www.<strong>eXperimenta</strong>.<strong>de</strong> Lad‘ mich zu Dir ein, und verweiger‘ mir <strong>de</strong>n frem<strong>de</strong>n Atem, ...jedoch nicht <strong>de</strong>n Deiner Bettücher. M. X. V. A. Verführung Bekannter Geschmack, geworfener Stein, die ausgewählte Heimat, Sturm, <strong>de</strong>r nicht verscheucht M. X. V. A. Hiermit en<strong>de</strong>t nun unsere Marcela-Ximena-Vásquez-Alarcón-Trilogie und wird an an<strong>de</strong>rer Stelle in dieser Ausgabe fortgeführt von Rafael Ayala Paéz: Gedichte in spanisch mit <strong>de</strong>utscher Übersetzung. Foto: Volker Fill, Lichtgeschwindigkeit 16 Dezember 2012
Francesco Lupo Chronologie eines stringenten Selbstmor<strong>de</strong>s Völlig entspannt saß er auf <strong>de</strong>r Friedhofsmauer, ließ seine Beine baumeln, zusammen mit <strong>de</strong>r Seele. Von links schien ihm die Sonne aufs Gesicht, schmeichelte seiner Wange wie mit einem weichen Vlies. Dort war sein Lieblingsplatz. Genau hier ist es im Sommer um die Mittagszeit angenehm kühl und ruhig. Nur vereinzelt zeigte sich ein Besucher, trug, wie jener dort, eine Gießkanne vom Wasserhahn zu einem pittoresk <strong>de</strong>korierten Grab. Am Stein stellte er sie ab, mußte tief durchatmen. Der Jüngste war er nicht mehr. Pflegte wohl das Grab seiner Gattin. Bald wür<strong>de</strong> er ihr nachfolgen, früher o<strong>de</strong>r später … Wenige Schritte weiter gähnte ein offenes Grab, abgestützt; präpariert, einen neuen Körper auf diesem Kirchhof in Empfang zu nehmen. Auf dieser Mauer gelang es Manfred vorzüglich zu <strong>de</strong>nken, zu philosophieren, über <strong>de</strong>n Wert seines unsinnigen Lebens nachzugrübeln. Manchmal vertrat er die Ansicht, er habe schon zu viel darüber nachgedacht. Über sein Leben, das bisher meist Stanniolpapier für ihn bereit gehalten hatte. Die Schokola<strong>de</strong>, die darin verpackt gewesen war, hatten an<strong>de</strong>re genossen. Ob sie es mehr verdient hatten als er? Wahrscheinlich. Er wußte es nicht. Aber Stanniol schmeckte eher beschei<strong>de</strong>n. Es verursachte zwischen <strong>de</strong>n Zähnen ein Gefühl, als kaue man auf einem stromführen<strong>de</strong>n Kabel herum. Manfred P. zählte 48 Lenze, und diese Friedhofsmauer war zu seinem zweiten Wohnzimmer gewor<strong>de</strong>n. Wie oft er hier war, vermochte er nicht mehr zu sagen. Ziemlich oft. Zu oft? Er war Schriftsteller, und auf diesen Steinen fielen ihm die besten Geschichten ein. Möglicherweise hat auch ein Edgar Allen Poe auf Friedhofsmauern seine Einfälle gehabt. Manfred hielt nicht son<strong>de</strong>rlich viel von Poe und seinen Geschichten, sie schienen ihm trotz <strong>de</strong>ssen Versuche, sie zu dramatisieren, unecht, konstruiert, langatmig. Zu seinen Lebzeiten war Poe in <strong>de</strong>r Literaturszene kaum beachtet wor<strong>de</strong>n, starb einen unbeachteten Tod, <strong>de</strong>m wohl Resignation und Bitternis vorausgegangen sein dürften. Möglicherweise war er ermor<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n. Was blieb, waren seine Schriften. Als eine beson<strong>de</strong>re Gabe empfand es Manfred P. immer schon, Geschichten zu erfin<strong>de</strong>n und zu Papier zu bringen. Geschichten, die zwar aus seiner Fe<strong>de</strong>r stammten, die er aber kaum beeinflußte, weil sie nur so aus ihm herausflossen, und von <strong>de</strong>ren Ausgang er in aller Regel keine Ahnung hatte. Ein publizistischer Erfolg hingegen war auch ihm bisher versagt geblieben. Zu Lebzeiten … Er war ein Niemand. Stanniolpapier war er. Keine Schokola<strong>de</strong>. Von links näherte sich ein Trauerzug, dort stand die Kapelle, dort fan<strong>de</strong>n die Gottesdienste statt. Die Zahl <strong>de</strong>r Teilnehmer war überschaubar, Manfred schätzte sie auf unter zwanzig. Mit angemessenen Schritten verteilten sich allesamt nach und nach um die offene Grube, verharrten in stiller Andacht. Auch bei Poe stan<strong>de</strong>n Gruft und Grab zuweilen im Mittelpunkt seiner Phantasien, sinnierte Manfred, <strong>de</strong>n die Trauergemein<strong>de</strong> nicht berührte. Dies war ein christlicher Friedhof, also waren es Christen, die sich dort tummelten. Menschen, die auf eine Wie<strong>de</strong>rauferstehung hofften, für die das Leben nur ein Durchgang war, eine Zwischenstation zum Ewigen Leben. Und für <strong>de</strong>ren Dafürhalten hatte doch ein Gott jenen Dahingeschie<strong>de</strong>nen zu sich berufen. Warum nur klagten sie und trauerten? Zwei Frauen beson<strong>de</strong>rs intensiv, direkt vor <strong>de</strong>m Sarg. Immer wie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n sie von Weinkrämpfen geschüttelt. Für solche Momente hielt <strong>de</strong>r Autor lediglich Erstaunen bereit. Sie hätten doch fröhlich sein müssen darüber, daß ihr Bekannter, Verwandter, Freund nun im Himmel wan<strong>de</strong>lte. Aber nein, sie zeigten Gram, Unverständnis, tiefste Trauer, Verzweiflung gar. Warum dies? Bestün<strong>de</strong> die Möglichkeit, so Manfred bei sich, daß sie an die Dezember 2012 17 www.<strong>eXperimenta</strong>.<strong>de</strong>