neu auf dvd - DVDFilmspiegel
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Coming Out Rücksichtslose Ehrlichkeit<br />
Alltag in der DDR der 1980er<br />
Jahre: Die Jung-Lehrer Tanja<br />
(Dagmar Manzel) und Philipp<br />
(Matthias Freihof) arbeiten an<br />
derselben Schule. Tanja liebt<br />
Philipp. Die beiden werden ein<br />
Paar, erwarten ein Kind. Doch<br />
Philipp verliebt sich in Matthias<br />
(Dirk Kummer). Von den gesellschaftlichen<br />
Konventionen<br />
eingeengt, wagt er es zunächst<br />
nicht, sich zu seiner Liebe zu bekennen.<br />
Es kommt zu einer Katastrophe.<br />
Erst dadurch gewinnt<br />
Philipp den Mut, zu sich selbst<br />
zu stehen.<br />
Gebaut nach den klassischen<br />
Dramenregeln, die schon die alten<br />
Griechen <strong>auf</strong>gestellt haben,<br />
erzählt „Coming Out“ eine wirkungsvolle<br />
Geschichte um den<br />
dornenreichen Weg der Selbsterkenntnis<br />
eines Einzelnen. International<br />
wurde der Film, ur<strong>auf</strong>geführt<br />
an jenem Abend, da die<br />
Mauer zwischen Ost- und West-<br />
Deutschland fiel, vor allem als<br />
„erster Schwulenfilm der DDR“<br />
klassifiziert. Was durchaus<br />
stimmt. Doch den Film nur mit<br />
Blick <strong>auf</strong> diesen Aspekt zu sehen,<br />
macht ihn sehr viel kleiner als er<br />
wirklich ist. Als Regisseur Heiner<br />
Carow für diesen Film <strong>auf</strong><br />
den 40. Internationalen Filmfestspielen<br />
Berlin im Februar 1990<br />
den „Silbernen Bär“ für „die zum<br />
Ausdruck kommende tiefe Achtung<br />
für Menschenrechte, Humanität<br />
und Toleranz“ erhielt,<br />
traf diese Preisbegründung sehr<br />
viel genauer als die Reduzierung<br />
<strong>auf</strong> das Thema Homosexualität.<br />
Das nämlich war in der DDR<br />
gar kein so „heißes Eisen“, wie<br />
heute allgemein angenommen:<br />
Der berüchtigte Paragraf 175 des<br />
Deutschen Strafgesetzbuches von<br />
1871, in der BRD erst 1994 völlig<br />
abgeschafft, wurde in der DDR<br />
bereits 1968 gemildert und 1988<br />
ganz gestrichen. Einer der prominentesten<br />
Gegner einer Verbesserung<br />
der Rechtslage für Homosexuelle<br />
im Westen Deutschlands<br />
war übrigens Bundeskanzler Helmut<br />
Schmidt. Mit dem Satz „Ich<br />
bin Kanzler der Deutschen, nicht<br />
Kanzler der Schwulen“ lehnte er<br />
beispielsweise kategorisch eine<br />
Reform des Sexualstrafrechts ab.<br />
Freilich wurde auch in der DDR<br />
nicht offen mit Homosexualität<br />
umgegangen, wurde nur geduldet,<br />
nicht akzeptiert. Wie hätte es<br />
in einem Land, in dem kleinbürgerlich-spießiges<br />
Denken Staatsdoktrin<br />
war, auch anders sein<br />
können?! Was natürlich die Entstehung<br />
des Films erschwerte.<br />
Als Vizepräsident der Ost-Berliner<br />
Akademie der Künste konnte<br />
Heiner Carow jedoch einige Hebel<br />
in Bewegung setzen, die ihm<br />
schließlich die Umsetzung des<br />
lange geplanten Stoffes ermöglichten.<br />
Als der Film Mitte September<br />
1989 in der Ost-Berliner<br />
Akademie der Künste eine Vor<strong>auf</strong>führung<br />
erlebte, sprach der<br />
damalige Akademiepräsident,<br />
der Theater- und Fernsehregisseur<br />
Manfred Wekwerth, von<br />
einer „Pioniertat“, beschwor die<br />
„rücksichtslose Ehrlichkeit“ des<br />
Films als „Modellfall für andere<br />
Bereiche“. Brecht-Schüler Wekwerth<br />
bezog das wohl weniger<br />
<strong>auf</strong> die schwule Thematik, als<br />
<strong>auf</strong> die damals in der DDR tatsächlich<br />
mutige Darstellung des<br />
Alltags. Carow zeigte, was es im<br />
heiligen Sozialismus nicht geben<br />
durfte: In der S-Bahn wird ein<br />
Farbiger von Skinheads zusammengeschlagen,<br />
im Fußgängertunnel<br />
beschimpfen Schläger ein<br />
Opfer als „Schwuli“... In einer<br />
Schlüsselszene des Films sagt der<br />
wunderbar vieldeutige Michael<br />
Gwisdek als Kellner einen Satz,<br />
der das Lebensgefühl des heißen<br />
Sommers 1989, da Tausende<br />
über Ungarn das Land verließen<br />
und die Stasi immer offener in<br />
Erscheinung trat, <strong>auf</strong> den Punkt<br />
bringt: „Hier ist jeder allein, und<br />
jeder hat Angst.“<br />
Am Ende das Films bekennt<br />
sich der von Matthias Freihof mit<br />
anrührend erwachsener Jungenhaftigkeit<br />
gespielte Philipp vor<br />
seinen Schülern offen als schwul,<br />
hat sein „Coming Out“. Als diese<br />
Szenen gedreht wurden, stand<br />
das „Coming Out“ der DDR im<br />
politischen Sinn noch bevor. Das<br />
vollzog sich dann ganz anders,<br />
als es Heiner Carow gewollt hat.<br />
Er gehörte zu jenen Intellektuellen<br />
im Osten Deutschlands, die<br />
eine andere, bessere DDR wollten.<br />
Die Unterordnung unter die<br />
Macht der D-Mark war deren Sache<br />
nicht. Historisch betrachtet<br />
ist „Coming Out“ also auch ein<br />
bewegendes Dokument über die<br />
Träume und Hoffnungen vieler<br />
damals in der DDR, „ihr Land“<br />
besser, freier, liebenswerter zu<br />
gestalten. Träume, die unmittelbar<br />
nach der Ur<strong>auf</strong>führung des<br />
Films geplatzt sind.<br />
Ganz klar: „Coming Out“ ist<br />
auch, und vor allem, ein wunderbarer<br />
Liebesfilm – und, wie<br />
alle großen Liebesfilme, ein Liebeskummerfilm.<br />
Neben Buch<br />
(Wolfram Witt), Regie und den<br />
exzellenten Schauspielern hat<br />
Drama<br />
DVD erschienen bei ICESTORM<br />
Coming Out<br />
DDR 1989 | ca. 108 Min. | ab 12<br />
mit Matthias Freihof, Dagmar Manzel<br />
Regie: Heiner Carow<br />
Vertrieb: ICESTORM<br />
Sprache: dt.<br />
Untertitel: eng.<br />
Bild: 4:3<br />
Ton: Dolby Digital 2.0<br />
Extras: Hintergrundinfos u.a.<br />
Kameramann Martin Schlesinger<br />
die Wirkung des Films wesentlich<br />
beeinflusst. Schlesinger<br />
fotografierte hier seinen ersten<br />
abendfüllenden Kinofilm nach<br />
Hochschularbeiten, die bereits<br />
Aufsehen erregt hatten. Mit seinem<br />
Feingeist und seinem Können,<br />
Licht und Schatten raffiniert<br />
miteinander zu verschmelzen,<br />
bewahrte er manches szenische<br />
Arrangement des sehr gefühlsbetonten<br />
Heiner Carow vor einem<br />
Abrutschen ins Sentimentale.<br />
Wie wichtig Schlesingers Arbeit<br />
für den Film ist, wird sicherlich<br />
in den erotischen Momenten<br />
am augenfälligsten. Doch gibt<br />
es eine Szene, die dies ganz besonders<br />
belegt, die in der DDR<br />
und in der BRD gleichermaßen<br />
bedrückend wirkte und auch<br />
im gegenwärtigen Deutschland<br />
wirkt: Philipp begegnet einem<br />
alten Mann, den die Nazis wegen<br />
seiner Homosexualität ins KZ gesteckt<br />
hatten. Der Greis (Werner<br />
Dissel) vermerkt mit erschütternder<br />
Ruhe, dass die Träger der<br />
rosa Winkel nach der Befreiung<br />
vergessen wurden. Wie Schlesingers<br />
Kamera hier Nähe herstellt<br />
und zugleich würdevollen<br />
Abstand wahrt, wie somit dem<br />
großartigen Werner Dissel ganz<br />
das Spielfeld überlassen wird,<br />
das macht die Szene zu einer weit<br />
über den Film hinausweisenden<br />
Anklage der Diskriminierung<br />
von so genannten Minderheiten<br />
an sich.<br />
Peter Claus