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Als Michael Mann geboren wurde: München 1919

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Wolfgang Frühwald<br />

<strong>Als</strong> <strong>Michael</strong> <strong>Mann</strong> <strong>geboren</strong> <strong>wurde</strong>: <strong>München</strong> <strong>1919</strong><br />

Im Haus der Familie von Thomas und Katia <strong>Mann</strong>, in der Münchner Poschinger<br />

Straße 1, herrschte am 21. April <strong>1919</strong>, es war der Ostermontag dieses Jahres, große<br />

Aufregung. Seit Mitternacht hörte der Hausherr eilige Schritte im Fremdenzimmer, im<br />

zweiten Stockwerk des Hauses. Der Raum war seit dem 10. April als<br />

Entbindungszimmer hergerichtet worden und seine hochschwangere Frau war am<br />

11. April (das heißt am Freitag vor Palmsonntag) dort eingezogen. Katia <strong>Mann</strong><br />

erwartete ihr letztes Kind, <strong>Michael</strong>, genannt Bibi. Am 21. April kam es schließlich um<br />

die Mittagszeit zur Welt. Die Hebamme war an diesem Tag schon seit dem frühen<br />

Morgen am Werk, doch Katias schwere Anfangswehen blieben folgenlos. Der<br />

Gynäkologe Professor Amann <strong>wurde</strong> geholt. Die Wöchnerin, bei dieser Geburt ihres<br />

sechsten Kindes längst eine sturmerprobte Mutter, litt sehr. Der Arzt erwog sogar<br />

eine Gabe von Morphium gegen die Schmerzen. Am frühen Nachmittag („nach<br />

Tisch“) notierte dann Thomas <strong>Mann</strong> in sein Tagebuch: „Es ist vorüber, ein gesunder<br />

Knabe zur Welt gebracht. Der Verlauf sehr schwer, schreckliche Stunden,<br />

entnervend besonders das Warten in der Allee auf die Droschke, die den Assistenten<br />

mit den Instrumenten bringen sollte; denn die völlige Fruchtlosigkeit der äußerst<br />

qualvollen Eröffnungswehen seit 8 Uhr machte den Zangeneingriff notwendig [...].“<br />

Im Haus von Thomas und Katia <strong>Mann</strong> im Herzogpark haben die Sorgen um die<br />

Zangengeburt von <strong>Michael</strong> die Sorgen darum überdeckt, dass zur gleichen Zeit die<br />

bürgerliche Welt, in der sie und für die sie lebten, in Scherben fiel. In den zehn Tagen<br />

zwischen dem Einzug Katias in das Entbindungszimmer und der Geburt <strong>Michael</strong>s<br />

spaltete sich Bayern in einen von der Landtagsregierung beherrschten Nordteil (um<br />

Bamberg und Nürnberg) und einen von Unabhängigen Sozialdemokraten und<br />

Anarchisten beherrschten Südteil, um <strong>München</strong>, Starnberg und Augsburg. Den<br />

Studenten Ernst Toller, der seit dem 8. April Vorsitzender des Zentralrats der<br />

bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte war und wenig später (seit Juli <strong>1919</strong><br />

in einer fünfjährigen Festungshaft) ein weltberühmter Dramatiker und Lyriker <strong>wurde</strong>,<br />

haben seine kommunistischen Gegner damals spöttisch, aber auch ein wenig mit


Respekt, den „König von Südbayern“ genannt. Nicht nur Thomas <strong>Mann</strong> mokierte sich<br />

über den „Schwabinger Kunst-Einschlag“ des von den Kommunisten<br />

„Scheinräterepublik“ genannten anarchistischen Räteregimes, in dem Gustav<br />

Landauer, die viel verleumdete, aber integre Führungsfigur des deutschen<br />

Anarchismus, als Volksbeauftragter für Volksaufklärung amtierte. So konnte es nicht<br />

ausbleiben, dass am 13. April, das heißt am Palmsonntag <strong>1919</strong>, die Münchner<br />

Garnison gegen die von Toller geführte Räteregierung putschte. Einige ihrer<br />

führenden Mitglieder, darunter der Schriftsteller Erich Mühsam und der vermutlich<br />

geisteskranke Volksbeauftragte für Äußeres Franz Lipp, <strong>wurde</strong>n verhaftet und nach<br />

Nordbayern entführt. Der Münchner Hauptbahnhof fiel in die Hand der Putschisten.<br />

Im Gegenzug rissen nun die Kommunisten die Macht an sich, ihr Anführer Eugen<br />

Leviné leitete seit dem 14. April, an dem rote Truppen den Bahnhof zurückeroberten,<br />

eine kommunistische Räteregierung. Kommandant der Roten Armee <strong>wurde</strong> Rudolf<br />

Eglhofer, ein Matrose, der schon am Aufstand der deutschen Flotte im November<br />

1918 teilgenommen hatte. In Thomas <strong>Mann</strong>s Tagebuch ist an diesem 14. April die<br />

bürgerliche Innensicht der Münchner Wirren bewahrt: „Post und Läden geschlossen,<br />

das Telephon gesperrt, sodass wir Maßnahmen für den Fall überlegen, dass die<br />

Geburt einsetzt, K[atia]s Mutter kam zu Fuß in großer Aufregung. Auch die<br />

Trambahnen gehen natürlich nicht. Am Bahnhof die Oberleitung zerstört. Kämpfe für<br />

den heutigen Tag wahrscheinlich.“ Ernst Toller, den die Putschisten am 13. April<br />

nicht hatten ergreifen können, stellte sich nach dem kommunistischen Sieg der<br />

neuen Regierung zur Verfügung. Unter seinem Kommando erfochten rote Truppen<br />

am 16./17. April, eher zufällig, in einem Gefecht bei dem strategisch wichtigen<br />

Dachau den einzigen Sieg über ihre „weißen“ Gegner. Die Versorgungslage<br />

<strong>München</strong>s war prekär, weil die Landtagsregierung die Zufahrtswege zur<br />

Landeshauptstadt sperren ließ, die Banken kaum noch Geld hatten und weil der von<br />

den Kommunisten ausgerufene Generalstreik das öffentliche Leben lahmlegte. Am<br />

Karfreitag, dem 18. April, als Nachrichten über den von der Polizei gewaltsam<br />

beendeten kommunistischen Gründonnerstag-Putsch in Wien nach <strong>München</strong><br />

gelangten, <strong>wurde</strong> auch in der Familie <strong>Mann</strong> über jene „Donauföderation“ diskutiert,<br />

die noch bis in den Mai hinein eine reale politische Option zu sein schien. Eine<br />

solche Föderation meinte die „Trennung Bayerns vom Reiche und [den]<br />

Zusammenschluss mit Ungarn [wo seit März <strong>1919</strong> Béla Kun eine Sowjetrepublik<br />

anführte] und Deutsch-Österreich zu einem bolschewistischen Block“. Lenin hoffte<br />

2


damals nachweislich auf die Entstehung eines europäischen Rätebundes, der vom<br />

Moskauer Kreml bis zur Münchner Mariensäule reichen sollte.<br />

In den Tagen, als <strong>Michael</strong> <strong>Mann</strong> <strong>geboren</strong> <strong>wurde</strong>, sammelten sich im Norden Bayerns<br />

und in Thüringen Freikorps sowie württembergische, preußische und bayerische<br />

Truppen, die die Räteherrschaft in Südbayern und damit auch die Pläne für einen<br />

europäischen Räteblock gewaltsam beenden sollten. Am Ostermontag <strong>1919</strong> begann<br />

eine Armee von etwa 35.000 <strong>Mann</strong> (mit Panzerzügen, Tanks , Kampfflugzeugen und<br />

schwerer Artillerie) <strong>München</strong> einzuschließen. Ihr standen relativ undisziplinierte rote<br />

Truppen in einer Stärke von etwa 9.000 bis 10.000 <strong>Mann</strong> gegenüber. Die Anekdote,<br />

welche die Schauspielerin Tilla Durieux von einer Begegnung mit dem Truppenführer<br />

Ernst Toller aus diesen Tagen erzählt, mag erfunden sein. Sie zeigt aber mit<br />

ironischer Schärfe den illusionären Glauben an die natürliche Güte des Menschen,<br />

von dem Pazifisten und Anarchisten wie Gustav Landauer und sein Schüler Ernst<br />

Toller in Bann geschlagen waren. „Wie erstaunte ich [erzählt Tilla Durieux], als Toller<br />

mich an einem Tag in Uniform mit roter Binde aufsuchte. Die feindlichen Truppen<br />

waren allerdings schon in bedrohlicher Nähe der Stadt. ‚Toller’, sagte ich, ‚Sie sind<br />

doch Pazifist.’ – ‚Wir werden auch nicht schießen’, entgegnete er, ‚wir werden die<br />

feindlichen Soldaten fangen, ihnen die Waffen wegnehmen, sie mit unsern Ideen<br />

bekannt machen und daraufhin wieder zurücksenden.’ – ‚Sie armer Idealist’, sagte<br />

ich, ‚wenn aber die Weiße Garde [...] schießt?“ Der ideologische Pazifismus, dem<br />

sich die intellektuellen Anarchisten verschrieben hatten, zog Gewalt und Brutalität an<br />

wie ein Schwarzes Loch die Materie im All.<br />

Die Kämpfe um <strong>München</strong>, die ihren Höhepunkt am 1. und 2. Mai <strong>1919</strong> erreichten,<br />

waren ähnlich blutig wie die Berliner Januar- und die Märzkämpfe <strong>1919</strong>. Albert<br />

Schwarz schätzt die Zahl der auf den Straßen und Plätzen <strong>München</strong>s getöteten und<br />

ohne Verfahren erschossenen Menschen auf etwa 1000, 38 Angehörige der<br />

Regierungstruppen sollen darunter gewesen sein. Die anschließend von Stand- und<br />

Volksgerichten, meist noch im Jahr <strong>1919</strong>, gegen die Anhänger der Räterepubliken<br />

verhängten Freiheitsstrafen „beliefen sich auf insgesamt 6000 Jahre, von denen drei<br />

Viertel verbüßt <strong>wurde</strong>n“. Knapp zwei Wochen nachdem von einem Standgericht<br />

gegen Eugen Leviné ein Todesurteil gefällt und in Stadelheim vollzogenen <strong>wurde</strong>,<br />

fand in Bayern (vom 16. – 27. Juni <strong>1919</strong>) der schriftliche Teil der Reifeprüfung statt.<br />

3


Das Thema des deutschen Aufsatzes lautete: „Bayern, einst unsere Freude und<br />

unser Stolz, jetzt ein Gegenstand unserer Trauer und Sorge“.<br />

*<br />

In Thomas <strong>Mann</strong>s Tagebüchern des Jahres <strong>1919</strong> mischen sich die Nachrichten über<br />

das Familienleben, über die politische und die ökonomische Situation und über den<br />

Fortgang des Werkes so, dass Haus und Familie als eine Fluchtburg erscheinen, die<br />

es gegen den Ansturm der Zeit zu bewahren und zu beschützen gilt. Im Haus geht –<br />

im Gegensatz zu dem Aufruhr, der rings um seine Mauern tobt – alles seinen<br />

wohlgeordneten Gang. Der Schriftsteller Thomas <strong>Mann</strong>, dessen Roman „Die<br />

Buddenbrooks“ in diesen Tagen in 100. Auflage erscheint, der sich, anders als sein<br />

in <strong>München</strong> öffentlich auf der Seite der Revolution engagierter Bruder Heinrich, von<br />

der Revolution und den Revolutionären fernhält, öffnet die 1915 abgelegten Papiere<br />

zum „Zauberberg“ und beginnt mit der Endfassung des 1924 erscheinenden<br />

Romans. Das neue Kind, das während dieser Arbeiten in seinem Haus <strong>geboren</strong> wird,<br />

ist ihm Zeichen der Hoffnung dafür, dass auch das innerlich und äußerlich zerstörte<br />

Deutschland noch einmal erstehen könnte. So ist es kaum verwunderlich, dass „Der<br />

Zauberberg“, im Gegensatz zu den „Buddenbrooks“, vom Nobelpreiskomitee 1929<br />

nicht zur Grundlage des Nobelpreises gemacht <strong>wurde</strong>. „Der Zauberberg“ galt<br />

(damals) als der „deutscheste“ der Romane Thomas <strong>Mann</strong>s und <strong>wurde</strong> deshalb<br />

sogar für unübersetzbar gehalten. Wenn trotzdem zur gleichen Zeit (in den späten<br />

zwanziger Jahren) seine Karriere in den USA begann, wo die Lektüre des Romans<br />

dann über mehrere Jahrzehnte hin als Ausweis für „Bildung“ galt, so ist dies der<br />

notwendige Kontrapunkt zur europäischen Fehlrezeption. Die amerikanische<br />

Schauspielerin Ava Gardner, so lautet das charakteristische Gerücht, wollte sich,<br />

unter Hinweis auf Thomas <strong>Mann</strong>s Roman „The Magic Mountain“, wegen seelischer<br />

Grausamkeit von einem ihrer Ehemänner scheiden lassen. Wie die seelische<br />

Grausamkeit denn mit dem „Zauberberg“ zusammenhänge, soll der<br />

Scheidungsrichter gefragt, und Ava Gardner erbost geantwortet haben: „He forced<br />

me to read this damn’d book.“<br />

<strong>1919</strong> <strong>wurde</strong> die Geburt <strong>Michael</strong> <strong>Mann</strong>s in der Poschinger Straße regelrecht<br />

inszeniert. <strong>Als</strong> das Kind den ersten Schrei getan hatte und die älteste Tochter dem<br />

4


ungeduldig wartenden Vater die Geburt eines „Buben“ meldete, bekam die<br />

Wöchnerin; aus der Narkose erwachend, einen Weinkrampf. „Erschreckend, aber<br />

nicht befremdend“, nennt ihn Thomas <strong>Mann</strong> im Tagebuch und beschreibt<br />

anschließend die rührende Gratulationscour der Kinder am Bett der Mutter. Angeführt<br />

<strong>wurde</strong> sie von der 15jährigen Erika mit dem Neu<strong>geboren</strong>en, gefolgt von ihren<br />

Brüdern Klaus mit 14 und Golo mit 12 Jahren, von Monika, die noch nicht ganz 11<br />

Jahr alt war, und abgeschlossen wird sie von Elisabeth, genannt „das Kindchen“,<br />

vermutlich auf dem Arm des Vaters, da sie erst am 24. April <strong>1919</strong> ihren ersten<br />

Geburtstag feierte. Für sie – und die große Kinderschar – hat Thomas <strong>Mann</strong> die<br />

Hexameter-Idylle „Gesang vom Kindchen“ verfasst, die im Geburtsmonat <strong>Michael</strong>s<br />

erstmals erschien und (darin Goethes „Hermann und Dorothea“ ähnlich) die<br />

häusliche Enge, die Familie und ihre Freunde, als den Quellpunkt des Glücks<br />

gegenüber einer kriegerisch und revolutionär aufgewühlten Welt preist. Am 23.<br />

Oktober 1918, so ist in dieser Idylle zu lesen, vereinte im Haus an der Poschinger<br />

Straße aus Anlass der Taufe von Lisa ein trotz der britischen Hungerblockade<br />

gelungenes Mal Freunde und Verwandte zu einer fröhlichen Runde:<br />

„[...] Es hub die ganze Versammlung,<br />

Kinder und Große, sich auf ins Speisezimmer hinüber,<br />

Wo auf festlichen Tischen die Vespermahlzeit bereitstand,<br />

Klug bestellt von der sorgenden Wirtin zur Ehre des Hauses,<br />

Wie die Blockade es zuließ der kalt gebietenden Angeln.“<br />

Katia <strong>Mann</strong> (und niemand anderer ist die „sorgende Wirtin“) hat sich noch im hohen<br />

Alter, fast zwanzig Jahre nach dem Tod ihres <strong>Mann</strong>es an die Hungerzeit der Jahre<br />

1918/19 erinnert, als sich auch die Tochter aus einem der reichsten Häuser<br />

<strong>München</strong>s des Schwarzhandels bedienen musste, um ihre hungrige Familie zu<br />

ernähren. Vor allem ein siebzehnjähriger Schwarzhändler blieb ihr im Gedächtnis,<br />

der ihr Butter und Eier, wahre Kostbarkeiten in den Jahren der Blockade, lieferte. „Ich<br />

erwartete in der Zeit“, erzählt Katia <strong>Mann</strong> 1973, „meine jüngste Tochter, und gleich<br />

das Jahr darauf erwartete ich meinen jüngsten Sohn. Da sah er mich ganz streng an<br />

und sagte: Scho wieder, Frau Doktor? Den kann i nimmer ernährn!“ <strong>Michael</strong> <strong>Mann</strong> ist<br />

trotz solcher Sorgen gediehen. Einen Tag nach seiner Geburt sollte der Vater den<br />

Neuzuwachs der Familie beim Standesamt anmelden. Doch an diesem 22. April<br />

<strong>1919</strong> waren in <strong>München</strong> ein Demonstrationsstreik und eine Truppenschau der „Roten<br />

5


Armee“ angekündigt. Die Straßenbahn fuhr nicht, Telephonverbindungen gab es nur<br />

morgens, die Einstellung der Wasserversorgung war mehrfach angekündigt worden<br />

und die Wege waren unsicher. Auch war es empfindlich kalt in dieser Osterzeit <strong>1919</strong>,<br />

es gab Nachtfrost und Schneefall. So fuhr Thomas <strong>Mann</strong> erst am 23. April zum<br />

Standesamt am Mariahilf-Platz, und blamierte sich dort (wie er meinte), weil er „die<br />

Geburtstage der Kinder nicht wusste“. Solche Fehler sind ihm auch später<br />

unterlaufen. In seinem „Lebensabriss“, der im Juni 1930, also knapp ein halbes Jahr<br />

nach der Verleihung des Nobelpreises für Literatur, in der „Neuen Rundschau“<br />

erschien, lässt er Erika statt 1905 im Jahr 1906 zur Welt gekommen sein und über<br />

die Geburt <strong>Michael</strong>s schreibt er dort, dass sein jüngstes Kind „unter gefährlichen<br />

Umständen, im Kanonendonner, an dem Tage das Licht erblickte, an dem nach dem<br />

Sturz der Räterepublik die ‚weißen’ Truppen in <strong>München</strong> einzogen“. Vermutlich hat<br />

sich die politisch-soziale Krisensituation in den Todestagen der Münchner<br />

Räterepublik und die wegen der Zangengeburt gefährdete familiäre Lage für Thomas<br />

<strong>Mann</strong>, als er 1930 an diesen April <strong>1919</strong> zurückdachte, zu einem einzigen Szenario<br />

der Bedrohung zusammengezogen. Doch die gegenrevolutionären Truppen haben<br />

<strong>München</strong> nicht schon im April, sondern erst am 1. und 2. Mai erobert. <strong>Als</strong> nämlich am<br />

30. April die Nachricht nach außen drang, dass im Münchner Luitpoldgymnasium,<br />

das als Kaserne der Roten Armee diente, zehn Gefangene (die Rede war von<br />

Geiseln) erschossen worden seien, brachen einzelne Truppenteile aus dem<br />

Belagerungsring um <strong>München</strong> aus und begannen die blutigen Straßenkämpfe, die im<br />

Grunde erst beendet <strong>wurde</strong>n, als am 6. Mai (<strong>1919</strong>) 21 Mitglieder der Kolpingsfamilie<br />

St. Joseph, die sich zu einer Theaterprobe getroffen hatten, als Spartakisten<br />

denunziert und in einem wahren Blutrausch von „weißer“ Soldateska niedergemetzelt<br />

<strong>wurde</strong>n. Die Mordtat im Luitpoldgymnasium, schrieb der amerikanische Historiker<br />

Allan Mitchell, „verwandelte den Bürgerkrieg in ein wahres Gemetzel“.<br />

Das Haus der Familie <strong>Mann</strong> war von Plünderung und Einquartierung während der<br />

Revolutionszeit und auch während der Kämpfe um und in <strong>München</strong> verschont. Auch<br />

als Geisel <strong>wurde</strong> Thomas <strong>Mann</strong>, dem wegen der im Oktober 1918 erschienenen<br />

„Betrachtungen eines Unpolitischen“ nationalkonservative Gesinnung zugeschrieben<br />

<strong>wurde</strong>, nicht genommen, obwohl er mit 43 Jahren längst zur künstlerischen und<br />

kulturellen Prominenz der Stadt gehörte. Er selbst hat diese privilegierte Rolle<br />

seinem Lebensglück zugeschrieben, das ihn bis in einen gnädigen Tod hinein<br />

6


egleitet hat, doch hatte er vermutlich in den Turbulenzen der Revolutions- und<br />

Rätetage einen konkreten Schutzengel: Ernst Toller. Zwar gibt es dafür nur indirekte<br />

Textbelege, doch ist es wahrscheinlich, dass sich ein pointierter Satz in Tollers<br />

Autobiographie auf eben diese Situation bezieht. Toller erinnert sich in seinem 1933,<br />

bereits im Exil erschienenen Lebensbericht „Eine Jugend in Deutschland“ an eine<br />

Einladung in das Haus der Familie <strong>Mann</strong>, vermutlich 1916/17, als er invalid aus dem<br />

Kriegsdienst entlassen war und in <strong>München</strong> bei Artur Kutscher studierte. Er (so<br />

berichtet Toller) habe Thomas <strong>Mann</strong> damals seine Gedichte gezeigt und mit<br />

klopfendem Herzen auf dessen Urteil gewartet. Thomas <strong>Mann</strong> habe nur wenig<br />

gesagt, sich aber einige Papiere behalten und „zwei Tage später“ dem jungen<br />

Dichter „einen langen Brief [geschrieben], er hat sie nochmals geprüft und belehrt<br />

den jungen Menschen, der diese schöne Haltung nie vergisst“. Später, als ihn längst<br />

der Ruhm des politischen Skandaldramatikers begleitete, gehörte Ernst Toller zum<br />

Freundeskreis der Geschwister Erika und Klaus <strong>Mann</strong>, doch schon im Juli <strong>1919</strong> trat<br />

Thomas <strong>Mann</strong> mit einem Gutachten über Tollers erstes Drama „Die Wandlung“ in<br />

dessen Hochverratsprozess als Leumundszeuge für ihn auf. Vielleicht hat ihn die<br />

Szene im 9. Bild dieses Dramas, die bei der Uraufführung betont als Schluss-Szene<br />

gespielt <strong>wurde</strong>, an die (freilich glücklichere) Situation in seinem Haus bei der Geburt<br />

<strong>Michael</strong>s erinnert. In diesem 9. Bild der „Wandlung“ nämlich stürzt sich ein Häftling<br />

auf dem Weg zum Sprechzimmer in den Treppenschacht des Gefängnisses und<br />

stirbt vor den Augen seiner hochschwangeren Frau, die neben dem Sterbenden ihr<br />

Kind gebiert. Die Geburt und das neu<strong>geboren</strong>e Kind sind im expressionistischen<br />

Drama Zeichen der Hoffnung auf eine geläuterte Menschheit.<br />

Auch wenn die Atmosphäre des ersten Nachkriegsjahres in Thomas <strong>Mann</strong>s<br />

Tagebüchern ungemein dicht erhalten ist, so ist die tatsächliche Erschöpfung der<br />

großen Mehrheit der Menschen darin doch nur schwach beleuchtet. Thomas <strong>Mann</strong><br />

hat <strong>1919</strong> Idyllen publiziert, eben den „Gesang vom Kindchen“, doch auch die<br />

idyllische Erzählung „Herr und Hund“, diese ist im April <strong>1919</strong> mit dem Vorsatz<br />

„<strong>München</strong> <strong>1919</strong>. Vorzugsausgabe zugunsten bedürftiger Schriftsteller in 120<br />

Exemplaren“ erstmals erschienen. Ob die Verklärung des Familienlebens, die<br />

gelegentlich auch von den Tagebüchern Besitz ergreift, eine adäquate Antwort auf<br />

*<br />

7


die Schreckensszenarien der Zeit war, ist zweifelhaft, doch war sie zumindest eine<br />

Alternative zu dem bleiernen Schweigen, dem Rilke 1918/<strong>1919</strong> in <strong>München</strong><br />

ausgeliefert war, und vielleicht das einzig mögliche Gegengift gegen die wahrhaft<br />

apokalyptische Katastrophe, die damals über Deutschland hereingebrochen ist. Seit<br />

Herbst 1918 starben die Menschen nicht nur an den Fronten des Krieges, sondern<br />

nun vor allem in der Heimat an Hunger, Krankheit und Kälte wie die Fliegen. Durch<br />

die Seeblockade, welche die Entente über Deutschland verhängt und nach<br />

Abschluss des Waffenstillstands (am 11. November 1918) nicht aufgehoben, sondern<br />

auf die Ostsee ausgedehnt hat, herrschte in Deutschland eine gewaltige Hungersnot.<br />

Sie übertraf die Hungerkrise des „Kohlrübenwinters“ von 1916/17 bei weitem. Nach<br />

einer Denkschrift des Reichsgesundheitsministeriums sollen in Deutschland bis Ende<br />

1918 763.000 Menschen an Hunger und Unterernährung gestorben sein. In diese<br />

Zahl waren die Toten, die der grassierenden „Spanischen Grippe“ zum Opfer fielen,<br />

nicht eingeschlossen. Weltweit werden die Opfer dieser Pandemie, die als die Pest<br />

des 20. Jahrhunderts galt, zwischen 1918 und 1920 auf 27 Millionen, nach anderen<br />

Berechnungen gar auf 50 Millionen Menschen geschätzt. In Deutschland soll die<br />

„Spanische Grippe“ rund 300.000 Todesopfer gefordert haben, eines der letzten war<br />

der Soziologe Max Weber, der in <strong>München</strong>, wohin er erst im März <strong>1919</strong> (noch von<br />

der revolutionären Regierung) berufen worden war, am 14. Juni 1920 starb. Der Tod<br />

der bayerischen Königin, Marie Therese, die am 7. November 1918, bereits schwer<br />

erkrankt, mit ihrer Familie auf die Flucht hatte gehen müssen, bedeutete unter diesen<br />

Umständen keine Sensation. Am 3. Februar <strong>1919</strong> starb sie, noch nicht 70 Jahre alt,<br />

auf Schloss Wildenwart im Chiemgau. Wilfried Witte, der die Geschichte der<br />

„Spanischen Grippe“ aufgezeichnet hat, berichtet davon, dass in Deutschland,<br />

angesichts der breiten Todesspur, welche die zweite Welle der Seuche seit Herbst<br />

und Winter 1918/19 durch Europa zog, der Krieg fast zur Nebensache geworden war.<br />

Anfang November 1918, während der Revolutionstage, waren die Münchner Schulen<br />

geschlossen, die Krankenhäuser waren überfüllt, in der Stadt waren zwischen 25.000<br />

und 30.000 Menschen erkrankt. Zu den Hunger- und den Seuchenopfern dieser<br />

Krisenjahre kamen fast zwei Millionen gefallene und vermisste Soldaten, dies waren<br />

vor allem junge Männer und es gab kaum eine Familie, in der nicht Trauer über einen<br />

toten Sohn, den Vater, den Bruder herrschte. Bei allen kriegführenden Nationen<br />

zusammen sollen die Kriegsverluste im Ersten Weltkrieg mehr als achteinhalb<br />

Millionen Menschen betragen haben. Und das blutigste Jahrhundert der<br />

8


Weltgeschichte, das zwanzigste nach unserer Zeitrechnung, hatte mit diesem Krieg,<br />

der die Menschen verrohte, Vermögen und Besitz zerstörte, tausendjährige<br />

Herrschaftsformen zersprengte, Vertrauen, Zuversicht und Sicherheit aus der Welt<br />

nahm, erst begonnen. Vermutlich war – der russischen Revolution wegen – das<br />

große Epochenjahr der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert das Jahr 1917. In diesem<br />

Jahr endete (nach Eric Hobsbawm) das lange, bürgerlich dominierte, neunzehnte<br />

Jahrhundert und es begann das kurze zwanzigste, das mit dem Fall des Eisernen<br />

Vorhangs vorzeitig, schon 1989, endete. in Deutschland aber gab es ein solches<br />

Epochen- und Wendejahr erst <strong>1919</strong>. In diesem Jahr entschied sich der Kampf<br />

zwischen dem Rätesystem nach sowjetischen Muster und der parlamentarischen<br />

Demokratie, in diesem Jahr begann die breite Blutspur der politischen Morde, die<br />

unmittelbar in die Schutzhaft- und Konzentrationslager der Nationalsozialisten führte,<br />

in diesem Jahr begann die Auszehrung der Währung, die schließlich zur<br />

Proletarisierung des Bürgertums führte, in diesem Jahr gründete Benito Mussolini in<br />

Mailand den ersten faschistischen Kampfverband, drang die in <strong>München</strong> gegründete<br />

Thulegesellschaft mit einer aggressiven völkisch-antisemitischen Propaganda in die<br />

Mittelschichten ein, entstand in den enttäuschten und frustrierten Anhängern der<br />

bayerischen Räterepubliken die gewaltbereite erste Anhängerschaft Hitlers. Dieser<br />

selbst, damals noch der Sozialdemokratie zuneigend, tat als Vertrauensmann seiner<br />

Kompanie (und sogar als Ersatzmann im Soldatenrat) in einer Münchner Kaserne<br />

(auf dem Oberwiesenfeld) Dienst. Er klammerte sich an die Armee, um nicht<br />

arbeitslos zu werden. In diesem Jahr <strong>1919</strong> schließlich <strong>wurde</strong> Deutschland im<br />

Friedensvertrag von Versailles gedemütigt und dem Agitator Hitler damit das<br />

zugkräftige Thema, die von ihm unaufhörlich gepredigte „nationale Wiedergeburt“,<br />

gegeben. Die Siegermächte legten der deutschen Friedensdelegation den fertigen<br />

Vertragstext zur Unterschrift vor, ohne dass diese daran hätte mitarbeiten können.<br />

Mit dem Vertrag, dessen Bedingungen seit Mai bekannt waren und der – nach dem<br />

Rücktritt des Kabinetts Scheidemann – von der neuen Regierung unter Protest am<br />

28. Juni <strong>1919</strong> unterschrieben werden musste, verlor das Deutsche Reich etwa ein<br />

Siebentel seines Gebietes, ein Zehntel seiner Bevölkerung. Ihm <strong>wurde</strong>n<br />

unbezahlbare Wiedergutmachungsbeträge aufgebürdet. In dem berüchtigten Artikel<br />

231 <strong>wurde</strong> die Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg festgeschrieben.<br />

Dieser Paragraph, der Hass statt Versöhnung gesät hat, gab der völkischen und der<br />

nationalrevolutionären Propaganda die Möglichkeit zur Formierung eines<br />

9


aggressiven Nationalismus, in dem der Keim zum neuen Kriege lag. Selbst der<br />

nerven- und verdrängungsstarke Thomas <strong>Mann</strong> berichtet am 26. Juni von üblem<br />

Befinden, von einem „schlimmen Kopf, [von der] Wiederverstärkung der nervösen<br />

Schlingbeschwerden, verbunden mit Angst und Depression“.<br />

*<br />

An der Ecke Türken- und Theresienstraße wohnte und praktizierte damals der Arzt<br />

Hans Carossa, der nach der Entlassung aus Lazarett- und Kriegsdienst versuchte,<br />

sich in <strong>München</strong> wieder eine Existenz aufzubauen. Er war als Lyriker seit der<br />

Jahrhundertwende bekannt geworden, <strong>wurde</strong> aber von seinen Arztkollegen als<br />

Schriftsteller, von den Schriftstellern als Arzt betrachtet und zu Rate gezogen. <strong>Als</strong> er<br />

im Sommer 1918 nach Instrumenten für die neue Praxis suchte, fiel ihm das düstere,<br />

nicht mehr leuchtende <strong>München</strong> auf die Seele. Es „dämmerte stumpf und wie<br />

geplündert unter einem gewittrigen Augusthimmel; der Nornenbrunnen [damals am<br />

Stachus] rauschte nicht, in den Anlagen fehlten die Blumen, und auf den Bänken<br />

saßen in Unglücks-Eintracht schwarz gekleidete Frauen zwischen kranken Soldaten<br />

und alten Männern“. An der Ladentür von Stiefenhofers Geschäft am Karlsplatz, wo<br />

Carossa sein medizinisches Instrumentarium ergänzen wollte, zog ihn, wie er erzählt,<br />

„jemand leicht, aber nachdrücklich am Ärmel [...]. Ich drehte mich um; Rilke lachte<br />

mich an“. Carossa freute sich, die neue Praxis mit einem solchen Patienten beginnen<br />

zu können, denn Rilke bat ihn um einen Krankenbesuch. Der Krieg, den er zutiefst<br />

verabscheute, hatte ihn verstummen lassen. Er war von Hunger und Krankheit<br />

gezeichnet. Unterernährte Menschen wie Rilke hatten aber die Möglichkeit, durch<br />

ärztliche Atteste zu sonst unerreichbaren Nahrungsmitteln zu kommen. Da die<br />

Ernährungslage nach Waffenstillstand und Revolution nicht besser, sondern<br />

schlechter <strong>wurde</strong>, hat Carossa Rilke damals buchstäblich das Leben gerettet. „Ihre,<br />

offenbar mit großem Nachdruck erneuten Bemühungen, lieber Hans Carossa“,<br />

schrieb Rilke am 19. März <strong>1919</strong> in einem Dankesbrief, „haben diesmal den<br />

schönsten Erfolg gehabt: außer der Milchlieferung (eines halben Liters) sind uns<br />

einige andere sehr fühlbare Vergünstigungen zutheil geworden ( – Eier, Butter,<br />

Hafer-Flocken): alles gültig bis 7. July.“ Wenn man bedenkt, dass ab dem 25. April in<br />

<strong>München</strong> der Verbrauch von Milch für alle verboten war, „denen nicht durch ärztliche<br />

Bescheinigung bestätigt <strong>wurde</strong>, dass sie sonst in Todesgefahr seien“, so ist daraus<br />

10


sowohl die elende Lage der Stadt <strong>München</strong> und ihrer Bewohner, wie auch der<br />

Freundesdienst Carossas an Rilke zu ermessen.<br />

Rilke fühlte sich durch die Revolution, die in Bayern, unter Führung Kurt Eisners am<br />

7. / 8. November gewaltlos siegte, wie von einer schweren Last befreit. Der<br />

expressionistisch-aktivistische Schriftsteller Friedrich Burschell, der im November<br />

1918, bis zu den tödlichen Schüssen des Grafen Arco auf den bayerischen<br />

Ministerpräsidenten (am 21. Februar <strong>1919</strong>), Eisners Militäradjutant war, berichtet von<br />

einer Begegnung mit Rilke auf der Münchner Ludwigstraße in den Anfangstagen der<br />

Revolution. „Die tiefe, manchmal bis zur Verzweiflung sich steigernde Melancholie“,<br />

heißt es in Burschells „Erinnerungen“, „die ich während der letzten Kriegswochen bei<br />

meinen Besuchen in seiner in der Ainmillerstraße gelegenen Atelierwohnung hatte<br />

beobachten können, schien jetzt von ihm abgefallen. Ich entsinne mich, wie er mitten<br />

im Gespräch seine Hand ausstreckte, sie einige Male öffnete und schloss, als<br />

umspannte sie einen Gegenstand. ‚So reif ist die Zeit’, sagte er zu mir, ‚man kann sie<br />

jetzt formen.’ Diese Worte, die ich nicht vergessen habe, trafen genau die Stimmung,<br />

in der wir damals lebten.“ In Rilkes Wohnung trafen sich im Herbst und Winter<br />

1918/19 nicht nur aktive Revolutionäre wie Toller und Alfred Kurella, sondern auch<br />

Oskar Maria Graf, Alfred Wolfenstein, Wilhelm Hausenstein und viele andere. Oskar<br />

Maria Graf hat bei diesen Leseabenden in Rilkes Wohnung erstaunt, dass die „rauhrealistischen<br />

Männer“ der Revolution sich in Rilkes Gegenwart im Nu verwandelten.<br />

„Unwillkürlich nahmen sie Rilkes Art an, ja sie redeten sogar mit einem Male so wie<br />

er, was mitunter besonders lächerlich wirkte.“ Der Ton der Revolution in <strong>München</strong><br />

war also nicht der Tonfall ironischer Bürgerlichkeit wie ihn Thomas <strong>Mann</strong> pflegte,<br />

nicht der scharfe Ton der Bürgersatire Heinrich <strong>Mann</strong>s, sondern der hymnische Ton<br />

Rilkes und seiner Freunde. Sie glaubten die aus der Katastrophe entstehende neue<br />

Welt zum Greifen nahe, ihr Unglück war nur, dass sie als Realität ansahen, was<br />

Literatur war. In Burschells Flugblatt „Revolution. An alle und einen“ ist im Winter<br />

1918 zu lesen: „Zu keinem anderen Ende darf, was jetzt als Revolution geschehen<br />

ist, unternommen sein, als um das einzige und wahre Ziel der menschlichen<br />

Bemühungen, die diesen Namen verdienen, die liebende Gemeinschaft und das<br />

Erfülltsein Gottes wirklich zu machen.“ Die Anhänger Eisners und Rilkes glaubten,<br />

durch absolute Wahrhaftigkeit eine Gemeinschaft neuer Menschen bilden zu können,<br />

von denen „all die dummen, zufälligen Leiden der Armut und Unterdrückung“<br />

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genommen seien. Eisner hat versucht, diese Ideale unmittelbar dadurch in Politik<br />

umzusetzen, dass er (gekürzte) bayerische Gesandtschaftsakten veröffentlichte, die<br />

Deutschlands Schuld am Krieg zu beweisen schienen. So spielte er unversöhnlichen<br />

Gegnern Deutschlands, wie Georges Clemenceau, in die Hände und machte es<br />

seinen Feinden leicht, ihn als einen Verräter an Deutschland zu brandmarken. Rilke<br />

sah, wie viele seiner Freunde, mit der Ermordung Eisners das jähe Ende des<br />

Revolutionstraumes gekommen, an seine Weiterführung in einer Räterepublik hat er<br />

nicht geglaubt. „[...] es ist doch bitterlich schade um jenen 8. November“, schrieb er<br />

am 29. März <strong>1919</strong> an Karl von der Heydt, „er hatte unerhörte, alle jene Möglichkeiten,<br />

denen sich die Menschheit zu entziehen weiß, um sie dann, als ob sie ihr nicht<br />

gehörten, zu entbehren.“ Obwohl er nach der Eroberung <strong>München</strong>s Anfang Mai<br />

<strong>1919</strong>, als Bolschewist denunziert, Hausdurchsuchung und Verhaftung über sich<br />

ergehen lassen musste, unterschrieb er am 7. Mai, zusammen mit Walter Braunfels,<br />

Lujo Brentano, Heinrich und Thomas <strong>Mann</strong>, Bruno Walter und anderen einen von<br />

dem Zeichner und Bühnenbildner Emil Preetorius veranlassten Aufruf gegen Terror<br />

und Denunziation, in dem es hieß: „[...] wir halten es gerade jetzt für nötig, dass das<br />

Bürgertum ernst und ehrlich seinen Sinn darauf richtet, seiner<br />

Schicksalsgemeinschaft mit dem arbeitenden Volke inne zu werden. Dass es mit ihm<br />

die grundlegende Umwandlung der Gesellschaftsordnung beginnt [...].“ Thomas<br />

<strong>Mann</strong> hat noch lange an die Möglichkeit einer solchen Schicksalsgemeinschaft<br />

zwischen den Klassen geglaubt, deren Perversion seit <strong>1919</strong> in Hitlers antisemitischer<br />

„Volksgemeinschaft“ heraufdämmerte. Rilke hat den Glauben daran schon im<br />

Angesicht des „weißen Terrors“, dem er sich ausgeliefert fühlte, verloren. Er hat<br />

<strong>München</strong>, wo ihm die Ausweisung drohte, im Juni <strong>1919</strong> für immer verlassen.<br />

So <strong>wurde</strong> <strong>München</strong> zwischen Februar und Juni <strong>1919</strong> zum Modellfall einer<br />

Konfrontation, die sich seit 1936 im Spanischen Bürgerkrieg im nationalen und dann<br />

seit 1939 im Zweiten Weltkrieg im globalen Maßstab wiederholte. Die<br />

Schreckensszenarien des 20. Jahrhunderts gehörten zu den Todeswehen einer im<br />

europäischen 18. Jahrhundert entstandenen Zivilisation, als deren Kern wir die<br />

bürgerliche Gesellschaft kennen. Ihre endgültige Auflösung, ihren ungeordneten<br />

Übergang in eine anarchisch verfasste Massengesellschaft, befürchten heute viele.<br />

Welche Welt wir unseren Kindern und Kindeskindern hinterlassen werden, hängt<br />

davon ab, ob es uns – anders als unseren Vorfahren – gelingen wird, bewährte und<br />

12


tradierte Werte der bürgerlichen Gesellschaft in das neue Zeitalter hinüberzuretten:<br />

zum Beispiel den Nationalstaat als die politische Form für Freiheit und Sicherheit des<br />

Einzelnen, - vermutlich nicht; die Familie als Grundform der gesellschaftlichen<br />

Organisation, - vielleicht; das Ideal der Persönlichkeitsbildung durch Kunst und<br />

Wissenschaft, - ebenfalls vielleicht; eine ökonomische Grundsicherung, ohne<br />

Altersarmut, - nur mit größten Anstrengungen; einen kirchlich-religiös markierten<br />

Jahres- und Lebensverlauf (von Geburt und Taufe bis zum Begräbnis), - vielleicht nur<br />

noch für eine Minderheit; die meditative Privatlektüre als Königsweg der bürgerlichen<br />

Individuation (ich zitiere Jürgen Habermas), - sicherlich nur für eine Minderheit; am<br />

wahrscheinlichsten noch jene Europahoffnung, aus dem die deutsche Klassik an der<br />

Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die Kunstblüte an der Wende vom 19. zum 20.<br />

Jahrhundert und sogar die Euphorie (nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs) an<br />

der Wende zum 21. Jahrhundert Kraft und Zuversicht schöpften.<br />

Coda:<br />

In Nürnberg las Thomas <strong>Mann</strong> am 20. November <strong>1919</strong>, auf Einladung des dortigen<br />

„Literarischen Bundes“, aus seinen Idyllen „Gesang vom Kindchen“ und „Herr und<br />

Hund“. Ihm hörten rund 600 Personen zu. Für das Gästebuch des „Bundes“ schrieb<br />

er anschließend die selbstkritischen Verse:<br />

„Zu Nürremberg im ‚Bund’<br />

Las ich von Kind und Hund.<br />

Die Leute lauschten gern<br />

Dem ‚Vater’ und dem ‚Herrn’.<br />

Kehr ich einmal zurück,<br />

Bring ich ein schlimmer Stück.<br />

Denn wie die Zeiten sind,<br />

Was soll’s mit Tier und Kind?<br />

Heut fragt sich’s überhaupt,<br />

Ob das Idyll erlaubt!“<br />

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Anmerkung<br />

Zitiert werden u.a. folgende Texte und Studien: Tilla Durieux: Eine Tür steht offen.<br />

Erinnerungen. Berlin-Grunewald 1954 – Friedrich Burschell: „Revolution“ und „Neue Erde“.<br />

<strong>München</strong> 1918/19. Aus meinen Erinnerungen. In: Paul Raabe (Hrsg.): Expressionismus.<br />

Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen. Olten und Freiburg. i .Br. 1965, S.251<br />

– 257 – Allan Mitchell: Revolution in Bayern 1918/<strong>1919</strong>. Die Eisner-Regierung und die<br />

Räterepublik. <strong>München</strong> 1967 – Joachim W. Storck in Zusammenarbeit mit Eva Dambacher<br />

und Ingrid Kußmaul: Rainer Maria Rilke 1875 / 1975. [Katalog zur Ausstellung in Marbach<br />

vom 10. Mai bis 21. Dezember 1975]. <strong>München</strong> 1975 – Albert Schwarz: Die Zeit von 1918<br />

bis 1933. Erster und Zweiter Teil. In: Max Spindler (Hrsg.): Bayerische Geschichte im 19.<br />

und 20. Jahrhundert 1800 – 1970. <strong>München</strong> 1978, S.387 – 517 – Thomas <strong>Mann</strong>:<br />

Tagebücher 1918 – 1921. Hrsg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1979 – Eva<br />

Kampmann-Carossa (Hrsg.): Hans Carossa. Leben und Werk in Texten und Bildern.<br />

Frankfurt am Main und Leipzig 1993 – Uwe Naumann in Zusammenarbeit mit Astrid<br />

Roffmann (Hrsg.): Die Kinder der <strong>Mann</strong>s. Ein Familienalbum. Reinbek bei Hamburg 2005 –<br />

Wilfried Witte: Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe. Berlin<br />

2008 – Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Hrsg. und kommentiert von Wolfgang<br />

Frühwald. Stuttgart 2011.<br />

© Professor Dr. Wolfgang Frühwald Römerstädter Straße 4k D-86199 Augsburg<br />

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