Betrifft: Betreuung 10
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C. Kommentar aus Sicht der Sozialen Arbeit<br />
störungsspezifische Behandlungsentscheidungen und Vorgehensweisen zu erhalten.<br />
Standardisierte Klassifikationssysteme zur medizinischen und psychiatrischen<br />
Diagnostik wie das International Classification of Diseases (ICD-<strong>10</strong>) der WHO (2008),<br />
die im <strong>Betreuung</strong>swesen vorherrschen, werden in international besetzten Konsensgemeinschaften<br />
erarbeitet und erhalten dadurch überregionale Verbindlichkeit. In der<br />
Entstehung der Kategorien spielen Normalitätskonstruktionen eine große Rolle (vgl.<br />
u. a. Schulze, 2008) – ein Umstand, der berechtigterweise Kritik hervorruft, da damit<br />
Ethnozentrismen sowie Macht- und Lobbyinteressen verknüpft sind. Eine grundsätzliche<br />
Informiertheit über gängige Klassifikationssysteme ist allerdings für alle Professionen,<br />
die sich im <strong>Betreuung</strong>swesen einer Person annehmen, unausweichlich, da es<br />
als Grundlage für die wesentlichsten Entscheidungsvorgänge dient.<br />
Es ist daher nötig, sich in den Systemen zurechtzufinden sowie Einordnungen nachvollziehen,<br />
anwenden, jedoch auch kritisch auf Stigmatisierungs- und Diskriminierungsprozesse<br />
hinterfragen zu können. Inzwischen wurden auch Klassifikationssysteme<br />
für den stärkeren Einbezug sozialer Dimensionen entwickelt. Zu nennen ist hier<br />
u. a. die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der<br />
WHO (2001; vgl. auch Schuntermann, 2007), die eine länder- und fachübergreifende<br />
einheitliche Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der<br />
Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren<br />
einer Person entwickelt hat. Erfasst werden: Behinderungen und Beeinträchtigungen<br />
der Person, ihrer Aktivitäten und ihrer Situation einschließlich ihrer Teilhabemöglichkeiten<br />
im Alltag. Diese Entwicklungen lassen hoffen, dass es in Zukunft passgenauere<br />
Klassifikationssysteme im Bereich der Sozialen Arbeit geben kann und wird. Ein<br />
Zwischenschritt könnte ermöglichen, sich z. B. im <strong>Betreuung</strong>swesen auf das ICF zu<br />
beziehen. Die daraus resultierende größere Gesamtschau aus störungsbedingten<br />
Defiziten und vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen könnte den sozialen Diagnostiker<br />
dann in einen Dialog mit der Klientel führen, der eine ganzheitlichere Sichtweise<br />
ermöglicht.<br />
III. Dialogisch, subjektorientiert und lebensweltorientiert vorgehen<br />
als Aufgabe des <strong>Betreuung</strong>swesens<br />
Der soeben genannten Gefahr, lebensgeschichtlich geprägtes, individuelles Leiden<br />
in ‚klinischen Störungsbildern’ zu fixieren und an wichtigen subjektiven wie biografischen<br />
Informationen vorbeizugehen, ist durch die Kompetenz vorzubeugen, die ‚diagnostische<br />
Situation’ dialogisch zu gestalten. Die dialogische Gestaltung von Hilfesituationen<br />
ist eine Vorgehensweise, der sich Klinische Sozialarbeit grundsätzlich<br />
verpflichtet fühlt (Pauls, 2004) und gilt insbesondere für das auf Macht basierende<br />
und auf Hierarchie ausgerichtete <strong>Betreuung</strong>swesen. Für einen biografisch kontextualisierten<br />
und subjektorientierten Zugang bietet sich die Forschungstradition rekonstruktiver<br />
Sozialforschung, insbesondere die Biografieforschung, an. Fallrekonstruktion<br />
wird aus dieser Perspektive zu einem Schlüssel verstehender Diagnostik, in der<br />
die Rekonstruktion von biografischen Entwicklungen und Verläufen eine zentrale<br />
Rolle spielt (vgl. u. a. Fischer, 2006; Hanses, 2000). In der Sozialen Arbeit haben<br />
diese Traditionen mit der Zeit einen immer höheren Stellenwert eingenommen (vgl.<br />
Miethe et al., 2007; Völter, 2008).<br />
Die hierzu entwickelten Erhebungsverfahren sind vielfältig. In der Integrativen Therapie<br />
und Beratung wird mit dem ‚Lebenspanorama’ gearbeitet (vgl. u. a. Gahleitner,<br />
2005; Petzold et. al., 2000), Methoden der narrativen Gesprächsführung und Intervention<br />
bewegen sich angelehnt an qualitative Forschungsmethoden im sprachlichen<br />
Bereich (vgl. zum Vorgehen u. a. Loch & Schulze, 2002). Die Relevanz solcher Selbstdeutungen<br />
bleibt im medizinischen und juristischen System oftmals unberücksich-