt:<br />

a) Der Wasserbezug ist zu messen. Die monatlichen Ablesungen sind zu protokollieren und<br />

jährlich dem Amt für Umweltschutz (AFU) zuzustellen.<br />

b) Der Wasserzins für das tatsächlich während eines Jahres bezogene Wasser beträgt Fr.<br />

0.08 je Kubikmeter, wenigstens aber Fr. 800.-- je Jahr. Er wird rückwirkend ab 1. Januar<br />

1993 erhoben.<br />

3. Beabsichtigt die A. AG, die Gewässernutzung am B.-- und C.-Bach aufrechtzuerhalten, so<br />

hat sie bis zum 31. Dezember 2001 ein Verleihungsgesuch, welches nebst der Kraftnutzung<br />

für die Zeit ab dem 1. Januar 2004 auch die Brauchwasserbezüge beinhaltet, bei der zuständigen<br />

Stelle des Staates einzureichen.<br />

Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, das mit der Konzession verliehene Wasserrecht<br />

könne nachträglich befristet und somit auf den 31. Dezember 2003 einseitig aufgehoben<br />

werden; des Weiteren seien die Wasserbezüge zur Dampferzeugung nicht Bestandteil<br />

der Konzession.<br />

Die A. AG erhob gegen diese Verfügung am 14. Juli 1998 Rekurs bei der Regierung des Kantons<br />

St. Gallen. Nach Durchführung des Instruktionsverfahrens überwies das Justiz- und Polizeidepartement<br />

des Kantons St. Gallen am 15. Dezember 1999 die Akten zuständigkeitshalber<br />

dem kantonalen Verwaltungsgericht.<br />

Mit Entscheid vom 16. März 2000 wies das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen die<br />

Beschwerde im Sinne der Erwägungen teilweise gut, soweit es darauf eintrat. Es hob die angefochtene<br />

Verfügung auf, soweit darin festgestellt wurde, die Konzession beziehe sich nicht<br />

auf Wasserentnahmen. Auf die Beschwerde gegen Ziff. 2 der angefochtenen Verfügung trat<br />

es nicht ein, sondern überwies sie diesbezüglich zum Entscheid an die Regierung. Hinsichtlich<br />

der Frage der Befristung der Konzession wies es die Beschwerde ab.<br />

Zur Begründung wurde namentlich Folgendes ausgeführt: Die Konzession habe befristet werden<br />

können, da deren Dauer bei der Erteilung nicht geregelt worden sei und eine unbefristete<br />

Konzession dem Prinzip der Unveräusserlichkeit der öffentlichen Gewalt widersprechen würde.<br />

Es gebe kein wohlerworbenes Recht auf zeitlich unlimitierte Sondernutzung eines öffentlichen<br />

Gewässers.<br />

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Die A. AG erhob am 8. Mai 2000 fristgerecht Verwaltungsgerichtsbeschwerde und staatsrechtliche<br />

Beschwerde an das Bundesgericht. Sie beantragte insbesondere, es sei festzustellen,<br />

dass die Konzession vom 16. Februar 1866 eine unbefristete altrechtliche Konzession<br />

sei, die der Beschwerdeführerin ein wohlerworbenes Recht auf Nutzung des B.-Baches im<br />

verliehenen Umfang einräume.<br />

Das Bundesgericht vereinigt die Verfahren. Es tritt auf die staatsrechtliche Beschwerde, welche<br />

hinsichtlich der Frage des Wasserzinses für den Brauchwasserbezug zulässig wäre, mangels<br />

diesbezüglicher formgültiger Rügen nicht ein. Im Übrigen behandelt es die Rügen (betreffend<br />

Inhalt und Dauer der Konzession, soweit diese die Nutzung des Wassers zur Erzeugung<br />

von Wasserkraft beschlägt) im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und weist diese<br />

ab.<br />

Aus den Erwägungen<br />

4.-- a) Die zur Beurteilung stehende Wasserrechtskonzession ist vom Regierungsrat des Kantons<br />

St. Gallen am 16. Februar 1866 erteilt worden, auf welche Dauer lässt sich der Konzession<br />

nicht entnehmen. Jedenfalls seit 1860 nahm der Kanton St. Gallen die Gewässerhoheit<br />

wahr und erteilte Konzessionen zur Sondernutzung der Gewässer. Das Gesetz über die Benützung<br />

von Gewässern (GBG/ SG) ist aber erst am 23. November 1893/1. Januar 1894 erlassen<br />

worden. Es sah eine Konzessionsfrist von 50 Jahren vor (Art. 11 Abs. 1 GBG/SG),<br />

gewährleistete jedoch die bis anhin geübten Wasserbezugsrechte in ihrem bisherigen Bestand<br />

(Art. 1 Abs. 3 GBG/SG). Das Gesetz vom 5. Dezember 1960 über die Gewässernutzung<br />

(GNG/ SG), welches das Gesetz über die Benützung von Gewässern ablöste, begrenzt die<br />

Verleihungsdauer auf höchstens 80 Jahre für Wasserkraftnutzungen und auf höchstens 50<br />

Jahre für andere Nutzungen (Art. 22 GNG/SG). In Art. 12 sieht es vor, dass die Verleihung<br />

von Wassernutzungsrechten dem Beliehenen ein wohlerworbenes Recht auf die Nutzung des<br />

Gewässers verschafft. Das Gesetz findet auf die bestehenden Wassernutzungen Anwendung,<br />

allerdings unter Vorbehalt der wohlerworbenen Rechte. Das Bundesgesetz vom 22.<br />

Dezember 1916 über die Nutzbarmachung der Wasserkräfte (Wasserrechtsgesetz (WRG; SR<br />

721.80)) seinerseits, welches die Aufnahme der Konzessionsdauer in die Konzession vorschreibt<br />

(Art. 54 lit. e WRG) und eine gesetzliche Höchstdauer von 80 Jahren festlegt (Art.<br />

58 WRG), sieht vor, dass die Konzession dem Konzessionär nach Massgabe des Verleihungsaktes<br />

ein wohlerworbenes Recht auf die Benützung des Gewässers verschafft (Art. 43<br />

Abs. 1 WRG), was, wie das Bundesgericht festgehalten hat, nur zum Ausdruck bringt, was<br />

schon vorher gegolten hat und folglich auch auf Konzessionen anwendbar ist, die vor Inkrafttreten<br />

dieses Gesetzes erteilt worden sind (BGE 49 I 555 E. II/3 S. 584).<br />

b) Die der Beschwerdeführerin 1866 erteilte Konzession lässt die Dauer unerwähnt. PETER<br />

LIVER hat in einer Abhandlung (Die Entwicklung des Wasserrechts in der Schweiz seit hundert<br />

Jahren (ZSR 71/1952 S. 305 ff.); nachfolgend: Wasserrecht), ausgeführt, die kantonalen<br />

Gesetze, die vor 1890 erlassen worden seien, hätten eine zeitliche Beschränkung der<br />

Konzessionsdauer nicht gekannt, ausgenommen der Kanton Neuenburg. Er folgert daraus, die<br />

Wasserrechte hätten auf unbeschränkte Zeit erteilt werden können (a.a.O., S. 311). Diese<br />

Auffassung scheint auch mit derjenigen des Regierungsrats des Kantons St. Gallen übereinzustimmen,<br />

wie er sie in einer Botschaft vom 12. November 1864 zu einem, vom Grossen<br />

Rat allerdings verworfenen, Gesetzesvorschlag über die "Ertheilung von Wasserrechten" zum<br />

Ausdruck brachte: "Dass eine Wasserrechts-Conzession, solange die damit in Verbindung<br />

gesetzten Etablissements benützt und beworben werden, unwiderruflich sei, ist selbstverständlich.<br />

Niemand würde sich sonst zur Anlage kleinerer oder grösserer Gewerke herbeilas-<br />

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sen, denen jede Rechtssicherheit und Gewissheit ihres Bestandes abgehen würden." Das<br />

Bundesgericht seinerseits hat in einem Urteil aus dem Jahre 1905 die Konzession zur Ausbeutung<br />

der Wasserkraft als "dingliches Privatrecht" bezeichnet, dem zufolge seiner dinglichen<br />

Natur eine zeitliche Beschränkung nicht wesentlich sei (BGE 31 II 828 E. 3 S. 859).<br />

Diese Meinung scheint, wie dem zitierten bundesgerichtlichen Urteil aus dem Jahre 1905<br />

entnommen werden kann, ein privatrechtliches und "dingliches" Verständnis der mit der<br />

Konzession erteilten Rechte zum Ausgangspunkt zu haben. Eine Rolle gespielt haben wird<br />

dabei auch die Vorstellung der "ehehaften" Wasserrechte, wiewohl es sich bei konzedierten<br />

Wasserrechten der vorliegenden Art -- unbestrittenermassen -- nicht um solche handelt. Ehehafte<br />

Rechte sind ausschliesslich private Rechte, die ihren Ursprung in einer Rechtsordnung<br />

haben, die nicht mehr besteht, und welche nach neuem Recht nicht mehr begründet werden<br />

können, aber auch unter der neuen Rechtsordnung weiterbestehen dürfen; sie erlangten ursprünglich<br />

Bedeutung insbesondere im Zusammenhang mit der Wassernutzung (zum Begriff<br />

s. PETER LIVER, Die ehehaften Wasserrechte in der Schweiz, in: Beiträge zum Recht der<br />

Wasserwirtschaft und zum Energierecht, Festschrift für Paul Gieseke, S. 225 f.). Bis gegen<br />

Ende des 19. und noch anfangs des 20. Jahrhunderts galt das verliehene Wasserrecht als<br />

privates Recht, gleichgültig, ob es aufgrund des Eigentums oder der Gewässerhoheit eingeräumt<br />

worden war; erst in jener Zeit setzte sich das öffentlichrechtliche Verständnis durch<br />

(LIVER, Wasserrecht, S. 333 ff.). Die zivilrechtliche, ja dingliche Betrachtungsweise mag dazu<br />

beigetragen haben, dass das öffentliche Interesse zu wenig Berücksichtigung fand, welches<br />

einer definitiven Entäusserung der Gewässerhoheit durch Erteilung einer Sondernutzungskonzession<br />

entgegensteht.<br />

c) Nach heutiger Rechtsanschauung kann das Gemeinwesen Sondernutzungsrechte nicht auf<br />

unbefristete Dauer erteilen (PIERRE MOOR, Droit administratif, Bd. III, Bern 1992, S. 136,<br />

308; ANDRE GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. 1, Neuenburg 1984, S. 293; TOMAS<br />

POLEDNA, Staatliche Bewilligungen und Konzessionen, Bern 1994, S. 242, 250). Die öffentlichen<br />

Gewässer sind öffentliche Sachen im Gemeingebrauch. Dieser Zweckbestimmung<br />

werden sie durch ein Sondernutzungsrecht an einem bestimmten Wasserlauf entfremdet<br />

(VINZENS AUGUSTIN, Das Ende der Wasserrechtskonzessionen, Freiburg 1983, S. 29). Das<br />

Gemeinwesen muss deshalb von Zeit zu Zeit Gelegenheit erhalten, sich darüber zu vergewissern,<br />

ob die Sondernutzung mit dem öffentlichen Interesse noch in Einklang steht. Wäre das<br />

durch Konzession dem Privaten eingeräumte Recht ein ewiges, liefe dies darauf hinaus, dass<br />

das Gemeinwesen sich seiner Rechte und seiner Hoheit entäusserte, was nicht zulässig ist<br />

(Grundsatz der Unveräusserlichkeit der öffentlichen Gewalt, s. AUGUSTIN, a.a.O., S. 29, 34;<br />

MOOR, a.a.O., S. 308, POLEDNA, a.a.O., S. 242, 250).<br />

Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden hat daraus gefolgert, dass eine auf unbefristete<br />

Zeit begründete Wassernutzungskonzession nachträglich befristet und vom Verleiher<br />

nach Ablauf einer angemessenen Konzessionsdauer einseitig und entschädigungslos aufgehoben<br />

werden kann (Praxis des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden, 1986, Nr.<br />

37). Das Bundesgericht seinerseits hat in einem Urteil, in welchem es die Konzessionsdauer<br />

einer altrechtlichen Konzession als Vorfrage zu beurteilen hatte, diese Dauer durch richterliche<br />

Lückenfüllung bestimmt (BGE 97 II 390 E. 10 S. 402). Dass die Konzession auf ewig<br />

erteilt sein könnte, hat es gar nicht in Betracht gezogen (S. 403). Auch in der Literatur wird<br />

angenommen, dass altrechtliche Konzessionen, welche unbefristet erteilt wurden, nachträglich<br />

zeitlich beschränkt werden können (AUGUSTIN, a.a.O., S. 34; POLEDNA, a.a.O., S.<br />

250; RENE A. RHINOW/BEAT KRÄHENMANN, Schweizerische <strong>Verwaltungsrecht</strong>sprechung,<br />

Ergänzungsband, Basel 1990, Nr. 122, B IV, S. 367).<br />

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d) Die Beschwerdeführerin ist nun aber der Auffassung, dass die Wasserrechtsverleihung gerade<br />

auch hinsichtlich der Konzessionsdauer ein wohlerworbenes Recht verschafft habe; da<br />

die Konzession auf der Grundlage des im letzten Jahrhundert herrschenden Verständnisses<br />

des Wesens der Wasserrechtskonzession erteilt worden sei, könne es auf die heutige<br />

Rechtsauffassung nicht ankommen.<br />

5.-- a) Im Zusammenhang mit Konzessionen gelten nach der Rechtsprechung als wohlerworben<br />

jene Rechte, die aufgrund freier Vereinbarung der Parteien entstanden und als wesentlicher<br />

Bestandteil der erteilten Konzession zu betrachten sind, weil der Bewerber sich ohne sie<br />

über die Annahme der Verleihung gar nicht hätte schlüssig werden können (BGE 107 Ib 140<br />

E. 3a S. 144 f.; Urteil des Bundesgerichts vom 10. April 1985, in: ZBl 86/1985 S. 498, E.<br />

2b S. 500, mit Hinweisen). In die Substanz von auf diese Weise begründeten Rechten darf<br />

gestützt auf spätere Gesetze regelmässig nicht, jedenfalls nicht ohne Entschädigung, eingegriffen<br />

werden (BGE 119 Ib 254 E. 5a S. 268; 107 Ib 140 E. 3a S. 145).<br />

Ob eine Rechtsposition als wohlerworbenes Recht zu qualifizieren ist, lässt sich nicht allein<br />

aufgrund ihrer Entstehung und unabhängig von der aktuellen Rechtslage beurteilen (KATHRIN<br />

KLETT, Verfassungsrechtlicher Schutz "wohlerworbener Rechte" bei Rechtsänderungen,<br />

Bern 1984, S. 224 ff., 233). Die Anerkennung eines wohlerworbenen Rechts ist vielmehr<br />

das (typisierte) Ergebnis einer Interessenabwägung, welches den aufgrund einer früheren<br />

Rechtsordnung eingeräumten Rechten den Vorrang vor der Durchsetzung der mit einer<br />

Rechtsänderung verfolgten öffentlichen Interessen einräumt, wobei das konkret fassbare<br />

Rechtssicherheitsinteresse des Rechtsinhabers nach den aktuellen Verhältnissen zu gewichten<br />

ist (KLETT, a.a.O., S. 233 ff.).<br />

Im Falle der Konzession wird ein Rechtsverhältnis mit gegenseitigen Rechten und Pflichten<br />

der Verleihungsbehörde und des Konzessionärs begründet, einem durch Vertrag begründeten<br />

Rechtsverhältnis vergleichbar. Die konzessionierte Unternehmung erstellt auf Grund der Konzession<br />

ein Werk mit regelmässig beträchtlichen Investitionen, deren Rentabilität sich nicht<br />

kalkulieren lässt, wenn nicht Sicherheit über die finanziellen Lasten aus der Konzession und<br />

über die Konzessionsdauer besteht. Daraus ergibt sich, dass das Gemeinwesen nicht einseitig<br />

von der Konzession abgehen und das Leistungsverhältnis zu seinen Gunsten verändern<br />

kann (BGE 126 II 171 E. 4b S. 180 f., mit Hinweisen). Namentlich kann es grundsätzlich die<br />

Dauer der Konzession nicht kürzen, weil die Rentabilität des von der konzessionierten Unternehmung<br />

zu erstellenden Werkes davon wesentlich abhängt; (nur) insofern gehört die -- vereinbarte<br />

-- Dauer der Konzession zur Substanz des wohlerworbenen Rechts (BGE 49 I 555 E.<br />

II/3 S. 584 f.).<br />

b) Die von der Beschwerdeführerin beanspruchte zeitlich unbegrenzte Nutzung eines Wasserrechts<br />

lässt sich nun allerdings grundsätzlich nicht damit begründen, dass sie Grundlage für<br />

die Kalkulierung der Rentabilität der Investitionen bilden würde. Beim Erlass des eidgenössischen<br />

Wasserrechtsgesetzes ging das Parlament davon aus, dass eine Konzessionsdauer von<br />

80 Jahren selbst für ganz grosse Unternehmungen mit kostspieligen Anlagen für eine<br />

zweckmässige Amortisation ausreichen (KARL GEISER/J.J. ABBÜHL/FRITZ BÜHLMANN, Einführung<br />

und Kommentar zum Bundesgesetz über die Nutzbarmachung der Wasserkräfte, Zürich<br />

1921, S. 194; AUGUSTIN, a.a.O., S. 30). "Durant 80 années, si l'entreprise n'a pas pu<br />

amortir ses installations et son capital, elle ne les amortira jamais" (Sten.Bull. 1915 N 291,<br />

Nationalrat Maillefer). Die Regierung des Kantons St. Gallen hat zwar in der Zeit, in welcher<br />

die vorliegende Konzession begründet wurde, dem Grossen Rat eine Gesetzesvorlage zugeleitet,<br />

in welcher sie die Auffassung vertrat, Wassernutzungskonzessionen sollten Bestand ha-<br />

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en, solange das damit in Verbindung stehende Werk genutzt werde (vorne E. 4b). Gesetz ist<br />

die Vorlage jedoch nicht geworden, weshalb aus dieser Meinungsäusserung nicht allzu weit<br />

reichende Schlüsse gezogen werden dürfen. Für eine zeitlich unbeschränkte Konzessionsdauer<br />

kann jedenfalls nicht ins Feld geführt werden, dass sie die notwendige Basis für das Konzessionsverhältnis<br />

bilden würde und zu dessen Substanz zu zählen wäre.<br />

Vielmehr widerspricht es in höchstem Masse dem öffentlichen Interesse, Sondernutzungskonzessionen<br />

auf unbeschränkte Dauer zu erteilen und das öffentliche Gewässer auf ewige<br />

Zeiten seinem Zweck zu entfremden. Das liefe darauf hinaus, dass sich das Gemeinwesen<br />

der Gewässerhoheit, die es im 19. Jahrhundert gerade erst in Anspruch genommen hat,<br />

durch Verleihung sukzessive wieder entäussert hätte. Nun ist für die Anerkennung eines<br />

wohlerworbenen Rechts -- auch im Zusammenhang mit Konzessionen -- massgeblich, dass<br />

die Konzessionserteilung vertragsähnlicher Natur ist: Innerhalb einer Konzession sind gerade<br />

diejenigen Rechte als wohlerworben einzustufen, welche nicht durch einen Rechtssatz, sondern<br />

aufgrund freier Vereinbarung der Parteien entstanden sind (BGE 113 Ia 357 E. 6a/cc S.<br />

361, mit Hinweis). Insofern fliessen zivilrechtliche Überlegungen ein. Darum kann nicht unberücksichtigt<br />

bleiben, dass es heute auch zivilrechtlich ausgeschlossen ist, obligatorische Verträge<br />

auf "ewige" Zeiten abzuschliessen und aufrechtzuerhalten (BGE 114 II 159 E. 2a S.<br />

161; 113 II 209 E. 4 S. 210 f.; 93 II 290 E. 7 S. 300, je mit Hinweisen); unzulässig ist dies<br />

selbst dann, wenn sie noch unter der Herrschaft des alten kantonalen Rechts abgeschlossen<br />

worden sind, was unter Hinweis auf Art. 2 SchlT ZGB damit begründet wird, dass es sich<br />

um einen Grundsatz handelt, der um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit Willen Geltung<br />

hat (BGE 97 II 390 E. 3 S. 395). Art. 2 SchlT ZGB aber wird auch im öffentlichen Recht für<br />

massgeblich erachtet (BGE 112 Ib 39 E. 1c S. 43, mit Hinweisen). Die einheitliche Wertung<br />

in der gesamten Rechtsordnung macht deutlich, dass es ein wohlerworbenes Recht auf dauerhafte<br />

Sondernutzung nicht geben kann. Dies wäre mit dem erwähnten Grundsatz der Unveräusserlichkeit<br />

öffentlicher Gewalt (vorne E. 4c) und insofern mit der öffentlichen Ordnung<br />

nicht mehr vereinbar, unabhängig davon, dass die altrechtlichen Konzessionen in gewissem<br />

Sinne als Gebilde (auch) "dinglicher" Natur verstanden wurden. Die Beschwerdeführerin vermag<br />

dies mit ihrer Berufung auf Art. 2 und 27 ZGB bzw. mit dem Hinweis auf die bundesgerichtliche<br />

Rechtsprechung dazu (BGE 123 III 337; 97 II 390) nicht zu entkräften. Wohl lässt<br />

das Bundesgericht ein Eingreifen in vertragliche Vereinbarungen nur mit etwelcher Zurückhaltung<br />

zu, wobei sich diese Haltung wohl noch in besonderem Masse rechtfertigen mag, wenn<br />

Vertragspartner ein Gemeinwesen ist (vgl. BGE 97 II 390 E. 7 S. 399 f.). Auch der von der<br />

Beschwerdeführerin zitierten Rechtsprechung liegt aber der Gedanke zugrunde, dass jedenfalls<br />

eine Bindung ohne jegliche zeitliche Begrenzung unzulässig ist. Das Gemeinwesen kann<br />

die ihm zustehende Hoheit über die Gewässer im Rahmen einer Konzession nicht für alle Zeiten<br />

aufgeben.<br />

Nennt die Konzessionsurkunde keine zeitliche Beschränkung, ist die Dauer der Konzession zu<br />

beschränken und durch richterliche Lückenfüllung zu bestimmen (vgl. BGE 97 II 390 E. 10 S.<br />

402; AUGUSTIN, a.a.O, S. 34 f.).<br />

c) Es ist dem Verwaltungsgericht folglich darin beizupflichten, dass die der Beschwerdeführerin<br />

erteilte Konzession, deren Dauer nicht bestimmt ist, nachträglich befristet werden durfte,<br />

ohne dass dadurch ein wohlerworbenes Recht bzw. das Willkürverbot oder das Gebot der<br />

Wahrung von Treu und Glauben verletzt worden wäre. Insbesondere darf Ziff. 5 der Konzessionsurkunde<br />

in Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen nicht so verstanden werden,<br />

dass die Konzession auch nach Jahrzehnten bzw. gar Jahrhunderten einzig dann erlischt,<br />

wenn während eines Jahres kein Gebrauch davon gemacht wird. Zu berücksichtigen<br />

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ist auch, dass die Beschwerdeführerin die Möglichkeit hat, ein Gesuch um erneute Verleihung<br />

des Wassernutzungsrechts zu stellen, worüber in einem förmlichen Verfahren und unter Berücksichtigung<br />

sämtlicher Interessen, nebst des öffentlichen Interesses an befriedigender und<br />

umweltgerechter Wassernutzung auch des privaten Interesses der Beschwerdeführerin, befunden<br />

wird.<br />

6.-- Was die konkrete Befristung betrifft, so hat das Verwaltungsgericht die massgebenden<br />

Gesichtspunkte zutreffend gewürdigt. Nach einer Konzessionsdauer von 134 Jahren stellte<br />

sich insbesondere die Frage der Amortisation der Anlagen nicht mehr (s. zur Massgeblichkeit<br />

insbesondere dieses Kriteriums vorne E. 5a letzter Absatz und E. 5b erster Absatz, ferner<br />

BGE 113 II 209), und der Kanton St. Gallen konnte unter Gewährung einer angemessenen<br />

Übergangsfrist (fünfeinhalb Jahre ab dem Zeitpunkt der erstinstanzlichen Verfügung vom 30.<br />

Juni 1998 bis zum 31. Dezember 2003) die Konzession auflösen. Sodann ist das Rechtsgleichheitsgebot<br />

entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin nicht verletzt. Der Kanton<br />

St. Gallen durfte die Konzession der Beschwerdeführerin nicht nur dann befristen, wenn er<br />

gleichzeitig sämtliche weiteren Wasserkonzessionen aus der damaligen Zeit, die keine Befristung<br />

aufweisen, ebenfalls befristet hätte. Es darf sehr wohl den Umständen jedes einzelnen<br />

Falles Rechnung getragen werden. Aufgrund der erheblichen Belastung des B.-Bachs lag es<br />

für die Behörden des Kantons St. Gallen nahe, zunächst die vorliegende Konzession einer<br />

Klärung zuzuführen.<br />

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ZBl 1991 212 / Gewässerschutz<br />

Verlegung der Kosten der Behebung einer Gewässerverunreinigung. Begriff des Verhaltensstörers<br />

( Erw. 5a). Pflicht der Kantone, für die Anpassung von Altanlagen an die neuen Gewässerschutzvorschriften<br />

zu sorgen oder die Stillegung nicht konformer Anlagen anzuordnen<br />

(Erw. 5b). Begriff der polizeilichen Gefahr (Erw. 5c). Störend im polizeilichen Sinn sind im allgemeinen<br />

nur Handlungen oder Unterlassungen, welche unmittelbar eine Gefahr verursachen<br />

(Erw. 5d/aa ). Schadenverursachung durch Duldung einer anhaltenden konkreten Gefahr<br />

(Erw. 5d/bb ). Pflicht der Kantone, gegen Polizeiwidrigkeiten einzuschreiten (Erw. 5e). Die<br />

zuständige Behörde ist verpflichtet, die Kosten der Behebung einer Gewässerverschmutzung<br />

unter mehreren Stören aufzuteilen (Erw. 6a). Aufteilung dieser Kosten nach dem subjektiven<br />

und objektiven Anteil eines jeden Beteiligten an der Verursachung (Erw. 6b-Erw. 6e).<br />

Sachverhalt<br />

Nach Bundesrecht waren bis 1. Juli 1987 alle alten Öltankanlagen den neuen Sicherheitsanforderungen<br />

anzupassen. Die zuständigen Behörden des Kantons Graubünden wussten seit<br />

dem Herbst 1981, dass eine bestimmte Tankanlage ein hohes Leckrisiko aufwies, bei dem<br />

ernsthaft mit einem Schadenseintritt zu rechnen war. Die kantonalen Behörden kümmerten<br />

sich um das Problem, setzten sich aber gegenüber dem Hauseigentümer, welcher diesen Zustand<br />

auf sich beruhen liess, weder im Sinn einer Sanierung noch der Stilllegung der Anlage<br />

durch. Nach Ablauf der bundesrechtlichen Frist flossen infolge fehlerhafter Handlungen des<br />

Chauffeurs eines Öllieferanten an die 11000 Liter Heizöl neben den Tank und versickerten<br />

wegen der undichten Sicherheitshüllen im Untergrund, was entsprechende Sanierungsmassnahmen<br />

notwendig machte. Als letzte kantonale Instanz auferlegte die Regierung des Kantons<br />

Graubünden die entstandenen Gewässerschutzkosten zu einem Drittel dem Hauseigentümer<br />

und zu zwei Dritteln dem Öllieferanten. In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde<br />

des Öllieferanten überbürdete das Bundesgericht dem Hauseigentümer<br />

sechs Zehntel, dem Öllieferanten drei Zehntel und dem Kanton Graubünden einen Zehntel der<br />

Kosten.<br />

Aus den Erwägungen des Bundesgerichts<br />

Modul XII<br />

Staats- und Beamtenhaftung<br />

5. Die Beschwerdeführerin beanstandet, die Regierung habe zu Unrecht die Haftung des Kantons<br />

verneint.<br />

a) Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Gemeinwesen als Mitverursacher zur Kostentragung<br />

verpflichtet wird (vgl. Urteil vom 12. Februar 1986 i.S. T., ZBl 88/1987, 305 f. Erw. 3). Da<br />

im vorliegenden Fall der Kanton über die Sache, welche den ordnungswidrigen Zustand bewirkt<br />

hat, keine rechtliche oder tatsächliche Gewalt hatte (vgl. BGE 114 Ib 50 f.), fällt er<br />

einzig als Verhaltensstörer in Betracht. Verhaltensstörer ist, wer durch eigenes Verhalten oder<br />

durch das unter seiner Verantwortung erfolgte Verhalten Dritter unmittelbar eine polizei-<br />

- 166 -


widrige Gefahr oder Störung verursacht. Als unmittelbaren Störer betrachtet das Bundesgericht<br />

auch, wer es in Kauf nimmt, dass andern durch sein an sich nicht rechtswidriges Verhalten<br />

die Schaffung eines polizeiwidrigen Tatbestandes ermöglicht wird (BGE 108 Ia 307<br />

Erw. 3, 94 I 409 Erw. 4, 87 I 112 ff; Daniel Thürer, Das Störerprinzip im Polizeirecht, ZSR<br />

102/1983 I 563 ff., 477; Hans Mathys, Zum Begriff des Störers im Polizeirecht, Diss. Zürich<br />

1974, S. 19). Verhalten ist Tun oder Unterlassen, wobei eine Unterlassung die Verhaltenshaftung<br />

nur begründet, wenn eine besondere Rechtspflicht zu sicherheits- oder ordnungswahrendem<br />

Handeln besteht (BGE 114 Ib 51 f. Erw. 2c/bb und cc).<br />

b) aa) Die Rechtspflicht zu sicherheits- oder ordnungswahrendem Handeln ergibt sich aus<br />

dem Gewässerschutzrecht. Gewässerschutz geht alle an (vgl. Art. 2 Abs. 1 des Bundesgesetzes<br />

vom 8. Oktober 1971 über den Schutz der Gewässer gegen Verunreinigung (Gewässerschutzgesetz;<br />

GSchG; SR-814-20)), das Gesetz wendet sich an die Allgemeinheit: Jedermann<br />

ist verpflichtet, alle nach den Umständen erforderliche Sorgfalt anzuwenden, um die<br />

Verunreinigung der Gewässer zu vermeiden (Art. 13 GSchG). Das gilt auch für den Staat; er<br />

ist im Rechtsstaat umfassend an das Recht gebunden. Sodann ist der Staat besonders angesprochen:<br />

Der Vollzug des Gewässerschutzrechts ist eine öffentliche Aufgabe der Kantone<br />

(Art. 24bis Abs. 5 BV, Art. 5 Abs. 1 GSchG). Sie sind verpflichtet, alle notwendigen gesetzlichen<br />

Massnahmen zum Schutz der Gewässer zu ergreifen, Die Kantone haben gegen defekte<br />

Anlagen vorzugehen. Ferner hatten -- und haben noch immer -- sie dafür zu sorgen, dass<br />

Altanlagen (vgl. Art. 10 Abs. 1 der Verordnung über den Schutz der Gewässer vor wassergefährdenden<br />

Flüssigkeiten vom 28. September 1981 (VWF; SR-814-226-21)), die den massgebenden<br />

Vorschriften nicht entsprachen, angepasst oder ausser Betrieb gesetzt wurden<br />

(Art. 57 Abs. 1 VWF). Das bedeutete, dass die Anlagen nach den damaligen Technischen<br />

Tankvorschriften (TTV) vom 27. Dezember 1967 (SR-814-226-211) so abzuändern waren,<br />

dass sie annähernd den gleichen Sicherheitsgrad erreichten wie Neuanlagen (Art. 10 Abs. 2<br />

in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 VWF). Die Kantone hatten die Fristen für die Anpassung<br />

nach der Dringlichkeit des Einzelfalles festzulegen; sie hatten dazu 15 Jahre Zeit (vgl. Art. 51<br />

Abs. 2 der Verordnung zum Schutze der Gewässer gegen Verunreinigung durch wassergefährdende<br />

Flüssigkeiten vom 19. Juni 1972,<br />

welche durch Art. 63 Abs. 1 VWF aufgehoben worden ist). Altanlagen mussten demnach<br />

spätestens bis zum 1. Juli 1987 angepasst sein (Art. 57 Abs. 2 VWF). Passte der Eigentümer<br />

oder Inhaber die Anlage nicht an oder setzte er sie nicht ausser Betrieb, so hatte ihm die<br />

kantonale Behörde eine letzte Frist einzuräumen. Kam er der Aufforderung auch binnen dieser<br />

Frist nicht nach, so hatte sie die Altanlage auf seine Kosten ausser Betrieb zu setzen (Art. 7<br />

GSchG, Art. 57 Abs. 4 VWF).<br />

b) Die Tankanlage des Beschwerdegegners war eine Altanlage. Seit Herbst 1981 wusste die<br />

zuständige Behörde, dass sie Mängel aufweist. Am 30. Oktober 1986 besichtigten der Technische<br />

Experte des Amtes für Umweltschutz (AfU) und Revisor W. die Anlage und besprachen<br />

die Sanierungsmöglichkeiten. Bereits vorher, am 6. Februar 1986, war dem Anlageeigentümer<br />

eine Frist bis 31, Dezember 1986 gesetzt worden, um die fällige Revision durchführen<br />

zu lassen. Nachdem diese abgelaufen war, wurde er am 6. Februar 1987 gemahnt<br />

und zur Tankrevision bis spätestens 30. April 1987 aufgefordert. Auch diese Frist verstrich<br />

ungenutzt. Das nächste Ereignis war der Unfall, welcher am 26. September 1987 entdeckt<br />

wurde und die Gewässerschutzmassnahmen auslöste. Die kantonalen Behörden duldeten<br />

somit während Jahren eine konkret mangelhafte Tankanlage in einem Gewässerschutzbereich;<br />

damit verstiessen sie gegen die gesetzliche Handlungspflicht (vgl. BGE vom 17. Dezember<br />

1980, ZBl 82/1981, 373 Erw. 4). Zudem setzten sie dem Anlageeigentümer lediglich<br />

- 167 -


Frist zur Revision (vgl. Art. 24 Abs. 3 GSchG, Art. 44 ff. VWF), nicht aber zur Anpassung<br />

oder gar Stillegung der Anlage. Die Regierung wendet in ihrer Vernehmlassung zwar ein, der<br />

Anlageeigentümer wäre, hätte er die Revision bis 30. April 1987 durchgeführt, unverzüglich<br />

angewiesen worden, die bestehenden Mängel zu beheben oder die Anlage ausser Betrieb zu<br />

setzen. Indessen steht das im Widerspruch zum Verhalten der Behörden im tatsächlich eingetretenen<br />

Fall: Obwohl der Anlageeigentümer die Frist verstreichen liess, reagierten sie nicht.<br />

Überdies war im vorliegenden Fall nicht bloss eine Anpassung oder Stillegung der konkreten<br />

Anlage bis zum 1. Juli 1987, sondern sogar eine vordringliche Intervention der kantonalen<br />

Behörden angezeigt. Der Kanton hat somit durch das Vorgehen und die Versäumnisse gegen<br />

seine allgemeine bundesrechtliche Pflicht verstossen, alle Altanlagen anpassen zu lassen oder<br />

stillzulegen (Art. 57 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 VWF).<br />

c) Demnach hat sich der Kanton gegenüber dem Anlageeigentümer zu Unrecht nicht durchgesetzt.<br />

Er hat nicht nur gegen seine allgemeine Pflicht verstossen, alle Altanlagen an das<br />

neue Recht anpassen zu lassen oder sie stillzulegen. Vielmehr duldete er eine ihm als konkret<br />

mangelhaft bekannte Anlage in einem Gewässerschutzbereich A. Dadurch hat er das Gewässerschutzrecht<br />

klar verletzt. Er hat nicht ordnungswahrend gehandelt.<br />

c) aa) Eine Gefahr besteht nicht erst, wenn der Eintritt des Schadens als gewiss prognostiziert<br />

werden muss. Anderseits genügt die blosse Möglichkeit, dass durch die Unterlassung<br />

ein Schaden eintreten werde, ebensowenig zur Annahme einer Gefahr. Insbesondere ist die<br />

sogenannte latente oder potentielle Gefahr noch keine polizeiliche Gefahr. Polizeilich ist die<br />

Gefahr erst, wenn zusätzliche, neue Umstände den Eintritt eines Schadens ernsthaft befürchten<br />

lassen (Bill Drews/Gerhard Wacke/Klaus Vogel/Wolfgang Martens, Gefahrenabwehr, 9.<br />

Aufl., Köln etc. 1986, S. 223 f.).<br />

b) Im vorliegenden Fall wurde die Gefahr nicht schon allein dadurch begründet, dass die Altanlage<br />

am 31. Juli 1987 noch nicht saniert bzw. stillgelegt war; mit Ablauf der gesetzlichen<br />

Frist am 1. Juli 1987 änderte sich am Gefahrenpotential grundsätzlich ja nichts. Indessen<br />

war die Anlage konkret mangelhaft. Der Kanton wusste seit 1981 vom ungenügenden Zustand<br />

der Anlage, zudem musste er ab Ende 1986 davon ausgehen, dass ihr Eigentümer die<br />

Mängel nicht selbständig beheben würde. Dass der Kanton tätig werde, war besonders geboten,<br />

da Gewässerverschmutzungen, gerade durch eine Anlage in einem Gewässerschutzbereich<br />

A, folgenschwere Auswirkungen haben. Der Schadeneintritt war ernsthaft zu befürchten;<br />

es war sehr wahrscheinlich, dass ohne ein präventives polizeiliches Eingreifen die Störung<br />

eintreten werde (Mathys, a.a.O., S. 72). Somit lag eine hohe polizeiliche Gefahr vor.<br />

d) aa) Störend sind blosse Handlungen oder Unterlassungen, welche unmittelbar wirken (BGE<br />

114 Ia 48 Erw. 2a; 102 Ib 207 f. Erw. 3; BGE vom 12. Februar 1986, ZBl 88/1987, 302 f.<br />

Erw. 1a; Drews/Wacke/Vogel/Martens, S. 313 f; Claude Rouiller, L'exécution anticipée d'une<br />

obligation par équivalent. Note sur les art. 7 et 8 LPEP, in: Mélanges André Grisel, Neuchâtel<br />

1983, S. 591 ff., S. 598); dazu gehören auch diejenigen, die das polizeiwidrige Verhalten<br />

Dritter, das in Kauf genommen wird, veranlassen oder gar bezwecken (BGE vom 7. Oktober<br />

1981, ZBl 83/1982, 541 ff., 544 und 547; Mathys, a.a.O., S. 18 f., 42 ff.). Mit dem Kriterium<br />

der Unmittelbarkeit soll der Ursachenbegriff begrenzt werden (BGE 114 Ib 48 Erw. 2a;<br />

Thürer, a.a.O., S. 475).<br />

b) Wenn der Staat die ihm obliegenden Aufgaben der präventiven Gefahrenabwehr nicht richtig<br />

erfüllt, darf er im allgemeinen nicht als unmittelbarer Verursacher betrachtet werden. Indessen<br />

ist der vorliegende Fall besonders krass. Der Kanton wusste um die anhaltende, kon-<br />

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krete Gefahr, die von der Tankanlage ausging, sowie, dass der Anlageeigentümer die Mängel<br />

nicht selber behebt. Zudem war der Kanton ohnehin verpflichtet, die Altanlage an das neue<br />

Recht anpassen zu lassen oder stillzulegen. Trotzdem hat er nichts unternommen, um den<br />

Eintritt der Störung zu verhindern. Er duldete die Gefahr. Dem Kanton Graubünden muss im<br />

vorliegenden Fall vorgeworfen werden, eine Gewässerverschmutzung durch die Tankanlage<br />

nicht verhindert, sondern in Kauf genommen zu haben. Damit ist sein Verhalten für die Gewässerverschmutzung<br />

unmittelbar ursächlich.<br />

e) Dass dem Kanton aus personellen Gründen Grenzen gesetzt sind und deshalb die Überwachung<br />

bei der grossen Zahl von Altanlagen schwierig ist, entlastet ihn nicht. Die Behörden<br />

sind zwar weitgehend auf die Selbstverantwortung und -kontrolle der Betreiber gewässergefährdender<br />

Anlagen angewiesen. Indessen hatten sie die Aufgabe, Altanlagen anpassen zu<br />

lassen oder allenfalls ausser Betrieb zu setzen. Dazu hätten sie vermehrt die offenbar seit<br />

1980 der Verwaltung zur Verfügung stehenden Mittel der Computertechnologie einsetzen<br />

können. Jedenfalls war es zumutbar, alle dem Kanton gemeldeten konkret mangelhaften Anlagen<br />

auf den Schlusstermin des 1. Juli 1987 zu erfassen und hier die Prioritäten zu setzen.<br />

Die kantonalen Weisungen vom 5. Januar 1987 verlangten dies -- rechtswidrigerweise --<br />

nicht. Der Kanton unterliess es demnach, eine ihm übertragene öffentliche Aufgabe ordnungsgemäss<br />

zu erfüllen, obwohl er dazu 15 Jahre Zeit hatte und die dafür notwendigen<br />

Mittel besass. Hätten ihm die Mittel tatsächlich gefehlt, hätte er die Aufgaben rechtzeitig<br />

entweder den Gemeinden delegieren oder sich selber die Mittel beschaffen können. Der Kanton<br />

war aufgrund des zeitlichen Ablaufs der Vorfälle und der frühzeitigen Kenntnis der Mangelhaftigkeit<br />

der Anlage in besonderem Mass in der Lage, gegen die Polizeiwidrigkeit vorzugehen<br />

und die Gewässerverschmutzung zu verhindern (Thürer, a.a.O., S. 475). Trotzdem<br />

duldete er die Gefahrensituation. Dafür besteht kein Rechtfertigungsgrund. Demnach ist die<br />

rechtswidrige Unterlassung unmittelbar ursächlich für die polizeiwidrige Gefahr; der Kanton<br />

ist mitverursachender Verhaltensstörer nach Art. 8 GSchG.<br />

6. Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass sie als Mitverursacherin an der Gewässerverschmutzung<br />

zu gelten hat. Indessen beanstandet sie die Bewertung des Verschuldensgrades<br />

des Chauffeurs und des Anlageeigentümers; sie sei von jeglicher Kostentragungspflicht<br />

für die Gewässerschutzmassnahmen zu befreien.<br />

a) Bei einer Mehrheit von Störern kann die Behörde nicht einen Störer mit der vollen Zahlungspflicht<br />

belasten und ihm die Auseinandersetzung mit anderen Verantwortlichen überlassen.<br />

Art. 8 GSchG schafft keine Solidarhaft unter verschiedenen Verursachern. Auch wenn<br />

die Festlegung der Quoten in manchen Fällen schwierig ist, besteht kein Grund, die zuständige<br />

Behörde von dieser Aufgabe zu entlasten; die Kosten sind nach möglichst genauer Klärung<br />

des Hergangs zu verteilen. Ein Verursacher ist kostenpflichtig, ob er sich eine Rechtswidrigkeit<br />

zuschulden kommen liess oder nicht. Es genügt, wenn sein bzw. das ihm zuzurechnende<br />

Verhalten Dritter oder die Sachen, über die er rechtliche oder tatsächliche Gewalt<br />

ausübt, den polizeiwidrigen Zustand, das heisst die Gewässerverschmutzung, bewirkt haben<br />

(BGE 114 Ib 52 f. E. 2/cc; Rouiller, a.a.O., S. 598). Zwar missbilligt das Gesetz vor allem die<br />

schuldhafte Gewässerverschmutzung und bedroht demgemäss den Verhaltensstörer mit Kosten;<br />

es droht solche aber gleichzeitig dem schuldlosen Zustandsstörer an, der nur durch seine<br />

Herrschaft über die polizeiwidrige Sache mit dem Schadenfall verknüpft ist. Das Verschuldenselement<br />

und das kausale Element stehen nebeneinander. Die Skala der ethischen Wertungen,<br />

wie sie in Art. 51 Abs. 2 OR zum Ausdruck kommt, ist überlagert von einer anderen,<br />

welche die wirtschaftliche Interessenlage mitberücksichtigt und den Gesichtspunkten der Billigkeit<br />

und der Praktikabilität Rechnung trägt. Einer solchen Lösung kann im Hinblick auf an-<br />

- 169 -


dere Kausalhaftungen die Rechtfertigung nicht abgesprochen werden; wer Situationen<br />

schafft, die mit oder ohne Verschulden Dritter zu Gewässerverschmutzungen führen können,<br />

soll grundsätzlich auch bei der Kostentragung für Schutz und Sanierungsmassnahmen mitwirken.<br />

Somit dürfte in der Regel in erster Linie der schuldhafte Verhaltensstörer und in letzter<br />

Linie der schuldlose Zustandsstörer heranzuziehen sein. Auch wenn einer von mehreren<br />

Verursachern Zustands- und Verhaltensstörer zugleich sein sollte, so hat diese doppelte Begründung<br />

seiner Haftung nicht von selbst seine ausschliessliche Pflicht zur Tragung aller Kosten<br />

zur Folge; die anderen Störer können im Rahmen ihrer Verursacheranteile ebenfalls zur<br />

Kostentragung herangezogen werden (BGE 102 Ib 210 f. Erw. 5c, 101 Ib 417 ff. Erw. 6;<br />

BGE vom 12. Februar 1986, ZBl 88/1987, 305 Erw. 3).<br />

b) Die Regierung bezeichnet den Eigentümer der Anlage als Zustands- und Verhaltensstörer,<br />

die Beschwerdeführerin aber, welche für ihren Angestellten einstehen muss, lediglich als<br />

Verhaltensstörerin. Sie erachtet das Verschulden des Chauffeurs als grobfahrlässig; dagegen<br />

trete die Verantwortung des Eigentümers der Tankanlage für den Unfall in den Hintergrund.<br />

Auch hätte durch das pflichtgemässe Verhalten des Eigentümers der Ölunfall nicht unbedingt<br />

vermieden werden können. Das menschliche müsse gegenüber dem technischen Versagen<br />

stärker gewichtet werden. Die Kosten der Ölwehrmassnahmen seien daher zu zwei Dritteln<br />

von der Beschwerdeführerin und zu einem Drittel vom Anlageeigentümer zu tragen.<br />

c) Die Liegenschaft "Chesa Guarda L'En" liegt in der Gewässerschutzzone A (vgl. Art. 15<br />

VWF). Für den mittelgrossen Tank (vgl. Art. 4 Abs. 5 lit. c VWF) sind Schutzmassnahmen<br />

erforderlich, die gewährleisten, dass Flüssigkeitsverluste leicht erkannt und auslaufende Flüssigkeiten<br />

zurückgehalten werden (Art. 27 Abs. 1 VWF). Schutzbauwerke für Öltanks können<br />

Keller sein (Art. 29 TTV; vgl. Art. 9 VWF), sofern Boden und Wände aus solidem, rissfreiem<br />

Beton bestehen und zusammen mit einer standsicheren Trennwand aus armiertem Beton eine<br />

Auffangwanne bilden (Art. 34 Abs. 2 TTV). Die Wannen sind mit einer öldichten, ölbeständigen,<br />

strapazierfähigen und schwer brennbaren Auskleidung zu versehen (Art. 34 Abs. 3<br />

TTV). Das Fassungsvermögen der Wanne hat dem Tanknutzinhalt zu entsprechen (Art. 34<br />

Abs. 6 TTV). Der Eigentümer solcher Anlagen ist verpflichtet, für deren einwandfreies Funktionieren,<br />

die Instandhaltung und die richtige Bedienung besorgt zu sein; er hat die Einrichtungen<br />

in angemessenen Zeitabständen sachgemäss revidieren zu lassen und das Personal<br />

hinreichend zu instruieren (Art. 24 Abs. 3 GSchG).<br />

d) Es kann nicht darüber hinweggesehen werden, dass der Ölunfall keinen nennenswerten<br />

Schaden verursacht hätte, wenn der Tankkellerboden undurchlässig gewesen wäre, wie er es<br />

nach seiner Zweckbestimmung hätte sein sollen. Indessen war er undicht, weshalb ein grosses<br />

Quantum Öl versickern konnte. Der Hauseigentümer hat seine diesbezüglichen Pflichten<br />

verletzt. Er hat sich nicht nur nicht an die Auflagen des AfU gehalten, er wäre auch von Gesetzes<br />

wegen, ohne Intervention der Behörden, verpflichtet gewesen, bei Feststellung der<br />

Schadhaftigkeit des Schutzbauwerks von sich aus alles Zumutbare vorzukehren, um eine allenfalls<br />

mögliche Gewässerverunreinigung zu verhindern (Art. 13 und Art. 24 Abs. 4<br />

GSchG). Er hatte seit langem Kenntnis von der Mangelhaftigkeit des Schutzwerks und wurde<br />

mehrfach zur Revision aufgefordert und sogar gemahnt. Zudem war er von Gesetzes wegen<br />

verpflichtet, seine Tankanlage sanieren zu lassen; auch dies hat er unterlassen. Er hat seine<br />

Gewässerschutzpflicht gröblich verletzt und muss sich ein hohes Mass an Fahrlässigkeit zurechnen<br />

lassen. Das Verschulden des Chauffeurs wäre ohne schlimme Folgen geblieben,<br />

wenn die baulichen Anlagen, für die der Hauseigentümer die Verantwortung trägt, den Vorschriften<br />

entsprochen hätten. Die Einschätzung dieser zweiten Schadensursache durch die<br />

Regierung und die entsprechende Belastung des Beschwerdegegners mit einem Kostenanteil<br />

- 170 -


von lediglich einem Drittel hält nach dem Gesagten nicht stand. Das Bundesgericht hatte in<br />

einem früheren Entscheid den Fall zu behandeln, in dem eine Hauseigentümerin vom Mangel<br />

des Schutzbauwerks keine Kenntnis gehabt hatte und ihn bei zumutbarer Aufmerksamkeit<br />

auch nicht hätte kennen müssen. Ihr Kostenanteil von 25% erachtete das Bundesgericht als<br />

angemessen. Es hielt jedoch fest, dass ihr Kostenanteil zweifellos höher hätte angesetzt<br />

werden müssen, wenn sie vom Mangel Kenntnis gehabt oder ihn bei zumutbarer Aufmerksamkeit<br />

hätte kennen müssen und sie die erforderlichen Sicherungsmassnahmen trotzdem<br />

unterlassen hätte (vgl. unveröffentlichtes Urteil vom 15. Dezember 1983 i.S. Casabella, Erw.<br />

4). Unter diesem Gesichtspunkt muss die Verantwortung des Hauseigentümers weit höher<br />

eingestuft werden und kann das Verhalten des Chauffeurs der Beschwerdeführerin nicht als<br />

Hauptursache für die Gewässerverschmutzung bezeichnet werden. Das technische Versagen<br />

des Schutzbauwerks ist mit dem menschlichen Versagen des Eigentümers zu verbinden, der<br />

von der technischen Unzulänglichkeit des Bauwerks Kenntnis hatte, die Mängel jedoch nicht<br />

behob.<br />

e) Das ändert nichts daran, dass auch die Beschwerdeführerin Mitverantwortung für die Gewässerverschmutzung<br />

trifft. Von ihrem Chauffeur muss erwartet werden, dass er wegen der<br />

hohen potentiellen Gefährdung des Grundwassers durch den Ölumschlag die geltenden Vorschriften<br />

kennt und sie kompromisslos anwendet. Wäre er richtig vorgegangen, hätten die<br />

Folgen des Unfalls reduziert werden können. Denn er hätte den Füllvorgang persönlich zu<br />

überwachen gehabt und hätte ihn dannzumal jederzeit unterbrechen können (Art. 3 Abs. 3<br />

der Verordnung vom 20. September 1973 über Füllsicherungen bei Tanks (SR-814-226-211-<br />

31)). Er hätte dauernd anwesend sein und abwechslungsweise die am Umschlag beteiligten<br />

Anlagen (Fahrzeug, Behälter und Leitungen) in bezug auf den Füllstand, die Dichtheit und allfällige<br />

Flüssigkeitsverluste kontrollieren müssen (kantonales Merkblatt 4.0 Ziffer 3.1 B st. d).<br />

7. Zusammenfassend ergibt sich, dass die Kosten für die Ölwehrmassnahmen zu Unrecht<br />

zum grössten Teil der Beschwerdeführerin auferlegt worden sind. Vielmehr ist es angezeigt,<br />

den Hauseigentümer stärker zu belasten; immerhin verbleibt der Beschwerdeführerin ein wesentlicher<br />

Teil. Die Mitverantwortung des Kantons dagegen ist im Verhältnis zu den andern<br />

Verursachern von untergeordneter Bedeutung, darf indessen nicht vollständig übergangen<br />

werden; somit hat auch er einen Teil der erwachsenen Kosten zu tragen. Angesichts der<br />

Umstände ist der Hauseigentümer mit 60% der entstandenen Kosten zu belasten, während<br />

der Beschwerdeführerin 30% verbleiben und der Kanton Graubünden 10% zu tragen hat. Die<br />

Beschwerde erweist sich in diesem Sinn als begründet, und der angefochtene Entscheid der<br />

Regierung des Kantons Graubünden ist aufzuheben und entsprechend abzuändern (Art. 114<br />

Abs. 2 OG).<br />

- 171 -


BGE 120 Ib 411 / Staatshaftung für spitalärztliche Tätigkeit<br />

Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 25. Oktober 1994 i.S. K. G. gegen Kanton<br />

Aargau (Direktprozess). Staatshaftung für spitalärztliche Tätigkeit. Anforderungen an die ärztliche<br />

Sorgfaltspflicht (E. 4a). Die Haftung des Arztes für einen Selbstmordversuch des Patienten<br />

setzt eine konkret erkennbare Suizidgefährdung voraus (E. 4b/c).<br />

Sachverhalt<br />

A.- K. G. besuchte am Freitag den 21. August 1986 nach ihrer Arbeit ihren Ehemann A. G.,<br />

welcher seit zwei Monaten Patient auf der offenen Station P 8-2 der Psychiatrischen Klinik<br />

Königsfelden war. A. G. stellte fest, dass es seiner Frau psychisch nicht gut ging. Er fragte<br />

deshalb den Abteilungsarzt Dr. B., ob er die Nacht mit ihr zuhause verbringen dürfe. Im Gespräch<br />

mit Frau G. fielen dem Arzt ihr "paranoider Blick" und ihre "Verfolgungsideen" auf; er<br />

entsprach deshalb dem Wunsch ihres Ehemannes. Da sich der Gesundheitszustand von Frau<br />

G. in der Nacht verschlechtert hatte, entschloss sich Herr G. am Morgen, seine Frau in die<br />

Klinik mitzunehmen und eine stationäre Aufnahme zu veranlassen. Das Ehepaar wurde von<br />

einer Krankenschwester ins Besuchszimmer gebeten und aufgefordert, auf den zuständigen<br />

Tagesarzt zu warten. Um ca. 07.45 Uhr erschien Dr. A. und führte das Ehepaar in sein Büro.<br />

Da Frau G. einen offensichtlich verstörten Eindruck machte und in Anwesenheit des Ehemannes<br />

kaum sprechen wollte, schickte Dr. A. den Ehemann ins Besuchszimmer.<br />

Im Gespräch mit Frau G. stellte Dr. A. fest, dass sie zeitlich und autopsychisch nicht voll orientiert<br />

war und unter Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn litt. In der Folge liess Dr. A.<br />

Frau G. allein in seinem Büro, um mit Dr. B. und dem Oberarzt zu telefonieren. Während dieser<br />

Gespräche begab sich Frau G. in den Korridor und stürzte sich aus dem offen stehenden<br />

Fenster auf das ca. 4 m tiefer liegende Vordach des Pavillons. Sie erlitt dabei u.a. schwere<br />

Hirnverletzungen und ist seither vollkommen arbeitsunfähig.<br />

B.- Am 11. März 1991 klagte K. G. gestützt auf Art. 42 Abs. 1 OG beim Bundesgericht gegen<br />

den Kanton Aargau. Sie beantragte, der Beklagte sei zur Bezahlung von Fr. 220'000.--<br />

nebst Zins zu 5% seit 23. August 1986 zu verpflichten. Sie wirft Dr. A. eine Sorgfaltspflichtverletzung<br />

vor, weil er sie trotz ihrer desolaten psychischen Verfassung allein im Büro<br />

zurückgelassen habe. Gemäss § 75 der aargauischen Kantonsverfassung hafte der Kanton<br />

für den Schaden, den Behörden oder Beamte in Ausübung der amtlichen Tätigkeit widerrechtlich<br />

verursachten. Der Kanton Aargau bestreitet in seiner Klageantwort jegliche Verantwortlichkeit,<br />

da die Suizidgefahr von K. G. nicht erkennbar gewesen sei.<br />

C.- Der vom Instruktionsrichter zum Experten ernannte Prof. F. beantwortete im Gutachten<br />

vom 30. Juni 1992 die ihm unterbreiteten Fragen. Prof. F. empfahl überdies, die beiden Ärzte<br />

Dr. A. und Dr. B. sowie Herrn G. mündlich anzuhören. Gestützt darauf erstattete der Gutachter<br />

am 10. Februar 1993 einen zusätzlichen Bericht.<br />

D.- An der Hauptverhandlung vom 25. Oktober 1994 erhöhte die Klägerin ihren Schadenersatzanspruch<br />

auf Fr. 226'190.-- nebst Zins. Der Beklagte beantragte, im Haftungsfalle sei<br />

dieser Betrag gestützt auf Art. 43 und 44 OR auf einen Drittel herabzusetzen. Im Übrigen<br />

sind die Parteien bei ihren Rechtsauffassungen geblieben.<br />

- 172 -


Auszug aus den Erwägungen:<br />

4.- Die Klägerin erblickt in ihrer ungenügenden Überwachung eine pflichtwidrige Unterlassung<br />

des Tagesarztes Dr. A. und somit eine Haftung des Beklagten. Sie wirft dem Beklagten<br />

eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung vor.<br />

a) Die Besonderheit der ärztlichen Kunst liegt darin, dass der Arzt mit seinem Wissen und<br />

Können auf einen erwünschten Erfolg hinzuwirken hat, was aber nicht heisst, dass er diesen<br />

auch herbeiführen oder gar garantieren müsse; denn der Erfolg als solcher gehört nicht zu<br />

seiner Verpflichtung, gleichviel ob er als Beamter oder als Beauftragter des Patienten handelt.<br />

Die Anforderungen an die ärztliche Sorgfaltspflicht lassen sich zudem nicht ein für allemal<br />

festlegen; sie richten sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalles, namentlich nach<br />

der Art des Eingriffs oder der Behandlung, den damit verbundenen Risiken, dem Ermessensspielraum,<br />

den Mitteln und der Zeit, die dem Arzt im einzelnen Fall zur Verfügung stehen,<br />

sowie nach dessen Ausbildung und Leistungsfähigkeit. Allgemein lässt sich immerhin sagen,<br />

dass seine Haftung sich nicht auf grobe Verstösse gegen Regeln der ärztlichen Kunst beschränkt.<br />

Der Arzt hat Kranke stets fachgerecht zu behandeln, zum Schutze ihres Lebens<br />

oder ihrer Gesundheit insbesondere die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt<br />

zu beachten, grundsätzlich folglich für jede Pflichtverletzung einzustehen (BGE 115 Ib<br />

175 E. 2b S. 180, 113 II 429 E. 3a S. 32/33 mit Hinweisen).<br />

Der Begriff der Pflichtverletzung darf jedoch nicht so verstanden werden, dass darunter jede<br />

Massnahme oder Unterlassung fällt, welche aus nachträglicher Betrachtungsweise den Schaden<br />

bewirkt oder vermieden hätte. Der Arzt hat für jene Gefahren und Risiken, die immanent<br />

mit jeder ärztlichen Handlung und auch mit der Krankheit an sich verbunden sind, im allgemeinen<br />

nicht einzustehen und übt eine gefahrengeneigte Tätigkeit aus, der auch haftpflichtrechtlich<br />

Rechnung zu tragen ist. Dem Arzt ist sowohl in der Diagnose wie in der Bestimmung<br />

therapeutischer oder anderer Massnahmen nach dem objektiven Wissensstand oftmals<br />

ein Entscheidungsspielraum gegeben, welcher eine Auswahl unter verschiedenen in Betracht<br />

fallenden Möglichkeiten zulässt. Sich für das eine oder das andere zu entscheiden, fällt in das<br />

pflichtgemässe Ermessen des Arztes, ohne dass er zur Verantwortung gezogen werden<br />

könnte, wenn er bei einer Beurteilung ex post nicht die objektiv beste Lösung gefunden hat.<br />

Eine Pflichtverletzung ist daher nur dort gegeben, wo eine Diagnose, eine Therapie oder ein<br />

sonstiges ärztliches Vorgehen nach dem allgemeinen fachlichen Wissensstand nicht mehr als<br />

vertretbar erscheint und damit ausserhalb der objektivierten ärztlichen Kunst steht. Dies entspricht<br />

denn seit langem bereits der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach der Arzt<br />

für eine unrichtige Beurteilung nur einzustehen hat, wenn diese unvertretbar ist oder auf objektiv<br />

ungenügender Untersuchung beruht, ihm aber objektive Fehlgriffe nicht als Sorgfaltspflichtverletzung<br />

vorzuwerfen sind, welche bei einem so vielgestaltigen und verschiedenartigen<br />

Auffassungen Raum bietenden Beruf in gewissem Umfang als unvermeidbar erscheinen<br />

(BGE 66 II 34, 64 II 200 E. 4a S. 205).<br />

Nach der Rechtsprechung ist ein Verhalten widerrechtlich, wenn es gegen Gebote oder Verbote<br />

der Rechtsordnung verstösst, die dem Schutz des verletzten Rechtsgutes dienen. Ein<br />

solches Gebot ist weder im aargauischen Spitalgesetz noch in den dazugehörigen Dekreten<br />

speziell festgehalten. Das ist jedoch nicht von Belang; denn wird ein Patient bei einer Heilbehandlung<br />

in seiner körperlichen Integrität getroffen, so ergibt sich die Widerrechtlichkeit<br />

schon aus dem Verbot, das den Art. 122 ff. StGB zugrunde liegt (BGE 115 Ib 175 E. 2b S.<br />

181, 112 II 118 E. 5e mit Hinweisen). Die objektiv gebotene Sorgfalt wird nach der Rechtsprechung<br />

und der herrschenden Lehre bei der vertraglichen Haftung von der Vertragsverlet-<br />

- 173 -


zung, bei der ausservertraglichen, zu der auch die Staatshaftung zu zählen ist, dagegen von<br />

der Widerrechtlichkeit erfasst; sie gehört daher im einen wie im andern Fall zum Beweisthema<br />

des Geschädigten, welcher die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hat (BGE 115 Ib 175<br />

E. 2b S. 181).<br />

b) Das Bundesgericht hat in BGE 112 Ib 322 ff. eine Verantwortlichkeit des Kantons Basel-<br />

Landschaft bejaht, weil ein Patient, der in einer geschlossenen Abteilung untergebracht war<br />

und dessen akute Suizidgefahr bekannt war, wegen ungenügender Sicherheit der Liftanlage<br />

entweichen konnte. Diese strenge Haftung der Anstaltsträger für Patienten, die wegen ihrer<br />

Selbstgefährdung zu behandeln sind und welche die Klinik vor einer Selbstschädigung zu bewahren<br />

hat, gilt auch nach deutscher Lehre (LAUFS, in LAUFS/UHLENBRUCK, Handbuch<br />

des Arztrechts, S. 645 Rz. 11). Die deutschen Richter messen jedoch laut den publizierten<br />

Urteilen dem Vorhandensein akuter Selbstgefährdungsanzeichen und der Voraussehbarkeit<br />

einer Suizidhandlung bei der Beurteilung einer Arzthaftung entscheidendes Gewicht bei (vgl.<br />

KUNTZ, Arzthaftungsrecht, Sammlung von Entscheiden, 1c/A/II S. 19, S. 25, S. 69; OLG<br />

Düsseldorf, VERSR 1984, S. 193 ff.). Dabei muss vor allem die konkrete Suizidgefahr im<br />

Auge behalten werden. Einen Behandlungsfehler begeht dabei insbesondere, wer eine konkret<br />

erkennbare Suizidgefährdung oder die Gefahr des Entweichens nicht erkennt, sie fehlerhaft<br />

einschätzt oder sie schlicht nicht beachtet. Je grösser die konkrete, aktuelle Suizidgefahr<br />

ist, desto intensiver müssen die erforderlichen Vorsichtsmassnahmen sein (GROPP, Zur<br />

rechtlichen Verantwortlichkeit des Klinikpersonals bei Suizidhandlungen BGE 120 IB 411 S.<br />

415 hospitalisierter Psychiatriepatienten, Medizinrecht 1994, Heft 4, S. 130 und S. 132).<br />

c) Werden diese allgemeinen Leitsätze auf den vorliegenden Fall angewendet, so ist eine<br />

Haftung des Beklagten zu verneinen.<br />

aa) Die Prüfung, ob dem an Stelle des Beklagten handelnden Arzt eine Ermessensüberschreitung<br />

zur Last gelegt werden muss, beurteilt sich nicht nach dem Sachverhalt, wie er sich<br />

nachträglich dem Experten oder dem Richter darstellt; massgebend ist vielmehr, was der<br />

Arzt im Zeitpunkt, in dem er sich für eine Massnahme entschied oder eine solche unterliess,<br />

von der Sachlage halten musste (BGE 115 Ib 175 E. 3b S. 184/185).<br />

bb) Prof. F. führt in seinem Gutachten aus, die Patientin habe keine Suizidabsichten geäussert<br />

und keine Symptome gezeigt, die auf eine akute Suizidgefährdung hingewiesen hätten,<br />

so dass ein unvermuteter Suizidversuch nicht zu erwarten gewesen sei. Nach der Zeugenbefragung<br />

kommt der Gutachter in seinen Ergänzungsberichten zum Schluss, Dr. A. habe damals<br />

aufgrund seiner Beurteilung, die ausreichend sorgfältig gewesen sei, keine akute Suizidgefährdung<br />

gesehen. Aus der Einschätzung der Situation vor dem Suizidversuch habe er mit<br />

einem gewissen Mass an Berechtigung annehmen dürfen, dass die Patientin, die freiwillig in<br />

Begleitung ihres Mannes in die Klinik gekommen war, nicht weglaufen würde. Was die Klägerin<br />

dagegen einwendet, vermag an den gutachterlichen Feststellungen, eine konkrete Suizidgefahr<br />

sei nicht erkennbar gewesen - und nur dies ist ausschlaggebend -, nichts zu ändern.<br />

Der Umstand, dass der Gutachter anerkennt, die Situation sei unklar gewesen, weil der affektive<br />

Kontakt zur Patientin gestört gewesen sei und gleichzeitig eine Sprunghaftigkeit des<br />

Denkens sowie Angst, Ratlosigkeit und ein gewisses Mass an Verworrenheit bestanden habe,<br />

reicht für eine Haftpflicht nicht aus. Ebenfalls unbeachtlich ist, dass die Frage, ob der<br />

Sturz aus dem Fenster medizinisch als Suizidversuch zu qualifizieren sei, vom Gutachter aufgrund<br />

der vorhandenen Informationen nicht beantwortet werden konnte. Auch wenn die<br />

Kurzschlusshandlung der Klägerin durch eine plötzlich einschiessende Wahneingebung oder<br />

Angst oder durch andere psychotische Motive hervorgerufen worden sein könnte, mithin ein<br />

- 174 -


Suizidversuch nach Auffassung von Prof. F. aufgrund der Umstände kurzfristig nicht hätte<br />

ausgeschlossen werden können, so genügt auch dies für eine Haftung des Beklagten nicht.<br />

Von einem haftpflichtrechtlich massgebenden Diagnosefehler des Arztes könnte nur dann die<br />

Rede sein, wenn die Suizidgefahr anlässlich des Gesprächs konkret erkennbar gewesen wäre.<br />

Ist eine solche Gefahr bei einem bestimmten Krankheitsbild, insbesondere bei akuten Psychosen<br />

aus dem schizophrenen Formenkreis, nicht auszuschliessen, so kann dieser Umstand<br />

allein - entgegen der Ansicht der Klägerin - noch keine Haftung auslösen. Ebensowenig genügt<br />

es für eine Haftung, dass es bei Würdigung der Gesamtsituation angezeigt gewesen<br />

wäre, die Patientin nicht allein zu lassen, denn diese Beurteilung stellt eine Ermessensentscheidung<br />

dar, welche nach Ansicht des Experten bei dem komplexen und ungewöhnlichen<br />

Ablauf der Ereignisse an diesem Morgen mit Unsicherheit und Ungewissheit behaftet bleiben<br />

müsste.<br />

Daraus erhellt, dass Dr. A. sein Ermessen, das sich primär nach fachärztlichen und nicht<br />

nach rechtlichen Kriterien beurteilt, nicht in unvertretbarer Weise gehandhabt hat. Die Klägerin<br />

hat somit den Beweis für eine Sorgfaltspflichtverletzung des behandelnden Arztes nicht<br />

zu erbringen vermocht, weshalb die Klage abgewiesen wird.<br />

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Sachverhalt<br />

Vacherin Mont d’Or<br />

Die Bundesbehörden informierten im November 1987 die Öffentlichkeit über das Auftreten<br />

von Listeriose-Bakterien im Weichkäse Vacherin Mont d’Or und empfahl gewissen Kreisen<br />

der Bevölkerung vom Konsum des Käses abzusehen.<br />

Wie sich später ergab, stützten sich diese Empfehlungen auf den Stand der damaligen wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse und trafen die angebrachten Unterscheidungen, inbesondere<br />

zwischen Vacherin Mont d’Or und anderen Käsesorten.<br />

Am 30. Juni 1989 bzw. 11./17. August 1989 wurden beim Bundesgericht sieben verwaltungsrechtliche<br />

Klagen von Weichkäseproduzenten eingereicht, die sich wegen des Verkaufsrückganges<br />

von Vacherin Mont d’Or in der Folge der Informationskampagne geschädigt fühlten,<br />

mit dem Begehren, die Schweizerische Eidgenossenschaft sei zur Zahlung von Schadenersatz<br />

zu verurteilen.<br />

Die Klagen beruhen auf der Behauptung der Bund habe seit dem Auftauchen von Listeria<br />

monocytogenes auf waadtländischem Vacherin Mont d'Or durch rechtlich und tatsächlich<br />

falsche, mangelhafte, verspätete oder ungeeignete warnende Informationen der Öffentlichkeit<br />

und ungerechtfertigte Herabsetzung der Produkte der Kläger in der Öffentlichkeit -- bzw.<br />

durch Unterlassen der angebrachten Informationen -- Bestimmungen des Bundesrechts verletzt<br />

und namentlich durch einen dadurch bewirkten allgemeinen Verkaufsrückgang bei<br />

Weichkäsen Schaden verursacht.<br />

Gesetzliche Grundlagen:<br />

Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz) vom<br />

18. Dezember 1970<br />

Art. 9 Oberaufsicht, Koordination<br />

Der Bund übt die Oberaufsicht über die Durchführung des Gesetzes aus und koordiniert wenn nötig die<br />

Massnahmen der Kantone.<br />

Art. 10 Ausserordentliche Umstände<br />

1 Wenn ausserordentliche Umstände es erfordern, kann der Bundesrat für das ganze Land oder für einzelne<br />

Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen.<br />

2 Er kann die Kantone mit der Durchführung derartiger Massnahmen beauftragen.<br />

Art. 11 Grundsatz<br />

Die Kantone treffen die Massnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. Vorbehalten bleibt<br />

Artikel 10.<br />

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Fragen zur Falllösung:<br />

1) Welches sind die Voraussetzungen für die Staatshaftung? Wie beurteilen Sie deren<br />

Vorliegen in casu?<br />

2) Worin besteht der Schaden der Weichkäseproduzenten? Wie ist er juristisch zu<br />

qualifizieren?<br />

3) Inwiefern ist die Voraussetzung der Widerrechtlichkeit von Bedeutung? Welche<br />

Argumente können für und gegen das Vorliegen der Widerrechtilichkeit ins Feld<br />

geführt werden?<br />

4) Wäre allenfalls eine Haftbarkeit für rechtmässiges Staatshandeln vorstellbar?<br />

5) Wie müsste heute in einem Fall wie dem vorliegenden verfahrensmässig vorgegangen<br />

werden?<br />

[118 Ib 473 / Vacherin Mont d’Or]<br />

- 177 -


Sachverhalte<br />

1. Logopädin<br />

Modul XIII<br />

Repetitorium (Selbststudium)<br />

X. ist diplomierte Logopädin mit Vorbildung Matura. Sie wurde per 1. April 1978 definitiv an<br />

die Primarschule W. gewählt, wo sie seither Sprachheilunterricht erteilt. Ihre Besoldung setzt<br />

sich zusammen aus 90% der Grundbesoldung für Primarlehrer und einer Zulage für Spezialunterricht.<br />

Diese Kürzung um 10% beruht auf einer im Einzelfall getroffenen Anordnung, wobei<br />

die kantonalen Behörden sich auf Art. 15 Abs. 3 des kantonalen Dekrets vom 21. September<br />

1971 über die besonderen Klassen und den Spezialunterricht der Volksschule (DbK)<br />

stützen. Dieser Artikel lautet wie folgt:<br />

"Art. 15 Besoldungen<br />

1 Lehrer, welche an Kleinklassen A B oder C unterrichten, erhalten eine Zulage zur Primarlehrergrundbesoldung<br />

gemäss Lehrerbesoldungsgesetz.<br />

2 Der Spezialunterricht wird in der Regel ebenfalls nach den Besoldungsbestimmungen für<br />

die Primarlehrerschaft im Verhältnis zur Stundenzahl besoldet.<br />

3 Für Ausnahmefälle nach Absatz 2 und Artikel 9 Absatz 2 werden die Besoldung und eine<br />

allfällige Zulage von der Erziehungsdirektion festgesetzt. Im Streitfall trifft das Personalamt<br />

eine Verfügung."<br />

Dies Dekret stützt sich nach den kantonalen Behörden auf Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes vom<br />

1. Juli 1973 über die Lehrerbesoldungen (LBG). Diese Bestimmung lautet wie folgt:<br />

"Art. 5 Nähere Regelungen der Besoldungen, der Zulagen und der Entschädigungen<br />

1 Der Grosse Rat legt die Besoldungen und Zulagen gemäss Art. 4 Absätze 1 und 2 sowie<br />

die Dienstaltersgeschenke durch Dekret fest. Den Besoldungszuschlägen soll die Funktion<br />

zukommen, der Lehrerschaft einen angemessenen finanziellen Aufstieg zu ermöglichen."<br />

Logopäden, welche vor ihrer logopädischen Ausbildung eine Primarlehrerausbildung absolviert<br />

haben, erhalten demgegenüber die volle Grundbesoldung für Primarlehrer und die Zulage für<br />

Spezialunterricht.<br />

Mit Eingabe vom 26. August 1993 gelangte X. an das Personalamt des Kantons Bern; sie<br />

führte aus, die zehnprozentige Kürzung des Grundlohnes lasse sich nicht auf die geltende<br />

Gesetzgebung abstützen. Sie ersuchte um entsprechende Erhöhung der Grundbesoldung und<br />

rückwirkende Nachzahlung des unrechtmässig abgezogenen Differenzbetrages für die letzten<br />

fünf Jahre.<br />

Das Amt für Finanzen und Administration der Erziehungsdirektion und auf Rekurs hin die Erziehungsdirektion<br />

des Kantons Bern wiesen das Begehren ab. X. erhob dagegen Beschwerde<br />

an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, welches diese mit Urteil vom 13. November<br />

1995, zugestellt am 24. November 1995, abwies.<br />

- 178 -


Fragen zur Falllösung:<br />

1) Welches Rechtsmittel kann X. ergreifen, um den Entscheid des Verwaltungsgerichts<br />

Bern anzufechten?<br />

2) Welche Rügen können vorgebracht werden?<br />

3) Mit welcher Kognition hat das Bundesgericht die jeweiligen Rügen zu prüfen?<br />

[BGE 123 I 1 / Logopädin]<br />

- 179 -


2. Vereinigung Schweizer Weinhandel<br />

Das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) gelangte am 20. Mai 1997 an die interessierten<br />

Kreise der Weinwirtschaft und teilte ihnen mit, dass gestützt auf eine neue Verordnung die<br />

Eidgenössische Weinhandelskontrollkommission (Kommission) eingesetzt werde. Für die neben<br />

dem Präsidenten und dem Vertreter der Konsumentenorganisationen noch freien sieben<br />

Kommissionssitze sei vorgesehen, diese unter den Verteilerorganisationen (1 Sitz), dem<br />

Wein- und Spirituosenhandel (3 Sitze) sowie den Produzenten (3 Sitze) aufzuteilen. Das BLW<br />

lud die interessierten Kreise ein, Wahlvorschläge einzubringen.<br />

Im anschliessenden Schriftenwechsel zwischen dem BLW und der Délégation du commerce<br />

suisse du vin (Delegation) als Vertreterin des Schweizerischen Weinhändlerverbandes, der<br />

UNIVIN sowie weiterer Vereinigungen stellte sich die Delegation auf den Standpunkt, der<br />

Weinhandel habe Anspruch auf vier Sitze in der Kommission.<br />

Das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (EVD) entschied am 10. Oktober 1997,<br />

dass die Kommission eingesetzt sei und sich für die Amtsperiode 1997 bis 2000 aus den in<br />

einem Anhang aufgeführten Mitgliedern und Ersatzleuten zusammensetze. Die Aufteilung der<br />

Sitze auf die interessierten Kreise bildet nicht Bestandteil des Dispositivs der Verfügung des<br />

EVD, sondern ging bloss sinngemäss aus der Liste im Anhang hervor. Die Sitzverteilung folgte<br />

einem bestimmten Verteilschlüssel (nebst der Präsidentin oder dem Präsidenten und dem<br />

Mitglied der Konsumentenorganisationen ein Vertreter der Verteilerorganisationen, drei Vertreter<br />

des Wein- und Spirituosenhandel sowie drei Vertreter der Produzenten).<br />

Am 29. Oktober 1997 gelangten der Schweizerische Weinhändlerverband und die UNIVIN<br />

mit gleichlautenden Beschwerden an den Bundesrat und beantragten, die Verfügung des EVD<br />

sei aufzuheben und dem Weinhandel seien in der Kommission unter erneuter Durchführung<br />

des Wahlverfahrens mindestens vier Sitze einzuräumen. Auf Kosten der ernannten Vertreter<br />

der Produzenten solle folglich ein zusätzliches Mitglied samt Stellvertreter aus dem Kreis des<br />

Weinhandels gewählt werden.<br />

Am 28. November 1997 schlossen sich die beiden beschwerdeführenden Verbände zur Vereinigung<br />

Schweizer Weinhandel zusammen. Diese hielt in ihrer Stellungnahme vom<br />

23. Februar 1998 an der Beschwerde fest.<br />

- 180 -


Gesetzliche Grundlagen:<br />

Verordnung über ausserparlamentarische Kommissionen sowie Leitungsorgane und Vertretungen des<br />

Bundes (Kommissionenverordnung)<br />

vom 3. Juni 1996<br />

Art. 2<br />

1 Ausserparlamentarische Kommissionen (Kommissionen) sind vom Bund eingesetzte Gremien, die für<br />

Regierung und Verwaltung öffentliche Aufgaben erfüllen.<br />

2 Nicht als Kommissionen gelten Arbeitsgruppen, die:<br />

a. mehrheitlich aus Angehörigen der Bundesverwaltung bestehen; oder<br />

b. auf informelle Weise zur Behandlung von Einzelfragen gebildet werden.<br />

Art. 5 Verwaltungs- und Behördenkommissionen<br />

1<br />

Kommissionen sind ihrer Funktion nach entweder Verwaltungs- oder Behördenkommissionen.<br />

2<br />

Verwaltungskommissionen haben beratende und vorbereitende Funktion.<br />

3<br />

Behördenkommissionen sind mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattet. Sie bedürfeneiner entsprechenden<br />

gesetzlichen Grundlage.<br />

Art. 9 Ausgewogene Zusammensetzung<br />

Kommissionen müssen nach Interessengruppen, Geschlechtern, Sprachen, Regionen und Altersgruppen<br />

ausgewogen zusammengesetzt sein.<br />

Art. 11 Einsetzungsverfügung<br />

1<br />

Kommissionen werden durch Verfügung des Bundesrates, der Departementsvorsteherin oder des Departementsvorstehers<br />

beziehungsweise der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers eingesetzt.<br />

2<br />

Die Einsetzungsverfügung hat insbesondere folgenden Inhalt:<br />

a. sie umschreibt den Auftrag und gibt die Fristen für dessen Erfüllung an;<br />

b. sie nennt die Mitglieder unter Angabe ihres Geburtsjahres, ihres Berufes und ihrer Funktion in der<br />

Kommission;<br />

c. sie regelt die Organisation;<br />

d. sie regelt die Berichterstattung und die Information der Öffentlichkeit;<br />

e. sie umschreibt die Verwendungsrechte des Bundes an allenfalls entstehenden urheberrechtlich geschützten<br />

Werken und Verfahren;<br />

f. sie regelt die Schweigepflicht;<br />

g. sie regelt wenn nötig die Beziehungen der Kommission zu Kantonen und Parteien sowie zu anderen<br />

Organisationen;<br />

h. sie weist die Sekretariatsarbeiten zu;<br />

i. sie nennt die finanziellen Rahmenbedingungen, insbesondere die Kredite für besondere Aufträge und<br />

andere grosse Ausgabenposten;<br />

k. sie regelt die Auskunftspflicht der Verwaltung gegenüber der Kommission;<br />

l. sie bezeichnet allenfalls die Präsidentin oder den Präsidenten.<br />

3<br />

Von einer Einsetzungsverfügung kann abgesehen werden, wenn ein Erlass die entsprechenden Regelungen<br />

enthält.<br />

- 181 -


Verordnung über die Kontrolle des Handels mit Wein (Weinhandel-Kontrollverordnung)<br />

vom 28. Mai 1997<br />

Art. 7<br />

1 Die Kommission besteht aus höchstens neun Mitgliedern und höchstens acht Ersatzleuten. Sie werden<br />

vom Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement (Departement) jeweils für eine Amtsdauer von<br />

vier Jahren gewählt. Das Departement bezeichnet die Präsidentin oder den Präsidenten.<br />

2 Die Konsumentenorganisationen sind in der Kommission mit einem Mitglied vertreten. Die übrigen<br />

Mitglieder sowie deren Ersatzleute gehören den interessierten Kreisen der Weinwirtschaft an. Die Präsidentin<br />

oder der Präsident braucht nicht diesen Kreisen anzugehören.<br />

Fragen zur Falllösung:<br />

1) Welche Fragen des allgemeinen <strong>Verwaltungsrecht</strong>s müssen im zu ergehenden Entscheid<br />

des Bundesrates Beachtung finden?<br />

2) Welche Rechtsfragen ergeben sich somit für den Entscheid?<br />

3) Inwiefern ist es von Belang, ob mit der vorliegenden Beschwerde der vom EVD<br />

angewendete allgemeine Verteilschlüssel für die Sitze, die Wahl der Kommission<br />

für die Amtsperiode 1997-2000 oder die einzelne Wahl der Mitglieder der Kommission<br />

angefochten wird?<br />

4) Welche Lösung ist bezüglich der genannten Rechtsfragen zu treffen?<br />

[VPB 63.56 / Vereinigung Schweizer Weinhandel]<br />

- 182 -

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