Betrifft: Betreuung 10
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Teil I Der 11. VGT Diskussionsbeiträge und Arbeitsergebnisse<br />
Menschen mit Behinderung umzusetzen. Das SGB IX stellt damit eine eindeutige Orientierung<br />
für Behindertenpolitik dar.<br />
Dennoch bedeutet das Gesetz keinen Paradigmenwechsel. Das Gesetz hält noch in<br />
weiten Teil die Rehabilitationsorientierung aufrecht, es sind nur wenige Aspekte einer<br />
Prävention und inklusiven Orientierung enthalten. Rehabilitation bedeutet, dass die<br />
Rechte und Maßnahmen darauf abzielen, die Abweichung einer Normalbiografie zu<br />
kompensieren. Implizit werden damit der personale Aspekt einer Behinderung und<br />
somit immer noch eine defizitorientierte Sichtweise von Menschen mit Behinderung<br />
beibehalten. Eine Orientierung an Selbstbestimmung und Teilhabe würde bedeuten,<br />
sich erstens nicht auf eine bestimmte Personengruppe zu fokussieren (vgl. Hinz/<br />
Boban 2008, 207) und Person mit Struktur zu denken. Dies ist z.B. in der internationalen<br />
Systematisierung von Behinderung (ICF) der Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO) zu finden (vgl. Hinz/Niehoff 2008, 113): „Behinderung ist gekennzeichnet als<br />
das Ergebnis oder die Folge einer komplexen Beziehung zwischen dem Gesundheitsproblem<br />
eines Menschen und seinen personenbezogenen Faktoren einerseits<br />
und den externen Faktoren, welche die Umstände repräsentieren, unter denen Individuen<br />
leben andererseits“ (WHO 2004, 22, zitiert nach Hinz/Niehoff 2008, 113). Das<br />
Ziel ist es, hier nicht bestehende personale Abweichungen auszugleichen, sondern<br />
Barrieren im alltäglichen Leben zu beseitigen (Art 28).<br />
Der Begriff Inklusion ergibt sich aus der Auffassung, dass eine Gesellschaft aus Individuen<br />
besteht, die sich alle mehr oder weniger unterscheiden. „Um dieser Tatsache<br />
gerecht zu werden, muss die Gesellschaft dafür Sorge tragen, dass der Zugang aller<br />
Bürger zu Institutionen und Dienstleistungen unter Berücksichtigung ihrer individuellen<br />
Möglichkeiten eröffnet wird“ (Hinz/Niehoff 2008, <strong>10</strong>7). So bleibt das defizitorientierte<br />
Rehabilitationsverständnis dabei, dass es um die Kompensation personaler<br />
Defizite geht, während bei dem strukturell-/ressourcenorientierten Ansatz maßgeblich<br />
ist, den Abbau von Barrieren in der gesellschaftlichen Umgebung herbeizuführen.<br />
Eine solche pointierte Gegenüberstellung kann für andere zentrale Begriffe und Konzepte<br />
getroffen werden. Bei dem zentralen Orientierungspunkt der Maßnahmen steht<br />
die „Normalbiografie“ einem Verständnis von unterschiedlichen Individuen gegenüber,<br />
Teilhabe zielt auf die „Gruppe“ der Menschen mit Behinderung und nicht auf alle<br />
Sozialstaatsbürger. Der Bedarf bemisst sich an einer defizitären, therapiebedürftigen,<br />
unselbständigen Person, statt an der gesellschaftlichen Umgebung mit Barrieren für<br />
Teilhabe und Leben. Es geht bei den Interventionen immer noch um den Befähigungszuwachs<br />
und um Behinderung als einen zeitlichen Abschnitt, statt darum, die<br />
Leistungen als Organisations-/Institutionsveränderung und die eine Teilhabe verhindernden<br />
Barrieren als zeitlichen Abschnitt aufzufassen. Aus einer sozialpolitischen<br />
Perspektive ist hier also nicht nur zu fragen: Welchen Hilfebedarf hat ein Mensch mit<br />
Behinderung? Vielmehr kann auch gefragt werden: Werden Menschen in der aktuellen<br />
sozialpolitischen Institutionenlandschaft behindert (vgl. Hinz/Niehoff 2008, 115)?<br />
Diese Frage führt zu der wohl massivsten Kritik, die dem SGB IX aus den Reihen der<br />
Verbände und Träger zuteil wurde. Hier wurde nicht nur die These des Paradigmenwechsels<br />
verneint, sondern es wurden dem SGB IX folgenschwere ‚Konstruktionsfehler’<br />
unterstellt. Als Skandal wurde unter anderem bezeichnet, dass die Behindertenhilfe<br />
weiterhin in der Armenpolitik und Fürsorge verankert bleibt. Es handelt sich<br />
weiterhin um steuerfinanzierte Leistungen, die nicht bedarfsdeckend angelegt sind,<br />
einer Bedürfnisprüfung unterliegen und nach wie vor einen dominanten Institutionenbezug<br />
aufweisen. Es wird weiterhin keine Finanzierung über den Bund gesichert,<br />
Behindertenpolitik ist also nach wie vor von der (unterschiedlichen) Finanzlage der<br />
Länder und Kommunen abhängig. Die hier angelegten lokalen Unterschiedlichkeiten<br />
werden dadurch verstärkt, dass das SGB IX nicht als Leistungsrecht konstruiert ist.<br />
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