Konzeption und Evaluation eines Kinematik/Dynamik-Lehrgangs zur ...
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130 5 Entwicklung eines Gesamtkonzeptes zur Kinematik und Dynamik Einsicht, dass es unterschiedliche Beschreibungen der uns umgebenden Welt gibt, die aber unterschiedlich präzise sind bzw. unterschiedliche Geltungsbereiche haben. Im Anfangsunterricht kann häufig die Vorstellung gewonnen werden, physikalische Gesetze und Begriffe sind absolute Wahrheiten. Umso wichtiger ist es, hier exemplarisch aufzuzeigen, dass es keine logische Herleitung von Vorstellungen und Theorien aus Phänomenen gibt. Ein Unterrichtsziel ist, dass die Schüler die physikalische Sichtweise verstehen und lernen, physikalisch zu argumentieren. Der Schüler muss aber nicht davon überzeugt werden, dass die physikalische Sichtweise die einzig mögliche ist; er darf seine Sichtweise in einem bewussten und reflektierten Nebeneinander neben der physikalischen Sichtweise durchaus behalten, sollte aber ihre Unterschiede klar herausstellen können. 5.4.3 Thematisieren von Schülervorstellungen Eng zusammen mit der Frage, ob man einen kontinuierlichen oder diskontinuierlichen Weg wählt, hängt die Frage, in welcher Phase des Unterrichts man Schülervorstellungen thematisieren soll. Wenn die vorhandenen Schülervorstellungen für das Lernen neuer physikalischer Konzepte von so grundlegender Bedeutung sind, wie es die konstruktivistische Sichtweise sieht, ist es sinnvoll, diese Vorstellungen im Unterricht auch zu thematisieren und den physikalischen Vorstellungen gegenüberzustellen. Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, dass „neue Information [...] so selektiert und transformiert [wird], dass sie in die vorhandene kognitive Struktur eingepasst werden kann bzw. diese erweitert, ohne sie im Kern zu verändern“ (Schecker, 1984a, S. 179). „Einig ist man sich darin, dass Schülervorstellungen ausdiskutiert werden müssen. Es besteht aber kein Konsens darüber, wie man am Anfang einer Unterrichtseinheit mit den bereits vorliegenden Alltagsvorstellungen umgehen soll“ (Grob et al., 1993, S. 365). Wichtig ist dabei, dass der Lehrer die typischen Schülervorstellungen kennt. Deshalb werden sie in den für die Lehrer erstellten Unterrichtsmaterialien am Anfang und nochmals beim entsprechenden Thema vorgestellt. Wer die Schülervorstellungen für kognitive Konflikte nutzen will, muss ihr Bewusstmachen an den Anfang eines Lehrgangs stellen, was in diesem Konzept nicht genutzt wird. Wie zuvor erwähnt ist insbesondere in Bereichen, in denen Schüler noch kaum Vorstellungen haben, ein Formulieren von Vorstellungen problematisch, da damit erst einmal eine Theorie konstruiert wird (Beispiel Optik, siehe Wiesner, 1992, S. 290) (siehe Kapitel 5.4.2). Aber auch bei der Dynamik geradliniger Bewegungen, bei der die Schüler schon viele, konkrete und im Alltag bewährte Vorstellungen haben, gibt es Zweifel, ob ein Formulieren eigener Vorstellungen am Anfang Sinn macht (Wodzinski, 1995, S. 249). Am Anfang aufgedeckte Schülervorstellungen kann man den Schülern aber nach einem erfolgreichen Unterricht zusammen mit ihrem Konzeptwechsel und ihrem Lernfortschritt aufzeigen, vorausgesetzt die aufgedeckten Vorstellungen werden schriftlich festgehalten. Im Unterrichtskonzept sollen deshalb die Schüler zu Beginn der Dynamik einen Zeit-Geschwindigkeits-Graphen eines Fahrrades, das mit konstanter Kraft gezogen wird, zeichnen, wobei die Graphen zunächst nicht thematisiert werden. Eine Besprechung dieser Kurven ist erst nach der Behandlung der Luftreibung vorgesehen, da hier sowohl lineare als auch in eine konstante Geschwindigkeit übergehende Graphen als „kontextabhängige Wahrheit“ (siehe Kapitel 2.1.2) eingeordnet werden können.
5 Entwicklung eines Gesamtkonzeptes zur Kinematik und Dynamik 131 In diesem Unterrichtskonzept werden andere Möglichkeiten bevorzugt. Ein Ziel ist, im Unterricht ein solches Lernklima zu schaffen, dass Schülervorstellungen während der Behandlung des Lehrstoffes von selbst hervorkommen. Damit hätte man die Schülervorstellungen genau an der Stelle im Unterricht, an der man sie wirklich braucht und auch nur die, die wirklich stabil sind und Probleme bereiten. Die Schwierigkeit besteht darin, wirklich ein solches Unterrichtsklima zu schaffen, dass sich die Schüler trauen, ihre Vorstellungen einzubringen. Dabei müssen die Schüler nicht selbstständig ihre Vorstellungen perfekt ausformulieren, sondern der Lehrer kann auf entsprechende Schüleräußerungen reagieren, indem er die entsprechende Fehlvorstellung, die er zu hören glaubte, formuliert und fragt, ob dies gemeint war. Insbesondere bei Geschwindigkeit und Beschleunigung kann so schnell die Alltagsvorstellung und die physikalische Vorstellung gegenübergestellt werden. In dem die Evaluation begleitenden Fortbildung wurden die teilnehmenden Lehrer darauf geschult, auf die Äußerungen typischer Schülervorstellungen zu achten und sie wurden angehalten, darauf einzugehen. Eine andere Möglichkeit ist erst das physikalische Konzept vorzustellen und dieses danach mit anderen Vorstellungen zu vergleichen. Durch diesen nachträglichen Vergleich kann einer eventuell entstandenen Kompartmentalisierung von korrektem und inkorrektem Wissen entgegengewirkt werden und ein Clusterbegriff wie „Kraft“ in verschiedene physikalische Begriffe (Kraft, Impuls, Energie etc.) differenziert werden. So wird in dem Konzept vorgeschlagen, nach der Verallgemeinerung des zweiten newtonschen Gesetzes auf die Bedeutung des Begriffes „Kraft“ im Alltag einzugehen. Das Thematisieren typischer Schülervorstellungen nimmt also auf dem ersten Blick in dem Unterrichtskonzept keinen großen Raum ein. Trotzdem werden in dem Konzept überall Fehlvorstellungen konsequent berücksichtigt. Dies geschieht in der Auswahl der Experimente und Beispiele, in der Schwerpunktsetzung bei den Themen und Beispielen und den Lehreraussagen. Der Unterricht soll nach diesem Konzept so gestaltet werden, dass eine Festigung von Fehlvorstellung und insbesondere eine Erzeugung von Fehlvorstellungen vermieden wird. Auch die graphische Modellbildung und die dynamisch ikonischen Repräsentationen werden bewusst zur Veränderung von Schülervorstellungen verwendet, wobei bei deren Einsatz Schülervorstellungen hervorkommen, die dann thematisiert werden können. Zur Thematisierung der Schülervorstellungen ist das Gespräch zwischen Schülern und Lehrern nötig. Im Dialog, in dem die Schülervorstellungen ernst genommen und diskutiert werden, können sich die Schüler ihrer eigenen Ideen und Vorstellungen und der ihrer Mitschüler bewusst werden. Aufgabe des Lehrers ist es, ein vertrautes Lehr-Lern-Klima zu schaffen, in dem die Schüler frei über ihre Vorstellungen diskutieren können (Grob et al., 1993, S. 365). „Im Gespräch stellen wir unser Verständnis auf den Prüfstand“ (Nachtigall, 1992, S. 11). In einem Unterricht, in dem Schüler nur passive Informationsempfänger sind, ist ein Verstehen kaum zu erwarten. „Der wichtigste Träger des begrifflichen Denkens ist die Sprache. Begriffliches Denken lernt man, in dem man spricht. Deshalb ist der Dialog, das Gespräch, der wichtigste Weg zur Einsicht“ (Weizsäcker, 1978, zitiert bei: Nachtigall, 1992, S. 11).
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Einsicht, dass es unterschiedliche Beschreibungen der uns umgebenden Welt gibt, die aber unterschiedlich<br />
präzise sind bzw. unterschiedliche Geltungsbereiche haben. Im Anfangsunterricht kann<br />
häufig die Vorstellung gewonnen werden, physikalische Gesetze <strong>und</strong> Begriffe sind absolute Wahrheiten.<br />
Umso wichtiger ist es, hier exemplarisch aufzuzeigen, dass es keine logische Herleitung von<br />
Vorstellungen <strong>und</strong> Theorien aus Phänomenen gibt. Ein Unterrichtsziel ist, dass die Schüler die physikalische<br />
Sichtweise verstehen <strong>und</strong> lernen, physikalisch zu argumentieren. Der Schüler muss aber<br />
nicht davon überzeugt werden, dass die physikalische Sichtweise die einzig mögliche ist; er darf<br />
seine Sichtweise in einem bewussten <strong>und</strong> reflektierten Nebeneinander neben der physikalischen<br />
Sichtweise durchaus behalten, sollte aber ihre Unterschiede klar herausstellen können.<br />
5.4.3 Thematisieren von Schülervorstellungen<br />
Eng zusammen mit der Frage, ob man einen kontinuierlichen oder diskontinuierlichen Weg wählt,<br />
hängt die Frage, in welcher Phase des Unterrichts man Schülervorstellungen thematisieren soll.<br />
Wenn die vorhandenen Schülervorstellungen für das Lernen neuer physikalischer Konzepte von so<br />
gr<strong>und</strong>legender Bedeutung sind, wie es die konstruktivistische Sichtweise sieht, ist es sinnvoll, diese<br />
Vorstellungen im Unterricht auch zu thematisieren <strong>und</strong> den physikalischen Vorstellungen gegenüberzustellen.<br />
Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, dass „neue Information [...] so selektiert<br />
<strong>und</strong> transformiert [wird], dass sie in die vorhandene kognitive Struktur eingepasst werden kann<br />
bzw. diese erweitert, ohne sie im Kern zu verändern“ (Schecker, 1984a, S. 179). „Einig ist man<br />
sich darin, dass Schülervorstellungen ausdiskutiert werden müssen. Es besteht aber kein Konsens<br />
darüber, wie man am Anfang einer Unterrichtseinheit mit den bereits vorliegenden Alltagsvorstellungen<br />
umgehen soll“ (Grob et al., 1993, S. 365). Wichtig ist dabei, dass der Lehrer die typischen<br />
Schülervorstellungen kennt. Deshalb werden sie in den für die Lehrer erstellten Unterrichtsmaterialien<br />
am Anfang <strong>und</strong> nochmals beim entsprechenden Thema vorgestellt.<br />
Wer die Schülervorstellungen für kognitive Konflikte nutzen will, muss ihr Bewusstmachen an den<br />
Anfang <strong>eines</strong> <strong>Lehrgangs</strong> stellen, was in diesem Konzept nicht genutzt wird. Wie zuvor erwähnt ist<br />
insbesondere in Bereichen, in denen Schüler noch kaum Vorstellungen haben, ein Formulieren von<br />
Vorstellungen problematisch, da damit erst einmal eine Theorie konstruiert wird (Beispiel Optik, siehe<br />
Wiesner, 1992, S. 290) (siehe Kapitel 5.4.2). Aber auch bei der <strong>Dynamik</strong> geradliniger Bewegungen,<br />
bei der die Schüler schon viele, konkrete <strong>und</strong> im Alltag bewährte Vorstellungen haben, gibt es Zweifel,<br />
ob ein Formulieren eigener Vorstellungen am Anfang Sinn macht (Wodzinski, 1995, S. 249). Am Anfang<br />
aufgedeckte Schülervorstellungen kann man den Schülern aber nach einem erfolgreichen Unterricht<br />
zusammen mit ihrem Konzeptwechsel <strong>und</strong> ihrem Lernfortschritt aufzeigen, vorausgesetzt<br />
die aufgedeckten Vorstellungen werden schriftlich festgehalten. Im Unterrichtskonzept sollen deshalb<br />
die Schüler zu Beginn der <strong>Dynamik</strong> einen Zeit-Geschwindigkeits-Graphen <strong>eines</strong> Fahrrades,<br />
das mit konstanter Kraft gezogen wird, zeichnen, wobei die Graphen zunächst nicht thematisiert<br />
werden. Eine Besprechung dieser Kurven ist erst nach der Behandlung der Luftreibung vorgesehen,<br />
da hier sowohl lineare als auch in eine konstante Geschwindigkeit übergehende Graphen als „kontextabhängige<br />
Wahrheit“ (siehe Kapitel 2.1.2) eingeordnet werden können.