Brusberg Dokumente - Brusberg Berlin
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<strong>Brusberg</strong> <strong>Dokumente</strong><br />
(...) Ich studierte die Geschichte<br />
der Revolution. Ich fühlte mich wie<br />
zernichtet unter dem gräßlichen<br />
Fatalismus der Geschichte.<br />
Ich finde in der Menschennatur<br />
eine entsetzliche Gleichheit,<br />
in den menschlichen Verhältnissen<br />
eine unabwendbare Gewalt,<br />
Allen und Keinem verliehen.<br />
Der Einzelne nur Schaum auf der<br />
Welle, die Größe ein bloßer Zufall,<br />
die Herrschaft des Genies ein<br />
Puppenspiel, ein lächerliches<br />
Ringen gegen ein ehernes Gesetz,<br />
es zu erkennen das Höchste,<br />
es zu beherrschen unmöglich. (...)<br />
Georg Büchner, Januar 1834<br />
in einem Brief<br />
an Wilhelmine Jaeglé<br />
»Commune«<br />
Karikatur von K. Mathis<br />
Paris, 1871
Der alte Lehrling II<br />
Öl auf Leinwand, 2001/2003<br />
80 x 70 cm<br />
verkauft, Privatbesitz
<strong>Brusberg</strong> <strong>Dokumente</strong><br />
Bernhard Heisig<br />
»Gestern und in unserer Zeit «<br />
herausgegeben<br />
von Dieter <strong>Brusberg</strong><br />
aus Anlaß der Ausstellung<br />
vom 6. September<br />
bis 15. November 2003<br />
mit Texten von<br />
Bernhard Heisig, Ursula Bode,<br />
Tim Sommer<br />
und Dieter <strong>Brusberg</strong><br />
Galerie <strong>Brusberg</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Kurfürstendamm 213<br />
D-10719 <strong>Berlin</strong><br />
Telefon 0049.30.882 76 82/3<br />
Fax 0049.30.881 53 89<br />
galerie@brusberg-berlin.de<br />
www.brusberg-berlin.de<br />
Edition <strong>Brusberg</strong>
4<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
6 Bernhard Heisig<br />
Biografische Daten<br />
9–15 Dieter <strong>Brusberg</strong><br />
Gestern und in unserer Zeit<br />
Mutmaßungen und Behauptungen<br />
Februar 2002/August 2003<br />
16 Tim Sommer<br />
Das Schicksal<br />
von Bernhard Heisigs größtem Gemälde<br />
Ein Bericht<br />
Dezember 2002<br />
17 –47 Katalog<br />
Bilder 1968–2003<br />
25–27 Bernhard Heisig<br />
Woher kommen wir, wer sind wir,<br />
wohin gehen wir<br />
Diskussionsbeitrag zum<br />
Kongress Bildender Künstler der DDR<br />
November 1978<br />
29–30 Ruhig mal die Zähne zeigen<br />
Diskussionsbeitrag zum<br />
Kongress Bildender Künstler der DDR<br />
November 1983<br />
36 Ursula Bode<br />
Damals und gestern und heute und ...<br />
Mai 2003<br />
48 Impressum
Sommer 2003<br />
5
6<br />
Bernhard Heisig<br />
Biografische Daten<br />
»Bernhard Heisig vor<br />
»Christus verweigert den Gehorsam«<br />
»Foto: Herbert Nelius, 1995<br />
1925<br />
geboren am 31. März in Breslau<br />
als Sohn des Malers Walter Heisig<br />
und seiner Ehefrau Hildegard; erste<br />
künstlerische Unterweisungen beim<br />
Vater, der im Jahre 1941 an den<br />
Folgen eines Berufsunfalls stirbt.<br />
1941/42<br />
ab Oktober 1941 Besuch der Kunstgewerbeschule<br />
in Breslau<br />
1942–45<br />
Bernhard Heisig meldet sich 1941<br />
freiwillig zur Wehrmacht, wird Anfang<br />
September 1942 eingezogen und<br />
im Sommer 1943 der 12. SS-Panzer-<br />
Division Hitler-Jugend zugeteilt.<br />
Nach Invasion und Ardennenschlacht<br />
ist er Anfang 1945 an den Kämpfen<br />
um die »Festung« Breslau, seiner<br />
Heimatstadt, beteiligt und kommt mit<br />
Kriegsende in sowjetische Gefangenschaft;<br />
im Herbst 1945 Rückkehr<br />
als Kriegsinvalide zu seiner Mutter<br />
nach Breslau (jetzt Wroclaw).<br />
1946/47<br />
Arbeit bei der polnischen Künstler-<br />
Genossenschaft »Paleta«; Ende<br />
1946 Übersiedlung mit seiner Mutter<br />
nach Zeitz in Sachsen; dort Tätigkeit<br />
in grafischen Betrieben. Im Jahr<br />
1947 wird Bernhard Heisig Mitglied<br />
der SED.<br />
1948<br />
Wiederaufnahme des Studiums bei<br />
Walter Münze an der Kunstgewerbeschule<br />
in Leipzig<br />
1949/51<br />
ab Oktober 1949 Fortsetzung des<br />
Studiums an der Leipziger Akademie<br />
für graphische Künste und Buchgewerbe<br />
(heute: Staatliche Hochschule<br />
für Grafik und Buchkunst).<br />
Sein Lehrer ist Max Schwimmer.<br />
1950<br />
Mitglied des Verbandes Bildender<br />
Künstler Deutschlands (VBKD)<br />
1951–1954<br />
nach dem Sommersemester 1951<br />
Abbruch seines Studiums an der<br />
Leipziger Hochschule als Folge der<br />
Debatte über den »Kampf gegen<br />
den Formalismus«.<br />
Bernhard Heisig lebt als freiberuflicher<br />
Künstler in Leipzig.<br />
1954–1960<br />
Nachdem sich im Sommer 1953 das<br />
kulturpolitische Klima positiv verändert<br />
hatte, wird Bernhard Heisig im<br />
Jahre 1954 als Assistent an die<br />
Hochschule für Grafik und Buchkunst,<br />
Leipzig, berufen; ab September<br />
1956 Dozent. Er übernimmt die<br />
Leitung einer Fachklasse für Grafik.<br />
Wahl zum Vorsitzenden des Verbandes<br />
Bildender Künstler (VBK), Bezirk<br />
Leipzig.<br />
Er behält diese Funktion bis 1959.<br />
1961<br />
Bernhard Heisig wird zum Professor<br />
ernannt und zum Rektor der Leipziger<br />
Hochschule für Grafik und Buchkunst<br />
gewählt.<br />
1964<br />
Wegen seiner Rede auf dem V. Kongreß<br />
des Verbandes Bildender<br />
Künstler über eine restriktiver gewordene<br />
Kulturpolitik wird Bernhard<br />
Heisig mit der offiziellen Begründung<br />
der »Nichterfüllung der erzieherischen<br />
Aufgaben gegenüber den<br />
Studenten« als Rektor abgelöst,<br />
kann jedoch seine Lehrtätigkeit<br />
fortsetzen.<br />
1965<br />
Preis des Illustratoren-Wettbewerbs<br />
der »Internationalen Buchkunstausstellung«<br />
in Leipzig für seine Illustrationen<br />
zu Bertolt Brechts »Mutter<br />
Courage und ihre Kinder«. Für die<br />
Lithografie »Der faschistische Alptraum«<br />
wird Bernhard Heisig von<br />
einem internationalen Preisrichtergremium<br />
die Goldmedaille der<br />
Ausstellung zugesprochen.<br />
1968<br />
kündigt Bernhard Heisig seine Lehrtätigkeit<br />
an der Leipziger Hochschule.<br />
Er arbeitet wieder als freiberuflicher<br />
Maler und Grafiker.<br />
1968/69<br />
Reisen nach Bulgarien<br />
1970<br />
Kunstpreis der Stadt Leipzig<br />
1971<br />
Preis der Intergrafik, <strong>Berlin</strong>/DDR<br />
1972<br />
Wahl zum Ordentlichen Mitglied der<br />
Akademie der Künste der DDR.<br />
Nationalpreis II. Klasse der DDR.<br />
Kunstpreis der Freien Deutschen<br />
Gewerkschaftsbundes (FDGB).<br />
In diesem Jahr übernimmt Bernhard<br />
Heisig zum zweiten Mal den Vorsitz<br />
des Leipziger Bezirksverbandes der<br />
Bildenden Künstler (bis 1974).<br />
1974<br />
Beim VII. Kongreß des Künstlerverbandes<br />
im Mai 1974 wird Bernhard<br />
Heisig zu einem der sechs Vizepräsidenten<br />
des Verbandes Bildender<br />
Künstler (VBK) der DDR gewählt.<br />
Reisen nach Italien und Frankreich.<br />
1976<br />
wird Bernhard Heisig erneut zum<br />
Rektor der Leipziger Hochschule<br />
für Grafik und Buchkunst berufen;<br />
gleichzeitig Übernahme einer Fachklasse<br />
für Malerei und Grafik.<br />
1978<br />
Nationalpreis I. Klasse der DDR.<br />
Bernhard Heisig wird auf dem<br />
VIII. Kongreß des Künstlerverbandes<br />
zum Ersten Stellvertreter des Präsidenten<br />
bestimmt.<br />
1983<br />
Reisen nach Holland und Belgien<br />
1987<br />
Bernhard Heisig gibt das Amt des<br />
Rektors der Leipziger Hochschule<br />
ab, geht jedoch seinen Lehrverpflichtungen<br />
als Leiter einer Fachklasse<br />
und Mentor einiger Meisterschüler<br />
auch weiterhin nach.<br />
1988<br />
Beendigung des Schuldienstes<br />
1989<br />
Im Dezember Austritt aus der SED.<br />
Rückgabe der Nationalpreise.<br />
(Die damit verbundenen Dotationen<br />
wurden von Bernhard Heisig den<br />
Studierenden der Malerei an der<br />
Leipziger Hochschule zugewandt.)<br />
Kündigung der Mitgliedschaft in der<br />
Akademie der Künste der DDR.<br />
1992<br />
Umzug nach Strodehne, einem Dorf<br />
im Havelland, zusammen mit seiner<br />
Frau, der Malerin Gudrun Brüne,<br />
wo beide heute ihre Ateliers haben.<br />
Sommer 2003
Atelier in Strodehne<br />
Sommer 2003<br />
7
8<br />
Selbstporträt<br />
Öl auf Leinwand, 2001/2003<br />
70 x 60 cm<br />
Lager-Nr. BK 13428
Dieter <strong>Brusberg</strong><br />
Gestern und in unserer Zeit<br />
Mutmaßungen und Behauptungen<br />
über Heisig –<br />
Geschichte und Gegenwart<br />
Meiner Meinung nach können große<br />
Werke nur innerhalb der Geschichte<br />
ihrer Kunst entstehen und indem<br />
sie an ihr teilhaben. Einzig innerhalb<br />
der Geschichte kann man erfassen,<br />
was neu und was nachgesagt, was<br />
Entdeckung und was Nachahmung ist,<br />
mit anderen Worten, nur innerhalb<br />
der Geschichte kann ein Werk als Wert<br />
existieren, den man erkennen und<br />
schätzen kann. Nichts scheint mir<br />
folglich für die Kunst furchtbarer als<br />
der Fall aus ihrer Geschichte heraus,<br />
denn es ist ein Fall ins Chaos,<br />
in dem ästhetische Werte nicht<br />
mehr wahrnehmbar sind.<br />
Milan Kundera<br />
in »Verratene Vermächtnisse«<br />
Bernhard Heisig<br />
Tusche auf Papier, 2001<br />
1. ...in unserer Zeit<br />
8. Januar 2002. Ein Neujahrsgruß von<br />
Heisig, postkartengroß: Ein Mann mit<br />
Hut und Mantel, dem Betrachter den<br />
Rücken zugewandt, mit schnellem Strich<br />
gezeichnet, stürmt aus dem Blatt. Vorwärts<br />
oder nach hinten? Dem Neuen<br />
entgegen oder auf der Flucht? Ein pfeilförmiges<br />
Wegzeichen weist auf den<br />
Betrachter. »Vorwärts«, ist zu lesen.<br />
So auch der umseitige Gruß und Wunsch:<br />
»Vorwärts!«. Diesmal mit Ausrufezeichen.<br />
Was heißt das, was will er sagen? Vorwärts<br />
nach hinten, zurück nach vorn,<br />
Kurt Schwitters scheint nahe. Aber Heisig<br />
liegt nichts am dadaistischen Witz, am<br />
Spiel mit den Worten. Er ist Realist.<br />
So sagt er. Und nicht nur als Maler.<br />
Er erzählt gern Witze und seine Pointen<br />
zielen unter die Haut: ein nur leise<br />
stechender Schmerz verweht im Gelächter.<br />
Man spürt ihn erst später. Zurück<br />
nach vorn? Was meint er diesmal?<br />
Er ist doch Realist.<br />
23. Januar 2002. Ein Besuch im Atelier.<br />
Wir reden über seine Bilder. Über Gott<br />
und die Welt also. Über Leben und Tod.<br />
Die Bilder sind wieder voll davon.<br />
Bis zum Bersten. Vor allem die letzten.<br />
Voll von Gewalt, von Tod. Und von Gott.<br />
Für mich jedenfalls. Tod und Gewalt<br />
sieht man. Gott sieht man nicht. Aber er<br />
ist im Bild, unsichtbar und doch zum<br />
Greifen nahe. Eines der Geheimnisse von<br />
Kunst. Geheimnis aller lebenshungriger,<br />
lebensgesättigter Bilder. Bei Heisig sind<br />
sie geprägt von verzweifeltem Glauben.<br />
Er weiß: die Kunst vermag dem Tod zu<br />
widerstehen. Und, vielleicht, die Liebe.<br />
Aber die gehört zur Kunst. Ohne Liebe<br />
gäbe es sie nicht.<br />
Heisig ist, so könnte man sagen, aus der<br />
Zeit gefallen. Mit seinen Bildern, mit<br />
seinem Leben. Er ist aus Leipzig aufs<br />
Land gezogen. Aus der umtriebigen<br />
Stadt, dem sinnenfrohen Sachsen, ins<br />
karge Brandenburg. Am Ende einer Welt.<br />
Zurückgeworfen auf sich, auf seine<br />
Kunst. Allein mit seiner Frau, der Malerin<br />
Gudrun Brüne. Und mit den Katzen.<br />
Schon seit Jahren. Auf der Flucht, wie<br />
manche meinen? Ihn schert es nicht.<br />
Er will malen. Ungestört. Er muß malen.<br />
Und er malt seine ungestümen Bilder.<br />
Ungestüm und unbequem wie eh und je.<br />
Rauh sind sie und gelegentlich ein wenig<br />
ungeschlacht. Jedenfalls auf den ersten<br />
Blick. Es bedarf aber vieler Blicke. Und<br />
sie sind Welten entfernt von der glatten,<br />
schnell eingängigen und schnell abgenutzten<br />
Ästhetik der schönen neuen Welt.<br />
Heisigs Malerei nimmt sich daneben so<br />
altmodisch, so überholt aus, wie der<br />
Glaube an den doch längst totgesagten<br />
Gott. Er malt Bilder vom Krieg der Menschen<br />
gegen Menschen. Bilder, die wir<br />
nicht sehen wollen, die uns aber angehen,<br />
zeigen sie doch die Kehrseite der ach<br />
so schönen neuen Welt. Es sind Bilder,<br />
deren Unversöhnlichkeit erst versöhnlich<br />
wird durch ihre Fähigkeit, den Dialog<br />
mit dem Betrachter aufzunehmen.<br />
Durch die Fähigkeit, Fragen zu stellen<br />
und nach Antworten suchen zu lassen.<br />
In den Bildern. Und in uns.<br />
Versöhnlich sind Heisigs Bilder aber<br />
auch durch die Kraft ihrer Form, einer<br />
Kraft, welche die so gewalttätig vorgetragenen<br />
und von Gewalt bestimmten<br />
Bilder aufleuchten lassen: Grauen gebiert<br />
Schönheit. Eine Schönheit jedoch, die<br />
nicht wohlfeil zu haben ist. Nur wer sie<br />
sucht und sehen will, wird sie finden.<br />
In der Erschütterung. Und in ihr, mag sein,<br />
die Wahrheit. Die Wahrheit der Kunst.<br />
9
10<br />
Gestern und in unserer Zeit<br />
»Kreuze und Stern und Der Meister aus<br />
Deutschland«, so lang und so umständlich<br />
scheinend hat Heisig eines dieser<br />
neuen Bilder betitelt. Es mißt 150 x 70 cm.<br />
Ein schmales Hochformat und ein gedrängt<br />
voller Bildraum. Am rechten<br />
Rand, angeschnitten, ein Männerkörper,<br />
nackt, nur die Augen verbunden. Weit<br />
ausgestreckt, in hilfloser Gebärde, der<br />
rechte Arm. Dahinter ein Uniformierter.<br />
Mit der Waffe in der Hand. Der Augenblick<br />
einer Hinrichtung. Genickschuß.<br />
Von unten ragt der Arm eines anderen<br />
SA-Mannes ins Bild. Die Hand hält einen<br />
Pinsel, zeichnet ein Kreuz auf den Rücken<br />
eines Menschen: ein Soldat mit Helm.<br />
Ein zu Tode gezeichneter auch er. Weiter<br />
unten: Lautsprecher, feixende Zuschauer.<br />
Oben, am linken Bildrand, zwischen<br />
Köpfen von Toten und Verletzten, ein<br />
Bild im Bild, das Selbstporträt von Felix<br />
Nußbaum. Im Mantel. Mit dem gelben<br />
Stern. Der Maler, ein Opfer, als Zeuge:<br />
seht hin, ein Mensch!<br />
Ich halte Heisigs Bild für ein Meisterwerk.<br />
Heisig sieht das anders, ist noch<br />
nicht fertig damit. Nicht mit dem Stoff.<br />
Nicht mit dem Bild. Er wird ohnehin nie<br />
fertig mit seinen Bildern. Und eigentlich<br />
malt er schon ein Leben lang an einem<br />
einzigen Bild. »Kain und Abel oder warum<br />
der Gottessohn unter die Menschen<br />
geriet« könnte es heißen. Oder, ganz<br />
einfach: »Ecce homo!« Abbildung und<br />
Sinnbild allen Leidens, aller Hoffnung.<br />
Heisig malt weiter.<br />
Das Bild mit den Kreuzen und dem Stern,<br />
die schmale und gedrängt volle Leinwand,<br />
hat Heisig schon in den letzten Oktobertagen<br />
vollendet und signiert. Es war bestimmt<br />
für meine Adolf Dresen gewidmete<br />
Ausstellung »Wieviel Freiheit braucht die<br />
Kunst?« Eine Ausstellung, die den Antagonismus<br />
von Poesie und Grauen, von<br />
Liebe und Tod, von Freiheit und Unterdrückung<br />
zum Inhalt hatte. Ein liebestrunkenes,<br />
frühes Bild von Max Ernst,<br />
durchdrungen von sonnenheller Poesie,<br />
und Heisigs todessüchtiges Schreckensbild<br />
bestimmten das Spannungsfeld der<br />
Ausstellung. Traum und Wirklichkeit.<br />
Denn auch das Werk von Max Ernst ist<br />
bestimmt vom Wissen um das Böse in<br />
dieser Welt, gezeichnet von dunkler<br />
Angst und abgründigem Schrecken.<br />
Auch er, der Meister kaum merklicher<br />
Verrückungen wußte, Himmel und Hölle<br />
trennt nur ein Hauch.<br />
Vor mir, an diesem 23. Januar 2002, in<br />
Heisigs Atelier, steht auf einer Staffelei<br />
die zweite Fassung von »Kreuze und<br />
Stern...«, diesem ihm (und mir) so wichtigen<br />
Bild. Das gleiche schmale Hochformat,<br />
die selben Maße. Aber es scheint<br />
mehr Raum für den Täter und sein Opfer<br />
zu bergen. Der eine, gesichtslos jetzt,<br />
behelmt und in feldgrauer Uniform,<br />
beherrscht Geschehen und Bild, teilt es in<br />
der Diagonalen mit dem seltsam verdreht<br />
vorstoßenden und mit einem schwarzen<br />
Stiefel bewaffneten linken Bein. Heisig<br />
hat dem Täter, anders als beim ersten<br />
Bild, seine volle Aufmerksamkeit gewidmet<br />
und ihn, anders als seinen Vorgänger,<br />
der zwar als einziger handelte, aber doch<br />
nur einer von vielen war, auch optisch<br />
in den Vordergrund gerückt. Ist er jetzt<br />
nicht ein Vetter jenes »Zauberlehrlings«<br />
aus Heisigs Hand, ein Bruder gar seines<br />
»Kriegsfreiwilligen«?<br />
Der andere, sein Opfer, nunmehr beide<br />
Arme kreuzförmig ausgestreckt, wölbt<br />
den nackten, hier schmal und jungenhaft<br />
scheinenden Körper noch einmal hoch<br />
und wird gleich nach hinten wegsacken.<br />
Ein Befehl wurde ausgeführt, ein Urteil<br />
vollstreckt. Am Horizont: einstürzende<br />
Bauten, Flammen, dunkler Rauch. Inferno.<br />
Im unteren Bilddrittel, zu Füßen des<br />
Schützen, ragt der Oberkörper des ehemals<br />
vom Kreuz gezeichneten Soldaten.<br />
Jetzt ist er entblößt. Nur den Helm trägt er<br />
noch. Neben ihm der schimmernde Trichter<br />
einer Trompete. Am unteren Bildrand<br />
eine Gruppe von Soldaten. Die Reihen<br />
fest geschlossen. Die Münder aufgerissen.<br />
Man sieht, man hört sie singen.<br />
Der Maler Felix Nußbaum ist nur noch<br />
schemenhaft zu sehen, nur noch flüchtiges<br />
Zitat, verweigert die Zeugenschaft.<br />
Heisigs Bild heißt: »Der Befehl und das<br />
Lied von den morschen Knochen«.<br />
Die Farbe ist noch naß. Doch ich soll<br />
(und will) auch das neue Bild mitnehmen,<br />
noch für die letzten Tage in meine Ausstellung<br />
hängen. Heisig will beide Fassungen<br />
nebeneinander sehen, hält die zweite<br />
für die bessere. Natürlich. Maler lieben<br />
ihre jüngsten Werke. Er hat sich damit<br />
geplagt, »geschuftet wie nie«, sagt er.<br />
Ich sage: »Wie immer«. Er signiert es,<br />
signiert, wieder einmal ein böses, ein<br />
unversöhnlich scheinendes Bild. Ein Bild<br />
vom Elend der Menschen, wieder eins<br />
seiner großenBilder.Aber ist es vollendet?<br />
Wer weiß.<br />
26. Januar 2002. Neujahrsempfang in der<br />
Galerie am Kurfürstendamm, am letzten<br />
Tag meiner Ausstellung. Die beiden<br />
Fassungen von Heisigs Bild hängen sich<br />
gegenüber. Nebeneinander ging es nicht.<br />
Die schmalen Bilder nehmen Platz in<br />
Anspruch, brauchen Luft zum Atmen.<br />
Heisig räumt ein, daß er »Kreuze und<br />
Stern...« in der Erinnerung, nur die<br />
Katalogabbildung vor Augen, unterschätzt<br />
habe. »Aber...«, so hebt er an,<br />
schweigt. Und läßt das Ende offen.
Kreuze und Stern<br />
und Der Meister aus Deutschland<br />
Öl auf Leinwand, 2001<br />
150 x 70 cm<br />
Sammlung Piepenbrock, <strong>Berlin</strong><br />
Der Befehl und das Lied<br />
von den morschen Knochen<br />
Öl auf Leinwand, 2002<br />
150 x 70 cm<br />
Lager-Nr. BK 13039<br />
11
12<br />
Gestern und in unserer Zeit<br />
2. Gestern...<br />
Es war 1980. An einem dieser verdämmernden<br />
Tage zwischen Herbst und<br />
Winter. Es war mein erster Besuch bei<br />
Bernhard Heisig. Der erste Eindruck:<br />
Idylle. (Das war selten genug in dem<br />
unwirtlichen Land namens DDR.) Der<br />
Stadtwald. Eine schöne, baumbesäumte<br />
Straße in einem ruhigen Vorort von Leipzig:<br />
Zum Harfenacker. Auf der rechten<br />
Seite die Nummer 6. Ein großes Grundstück.<br />
Rasenflächen, umfaßt von Rabatten<br />
mit verblühenden Rosen. Das Haus: ein<br />
kubischer Flachbau, nüchtern, viel Glas.<br />
Die merkwürdig schmal scheinende,<br />
seitlich gelegene Tür wird geöffnet:»Es<br />
ist mir eine große Ehre...«. Lächelnd.<br />
Ironisch. Freundlich. Dann stehe ich<br />
in der Werkstatt von Bernhard Heisig.<br />
Sie nimmt die ganze Straßenseite ein,<br />
fast die Hälfte des Hauses. Mehr Turnhalle<br />
als klassisches Atelier. Hoch. Und<br />
langgestreckt. Die große Fensterwand<br />
ist mit Jalousien verblendet. Mächtige<br />
Scheinwerfer brennen auch tagsüber.<br />
Es ist sehr warm. Das Radio (oder der<br />
Plattenspieler) im Dauerbetrieb.<br />
(Woanders ist es der Fernseher.)<br />
Da stehe ich nun. Die Idylle blieb draußen.<br />
Drinnen: Schlachtengetümmel, Bilderschlacht.<br />
Bemalte Leinwände, meist<br />
große Formate, auf den Staffeleien, an<br />
den Wänden, auf dem Boden stehend,<br />
kaum eins mit dem Gesicht zur Wand:<br />
gerade angefangen, halb fertig, fast fertig.<br />
(Für Bernhard Heisig gibt es keine fertigen<br />
Bilder, wenngleich er unentwegt<br />
das Gegenteil behauptet. Auch keine unfertigen.<br />
Es gibt nur das Malen. Aber das<br />
wußte ich damals noch nicht.) Aufstand<br />
im Atelier. Die Bilder reden miteinander,<br />
streiten, bekämpfen sich. Selbst die<br />
gemalten Blumen sind sperrig und wild.<br />
(Und scheußlich, wie ich finde.)<br />
Die Stilleben: Vasen und Totenschädel,<br />
Trompeten und Pickelhauben, Waldhörner<br />
und Stahlhelme. Öffnungen wie<br />
Wunden, klaffend. Stilleben? Nature<br />
morte? Nein, für Heisigs Stilleben muß<br />
ein neues Wort erfunden werden.<br />
Nur seine Landschaften bleiben Landschaften:<br />
Leuchtend grün oder grauschwarz<br />
verhangen bieten sie dem Blick<br />
kleine Fluchtpunkte. Ruhe für einen kur-<br />
zen Moment. Dann aber die großen Leinwände:<br />
Karussellfahrten für die Augen.<br />
Der Raum wird zu einem wirbelnden<br />
Farb- und Bilderstrudel. Heisigs Malerei,<br />
kraftvoll und mächtig, abwehrend und<br />
angreifend, leidenschaftlich zupackend<br />
und kalt diagnostizierend, sein Konzept<br />
der räumlichen und zeitlichen Verwerfungen,<br />
die Entwicklung seiner Bildarchitektur,<br />
der expressive Furor und<br />
die kühle Konstruktion: hier sind sie im<br />
Nebeneinander der vielfältigen Bildzustände<br />
mit einem Mal, auf einmal erfahrbar.<br />
Durch bloße Anschauung, ohne daß<br />
Heisig den Pinsel auch nur berührt, nimmt<br />
der Besucher teil an der Entstehung der<br />
Bilder, den Verwandlungen, erlebt die<br />
Metamorphose von Farben, Figuren,<br />
Gegenständen zur Form, von Stoff und<br />
Handlung zum Bild. Aber was heißt hier<br />
schon Bild? Offene Räume sind es, Bilderbühnen.<br />
Heftiges Spiel, reißende Bewegung.<br />
Die Choreographie der Gewalt.<br />
Filmische Abläufe. Zeitraffer. Schnitte<br />
und Risse: im Raum, in der Zeit. Sich<br />
dehnende Öffnungen, berstende Form.<br />
Zerstörung, Verdichtung. Stillstand.<br />
Schwerkraft und Schwerelosigkeit.<br />
Aufhebung der Gegensätze. Verwandlung<br />
von Entsetzen und Schönheit in Kunst.<br />
Glück. (Ich kann es nicht anders sagen.)<br />
Das war 1980. An einem dieser verdämmernden<br />
Tage zwischen Herbst und<br />
Winter. Es war mein erster Besuch bei<br />
Bernhard Heisig. Reverenz vor einem<br />
bedeutenden Künstler. Sicher. Sein Name<br />
stand ja auf der Wunschliste für eine<br />
Ausstellung: »Malerei und Grafik aus der<br />
DDR«. Seine Bilder waren dafür unverzichtbar,<br />
aber ungeliebt. Er war Maler.<br />
Aber auch geehrter Repräsentant eines<br />
kommunistischen Staates: auch als Maler<br />
ein Klassenfeind (»Staatsmaler« sagen die<br />
Unbelehrbaren heute). Die Klischees des<br />
Kalten Krieges hatten sich tief eingeprägt.<br />
Ich wußte wenig von Heisigs Kunst und<br />
nichts von seinem Leben, nichts von seinen<br />
Schwierigkeiten, seinen Konflikten.<br />
Lange Jahre war ich Heisigs Bildern aus<br />
dem Weg gegangen. Meine ungeteilte<br />
Aufmerksamkeit bei Reisen in die DDR<br />
galt Gerhard Altenbourg, dem Menschen,<br />
dem Werk. Und was ich vom »sozialistischen<br />
Realismus« hier und dort sah, war<br />
nicht geeignet, meine Haltung zu ändern.<br />
Freilich: Zunächst gab’s nur schlechte<br />
Reproduktionen in schlecht gedruckten<br />
Katalogen. Später sah ich hier und da<br />
Originale. Ich sah Bilder aus einer anderen<br />
Welt. Manche beeindruckend, aber die<br />
meisten für die Straße gemalt. (Heute<br />
malt man meistens für den Markt.) Propaganda.<br />
Bunt und platt. Oder muffig<br />
und spießig. Freudlos. So schien es.<br />
Anfangs warf ich alles in einen Topf.<br />
Vorurteile sind bequem. Und dauern.<br />
Doch irgendwann wurde ich aufmerksam,<br />
stand mit Beklemmung vor Wolfgang<br />
Mattheuers nachtdunklen Alpträumen<br />
oder hell leuchtenden Metaphern der<br />
Hoffnung, stand neugierig vor Tübkes<br />
altmeisterlich anmutenden Bildtafeln.<br />
Nun ja, ich liebte die Surrealisten.<br />
Und ich verfiel Tübkes verrätseltem<br />
Welttheater wie einer Droge: ungeliebt,<br />
aber berauschend. Eine Droge, die<br />
heute noch wirkt.<br />
Doch die wenigen Bilder von Heisig,<br />
die ich sah, blieben mir verschlossen.<br />
Respekt war da. Mehr nicht. Es bedurfte<br />
der Erfahrung der Werkstatt, um mir<br />
die Augen zu öffnen, der unmittelbaren<br />
Begegnung mit Bildern. Ich hatte in<br />
das wüste Antlitz der Gewalt gesehen.<br />
Und hatte Glück erfahren. Entsetzen<br />
und Schönheit. Die Kraft der Kunst,<br />
der Zauber der Poesie. Aber ist Kunst<br />
nicht auch Messer, Skalpell, sogar Waffe?<br />
Der Gesang des Orpheus und der<br />
Speer des Odysseus: die mythischen Bilder.<br />
Bilder entstehen aus Vorstellungen.<br />
Und Bilder entstehen aus Wirklichkeit.<br />
Und schon immer entstehen Bilder aus<br />
Bildern. Kunst ist Wiedererkennen,<br />
Begegnung mit der Vergangenheit, mit<br />
den uralten Bildern, den Märchen und<br />
Träumen. Das war dieser sonnenhelle<br />
Schock, Erleuchtung, der mir in Heisigs<br />
Werkstatt widerfahren war. Seine Bilder<br />
wurzeln in der Geschichte wie in der<br />
Gegenwart, sind vertraut und ganz neu.<br />
In Heisigs großen, oft mehrteiligen<br />
Bildern wird der überlieferte Bildraum<br />
aufgehoben durch das Eindringen von<br />
Gegenwart und Erinnerung. Orte, Zeiten<br />
und Handlungen verknüpfen sich in<br />
den nicht mehr von den Gesetzen der
Perspektive bestimmten Flächen seiner<br />
Bilder. Bilder, die in ihren besten Beispielen<br />
augenscheinlich machen, daß<br />
Kunst, alle wahrhafte Kunst (ja, daran<br />
kann man sie erkennen) in ihrem Kern<br />
politisch ist, weil sie eingebunden ist in<br />
Geschichte, in menschliches Schicksal:<br />
gewachsen aus der humanitas, der Verantwortung<br />
einzelner für das Ganze.<br />
Aus dem (so sinnlos scheinenden)<br />
Kampf gegen die Vereinnahmung und<br />
Entwürdigung des Menschen.<br />
Es gibt ein Gemälde von Bernhard Heisig,<br />
das hieß »Begegnung mit Bildern«.<br />
Es hat eine lange Geschichte. Es ist auch<br />
die Geschichte eines Malerlebens. Das<br />
Bild mißt 150 cm in der Höhe und 130 cm<br />
in der Breite und heißt seit 1986 »Der<br />
Kriegsfreiwillige«. Es schien eine von<br />
traumatischen Erfahrungen geprägte<br />
Bilderfolge abzuschließen, lauter große<br />
Gemälde, oft mehrteilig, Bilder von der<br />
Schlacht um Breslau. Bernhard Heisig<br />
war beteiligt, ist beteiligt, sein Abbild<br />
gefangen im eigenen Bild. Teilnehmend?<br />
Beobachtend. Das Entsetzen vor Augen.<br />
Die Vorbilder entstanden in langen Jahren,<br />
der »Kriegsfreiwillige« in einem<br />
Augenblick. Buchstäblich. Walter Eisler,<br />
Heisigs jüngster Sohn (Maler auch er)<br />
besuchte den Vater im Atelier. In Uniform,<br />
als Soldat der Nationalen Volksarmee.<br />
Kein Freiwilliger. Für einen<br />
Moment stand der Sohn vor einem der<br />
großen Kriegsbilder des Vaters. Überblendung,<br />
Verschiebung. Heisig sieht<br />
den Sohn an seiner Stelle. Vor dem Bild.<br />
Im Bild: Erinnerung. Begegnung mit der<br />
Vergangenheit. Zurück auf dem Weg<br />
nach vorn.<br />
In Breslau wurde Bernhard Heisig 1925<br />
geboren.Mit 16 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger.<br />
Ein Jahr später, im Herbst<br />
1942, wurde er eingezogen, später der<br />
12. SS-Panzerdivision »Hitler-Jugend«<br />
zugeteilt. Er nahm an der Ardennenschlacht<br />
teil und an den Kämpfen um<br />
die zur »Festung« erklärten Heimatstadt<br />
Breslau. Inferno, Krieg, Gewalt, Grauen:<br />
in Worten kommentiert er sie heute<br />
ironisch. Aber sie prägten sein Leben,<br />
seine Bilder.<br />
3. Gestern und in unserer Zeit<br />
Nun ist Heisig also von Leipzig nach<br />
Strodehne gezogen, einem Dorf in Brandenburg.<br />
Da, wo es ganz verloren scheint.<br />
Am Ende einer Welt. Zurückgezogen auf<br />
sich, auf seine Kunst.<br />
1992, an einem Sommertag. Eine baumbesäumte<br />
Straße führt auf das Dorf zu.<br />
Der erste Eindruck: Idylle. Gleich am<br />
Ortseingang das kleine, hingeduckte<br />
Wohnhaus. Getrennt durch den bäuerlichen<br />
Garten ein großer Neubau. Mit spitzem<br />
Giebel und viel Glas. Das Atelier ist<br />
hoch und licht. Die Tür liegt seitlich und<br />
scheint merkwürdig schmal. Drinnen:<br />
Bilderschlacht, Schlachtengetümmel.<br />
Die Idylle bleibt draußen. Bemalte Leinwände:<br />
auf den Staffeleien, an den<br />
Wänden hängend, auf dem Boden stehend,<br />
kaum eins mit dem Gesicht zur Wand:<br />
Gerade angefangen, halb fertig, fast fertig.<br />
Nichts hat sich geändert. So scheint es.<br />
Doch das Rad der Geschichte dreht sich.<br />
Eine neue Zeit, eine neue Zeitrechnung.<br />
Heisig aber ist weiter auf der Suche nach<br />
dem immerwährend Neuen, nach der<br />
Wahrheit. Der Wahrheit der Kunst, der<br />
Bilder. Denn Bilder sind von eigener Art,<br />
vermitteln einen Sinn, der in Worten<br />
kaum zu fassen ist. Bilder folgen ihren<br />
eigenen Gesetzen, haben ihre eigene<br />
Logik, fordern unsere Sinne, unsere<br />
Gefühle, bereiten Schmerz und Lust.<br />
Aber, so sagte jetzt einer, »nicht nur die<br />
Malerei, sondern die Kunst überhaupt ist<br />
so anspruchslos, so beliebig und so nett<br />
geworden, daß sie gar nicht mehr ernst<br />
genommen werden kann. Früher hätte<br />
man gesagt, ihr fehle die ›gesellschaftliche<br />
Relevanz‹. Das trifft es.«<br />
Gesagt hat es der Maler Gerhard Richter.<br />
Wohl wahr. Das trifft. Mitten ins Herz.<br />
Ins Herz des Zeitgeistes (wenn dieser<br />
denn eins haben sollte). Denn wer sucht<br />
heutzutage noch nach dem Außerordentlichen,<br />
dem Wunderbaren, dem Geheimnis?<br />
Wer befragt noch unversöhnlich<br />
erscheinende Kunst nach dem Versöhnlichen?<br />
Wer eine Kunst, die Liebe auch<br />
mit dem Tod vermählt und, neben dem<br />
Glück, das alle suchen, auch Elend und<br />
Endlichkeit allen menschlichen Lebens<br />
vor Augen führt? Fragen nach dessen<br />
Sinn stellt? Und nach Gott, dem doch<br />
schon so lange totgesagten? Wer fragt<br />
noch nach einer Kunst, die Gott nicht<br />
sichtbar macht, aber in Bildern lebendig<br />
werden läßt? Es sind nicht viele.<br />
Denn geben wir uns nicht allzu leicht zufrieden,<br />
mit dem Unterhaltsamen, dem<br />
Leichtgewichtigen (welche ja auch schön<br />
sein können) und dem Banalen? Verweigern<br />
uns der Erschütterung (das Leben<br />
ist doch schon schrecklich genug) und<br />
setzen uns widerspruchslos, allüberall,<br />
den trivialen Schrillheiten einer sich<br />
subversiv gebärdenden Szene aus, deren<br />
Akteure sich als Erneuerer sehen, weil<br />
sie Vergangenheit nicht kennen, den Canon<br />
mißachten. Und weil sie nicht wahrnehmen<br />
wollen (oder können), daß das<br />
einmal notwendige Neue in unendlichen<br />
und sinnentleerten Wiederholungen<br />
unterderhand zum alten Hut verkommen<br />
ist. Nicht erst seit gestern. Sie glauben<br />
sich an der Spitze einer Bewegung, verwerten<br />
aber nur den Abfall der Avantgarde,<br />
die vor einem Jahrhundert die<br />
Revolution der Moderne entfachte, erstarrte<br />
Formen und akademisches Mauerwerk<br />
brach und neue Wege öffnete. Vorwärts.<br />
In grenzenlose Freiheit. So damals<br />
die Hoffnung, so die Parole. Nein, diese<br />
Kunst stellt keine Fragen mehr, hat kein<br />
Geheimnis, keine Träume. Und ist längst<br />
zur Satire ihrer selbst verkommen, überschreitet<br />
keine anderen Grenzen mehr<br />
als (allenfalls) die des Geschmacks.<br />
Wir wissen längst, daß der Kaiser nackt<br />
vor unsere Augen trat. Warum geben wir<br />
nicht zu und sagen es laut, daß wir heute<br />
auch den Kaiser nicht mehr sehen. Es<br />
gibt ihn nicht mehr. Die uns verbliebenen<br />
Könige aber, es sind derer nicht mehr<br />
viele, sind unauffällig gekleidet. Oder<br />
aufs Land gezogen.<br />
Der Schriftsteller Adolf Muschg hat das<br />
schon früh bemerkt. Und ausgesprochen.<br />
Sein Ruf verhallte. Nun hat sich ihm<br />
einer, der es wissen muß, zugesellt.<br />
Gerhard Richter. Der wichtigste unter<br />
den lebenden Malern, wie es heißt. Ganz<br />
sicher der bestbezahlte. In Sachen »gesellschaftlicher<br />
Relevanz«, die er jetzt<br />
einfordert, ein unverdächtiger Zeuge.<br />
Seinem Urteil ist nichts hinzuzufügen.<br />
13
14<br />
Gestern und in unserer Zeit<br />
Es gab einen Anlaß für solche Bilanz:<br />
Gerhard Richter wurde 70. Er ist ein<br />
kluger Mann. Bernhard Heisig ist sieben<br />
Jahre älter und lebt in der Einsamkeit.<br />
Aber er weiß schon lange, daß Kunst nur<br />
entstehen kann, wenn Form sich mit Sinn<br />
verbindet. Es ist dann keine Frage des<br />
Stils, des Ausdrucks, der Handschrift,<br />
sondern der Aneignung von Leben, von<br />
Geschichte und Gegenwart.<br />
13. Februar 2002. Ich habe mit Bernhard<br />
Heisig telefoniert. Er war gut drauf, in<br />
Arbeitslaune. Kein Wunder. Tags zuvor<br />
hatte ihm ein Spediteur zwei große Bilder<br />
ins Atelierhaus gebracht. Zwei von den<br />
fünf Tafeln eines Gemäldes aus dem Jahr<br />
1974. Eine Auftragsarbeit. Für den Neubau<br />
der Bezirksleitung der SED in Leipzig.<br />
Es ist sein größtes Bild. Und eins seiner<br />
wichtigsten. Es heißt »Gestern und in unserer<br />
Zeit«, mißt 240 cm in der Höhe und<br />
950 cm in der Breite. Und ist nicht fertig.<br />
Natürlich nicht. Er hat damals zwei Jahre<br />
daran gearbeitet, es zwischendurch ausgestellt.<br />
Und weitergemalt. Dann war das<br />
neue Haus fertig. Das Bild noch nicht.<br />
Er mußte liefern. Das Entgelt betrug etwa<br />
14.000 Mark,streng nach Honorarordnung<br />
der DDR. Weitermalen durfte er nicht.<br />
Ohnehin herrschte nicht eitel Freude bei<br />
den Genossen. Kein Wunder. Heisig ist<br />
ein umgänglicher aber kein bequemer<br />
Partner, war es noch nie. Er schätzt,<br />
anders als die meisten, die Herausforderung<br />
des Auftrages, sucht das konstruktive<br />
Gespräch, die Reibung am Gegenstand,<br />
am Stoff des Bildes. Aber reinreden läßt<br />
er sich nicht. Auch damals nicht.<br />
Sein Bild war verschollen. Die Partei<br />
hatte es kurz nach der Wende verkauft.<br />
Es stand wohl im Weg oder paßte nicht<br />
mehr ins neue Weltbild. Gleichwohl.<br />
Genau hingesehen hatten die Genossen,<br />
so darf man annehmen, ohnehin nicht.<br />
Vorsichtshalber. Gekauft hat es ein Privatmann.<br />
Ein Schnäppchen vermutlich. Der<br />
Mann hat dann auch verkauft, diesmal an<br />
einen kundigen Sammler. Der wußte, was<br />
er tat, was er kaufte. Aber wer kann schon<br />
ein solches Bild zu Hause aufhängen.<br />
Es ertragen? Er hat es mir angeboten.<br />
Als ich Heisig davon berichtete, ihn um<br />
Rat bat, war sein erstes Wort: »Es ist<br />
nicht fertig.« Dann, nach einer Pause:<br />
»Da muß ich wieder ran.« Wochen später<br />
sagte er: »Es ist mein Leben.« Da gehörte<br />
das Bild schon mir.<br />
Aber, keine Frage, es ist »sein Bild«.<br />
Und ein großer Wurf, wenn auch, in seinen<br />
Augen, unfertig, Fragment. Aber was<br />
heißt das schon? Heisig hat es signiert<br />
und abgeliefert. Und doch stellt sich die<br />
Frage, ob ein solches Bild, gemalt im<br />
Auftrag der damals staatstragenden Partei<br />
(es war auch seine) vor allem ein Kunstwerk<br />
ist? Oder nicht doch auch ein Stück<br />
Geschichte? Was zählt mehr? Ohnehin ist<br />
das eine vom anderen nicht zu trennen.<br />
Doch die Geschichte hat uns ein geholt.<br />
Und ist, wie das Bild, gut dokumentiert.<br />
Der Maler lebt, will sein Bild vollenden.<br />
Es enthält sein Leben. Was tun?<br />
Ich war unsicher. Er nicht: »Ich will es!«<br />
und nach einer Pause: »Es muß sein.<br />
Sieh dir das Bild doch an!« Kategorisch.<br />
Es wäre nicht nötig gewesen. Ich wußte,<br />
wovon er sprach. Wußte, daß er recht<br />
hatte. Ich hatte mir das Bild angesehen.<br />
Natürlich. Ich wollte es ja kaufen. Lange.<br />
Genau. Immer wieder. Als Ganzes und<br />
in Teilen. Ich wußte: zwei der fünf<br />
Leinwände, die erste und die vierte,<br />
sind Haupt- und Meisterwerke, auch für<br />
sich genommen. Aber ich wußte auch,<br />
daß das Ganze mehr ist als die Summe<br />
seiner Einzelteile. Das Ganze, ein weitausgreifendes<br />
Panorama von Hoffnung<br />
und Bedrohung, von Angst und Gewalt.<br />
Pandämonium einer von Gott und allen<br />
guten Geistern verlassenen Menschheit.<br />
Groß angelegt, aber nicht vollendet. Drei<br />
der fünf Leinwände sind Lehrstücke für<br />
Heisigs Art zu malen: unmittelbares<br />
Nebeneinander vielfältiger Bildzustände,<br />
zwischen genialischem Zugriff, roher<br />
Skizze und meisterlicher Handschrift.<br />
Die Entwicklung der Malerei beim<br />
Malen: sie war mir vertraut von vielen<br />
Besuchen im Atelier. Hier aber, zum<br />
ersten Mal, erfahrbar in einem Bild,<br />
auf fünf Leinwänden.<br />
»Aber was heißt hier schon Bild?<br />
Offene Räume sind es, Bilderbühnen.<br />
Heftiges Spiel, reißende Bewegung.<br />
Filmische Abläufe. Zeitraffer.<br />
Schnitte und Risse: im Raum, in der Zeit.<br />
Sich dehnende Öffnungen, berstende<br />
Form. Zerstörung, Verdichtung.<br />
Stillstand... Und neue Bewegung.«<br />
So sah ich Heisigs Malerei, im Nebeneinander<br />
von fertigen und unfertigen<br />
Bildern, bei meinem ersten Besuch.<br />
Das war vor mehr als 20 Jahren. So sehe<br />
ich seine Bilder noch heute. Ich weiß,<br />
wie er malt, wie er arbeitet. Mühsam.<br />
Unerbittlich. Suchend. Bis er findet.<br />
Ich habe das Bild gekauft. So wie es ist,<br />
so wie es war. Es gehört mir. Aber es<br />
ist sein Bild. Heisig will weitermalen.<br />
Und ich weiß: Eigentlich malt er schon<br />
ein Leben lang an einem einzigen Bild.<br />
Solange er kann. Gestern und in unserer<br />
Zeit. Zurück nach vorn.<br />
Er weiß, was er tut.<br />
im Februar 2002<br />
zuerst veröffentlicht in:<br />
»Farbe – Form – Zeichen«, Sammlung Piepenbrock<br />
Ausstellungskatalog<br />
Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen<br />
Schloß Gottorf, Schleswig, Juni 2002
4. Eine Nachschrift, August 2003<br />
Also noch einmal: Zurück nach vorn.<br />
Zurück in den Februar letzten Jahres.<br />
Da hatte ich noch gut lachen. Da gehörte<br />
Heisigs Bild noch mir. So glaubte ich.<br />
Ich hatte es ja gekauft. Vorbehaltlos aus<br />
Leidenschaft.Fasziniert vom malerischen<br />
Furor, gepackt vom großen und bitteren<br />
Stoff. Vom Aufbegehren gegen das<br />
Fatum der Menschheit. Gewalt, Aufruhr,<br />
Unrecht. Immer und immer wieder.<br />
Heisig schuf sein Bild »Gestern und in<br />
unserer Zeit« in den frühen siebziger<br />
Jahren eines Jahrhunderts, welches uns<br />
schon entfallen scheint. Leben wir doch<br />
längst in einer neuen Zeit. Und das nicht<br />
nur mit Blick auf den Kalender. Wir<br />
bewegen uns in blendend hellen Räumen<br />
virtueller Welten, während die mythischen<br />
Bilder, die einmal unser Bewußtsein<br />
geformt, unsere sinnenhafte Wahrnehmung<br />
geprägt haben, wieder ins<br />
Dunkel versinken. Und mit ihnen unsere<br />
Seele. Versunken in der Vergangenheit<br />
sind auch der Staat und die Partei, in deren<br />
Auftrag Heisig das wandgroße Bild<br />
einmal geschaffen hat. Vor 30 Jahren.<br />
Aber als ich es zum ersten Mal sah, es<br />
ist ja noch nicht lange her, schien es so<br />
aufregend und herausfordernd, als sei es<br />
tatsächlich erst gestern gemalt worden:<br />
schon Meisterwerk und, fraglos auch das,<br />
noch Fragment. Heisig wollte vollenden,<br />
wozu ihm damals keine Zeit blieb, keine<br />
Zeit gelassen wurde. Wollte Erfahrungen<br />
einbringen. Jetzt. Ein halbes Leben später.<br />
Geht das noch? Zweifel. Zwiespalt.<br />
Gefühl gegen Verstand. Ist doch ein Bild<br />
nicht nur Kunstwerk, das zu verändern<br />
ureigenstes Recht des Künstlers bleibt,<br />
es ist, notwendigerweise, immer auch ein<br />
Stück Geschichte. Hier: Ein Panorama<br />
deutscher, nein – europäischer Entwurzelung<br />
und Wiederfindung. Weitgespannt.<br />
Idealismus und Terror. Commune und<br />
Krieg. Buchenwald und Vietnam. Unsere<br />
Geschichte. Die Geschichte der menschlichen<br />
Natur. Histoire Naturelle. Zeitlos.<br />
Beispielhaft, in einem Bild. Kunstwerk.<br />
Aber auch Zeitspiegel. Doch Zeit und Zeiten<br />
werden in Heisigs Malerei entgrenzt.<br />
Beharrlichkeit der Erinnerung. Es war<br />
nicht mehr schwer: Er hatte freie Hand;<br />
die Hand des Malers, wenn man so will,<br />
das letzte Wort. Ist er doch, sehend und<br />
handelnd, eingeschlossen in Geschichte.<br />
Auch in seine Geschichte, in sein Bild.<br />
Also: Februar 2002.<br />
Zwei der fünf Leinwände waren schon im<br />
Atelier in Strodehne: jede 240 cm hoch<br />
und 190 cm breit. Ganz schön groß. Eine<br />
Herausforderung nicht nur künstlerischer<br />
Art. Auch der Maler war 30 Jahre älter<br />
geworden. Aber immer noch ein Löwe.<br />
Streitbar. Ein Wahrheitssucher. Und aller<br />
Plackerei ungeachtet guter Dinge. Noch.<br />
Im Mai forderte er eine dritte Leinwand<br />
an. Na klar. Doch gab es Einwände. Vom<br />
neuen Eigentümer.<br />
Wie das? Ich hatte das Bild doch gekauft.<br />
Vorbehaltlos. Aber nicht ohne Bedenken.<br />
Ich wollte sicher sein, ganz sicher, daß<br />
bei dem Erstverkauf in turbulenten<br />
Wendejahren alles mit rechten Dingen<br />
zugegangen war. Die beigebrachten<br />
<strong>Dokumente</strong> schienen glaubwürdig. Mein<br />
Lieferant gab sich überzeugt. Mir blieb<br />
ein Zweifel, klein und leise, aber bohrend:<br />
Früheres Eigentum der SED. Das<br />
war ein weites und heikles Feld. Beharrliche<br />
Nachforschungen, Gespräche, Verhandlungen.<br />
Ende Mai war dann klar:<br />
Mein Bild, Heisigs großes »Unvollendete«,<br />
war Eigentum der Bundesrepublik<br />
Deutschland. De jure seit 1995. Kraft<br />
Einigungsvertrag mit der SED/PDS.<br />
De facto erst jetzt. Dank privater Initiative.<br />
Entschädigungslos. Gesetz ist Gesetz.<br />
Und auch ein Rechtsstaat selten dankbar.<br />
Der Maler wird, so ist zu befürchten,<br />
sein Bild nicht vollenden können. Ein<br />
Meisterwerk wird Fragment bleiben.<br />
»Sehend sahen sie umsonst und hörten<br />
hörend nicht.« Den Satz schreiben die<br />
Mythen Prometheus zu, dem Gott, der<br />
den Menschen nicht nur das Feuer brachte,<br />
sondern seinen Geschöpfen, mit Athenes<br />
Hilfe, auch die Seele gab.<br />
Der Maler hatte sich im Mai eine Leinwand<br />
bestellt. Fünf Meter lang. Halb<br />
so groß wie ehedem, aber immer noch<br />
groß genug. Und diesmal in einem Stück.<br />
Und in eigenem Auftrag. Seit 15 Monaten<br />
malt er jetzt an seinem neuen Bild, arbeitet<br />
seinen alten Stoff und seinen Zorn ab,<br />
will vollenden, was nicht zu vollenden<br />
ist. Bleibt auf Distanz und ergreift Partei.<br />
Wie schon immer. Das Bild heißt »Damals<br />
und gestern und heute und...«. Ein Panorama<br />
deutscher, nein – europäischer Entwurzelung<br />
und Wiederfindung. Weitgespannt.<br />
Idealismus und Terror. Commune<br />
und Krieg. Buchenwald und Vietnam.<br />
Austauschbar. Ohne Ende: »...in den<br />
menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare<br />
Gewalt, Allen und Keinem<br />
verliehen.« Büchners Wort, verzweifelte<br />
Resignation. Heisigs Bild, Malwut. Menetekel.<br />
Und doch: Lust am Malen, inhaltsschwer,<br />
farbgesättigt, farbsprühend. Ein<br />
Haupt- und Meisterwerk. Fraglos. Auch<br />
noch Fragment? Heisig sagt, es sei fertig.<br />
Doch wer weiß? Urteilen wird die Zeit.<br />
Uns aber bleibt Hoffnung. Solange Kunst<br />
entsteht. Auf daß wir sehend sehen.<br />
15
Tim Sommer<br />
Lenin wies den Weg zu Marks<br />
Das Schicksal von Bernhard Heisigs<br />
größtem Gemälde<br />
in: art – Das Kunstmagazin<br />
Heft 12, 2002<br />
Elf Jahre blieb das fünfteilige Geschichtspanorama<br />
»Gestern und in unserer Zeit«<br />
(1974) des Malers Bernhard Heisig verschollen.<br />
Nachdem ein gewisser Wilfried<br />
Frach die Tafeln im Herbst 1990 aus der<br />
ehemaligen Leipziger Bezirkszentrale<br />
der SED abtransportiert hatte, verlor sich<br />
jegliche Spur (art 2/2000).<br />
Jüngst hatte die Fahndung nach dem<br />
kapitalen Historienwerk Erfolg: Als im<br />
November vergangenen Jahres dem <strong>Berlin</strong>er<br />
Kunsthändler Dieter <strong>Brusberg</strong> ein<br />
Lenin-Porträt angeboten wurde, das<br />
Heisig ebenfalls für die Bezirkszentrale<br />
in Leipzig gemalt hatte, konnte die Spur<br />
wieder aufgenommen werden. Der Verkäufer,<br />
ein Privatsammler Knuth Goth<br />
aus dem thüringischen Sömmerda, hatte<br />
das Bildnis zuvor beim Erfurter Kunsthaus<br />
»Villa Benary« für 19.000 Mark<br />
ersteigert.<br />
<strong>Brusberg</strong>, Heisig und Goth kamen zu<br />
einer kühnen Annahme. Die Quelle des<br />
Lenin-Bildes könnte auch das Versteck<br />
des Geschichtspanoramas sein. Goth<br />
ermittelte den Einlieferer des Porträts:<br />
Dieter Marks, <strong>Berlin</strong>, Prenzlauer Berg.<br />
Der hatte, wie inzwischen erwiesen ist,<br />
bereits am 3. November 1990 sowohl das<br />
Einzelbild wie auch das Fünf-Tafel-Werk<br />
von Frach gekauft.<br />
Wilfried Frach war damals, ausgestattet<br />
mit einer Legitimation von Gerd Pelikan,<br />
dem damaligen Finanzchef der SED-<br />
PDS, im Osten unterwegs gewesen, um<br />
den Kunstbesitz der ehemaligen SED zu<br />
sichern. »Ich wollte dem Westen das<br />
Ganze einfach wegnehmen«, rechtfertigt<br />
sich der treue Parteisoldat Frach heute.<br />
16<br />
Entgegen dem Rat seiner Genossen, den<br />
»ganzen Müll zu verkloppen«, habe er<br />
fast alles in ein Lager nach Fürstenwalde<br />
gebracht, von wo es dann später auf Burg<br />
Beeskow kam, dem Depot für Kunst der<br />
DDR. Die Heisig-Werke zweigte Frach<br />
freilich ab und gab sie an Dieter Marks,<br />
weil der <strong>Berlin</strong>er ihm »20.000 Mark für<br />
die Transporte vorgeschossen« habe.<br />
Rechercheur Goth, der bereits den Lenin<br />
besaß, kaufte Marks auch noch das<br />
Panorama ab – in dem naiven Glauben,<br />
Marks sei der Eigentümer.<br />
Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft<br />
gegen Frach und Marks, denn das Vermögen<br />
der SED gehört kraft Gesetz dem<br />
Bund und hätte nur durch eine Auktion in<br />
Privatbesitz übergehen können, die von<br />
einem öffentlich bestellten Versteigerer<br />
geleitet worden wäre. Pech für Goth.<br />
Weil dies für die Auktion in der »Villa<br />
Benary« nicht zutraf, wird das Lenin-<br />
Porträt von der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte<br />
Sonderaufgaben<br />
(BvS) ohne Entschädigung eingezogen.<br />
Noch mehr Geld hat Goth wohl bei<br />
seinem zweiten Kauf, dem Fünfteiler,<br />
verloren. <strong>Brusberg</strong> nahm das Werk (heutiger<br />
Wert: rund 400.000 Euro) nur unter<br />
Vorbehalt und gegen eine Anzahlung ab.<br />
Bei seinen Nachforschungen wurde der<br />
Kunsthändler von der PDS an die BvS<br />
verwiesen, die, wie schon beim Lenin-<br />
Porträt, auch prompt ihre Ansprüche<br />
geltend machte. Womit Goth wiederum<br />
das Nachsehen hatte.<br />
Kaum lagerte das fünfteilige Werk in<br />
<strong>Brusberg</strong>s Galerie, stellte Maler Heisig<br />
nach Besichtigung erneuten Handlungsbedarf<br />
fest. Er ließ sich zwei der Tafeln<br />
ins märkische Strodehne liefern und begann<br />
mit einer kräftigen Überarbeitung.<br />
Zeitgleich verhandelte <strong>Brusberg</strong> mit der<br />
BvS und erreichte, dass Heisigs Geschichtspanorama<br />
der <strong>Berlin</strong>er Nationalgalerie<br />
als Dauerleihgabe zugesprochen<br />
wurde. Ungehalten reagierte die BvS auf<br />
die Information des erneuten Künstlereingriffs<br />
und ermahnte den Kunsthändler<br />
»auf Herrn Prof. Heisig dahingehend<br />
einzuwirken, dass er von der weiteren<br />
Bearbeitung der sich bei ihm befindlichen<br />
Tafeln ... absieht«.<br />
Als <strong>Brusberg</strong> angesichts der Jahrhundertflut<br />
im vergangenen Sommer die zwei<br />
Leinwände aus dem gefährdeten Künstleratelier<br />
nach <strong>Berlin</strong> holte und sie zusammen<br />
mit den restlichen drei Tafeln bei<br />
einer Spedition einlagerte, wurden sie<br />
von der BvS bis zur Übergabe an die<br />
Nationalgalerie festgesetzt. Der 77-jährige<br />
Heisig kommentierte den behördlichen<br />
Entzug der unvollendeten Neufassung<br />
verärgert: »Wenn ich tot bin, kann ich<br />
nicht mehr malen.« Mittlerweile arbeitet<br />
Heisig an einer kleineren Zweitfassung<br />
des Bildes.
Gestern und in unserer Zeit<br />
Tafel 1<br />
Öl auf Leinwand, 1972/1974<br />
240 x 190 cm<br />
Neue Nationalgalerie <strong>Berlin</strong><br />
17
18<br />
1968/1971<br />
Lenin und der ungläubige Timofej<br />
Öl auf Leinwand, um 1968<br />
80,5 x 60,5 cm<br />
Sammlung Piepenbrock, <strong>Berlin</strong>
Lenin<br />
Öl auf Leinwand, 1971<br />
160 x 150 cm<br />
Lager-Nr. BK 13487<br />
19
20<br />
1968 /1974<br />
zu »Pariser Commune«<br />
(Studie)<br />
Öl auf Hartfaser, 1968/1969<br />
101 x 91 cm<br />
Sammlung Piepenbrock, <strong>Berlin</strong>
Gestern und in unserer Zeit<br />
Tafel 4<br />
Öl auf Leinwand, 1972/1974<br />
240 x 190 cm<br />
Neue Nationalgalerie <strong>Berlin</strong><br />
21
22<br />
1972/1974<br />
Gestern und in unserer Zeit<br />
Öl auf Leinwand, 1972/1974<br />
fünf Tafeln je 240 x 190 cm<br />
Neue Nationalgalerie <strong>Berlin</strong>
2001/2003<br />
24<br />
Pflichttäter<br />
Öl auf Leinwand, 2001/2003<br />
120 x 100 cm<br />
Lager-Nr. BK 13426<br />
(Zustand 23. Juli 2003)
Diskussionsbeitrag aus<br />
dem Plenum des VIII. Kongresses<br />
des Verbandes Bildender Künstler<br />
der DDR<br />
21. bis 23. November 1978<br />
aus: Bildende Kunst, <strong>Berlin</strong>/DDR<br />
3/1979<br />
Bernhard Heisig<br />
Woher kommen wir,<br />
wer sind wir,<br />
wohin gehen wir<br />
Ich will Ihnen sagen, daß ich einige<br />
Schwierigkeiten habe, das vorzutragen,<br />
was zu sagen ich mir vorgenommen habe.<br />
Bei näherem Hinsehen und in Gesprächen<br />
habe ich bemerkt, daß es mißverständlich<br />
sein kann. Das soll mich allerdings nicht<br />
weiter stören. Man kann, wenn man will,<br />
so ziemlich alles mißverstehen.<br />
Es geht mir um meine Beobachtung,<br />
daß so langsam, aber ziemlich sicher die<br />
großen Bildstoffe abhanden kommen,<br />
also das, was doch wenigstens auch der<br />
Anlaß zum Machen ist. Das sogenannte<br />
Menschliche, manchmal allzu Menschliche,<br />
scheint mehr und mehr in den Blickpunkt<br />
zu kommen. Und warum zunächst<br />
auch nicht? Wenn man bedenkt, was an<br />
thematischen Gewaltsamkeiten noch vor<br />
der VII. Kunstausstellung strapaziert<br />
wurde, muß man akzeptieren, daß es auch<br />
um Persönlichstes, immer den Bildstoff<br />
gemeint, zu gehen habe. (...) Ich war<br />
ohnehin erstaunt, als ich die Entrüstung<br />
erfuhr über meine Bemerkung, daß ich<br />
die menschliche Figur für das ausdrucksfähigste<br />
und ausdruckswürdigste Medium<br />
des bildenden Künstlers halte und ich<br />
nicht glauben könne, daß auf abgegrasten<br />
Weiden die Kühe noch fett würden. Ich<br />
meinte damit eine Kunst – ich sage ausdrücklich<br />
Kunst, denn ich halte sie dafür,<br />
trotz gegensätzlicher Position –, die sich<br />
bereits ausgiebig artikuliert hat, für die<br />
offenbar aber eine ArtNachholbedürfnis<br />
bei uns besteht. Das zu untersuchen, ist<br />
hier nicht meine Sache. Die Entrüstung<br />
über meine Bemerkung im »Neuen<br />
Deutschland« anläßlich eines Interviews<br />
kam von Künstlergruppierungen, die solches<br />
zum Gegenstand ihrer Bemühungen<br />
gemacht hatten. Ich habe mich mit viel<br />
Fleiß bei der Jury zur VIII. Kunstausstellung<br />
dafür eingesetzt, daß auch diese<br />
Auffassungen ihren Platz fanden.<br />
Nun sagte mir vor einigen Tagen in<br />
Leipzig eine Kunstwissenschaftlerin, daß<br />
wir doch bitte nicht so sicher sein sollten<br />
mit künstlerischen Maximen, daß eine<br />
heranwachsende Generation ihren Kunstbegriff<br />
keineswegs von der Bedeutung<br />
der menschlichen Figur und ihren gesellschaftlichen<br />
Bezugssystemen ableiten<br />
müßte, daß besonders auch die Mittler<br />
– also Kritiker und Wissenschaftler –<br />
vielleicht andere Vorstellungen von bildender<br />
Kunst hätten, als ich und meinesgleichen<br />
sie postulieren würden. Nun,<br />
ich bestreite das nicht. Ich bedaure immer,<br />
daß die Möglichkeiten, sich künstlerisch<br />
und kritisch einzupegeln, durch Reiseschwierigkeiten<br />
noch nicht gegeben sind<br />
und die lokalen Aspekte, der vermeintliche<br />
Nachholbedarf, dadurch unnötig<br />
hochgespielt und falsch akzentuiert wird.<br />
Freilich muß auch der Einwand gestattet<br />
sein, daß sich materiell nicht kristallisieren<br />
kann, was sich im Bericht des Materiellen<br />
noch nicht befindet. Das heißt im<br />
Klartext: Wir wollen erst mal die Dinge<br />
– ich spreche ausdrücklich nicht nur von<br />
Bildern – abwarten, und dazu werden ja<br />
mindestens die nächsten Bezirkskunstausstellungen<br />
Gelegenheit geben.<br />
Die liebenswürdige Kunstwissenschaftlerin<br />
sah die Sache, wie ich meine, etwas<br />
befangen an. Ich selbst war ja mal mit der<br />
Forderung, den Realismusbegriff zu erweitern,<br />
bei einem solchen Kongreß – es<br />
war, glaube ich, in Oberschöneweide –<br />
heftig an den Baum gefahren. Ich hatte<br />
ebenso wie die Kollegin übersehen, daß<br />
sich Realismus nicht auf Personen und<br />
Stiltendenzen festlegen läßt. Einige, die<br />
das schon immer wußten – das sagen sie<br />
jetzt –, hatten das übrigens auch übersehen.<br />
Man nennt das bei ihnen »aus der<br />
historischen Situation gewachsene Irrtümer«.<br />
(Heiterkeit) Gleichviel, jedenfalls<br />
hatte sich plötzlich oder kontinuierlich,<br />
wie man will, der Realismusbegriff von<br />
selbst erweitert, sogar ohne zentrale<br />
Arbeitsgruppe.<br />
25
26<br />
Woher kommen wir...<br />
Und jetzt sage ich »sozialistischer Realismus«.<br />
Ein Reizwort, wie ich zugebe.<br />
Man denkt gleich an diesen und jenen, an<br />
dieses und jenes Bild, und ich nenne da<br />
natürlich keine Namen. Die Sache ist immer<br />
in Bewegung und wird es auch bleiben.<br />
Aber um auf den Ausgangspunkt<br />
zurückzukommen: weil es einige tausend<br />
Jahre um die menschliche Figur als den<br />
Dreh- und Angelpunkt beim Künstler<br />
ging, habe ich das Obenerwähnte gesagt,<br />
und ich denke immer, es sei wenig einleuchtend,<br />
daß ein Medium, um das sich<br />
seit der Höhlenmalerei der Begriff Kunst<br />
dreht, gerade jetzt, wo wir ein paar Jahrzehnte<br />
herumkrebsen, plötzlich nicht<br />
mehr aktuell sein soll. Aber ich sagte ja<br />
schon: das ist nur meine Meinung, und da<br />
ich Maler bin, hat sie nur so viel Gewicht<br />
wie meine Arbeit, mit der ich es zu beweisen<br />
versuche. Ich sagte, »die paar<br />
Jahrzehnte, in denen wir jetzt leben«, mit<br />
Hilfe von Arzt und Psychiater, versteht<br />
sich. Und zu unserer Vorstellung vom<br />
Leben möchte ich noch etwas sagen<br />
dürfen. Nicht sehr gern übrigens, denn<br />
da sind noch offene Stellen und weiße<br />
Flecken, weil das zum Durchdenken mehr<br />
Zeit und flankierende Arbeit braucht, als<br />
ich sie habe.<br />
Als ich mit Karl Max Kober vor einem<br />
Jahr in Paris war und den Louvre zunächst<br />
von außen anschaute, sagte Kober: »Höre<br />
mal, da müssen doch diese Könige ständig<br />
auf einem Bauplatz gelebt haben. An dem<br />
Ding haben doch mehrere Generationen<br />
gearbeitet«. Er meinte, das könne doch<br />
nur gehen, wenn der Mensch sich nicht<br />
nur vom ersten bis zum meinetwegen<br />
80. Lebensjahr begreift, sondern schon<br />
lange davor, also sein Woher und Wohin<br />
kennt und so ganz ruhig die Vollendung<br />
des Werkes der nächsten oder gar übernächsten<br />
Generation überlassen kann.<br />
Ein in der Tat seltsames und für uns nur<br />
schwer begreifbares Gefühl: sich als Glied<br />
einer Kette zu wissen, sich in einem langen<br />
Prozeß, der vor uns begann und nach<br />
uns sein wird, künstlerisch einordnen zu<br />
können. Übrigens ein sehr beruhigender<br />
Gedanke in jeder Hinsicht, wenn man das<br />
schafft. Und nicht erst da fiel mir auf,<br />
daß unser historisches, oder wenn Ihnen<br />
dieses weitere Reizwort unangenehm ist,<br />
unser Gefühl für größere Zusammenhänge<br />
doch gestört sein muß. Ich würde –<br />
immerhin seit langem mit diesem Bereich<br />
beschäftigt – das an dem messen wollen,<br />
was ich Geschichtsbewußtsein nennen<br />
möchte.<br />
Unterschätzen wir das nicht, verehrte<br />
Kollegen, das hat der Kunst große Stoffe<br />
und Themen und Sternstunden geliefert.<br />
Im Gegensatz dazu: Sich an sich selbst<br />
festhalten zu müssen, ist ja sehr anstrengend,<br />
besonders für den Künstler. Verlangt<br />
es doch von ihm stets originell und<br />
neu zu sein, immer sein Ich nach vorn zu<br />
treiben. Ein schrecklicher Gedanke.<br />
»Woher kommen wir, wer sind wir, wohin<br />
gehen wir?« nannte Paul Gauguin sein<br />
berühmtes Bild, und die Gründe, warum<br />
er das in Tahiti ansiedelte, hat er genannt.<br />
Sie spielen hier keine Rolle. Natürlich<br />
stammt der Gedanke nicht von ihm. Man<br />
kann das ebenso aus dem gewaltigen Bild<br />
von Courbet »Das Begräbnis von Ornans«<br />
herauslesen. Aber welch ein Angebot,<br />
sich künstlerisch einzuordnen, und<br />
eigentlich auch welch ein Trost – wenn<br />
Sie mir das gestatten. Das schließt übrigens<br />
das, was man mit gesellschaftlicher<br />
Dialektik bezeichnet, nicht aus. Ganz im<br />
Gegenteil. Ich denke, daß es wichtig ist,<br />
wieder eine Konvention anzustreben.<br />
Konvention als künstlerische Vereinbarung<br />
verstanden, innerhalb der sich Kunst<br />
überhaupt erst entfalten kann. Ich meine,<br />
das ist eigentlich künstlerische Freiheit.<br />
Warum ich das alles vielleicht umständlich<br />
und hier nur andeutend sage: Weil<br />
ich meine, daß unsere Möglichkeiten,<br />
sich in diesem Sinne einzuordnen, erheblich<br />
gestört sind. Wenn ich hier behaupte,<br />
daß wir, aber vor allem auch die Generation<br />
der jungen Künstler, ein sehr fragmentarisches<br />
Geschichtsbild haben, weiß<br />
ich, daß sofort die Fachleute auf den Plan<br />
treten, die mir auch mit Hilfe der Promotion<br />
A und B beweisen werden, daß ganz<br />
im Gegenteil erst jetzt ein wahres Geschichtsbild<br />
bestehe. Ich glaube es aber<br />
nicht, weil ich als Rektor und als Leiter<br />
mehrerer Studienjahre einer Fachklasse<br />
für Malerei der Leipziger Kunsthochschule<br />
bemerke, wie wenig die jungen<br />
Kollegen davon wissen, woher sie kommen,<br />
und wie schlecht sie gespeist, sie<br />
ernährt werden von dem, was man so<br />
schnellfertig mit »Geschichte« abtut, und<br />
weil immer deutlicher das eintritt, was<br />
ich vorhin mit dem Begriff umschreiben<br />
wollte: sich an sich selbst festzuhalten.<br />
Die große Verinnerlichung, das Persönliche,<br />
Allzupersönliche, stellt sich ein.<br />
Ganz folgerichtig. Den Mangel an Geschichtsbewußtsein,<br />
an großen Stoffen,<br />
an Angeboten oder meinetwegen an<br />
großen Themen kann übrigens auch kein<br />
Brigadebesuch, auch kein Betriebsaufenthalt<br />
ausgleichen. Ich muß wohl nicht<br />
näher darauf eingehen, daß ich nicht die<br />
Gewalt- und Hauruckkontakte aus der<br />
Zeit der III. Deutschen Kunstausstellung<br />
meine. Obwohl, als ich kürzlich mal so<br />
eine alte Liste mit sogenannten Themenvorschlägen<br />
in die Hand bekam, dachte<br />
ich, daß es immer noch anregender sei, die<br />
Aspekte zum Beispiel der bürgerlichen<br />
Revolution von 1848 künstlerisch zu verhandeln<br />
als die Probleme des Leipziger<br />
Altstoffhandels. Das Beispiel ist übrigens<br />
ganz konkret. Solche »Themen« gibt es.<br />
(Heiterkeit) Wer lacht? Das ist wahr.<br />
(...)
Für den Einsichtigen aber wird ganz<br />
deutlich, daß hier – noch nicht, was die<br />
Beherrschung der künstlerischen Mittel,<br />
aber was die Stoffe angeht – ein deutlicher<br />
Substanzverlust, von dem ich anfangs<br />
sprach, eingetreten ist, und das trifft am<br />
härtesten die Künstler selbst. Wie hieß es<br />
vorhin? Erst da kann sich die Kunst frei<br />
entfalten, wo sie sich der Konvention<br />
bedienen kann. (...) Inzwischen haben<br />
offenbar auch andere mitbekommen, daß<br />
unsere Geschichte – und jetzt sage ich<br />
mal auch unser Nationalbewußtsein –<br />
einen beträchtlichen Knacks hat. Über den<br />
Geschichtsunterricht an unseren Schulen<br />
will ich mich angesichts der erwähnten<br />
Fachleute nicht weiter verbreiten. Man<br />
staunt nur immer, was da alles nicht gewußt<br />
wird, und das kann wohl nicht nur<br />
an der Trägheit der Schüler liegen.<br />
Angesichts des mehrteiligen Preußenfilms<br />
»Scharnhorst« – man kann über seine<br />
künstlerische Substanz sicher streiten,<br />
aber immerhin ein in mancher Hinsicht<br />
überraschendes Unternehmen – stellt man<br />
fest, welchen Aufwandes an Kommentaren<br />
es bedarf, um die weißen Flecken des<br />
Nichtwissens wenigstens notdürftig zu<br />
übertünchen. Die Geschichte der Arbeiterbewegung,<br />
die an unseren Schulen gründlich<br />
gelehrt wird, ist, und ich sage das<br />
ausdrücklich, eine große und wichtige<br />
Sache, aber sie ist ein Teil der Geschichte<br />
und ohne Vorlauf nicht begreifbar.<br />
»Der hat es immer mit dem Geschichtsbewußtsein«,<br />
sagte gestern ein lieber<br />
Kollege und schlug mir mit den Worten:<br />
»Na, Deutscher« aufmunternd auf die<br />
Schulter. (Heiterkeit). Ich erschrak<br />
pflichtgemäß. (Heiterkeit). So einfach<br />
Deutscher zu sagen. Ein Pole nennt sich<br />
Pole. Nur unsere Sportreporter reden<br />
immer von Volkspolen, als wenn es da<br />
irgendwo noch ein anderes Polen gäbe.<br />
(Heiterkeit). Ein Franzose nennt sich<br />
Franzose. Ein Ungar nennt sich Magyar<br />
– hoffentlich habe ich das richtig ausgesprochen<br />
–, also ein Ungar ist stolz<br />
darauf, und wahrscheinlich mit Recht.<br />
Ein Russe ist ein Russe, obwohl da<br />
auch manche zusammenzucken und die<br />
Bezeichnung »Sowjetmensch« fordern.<br />
Aber nun ein Deutscher; und da geht der<br />
Eiertanz los. Freilich, in diesem Volk ist<br />
die Staatsgrenze gleichzeitig eine ideologische<br />
Zäsur. Ich muß mich angesichts<br />
dieses Kreises nicht über die anstehenden<br />
politischen Probleme verbreiten. Ich will<br />
das hier nicht machen, es ist nicht nötig,<br />
wir wissen es. Für mich gilt aber immer<br />
noch der Satz von Ernst Thälmann, der<br />
sinngemäß sagte – ich kann ihn nicht auswendig<br />
zitieren –, er sei stolz darauf,<br />
dieser Nation anzugehören, die sich oft<br />
mißbrauchen ließ, dennoch fleißig und<br />
tapfer sei und große Persönlichkeiten<br />
hervorgebracht habe. Sie kennen sicher<br />
das Zitat.<br />
Ich wollte damit eigentlich nur sagen:<br />
Es ist keine schlechte Sache, wenn wir<br />
einige unserer Stoffe auch aus unserer<br />
Geschichte holen, wenn wir aus sozialistischer<br />
Sicht mit unseren Mitteln die<br />
Geschichte des deutschen Volkes künstlerisch<br />
formulieren würden, sonst, verehrte<br />
Kollegen, tun das andere, und zwar<br />
die, die es schon einmal getan haben. Sie<br />
sind übrigens schon längst wieder dabei,<br />
und was da an Geschichtsbild herauskommt,<br />
haben wir bezahlt, und wir zahlen<br />
immer noch daran.<br />
Übrigens, um auch das noch zu sagen:<br />
Ohne seine Vergangenheit kann kein<br />
Volk leben, gibt es keine Nation und<br />
natürlich auch keine bildende Kunst,<br />
keine Architektur und keine Städte.<br />
Ein Volk ist ohne seine Geschichte kunstunfähig.<br />
Niemand soll behaupten, daß<br />
dies nicht auch Picasso, Klee oder Beckmann<br />
gewußt hätten. Die Alten kannten<br />
das sowieso. Vielleicht wächst aus diesem<br />
Bereich – ich sage ja nicht, daß es<br />
der einzige Anlaß zum Machen ist – wieder<br />
etwas von großer Thematik zu, die es<br />
wieder möglich macht, das Ich aus der<br />
Mitte zu rücken, die aus neuer Sicht ordnet<br />
und die künstlerischen Mittel festigt.<br />
Möglich, daß wir dann nicht mehr streiten,<br />
ob für den Künstler die menschliche<br />
Figur und ihre Bezugspunkte, wenn<br />
schon nicht das Maß, dann wenigstens<br />
ein Maß der Dinge ist.<br />
Ich danke Ihnen! (Beifall)<br />
27
1977/1979<br />
28<br />
Der Maler und sein Thema<br />
Öl auf Leinwand, 1977/1979<br />
150 x 240 cm<br />
Lager-Nr. BE 7038
Bernhard Heisig<br />
Ruhig mal die Zähne zeigen<br />
Diskussionsbeitrag<br />
zum IX. Kongress des Verbandes<br />
Bildender Künstler der DDR<br />
vom 15. bis 17. November 1983<br />
aus: tendenzen Nr. 145<br />
25. Jahrgang, Januar bis März 1984<br />
»Ein Mensch, wie stolz das klingt«, heißt<br />
es bei Gorki, und allmählich bekommt<br />
man Schwierigkeiten mit so hochgemuten<br />
Worten. Und was sind das wirklich für<br />
Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume<br />
nicht mehr möglich ist, weil das das<br />
Wissen um Verbrechen einschließt usw.<br />
Und kann man denn heute noch unbefangen<br />
über Kunst reden, jetzt, wo Menschen<br />
dabei sind, Wissen und Fähigkeiten zur<br />
Zerstörung einzusetzen? Man wird, glaube<br />
ich, über Kunst nur reden dürfen, wenn<br />
man nicht nur über Kunst redet. Und bisher<br />
hat das ja bezeichnenderweise auch<br />
niemand getan.<br />
In der Umgebung der heute fast legendären<br />
VII. Kunstausstellung, also nach<br />
dem VIII. Parteitag, in der kulturellen<br />
Aufbruchstimmung dieser Jahre, da stand<br />
z.B. ein Satz, und alles nickt zustimmend,<br />
wenn man ihn zitiert, Kunst sei keine<br />
Illustration von Konzeptionen, hieß es,<br />
sondern müsse als Kunst begriffen und<br />
benutzt werden. Man stimmt gern zu,<br />
fragt sich halt nur, ob man begreifen will<br />
oder kann, was da gesagt wurde. Der Satz<br />
hat’s in sich, steht doch gleich in der Nähe<br />
die Gretchenfrage: Sag mir, was ist denn<br />
Kunst, wie hältst du es mit der Kunst?<br />
Und wer wagt das zu beantworten? Ich<br />
meine jetzt nicht die Antwort des Theoretikers,<br />
der selbstverständlich sofort einordnen,<br />
rubrizieren und der Kunst ihren<br />
gesellschaftlichen Stellenwert zumessen<br />
kann, ich meine eine Antwort ganz konkret<br />
auf die jeweils angebotene künstlerische<br />
Formulierung. Viele von uns, ich<br />
glaube, alle kennen den Eiertanz jeder<br />
Jury, wo dann manchmal so ungefähr mit<br />
Bemerkungen wie »das hat was« oder<br />
»das ist nicht durchgehalten« oder »die<br />
linke Ecke unten ist etwas schlechter oder<br />
schwächer« usw. mit Mehrheitsbeschluß<br />
entschieden werden muß, und wie<br />
schwierig und belastend ist das für alle.<br />
29
30<br />
Ruhig mal die Zähne zeigen<br />
Eines wissen wir ziemlich genau:<br />
Mit Bildern und dergleichen kann man<br />
leider keinen Krieg verhindern, und<br />
Kunst hat auch nie den blutigsten<br />
Wahnsinn vermeidbar machen können.<br />
Aber sie kann die Menschen zur Vernunft<br />
mahnen und zur Einsicht aufrufen. Und<br />
nun steht wieder fordernd dieser Satz,<br />
Kunst doch als Kunst zu begreifen und<br />
nicht als Illustration von Konzeptionen,<br />
und wieder möchte man gleich zustimmen,<br />
wenn man nur wüßte, wie es funktionieren<br />
soll.<br />
Max Beckmann, dessen 100. Geburtstag<br />
wir in Bälde begehen werden, wenngleich<br />
die meisten von uns kaum ein Original<br />
sehen konnten, und schwer zu fassen ist<br />
es, daß er dennoch großen Einfluß auf die<br />
Kunst der DDR hatte, wie die Kunsthistoriker<br />
demnächst beweisen wollen, dieser<br />
Beckmann ist also einer der interessantesten<br />
Maler. So steht es in zwei Bändchen,<br />
die bei uns über ihn erschienen sind. Und<br />
warum nur diese Bändchen, wenn er so<br />
interessant ist..., aber ich wiederhole<br />
mich, weil ich dasselbe auf dem vorletzten<br />
Kongreß vor 9 Jahren gesagt habe –<br />
man kann es nachlesen.<br />
Aber gleichviel. Er sagte etwas Ähnliches<br />
wie das vorhin Zitierte, nichts sei lächerlicher<br />
»als eine philosophische Konzeption,<br />
gemalt ohne die Wut der Sinne«.<br />
Der Begriff Illustration kommt da nicht<br />
vor. Aber was damit gemeint ist, steckt<br />
drin. Wieder zögert man nicht, zuzugeben,<br />
daß Kunst als Kunst zu begreifen sei<br />
und nicht als Illustration von Konzeptionen.<br />
Es ist so schön und verführerisch,<br />
sagen zu können, die Aufgabe, das Thema,<br />
der Stoff – bitte –, das ist die Sache<br />
der anderen, die Kunst aber ist mein Bier.<br />
Schließlich interessiert an Rembrandts<br />
»Nachtwache«, die er gar nicht so nannte,<br />
auch nicht die Schützenkompanie mit<br />
ihrem Leutnant und Hauptmann, sondern<br />
– ja was? Na, die Malerei! Und was ist<br />
das? Wenn du das bei Rembrandt nicht<br />
weißt, dann ist dir nicht zu helfen. Aber<br />
hatten die Leute der Schützengilde von<br />
ihrem Standpunkt nicht eigentlich recht,<br />
als sie dem Holländer Ärger machten,<br />
weil er sie überspielt hatte, einfach mit<br />
Schattenbahnen unkenntlich machte,<br />
wo sie doch ihre persönliche gesellschaftliche<br />
Bewertung dokumentiert sehen<br />
wollten.<br />
Hätte er sie übrigens mit dieser Meisterschaft<br />
überspielen können, wenn sie sich<br />
nicht gegen ihn gestellt hätten, wenn sie<br />
ihm nicht das Reibungsfeld geboten<br />
hätten?<br />
Was haben die Mönche und die Bauern<br />
an dem Isenheimer Altar des Grünewald<br />
eigentlich gefürchtet oder verehrt? War<br />
es die Malerei oder war es der für sie dort<br />
lebendig gewordene Christus?<br />
Man muß die Kunst als Kunst gebrauchen<br />
und nicht als Illustration von Konzeptionen.<br />
Richtig, aber geht das eine ohne das<br />
andere? Ich glaube es nicht. Bei allem<br />
guten Willen: Ich habe nie bemerkt, daß<br />
ein Bild funktioniert ohne das, was der<br />
Betrachter darum herum denkt, weiß,<br />
fühlt und dazu spinnt, meinetwegen bis<br />
zur Pauker-Frage: »Was wollte der<br />
Künstler damit sagen«?<br />
Seit vielen Jahren versuche ich immer,<br />
den Partner zu begreifen, viel weniger<br />
den Künstler. Die Künstler vergessen<br />
manchmal zu schnell ihre Vergangenheit.<br />
Immer habe ich gefunden, selbst bei Kennern<br />
und Sammlern und solchen, die von<br />
Berufs wegen mit Kunst umgehen, daß<br />
alle über einen Einstieg zum Bild kommen<br />
wollen, selbst und nicht selten auch<br />
bei gegenstandslosen Formulierungen.<br />
Man sollte es ihnen nicht verwehren.<br />
Und was heißt auch illustrativ? Es heißt,<br />
ein Bild von der Sache geben. Und zunächst<br />
ist es eben die Sache, von der sie<br />
ein Bild wollen. So war es bei Altdorfers<br />
»Alexanderschlacht«, bei der »Nachtwache«,<br />
auch bei Beckmann, Dix, Picasso,<br />
und neue Kunstkonzeptionen wollen die<br />
Kunst am liebsten weglassen und nur<br />
noch zur Sache gehen.<br />
Aber hier würde Weiterdenken zu weit<br />
führen. Immer dem sogenannten Reibungsfeld<br />
nachhängend, aus dem im<br />
Streit und Widerspruch etwas wächst,<br />
kann ich nicht so schnell auf die schimpfen,<br />
die – ich sag es mal ruhig – ein Bild<br />
zunächst nach dem beurteilen, was da<br />
darauf ist, was dort die handelnden Figuren<br />
tun, weniger also nach dem, was<br />
wir unscharf Kunst oder Malerei nennen.<br />
Ich glaube nämlich, daß zur Zeit einige<br />
Störungen zwischen den Partnern – ich<br />
sage nicht gern Auftraggeber – deswegen<br />
existieren, weil einer der Partner vielleicht<br />
aus Scheu, nichts von Kunst zu verstehen,<br />
seine Forderungen nicht mehr anzumelden<br />
wagt. Auf diese Vorstellungen wären<br />
die Auftraggeber der Alten, die Päpste<br />
und Könige, nie gekommen. Ich weiß,<br />
daß ich mir mit dem, was ich sage kaum<br />
Freunde mache. Aber wenn vom Gebrauchtwerden<br />
die Rede ist, gehört das<br />
auch dazu. Eigentlich muß jeder von beiden<br />
wissen, was er will, und warum sollte<br />
es nicht einmal zu Reibereien kommen?<br />
Man kann sich ab und zu ruhig einmal die<br />
Zähne zeigen. Man tut das übrigens am<br />
besten lächelnd, weil man da die Zähne<br />
besser sieht.
Zauberlehrling<br />
Öl auf Leinwand, 1981<br />
141,5 x 202,5 cm<br />
Lager-Nr. BK 13901<br />
31
2001/2003<br />
32<br />
Tod in Breslau<br />
Öl auf Leinwand, 2001/2003<br />
90 x 70 cm<br />
Lager-Nr. BK 13430
Der Befehl und das Lied<br />
von den morschen Knochen<br />
Öl auf Leinwand, 2002<br />
150 x 70 cm<br />
Lager-Nr. BK 13039<br />
33
34<br />
1999/2003<br />
Der Verfilmte<br />
(2. Fassung)<br />
Öl auf Leinwand, 1999<br />
120 x 100 cm<br />
verkauft, Privatbesitz
Eigentlich genug gekreuzigt<br />
Öl auf Leinwand, 2003<br />
70 x 90 cm<br />
Lager-Nr. BK 13902<br />
(Zustand 23.Juli 2003)<br />
35
Ursula Bode<br />
Damals und gestern und heute und . . .<br />
Bernhard Heisig ist 78 Jahre alt. Ein deutscher<br />
Maler. Einer der Großen der DDR.<br />
Ein Realist, der heute eine historische<br />
Figur wäre, hätte er denn aufgegeben.<br />
Er tat es nicht, sondern erhielt sich seinen<br />
Zorn und seine Trauer, seine Fragen und<br />
seine Leidenschaft – für die Menschen<br />
wie für das Malen. Doch wechselte er den<br />
Wohnsitz, ging von Leipzig nach Brandenburg<br />
und sperrte dort die dörfliche<br />
Idylle aus, um mit seinen Bildern allein<br />
zu sein. Was seither entstand, entspricht<br />
als bildnerische Demonstration einer Bemerkung,<br />
die der Künstler 1988 seinem<br />
Publikum zurief: ». . . daß der Kampf um<br />
den Frieden so hart wird, daß kein Stein<br />
auf dem anderen bleibt«.<br />
In Breslau geboren, erlebte Heisig als<br />
junger Kriegsfreiwilliger die Kämpfe um<br />
die zur Festung erklärten Heimatstadt.<br />
Als bildender Künstler, dem »die menschliche<br />
Figur das bezugs- und ausdrucksfähigste<br />
Medium« war, entwickelte er<br />
sich in der DDR gegen die Vorstellung<br />
von einer fortschrittlich-optimistischen<br />
Historienmalerei zu einem gefeierten,<br />
immer wieder umstrittenen Maler, der<br />
das Chaos der deutschen Geschichte<br />
fortlebte.<br />
Den »Versuch einer Aufklärung der<br />
geheimen Mythen-, Katastrophen- und<br />
Kriegsfaszination, die die Menschen unter<br />
religiösen,ideologischen und moralischen<br />
Vorzeichen immer wieder in den Sog der<br />
Selbstvernichtung treibt«, nannte Eckhart<br />
Gillen diese Malerei im Westberliner<br />
»Zeitvergleich«-Katalog von 1988.<br />
36<br />
Malen gegen die »Beharrlichkeit des<br />
Vergessens« (so ein Bildtitel Heisigs<br />
von 1977). Malen als Arbeit an der Erinnerung,<br />
als Exhumierung der eigenen<br />
Geschichte, den Theatertexten Heiner<br />
Müllers vergleichbar (wie Gillen meint).<br />
Malerei als Aufruf, als Aufschrei, als<br />
reflektierte und auf der Leinwand ausgelebte<br />
Verdichtung von Vergangenheit<br />
und Gegenwart. Ein Realismus aus<br />
expressiver Handschrift, der grell aufbegehrt,<br />
der Formen bersten läßt und<br />
Bildräume ins Wanken bringt. So läßt<br />
sich dieses Lebenswerk umschreiben.<br />
Heisigs Bilderbühnen ähneln mit ihren<br />
immer wieder abrufbaren Sequenzen<br />
filmischen Abläufen. Ein Lebens-Film<br />
ereignet sich; Bewegung folgt auf<br />
momentanen Stillstand, und Schnitte in<br />
Zeit und Raum irritieren ein malerisches<br />
Kontinuum, für das Heisig ein Ende nicht<br />
vorsieht. Für ihn gäbe es keine fertigen<br />
Bilder, sagt Dieter <strong>Brusberg</strong>. Auch wenn<br />
er unentwegt das Gegenteil behaupte.<br />
Auch unfertige gäbe es nicht. »Es gibt<br />
nur das Malen.«<br />
Auch das Gemälde »Damals und gestern<br />
und heute und . . .« aus den Jahren 2002<br />
bis 2003 hat sich stetig weiterentwickelt:<br />
mit seinem Format von 1,30 mal 4,80<br />
Metern buchstäblich ein opus magnum.<br />
Ein Lebenszeugnis. Ein Kommentar in<br />
eigener Sache. Ein Bild der Bilder, bekenntnisreich,<br />
dramatisch und opulent<br />
gemalt. Der Maler umgreift darin seine<br />
Welt und fügt deren Facetten neu zusammen:<br />
die Albträume des Unbewußten,<br />
die Zeichen der Erinnerung, die Symbole<br />
einer irrlichternden Gegenwart, deren Zukunft<br />
offen ist. Während sich der Maler<br />
selbst, etwas versetzt von der Mitte des<br />
Bildes, in der Menge porträtiert – auf den<br />
Stock gestützt wie Friedrich der Große –,<br />
geht ganz rechts sein alter ego, die anonyme<br />
Rückenfigur eines Zeitungslesers<br />
von der Bühne ab.<br />
Studie<br />
Öl auf Hartfaser, 2002<br />
35 x 135 cm<br />
Damit nimmt Heisig, wie in den meisten<br />
Partien des Gemäldes, ein Motiv aus<br />
einem früheren auf. »Ich hätte gerne<br />
freundlichere Bilder gemalt« nannte<br />
er ein Werk aus dem Jahr 2000, dessen<br />
Menschenmenge nun auf des Malers<br />
jüngster Bilderbühne ebenso auftaucht<br />
wie der ins Blaue entschwindende dunkle<br />
Mann mit Zeitung.<br />
»Damals und gestern und heute und . . .«<br />
ist ein Pandämonium der Sinnlosigkeit<br />
von Krieg, Gewalt und Lebensgier. Und<br />
eine Antwort des Künstlers auf jenes<br />
nahezu doppelt so große Gemälde von<br />
1974, eines der wichtigsten Heisigs aus<br />
der DDR-Zeit, das als Auftragsarbeit für<br />
den Neubau der Bezirksleitung der SED<br />
in Leipzig entstand. »Gestern und in unserer<br />
Zeit« – so der Titel – war jahrelang<br />
verschollen. Das fünfteilige Werk gelangte<br />
schließlich über die »Treuhand«<br />
in den Besitz der <strong>Berlin</strong>er Nationalgalerie.<br />
Aber Bernhard Heisig befand, es sei nicht<br />
fertig. Er wolle daran weiterarbeiten.<br />
Schließlich sei es sein Leben. Doch<br />
dann begann der Maler ein neues Bild:<br />
»Damals und gestern und heute und...«.<br />
Sein Leben, was sonst.
Damals und gestern und heute und ...<br />
Öl auf Leinwand, 2002/2003<br />
130 x 480 cm (Auschnitt)<br />
37
2002/2003<br />
38<br />
Damals und gestern und heute und ...<br />
Öl auf Leinwand, 2002/2003<br />
130 x 480 cm<br />
Lager-Nr. BK 13829
2002/2003<br />
40<br />
Damals und gestern und heute und ...<br />
Öl auf Leinwand, 2002/2003<br />
130 x 480 cm (Ausschnitt)
Immer Ärger<br />
mit dem Wahrheitssucher<br />
Öl auf Leinwand, 2001/2003<br />
80 x 100 cm<br />
Lager-Nr. BK 13425<br />
(Zustand Ende Juni 2003)<br />
41
2001/2002<br />
42<br />
zu »Pariser Commune«<br />
drei Studien<br />
Öl auf Leinwand, 2001/2002<br />
je 90 x 80 cm<br />
Lager-Nr. BK 13421
zu »Pariser Commune«<br />
Studie 3<br />
Öl auf Leinwand, 2001/2002<br />
90 x 80 cm<br />
Lager-Nr. BK 13421<br />
43
1996/2002<br />
44<br />
Frideriziana<br />
Öl auf Leinwand, 2000/2001<br />
90 x 70 cm<br />
Lager-Nr. BK 13125<br />
Friedrich<br />
Öl auf Leinwand, 2001/2002<br />
90 x 70 cm<br />
Lager-Nr. BK 13429
Friederizianische Totenrede<br />
Öl auf Leinwand, 1996/1997<br />
110 x 170 cm<br />
Lager-Nr. BE 6433<br />
45
2001/2003<br />
46<br />
Damals in Küstrin<br />
als Katte sterben mußte<br />
Öl auf Leinwand, 2001/2003<br />
110 x 51 cm<br />
Lager-Nr. BK 13427
Der große König<br />
Öl auf Leinwand, 2001/2003<br />
60 x 80 cm<br />
Lager-Nr. BK 13431<br />
47
Impressum<br />
Karikatur von K. Mathis, 1871<br />
»Eine Seite Weltgeschichte –<br />
Die Krönung des Bauwerks«.<br />
Von unten nach oben:<br />
Louis Philippe, der Bürgerkönig,<br />
dann die Februarrevolution<br />
und die Republik von 1848,<br />
die von Napoleon III. erdolcht wurde.<br />
Auf das Zweite Kaiserreich folgt<br />
die Revolution vom September 1870<br />
und Adolphe Thiers,<br />
der der Dritten Republik schon die Hände<br />
gefesselt hat.<br />
Ganz oben:<br />
Die Commune von 1871 in Gestalt<br />
der triumphierenden Freiheit.<br />
(vergleiche<br />
Seiten 21, 28, 39/40)<br />
»<strong>Brusberg</strong> <strong>Dokumente</strong> 40<br />
»Bernhard Heisig<br />
»Gestern und in unserer Zeit«<br />
aus Anlaß der Ausstellung<br />
vom 6. September<br />
bis 15. November 2003<br />
Katalog<br />
Dieter <strong>Brusberg</strong><br />
Ruth Neitemeier<br />
Stefan <strong>Brusberg</strong><br />
Gestaltung<br />
Büro Bernd Franck<br />
für visuelle Kommunikation<br />
Düsseldorf<br />
Reproduktionen<br />
Artnetworx<br />
Bernd Montag, Hannover<br />
Druck<br />
Primedia Th. Schäfer GmbH<br />
Hannover<br />
Einband<br />
Buchbinderei S.R. Büge, Celle<br />
Werkfotografien<br />
Bernd Kuhnert, <strong>Berlin</strong><br />
Eine Publikation der<br />
Edition <strong>Brusberg</strong>, <strong>Berlin</strong><br />
im August 2003<br />
Printed in Germany<br />
Copyright<br />
Edition <strong>Brusberg</strong>, <strong>Berlin</strong><br />
ISBN 3-87972-102-5<br />
Galerie <strong>Brusberg</strong> <strong>Berlin</strong><br />
Kurfürstendamm 213<br />
D-10719 <strong>Berlin</strong><br />
Telefon 0049.30.882 76 82/3<br />
Fax 0049.30.881 53 89<br />
www.brusberg-berlin.de<br />
galerie@brusberg-berlin.de<br />
Auflage 2000 Exemplare<br />
davon 111 Exemplare<br />
in der Vorzugsausgabe<br />
mit einer Originallithografie<br />
von Bernhard Heisig, 2003<br />
»Erinnerung an Breslau«<br />
32 x 22 cm<br />
signiert und numeriert<br />
ISBN 3-87972-103-3<br />
Dieses Exemplar trägt die Nummer