28.02.2013 Aufrufe

Muffig klingt nur der Name

Muffig klingt nur der Name

Muffig klingt nur der Name

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Lan<strong>der</strong>ziehungsheime<br />

Wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> dieses<br />

sperrige, irgendwie<br />

nicht zeitgemäß<br />

„flockige“ Wort: Lan<strong>der</strong>ziehungsheim.<br />

Das <strong>klingt</strong> nach<br />

Zucht und Ordnung, gar nach<br />

Besserungsanstalt o<strong>der</strong> harter<br />

Arbeit auf karger Scholle.<br />

„Jugendwohnschulen klänge<br />

vielleicht schöner“, seufzt Dr.<br />

Hartmut Ferenschild, Herausgeber<br />

des „Magazins <strong>der</strong><br />

Deutschen Lan<strong>der</strong>ziehungsheime“,<br />

doch auch er weiß,<br />

daß die antiquierte Vokabel<br />

so schnell nicht aus dem<br />

Wortschatz zu tilgen sein<br />

wird.<br />

Elemente <strong>der</strong><br />

Reformpädagogik<br />

Das liegt an den zeitlos<br />

guten Ideen ihres Schöpfers,<br />

denn mo<strong>der</strong>ne LEH gelten<br />

auch heute noch als durchaus<br />

progressiv: „Unter Pädagogen<br />

hat das Wort einen guten<br />

A-1046 (66) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 17, 24. April 1998<br />

V A R I A<br />

BILDUNG UND ERZIEHUNG<br />

<strong>Muffig</strong> <strong>klingt</strong> <strong>nur</strong> <strong>der</strong> <strong>Name</strong><br />

Vor 100 Jahren gründete Hermann Lietz in Ilsenburg/Harz<br />

die Pulvermühle, das erste deutsche<br />

Lan<strong>der</strong>ziehungsheim (LEH). Startsignal für die<br />

Verbreitung einer reformpädagogischen Idee,<br />

die sich als sehr einflußreich auf die gesamte<br />

deutsche Pädagogik erweisen sollte. Zur Jubiläumsfeier<br />

im Lan<strong>der</strong>ziehungsheim Grovesmühle<br />

wird ökologische Projektarbeit vorgestellt.<br />

Klang“, versichert etwa Gerold<br />

Becker, Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Vereinigung Deutscher Lan<strong>der</strong>ziehungsheime.<br />

Der alte<br />

<strong>Name</strong>, den Hermann Lietz<br />

am 28. April 1898 seinem ersten<br />

Institut gab, enthält laut<br />

Becker die drei Hauptelemente<br />

<strong>der</strong> Reformpädagogik:<br />

die Lage auf dem Land als<br />

entwicklungsför<strong>der</strong>nde Umgebungs-Bedingung<br />

und Zuflucht<br />

vor <strong>der</strong> Vergiftung <strong>der</strong><br />

Stadt, Erziehung im Sinne ei-<br />

ner nicht <strong>nur</strong> verkopften, umfassendenPersönlichkeitsbildung<br />

sowie den Heim-<br />

Charakter, <strong>der</strong> statt an die<br />

Kadettenanstalt an ein zweites<br />

Zuhause denken lassen<br />

soll. Überhaupt, die Zucht:<br />

„Die Lan<strong>der</strong>ziehungsheime<br />

wissen, daß Lohn und Strafe<br />

untaugliche Mittel sind“,<br />

schreibt Becker. Vertrauensvolles<br />

Miteinan<strong>der</strong> von Ausbil<strong>der</strong>n<br />

und Schülern soll beides<br />

ersetzen. Das äußert sich<br />

auch in einer ungewohnt intimen<br />

Wohnform: Lehrer und<br />

Lernende leben in vielen<br />

LEH als „Familien“ zusammen.<br />

Rund zwei Dutzend LEH<br />

gibt es heute in Deutschland,<br />

fünf von ihnen tragen in Erinnerung<br />

an ihren Grün<strong>der</strong><br />

den <strong>Name</strong>n Hermann-Lietz-<br />

Schulen. Zu den LEH gehören<br />

Spitzeninternate wie<br />

die vom Pädagogen Kurt


Hahn in ganz ähnlicher Philosophie<br />

mitgegründeten Institute<br />

Schloß Salem o<strong>der</strong> Birklehof,<br />

auch die Odenwaldschule,<br />

Louisenlund an <strong>der</strong><br />

Ostsee, die Steinmühle bei<br />

Marburg o<strong>der</strong> das evangelische<br />

LEH Urspringschule.<br />

Trotz des letzteren Beispiels<br />

sind die Heime nicht konfessionell<br />

gebunden; auch werden<br />

sie zunehmend mit internationaler<br />

Ausrichtung geführt.<br />

Becker: „Unbefangen<br />

und zugleich achtungsvoll mit<br />

‚Fremden‘ umzugehen lernt<br />

man am besten durch eigene<br />

Erfahrung.“ Üblich sind auch<br />

starke soziale Engagements,<br />

etwa für Erdbebenopfer o<strong>der</strong><br />

in <strong>der</strong> Alten- und Krankenpflege.<br />

Oft problematisch hoch<br />

sind die Gebühren für die exklusive<br />

Ausbildung, obwohl<br />

die gemeinnützigen LEH<br />

keine Gewinne erwirtschaften<br />

dürfen. Die Lan<strong>der</strong>ziehungsheime<br />

bemängeln da-<br />

V A R I A<br />

BILDUNG UND ERZIEHUNG<br />

bei die „unzureichende staatliche<br />

Unterstützung“ für<br />

Schulen in freier Trägerschaft.<br />

Um in Selbsthilfe für<br />

mehr Chancengleichheit zu<br />

sorgen, haben fast alle LEH<br />

Stipendienfonds für Kin<strong>der</strong><br />

weniger betuchter Familien<br />

eingerichtet.<br />

Ökologische<br />

Projektarbeit<br />

Wer einen Platz ergattert,<br />

identifiziert sich bald sehr<br />

stark mit „seiner“ Schule. In<br />

<strong>der</strong> Landschule Grovesmühle,<br />

dem in DDR-Zeiten<br />

lange brachliegenden und<br />

1995 wie<strong>der</strong>eröffneten Internatsgymnasium,<br />

werden zur<br />

100-Jahr-Feier am 28. April<br />

Schülerdelegationen aus ganz<br />

Deutschland eintreffen. Und<br />

ganz im Geist des Grün<strong>der</strong>s<br />

ist im Rahmenprogramm, in<br />

verwunschener Harz-Idylle,<br />

„ökologische Projektarbeit“<br />

angesetzt. Peter Tuch<br />

Verunglückt in <strong>der</strong> Schule<br />

Beim Spiel- und Sportunterricht<br />

besteht für Schüler<br />

und Schülerinnen die größte<br />

Verletzungsgefahr. Das geht<br />

aus dem Unfallverhütungsbericht<br />

1996 <strong>der</strong> Schülerunfallversicherung<br />

hervor. Mit<br />

gut 670 000 Fällen geschah in<br />

den spiel- und sportorientierten<br />

Unterrichtsstunden <strong>der</strong><br />

größte Teil <strong>der</strong> 1996 registrierten<br />

1,5 Millionen Schü-<br />

lerunfälle. Nicht einmal ein<br />

Zehntel so vieler Unfälle ereignete<br />

sich auf dem Schulweg.<br />

Auffällig ist vor allem:<br />

In den Pausen verunglücken<br />

an<strong>der</strong>thalb mal so viele Jungen<br />

wie Mädchen, während<br />

des Unterrichts sogar fast<br />

doppelt so viele. Auch in allen<br />

an<strong>der</strong>en Bereichen sind<br />

Jungen deutlich öfter Unfallopfer<br />

als Mädchen. OD<br />

Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 17, 24. April 1998 (67)<br />

A-1047


A-1048 (68) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 17, 24. April 1998<br />

Die Linie gleicht den Indizes<br />

ostasiatischer Börsen<br />

seit Jahresfrist: einige<br />

kleine Zacken aufwärts,<br />

aber insgesamt ein langer,<br />

teils dramatischer Abwärtstrend.<br />

Doch dieser Graph beschreibt<br />

nicht den Kursverlust<br />

des Hongkong-Dollars,<br />

son<strong>der</strong>n den <strong>der</strong> Zeitungslektüre<br />

bei unter 30jährigen<br />

Westdeutschen. Hatten 1977<br />

noch 76,7 Prozent dieser<br />

Gruppe angegeben, „gestern“<br />

eine Tageszeitung gelesen<br />

zu haben, waren es nach<br />

<strong>der</strong> Allensbacher AWA-Umfrage<br />

1987 noch 66,5 Prozent.<br />

1994, am bisherigen Tiefpunkt<br />

<strong>der</strong> Analyse, konnten<br />

noch ganze 58,6 Prozent von<br />

täglicher beziehungsweise regelmäßigerAuseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit einer Zeitung berichten.<br />

Daß die traurige Kurve<br />

seither wie<strong>der</strong> sanft ansteigt,<br />

ist sicher auch <strong>der</strong> langsam<br />

sich entfaltenden Breitenwirkung<br />

<strong>der</strong> Initiative „Zeitung<br />

in <strong>der</strong> Schule“ zu verdanken.<br />

Im nächsten Jahr wird sie ihr<br />

20jähriges Jubiläum haben,<br />

und Peter Brand wird fast<br />

gleichzeitig auf das 30jährige<br />

Bestehen seines Aachener<br />

IZOP-Instituts zurückschauen<br />

können. Projektleiter und<br />

Institut dürfen dann einen<br />

vielleicht nicht spektakulären,<br />

aber um so effektiveren<br />

Anteil an <strong>der</strong> Aufrechterhaltung<br />

<strong>der</strong> oft beschworenen<br />

abendländischen Kultur des<br />

gedruckten Wortes feiern.<br />

Denn rund 400 000 Schüler<br />

aus rund 150 Haupt-, Real-<br />

V A R I A<br />

BILDUNG UND ERZIEHUNG<br />

Lese- und Schreibkultur<br />

Infiziert vom<br />

Gutenberg-Bazillus<br />

Jugendliche lesen und schreiben immer weniger – eine gängige<br />

Klage, die gern mit Statistiken untermauert wird. Eine erfolgreiche<br />

Initiative <strong>der</strong> deutschen Zeitungsverleger und des IZOP-Instituts<br />

in Aachen wirkt seit fast zwei Jahrzehnten <strong>der</strong> Entwertung<br />

des gedruckten Wortes entgegen. Schon 400 000<br />

Schüler haben die Faszination <strong>der</strong> „Zeitung in <strong>der</strong> Schule“ erlebt.<br />

schulen und Gymnasien haben<br />

sich über die Jahre mehr<br />

o<strong>der</strong> weniger heftig vom Gutenberg-Bazillus<br />

infizieren<br />

lassen.<br />

Das funktioniert, indem<br />

den Schülerinnen und<br />

Schülern die Erfahrung ermöglicht<br />

wird, daß die Inhalte<br />

<strong>der</strong> Zeitung auch die ihres eigenen,<br />

persönlichen Lebens<br />

sind, und nicht etwa <strong>nur</strong> abstrakte<br />

Abhandlungen von<br />

Insi<strong>der</strong>n für Insi<strong>der</strong>. Rund 50<br />

Verlage in allen Bundeslän<strong>der</strong>n<br />

beteiligen sich daran, für<br />

diese „Endeckungsreise“ den<br />

Schulen ihre Blätter mindestens<br />

drei Monate lang unentgeltlich<br />

zur Verfügung zu stellen.<br />

Dazu erhalten die Lehrer<br />

das notwendige Unterrichtsbegleitmaterial,<br />

um die journalistische<br />

Sprache und Darstellungsformendurchschaubar<br />

zu machen und Berührungsängste<br />

mit komplexen<br />

Themen abzubauen.<br />

Die Magie<br />

<strong>der</strong> Sprache<br />

In einem zweiten Schritt<br />

beginnen die Schüler, sich die<br />

Techniken anzueignen, die<br />

angesichts <strong>der</strong> inzwischen<br />

über jeden einzelnen hereinbrechenden<br />

„Infotainment-<br />

Lawine“ das informationelle<br />

Überleben sichern: Fakten-<br />

Management, das Unterscheiden<br />

des Wesentlichen<br />

vom Unwesentlichen, das<br />

zielgerichtete Suchen und<br />

Recherchieren nach Zusammenhängen.<br />

In dieser Phase<br />

lernen sie auch die Macher


<strong>der</strong> gedruckten Worte, die<br />

Redakteure, kennen, die bei<br />

<strong>der</strong> Themenfindung Anstöße<br />

aus <strong>der</strong> Praxis geben. O<strong>der</strong><br />

die Schüler recherchieren<br />

dort, wo auch die Profis recherchieren:<br />

im Deutschen<br />

Bundestag etwa, <strong>der</strong> das Projekt<br />

„Zeitung in <strong>der</strong> Schule“<br />

ebenfalls för<strong>der</strong>t und sich den<br />

jugendlichen Fragern weitgehend<br />

– und konkret vor Ort –<br />

zur Verfügung stellt.<br />

Höhepunkt <strong>der</strong> Lernerfahrung<br />

an und mit <strong>der</strong> Zeitung<br />

ist aber für alle Beteiligten<br />

das Selberschreiben – und<br />

das Erlebnis, sein Geschriebenes<br />

in vieltausendfacher<br />

Auflage auf dem Frühstückstisch<br />

vorzufinden wie sonst<br />

<strong>nur</strong> die Worte <strong>der</strong> vermeint-<br />

lich großen Geister. „Für viele<br />

Schüler ein wun<strong>der</strong>bares<br />

Erlebnis“, so Peter Brand<br />

von ISOP in einer zwölfseitigen<br />

Beilage <strong>der</strong> Frankfurter<br />

Allgemeinen Zeitung, die ansonsten<br />

von preisgekrönten<br />

Beiträgen aus Schülerhand<br />

gefüllt ist. Als bedeutende<br />

überregionale Blätter sind<br />

die FAZ und die Süddeutsche<br />

Zeitung sozusagen die Flaggschiffe<br />

<strong>der</strong> Aktion, und in<br />

nicht wenigen Fällen haben<br />

journalistische Karrieren mit<br />

dem Abdruck eines Schülerbeitrags<br />

in ihren Seiten begonnen.<br />

Die so geweckte Neugier<br />

<strong>der</strong> jungen Reporter,<br />

das zeigt sich beim Blick<br />

durch die Veröffentlichungen,<br />

V A R I A<br />

BILDUNG UND ERZIEHUNG<br />

macht vor nichts halt und<br />

stellt auch so manchen<br />

scheinbar unscheinbaren Gegenstand<br />

mitunter in ein ganz<br />

neues Licht: Da beschreibt<br />

etwa Julia Schlindwein, Schülerin<br />

am Kreisgymnasium<br />

Gundelfingen, ihren Selbstversuch,<br />

was man als Putzfrau<br />

in einem Krankenhaus erleben<br />

kann („Sind Sie verheiratet?“),<br />

während Amina Özelsel<br />

vom Julius-Echter-Gymnasium<br />

Elsenfeld gleich Bundespräsident<br />

Roman Herzog<br />

beim Besuch in Frankreich<br />

beobachtet. „Ich war begeistert<br />

über den Enthusiasmus“,<br />

lobte denn auch Herzog<br />

die ihn begleitenden<br />

Nachwuchsreporter. Auch<br />

wenn <strong>nur</strong> eine Min<strong>der</strong>heit<br />

<strong>der</strong> jungen Zeitungs-Nutzer<br />

es so weit bringt – bei fast allen<br />

bleibt etwas hängen von<br />

<strong>der</strong> Magie <strong>der</strong> Sprache und<br />

<strong>der</strong> sorgfältig gefaßten Gedanken,<br />

die <strong>nur</strong> gedruckte<br />

Medien in dieser reinen Form<br />

transportieren können. Auch<br />

dies ist statistisch erfaßbar:<br />

Von allen, die an „Zeitung in<br />

<strong>der</strong> Schule“ teilgenommen<br />

haben, lesen als selbständige<br />

junge Erwachsene täglich 78<br />

Prozent die Lokalzeitung;<br />

<strong>nur</strong> 52 Prozent <strong>der</strong> Nicht-<br />

Teilnehmer tun das. 65 Prozent<br />

<strong>der</strong> Teilnehmer haben<br />

eine Zeitung abonniert – gegenüber<br />

<strong>nur</strong> 36 Prozent <strong>der</strong>er,<br />

die nie mit <strong>der</strong> Zeitung in <strong>der</strong><br />

Schule in Berührung gekommen<br />

sind. Peter Tuch<br />

Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 17, 24. April 1998 (69)<br />

A-1049

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!