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Francesco Lupo<br />
Chronologie eines stringenten Selbstmor<strong>de</strong>s<br />
Völlig entspannt saß er auf <strong>de</strong>r Friedhofsmauer, ließ seine Beine baumeln, zusammen mit <strong>de</strong>r Seele.<br />
Von links schien ihm die Sonne aufs Gesicht, schmeichelte seiner Wange wie mit einem weichen<br />
Vlies.<br />
Dort war sein Lieblingsplatz. Genau hier ist es im Sommer um die Mittagszeit angenehm kühl und<br />
ruhig. Nur vereinzelt zeigte sich ein Besucher, trug, wie jener dort, eine Gießkanne vom Wasserhahn<br />
zu einem pittoresk <strong>de</strong>korierten Grab. Am Stein stellte er sie ab, mußte tief durchatmen. Der Jüngste<br />
war er nicht mehr. Pflegte wohl das Grab seiner Gattin. Bald wür<strong>de</strong> er ihr nachfolgen, früher o<strong>de</strong>r<br />
später …<br />
Wenige Schritte weiter gähnte ein offenes Grab, abgestützt; präpariert, einen neuen Körper auf<br />
diesem Kirchhof in Empfang zu nehmen.<br />
Auf dieser Mauer gelang es Manfred vorzüglich zu <strong>de</strong>nken, zu philosophieren, über <strong>de</strong>n Wert seines<br />
unsinnigen Lebens nachzugrübeln. Manchmal vertrat er die Ansicht, er habe schon zu viel darüber<br />
nachgedacht. Über sein Leben, das bisher meist Stanniolpapier für ihn bereit gehalten hatte. Die<br />
Schokola<strong>de</strong>, die darin verpackt gewesen war, hatten an<strong>de</strong>re genossen. Ob sie es mehr verdient hatten<br />
als er? Wahrscheinlich. Er wußte es nicht. Aber Stanniol schmeckte eher beschei<strong>de</strong>n. Es verursachte<br />
zwischen <strong>de</strong>n Zähnen ein Gefühl, als kaue man auf einem stromführen<strong>de</strong>n Kabel herum.<br />
Manfred P. zählte 48 Lenze, und diese Friedhofsmauer war zu seinem zweiten Wohnzimmer<br />
gewor<strong>de</strong>n. Wie oft er hier war, vermochte er nicht mehr zu sagen. Ziemlich oft. Zu oft? Er war<br />
Schriftsteller, und auf diesen Steinen fielen ihm die besten Geschichten ein. Möglicherweise hat auch<br />
ein Edgar Allen Poe auf Friedhofsmauern seine Einfälle gehabt. Manfred hielt nicht son<strong>de</strong>rlich viel von<br />
Poe und seinen Geschichten, sie schienen ihm trotz <strong>de</strong>ssen Versuche, sie zu dramatisieren, unecht,<br />
konstruiert, langatmig. Zu seinen Lebzeiten war Poe in <strong>de</strong>r Literaturszene kaum beachtet wor<strong>de</strong>n,<br />
starb einen unbeachteten Tod, <strong>de</strong>m wohl Resignation und Bitternis vorausgegangen sein dürften.<br />
Möglicherweise war er ermor<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n. Was blieb, waren seine Schriften.<br />
Als eine beson<strong>de</strong>re Gabe empfand es Manfred P. immer schon, Geschichten zu erfin<strong>de</strong>n und zu<br />
Papier zu bringen. Geschichten, die zwar aus seiner Fe<strong>de</strong>r stammten, die er aber kaum beeinflußte,<br />
weil sie nur so aus ihm herausflossen, und von <strong>de</strong>ren Ausgang er in aller Regel keine Ahnung hatte.<br />
Ein publizistischer Erfolg hingegen war auch ihm bisher versagt geblieben. Zu Lebzeiten … Er war ein<br />
Niemand. Stanniolpapier war er. Keine Schokola<strong>de</strong>.<br />
Von links näherte sich ein Trauerzug, dort stand die Kapelle, dort fan<strong>de</strong>n die Gottesdienste statt. Die<br />
Zahl <strong>de</strong>r Teilnehmer war überschaubar, Manfred schätzte sie auf unter zwanzig. Mit angemessenen<br />
Schritten verteilten sich allesamt nach und nach um die offene Grube, verharrten in stiller Andacht.<br />
Auch bei Poe stan<strong>de</strong>n Gruft und Grab zuweilen im Mittelpunkt seiner Phantasien, sinnierte Manfred,<br />
<strong>de</strong>n die Trauergemein<strong>de</strong> nicht berührte.<br />
Dies war ein christlicher Friedhof, also waren es Christen, die sich dort tummelten. Menschen, die<br />
auf eine Wie<strong>de</strong>rauferstehung hofften, für die das Leben nur ein Durchgang war, eine Zwischenstation<br />
zum Ewigen Leben. Und für <strong>de</strong>ren Dafürhalten hatte doch ein Gott jenen Dahingeschie<strong>de</strong>nen zu<br />
sich berufen. Warum nur klagten sie und trauerten? Zwei Frauen beson<strong>de</strong>rs intensiv, direkt vor<br />
<strong>de</strong>m Sarg. Immer wie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n sie von Weinkrämpfen geschüttelt. Für solche Momente hielt <strong>de</strong>r<br />
Autor lediglich Erstaunen bereit. Sie hätten doch fröhlich sein müssen darüber, daß ihr Bekannter,<br />
Verwandter, Freund nun im Himmel wan<strong>de</strong>lte. Aber nein, sie zeigten Gram, Unverständnis, tiefste<br />
Trauer, Verzweiflung gar. Warum dies? Bestün<strong>de</strong> die Möglichkeit, so Manfred bei sich, daß sie an die<br />
Dezember 2012 17<br />
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