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Texte zu § 1 Einleitung: Der Begriff der Religion

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VL <strong>Religion</strong>sphilosophie: Philosophie und Glaube<br />

WS 2011/12<br />

Prof. Dr. Johannes Brachtendorf<br />

<strong>Texte</strong> <strong>zu</strong> <strong>§</strong> 1 <strong>Einleitung</strong>: <strong>Der</strong> <strong>Begriff</strong> <strong>der</strong> <strong>Religion</strong><br />

Text 1:<br />

Cotta in De natura deorum: „Die gesamte religio des römischen Volkes ist eingeteilt in Opfer<br />

und Deutungen des Vogelflugs und <strong>zu</strong> diesem kommen als drittes noch beson<strong>der</strong>e Fälle, wenn<br />

die Erklärer <strong>der</strong> sibyllinischen Bücher o<strong>der</strong> die Haruspices aus ungewöhnlichen Ereignissen<br />

und naturwidrigen Erscheinungen weissagen. Keine dieser religiones habe ich jemals für<br />

verächtlich gehalten.“ (Cicero, De natura deorum III 5)<br />

Text 2:<br />

„[…] daß wir dem Gott, <strong>der</strong> uns erschaffen hat, gerechten und schuldigen Gehorsam<br />

erweisen, ihn allein anerkennen und ihm folgen. Durch dieses Band <strong>der</strong> Frömmigkeit sind wir<br />

Gott verpflichtet und verbunden (religati). Von daher hat die religio selbst den Namen<br />

empfangen – nicht wie Cicero interpretierte von relegere.“ (Lactanz, Divinae institutiones IV<br />

28, 2)<br />

Text 3:<br />

„Streben wir <strong>zu</strong> dem einen Gott und bemühen uns, ihm allein […] unsere Seelen <strong>zu</strong> verbinden<br />

(religantes animas nostras), woher, wie man annimmt, das Wort religio stammt. Die in diesen<br />

Worten ausgesprochene Ableitung des Wortes religio gefiel mir mehr. Es ist mir nämlich<br />

nicht entgangen, daß lateinische Schriftsteller den Ursprung dieses Wortes auch an<strong>der</strong>s erklärt<br />

haben, daß nämlich religio darum so heiße, weil sie von relegere ab<strong>zu</strong>leiten sei.“ (Augustinus,<br />

Retractationes I 12)<br />

Text 4:<br />

<strong>Religion</strong> umfaßt alle Vorstellungen, Haltungen, Handlungen und Normen gegenüber jener<br />

Wirklichkeit, die Menschen als Göttlich annehmen und benennen. <strong>Religion</strong> unterscheidet das<br />

Profane vom Heiligen und das Immanente vom Transzendenten. <strong>Religion</strong> ist ein soziales<br />

Phänomen. <strong>Religion</strong> erhebt einen Anspruch auf letztgültige Sinngebung.<br />

Text 5:<br />

„Die <strong>Religion</strong> ist <strong>der</strong> innere Geist, <strong>der</strong> alles unser [...] Denken und Handeln durchdringt,<br />

belebt und in sich eintaucht.“ (Johann Gottlieb Fichte, Anweisung <strong>zu</strong>m seligen Leben, Werke<br />

V 474)<br />

„<strong>Religion</strong> ist [...] die Gesamtreaktion eines Menschen auf das Leben.“ (William James, Die<br />

Vielfalt religiöser Erfahrung, S. 67)<br />

Literatur:<br />

Colpe, C. (Hg.), Die Diskussion um das „Heilige“, Darmstadt 1977<br />

Eliade, M., Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957;<br />

Kerényi, K., Die <strong>Religion</strong> <strong>der</strong> Griechen und Römer, München 1963<br />

Kluxen, W., in: Niewöhner; Heck, E., <strong>Der</strong> <strong>Begriff</strong> religio bei Thomas von Aquin, Bonn 1971<br />

Muth, R., Vom Wesen römischer religio, in: Aufstieg und Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> römischen Welt II /<br />

16, 1 (1978), S. 349<br />

Stolz, F., Grundzüge <strong>der</strong> <strong>Religion</strong>swissenschaft, Göttingen 1988


VL <strong>Religion</strong>sphilosophie: Philosophie und Glaube<br />

WS 2011/12<br />

Prof. Dr. Johannes Brachtendorf<br />

<strong>§</strong> 2 Philosophie und <strong>Religion</strong> in <strong>der</strong> klassischen Antike<br />

Text 1:<br />

„Ich behaupte, daß es eine spezielle Art von Geschichten gibt, die für heilig gehalten werden,<br />

die verkörpert werden im Ritual, in den Sitten und <strong>der</strong> sozialen Ordnung, und die einen<br />

wesentlichen und aktiven Teil primitiver Kultur bilden. Diese Geschichten leben nicht durch<br />

müßiges Interesse, nicht als fiktive o<strong>der</strong> auch wahre Geschichten; vielmehr bedeuten sie für<br />

die Eingeborenen die Darstellung einer uralten, größeren und relevanteren Wirklichkeit, durch<br />

die das gegenwärtige Leben, die Schicksale und Aktivitäten <strong>der</strong> Menschheit bestimmt werden<br />

und <strong>der</strong>en Kenntnis dem Menschen das Motiv für rituelle und moralische Handlungen wie<br />

auch Hinweise für ihre Ausführung liefert.“<br />

(Malinowsky, B., Magic, Science and <strong>Religion</strong>, and other Essays, New York 1948, S. 90 f.;<br />

deutsch: Frankfurt 1973, zitiert bei Franz von Kutschera, Vernunft und Glaube, Berlin 1990,<br />

S. 160.)<br />

Literatur.:<br />

Nestle, W., Vom Mythos <strong>zu</strong>m Logos<br />

Lévy-Bruhl, L., Das Denken <strong>der</strong> Naturvölker, Wien ²1926; <strong>der</strong>s., Die geistige Welt <strong>der</strong><br />

Primitiven, München 1927. Zusammenfassung bei Kutschera, F. von, Vernunft und<br />

Glaube, Berlin 1990, S. 142-168


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WS 2011/12<br />

Prof. Dr. Johannes Brachtendorf<br />

Text 1: (Paulus, 1 Kor 1, 20-23; 2, 8-10)<br />

<strong>§</strong> 3 Augustinus<br />

„Wo ist ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer in dieser Welt? Hat Gott<br />

nicht die Weisheit <strong>der</strong> Welt als Torheit entlarvt? Dann da die Welt [...] auf dem Weg ihrer<br />

Weisheit Gott nicht erkannte, beschloß Gott, alle, die glauben, durch die Torheit <strong>der</strong><br />

Verkündigung <strong>zu</strong> retten. Die Juden for<strong>der</strong>n Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir<br />

dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für<br />

Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und<br />

Gottes Weisheit.“<br />

„Wir verkündigen, wie es in <strong>der</strong> Schrift heißt, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört<br />

hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat,<br />

die ihn lieben. Denn uns hat es Gott enthüllt durch den Geist. <strong>Der</strong> Geist ergründet nämlich<br />

alles, auch die Tiefen Gottes.“<br />

Text 2: Tertullian (+ ~222), De praescriptione haereticorum 7, 8-13)<br />

„Er [sc. Paulus] war in Athen gewesen und hatte durch seine Begegnungen jene menschliche<br />

Weisheit kennengelernt, die die Wahrheit nachäfft und fälscht und die da<strong>zu</strong> ihrerseits in ihre<br />

verschiedenen Richtungen vielfach gespalten ist durch die Mannigfaltigkeit <strong>der</strong> einan<strong>der</strong><br />

wi<strong>der</strong>sprechenden Schulen. Was haben also Athen und Jerusalem gemeinsam, was die<br />

[platonische] Akademie und die Kirche, was Häretiker und Christen? [...] Sollen diejenigen<br />

für sich <strong>zu</strong>sehen, die ein stoisches, ein platonisches, ein dialektisches Christentum<br />

hervorgebracht haben! Für uns ist Wißbegierde keine Notwendigkeit seit Jesus Christus,<br />

Forschung kein Bedürfnis seit dem Evangelium.“<br />

„Was also haben gemeinsam <strong>der</strong> Philosoph und <strong>der</strong> Christ, <strong>der</strong> Schüler Griechenlands und <strong>der</strong><br />

des Himmels, [...] <strong>der</strong> Freund des Irrtums und <strong>der</strong> Feind des Irrtums, <strong>der</strong> Verfälscher <strong>der</strong><br />

Wahrheit und ihr Erneuerer [...]?“<br />

Text 3: (Augustinus)<br />

nisi credi<strong>der</strong>itis, non intelligetis (Jes 7, 9) – „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht <strong>zu</strong>r<br />

Einsicht gelangen.“<br />

quaerite, et invenietis (Mt 7,7) – „Suchet und ihr werdet finden.“<br />

Text 4:<br />

„Wir werden <strong>zu</strong>m Lernen […] auf einem doppelten Wege geführt, durch die Autorität und<br />

durch die Vernunft. In zeitlicher Hinsicht nimmt die Autorität die erste Stelle ein, in


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WS 2011/12<br />

Prof. Dr. Johannes Brachtendorf<br />

sachlicher Hinsicht aber die Vernunft. Man muss nämlich das, was faktisch als erstes <strong>zu</strong> Wort<br />

kommt, unterscheiden von dem, was höher ein<strong>zu</strong>schätzen ist.“ (Augustinus, De ordine II 9,<br />

26)<br />

Text 5:<br />

„Wir Christen glauben und lehren ja, und unser Heil hängt daran, dass Philosophie, d.h.<br />

Weisheitsstreben, und <strong>Religion</strong> nicht voneinan<strong>der</strong> verschieden sind.“ (Augustinus, De vera<br />

religione 8, 25)<br />

„Ehre die Philosophie <strong>der</strong> Heiden nicht mehr als unsere christliche Philosophie, die die eine<br />

wahre Philosophie ist, denn ihr Name bezeichnet die Liebe <strong>zu</strong>r Weisheit.“ (Augustinus,<br />

Contra Julianum IV 72)


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WS 2011/12<br />

Prof. Dr. Johannes Brachtendorf<br />

Text 6: (Confessiones VII 9, 13 -14)<br />

In den Schriften <strong>der</strong> Platoniker „las ich, zwar nicht mit den gleichen Worten, aber im Grunde<br />

ganz dasselbe und mit vielen und vielfältigen Vernunftgründen gestützt:<br />

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war<br />

das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch<br />

dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht<br />

ist. In ihm ist das Leben, und das Leben war das Licht <strong>der</strong> Menschen.’<br />

(Joh 1, 1-5) […]<br />

Jedoch‚ er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn<br />

nicht auf. Wieviele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht,<br />

Gottes Kin<strong>der</strong> <strong>zu</strong> werden, die an seinen Namen glauben’ (Joh<br />

1, 11 f.), das las ich daselbst nicht.<br />

Desgleichen las ich dort, dass das Wort, Gott, ‚nicht aus dem Fleisch,<br />

noch aus dem Geblüt, noch aus dem Willen eines Mannes, noch aus<br />

dem Willen des Fleisches, son<strong>der</strong>n aus Gott geboren ist’ (Joh 1, 13).<br />

Aber dass ‚das Wort Fleisch ward und unter uns wohnte’ (Joh<br />

1, 14), das las ich dort nicht.<br />

Ich fand zwar, dass in jenen Schriften manchmal und auf vielerlei<br />

Weise gesagt ist, dass ‚<strong>der</strong> Sohn in des Vaters Gestalt sei, und es nicht<br />

für einen Raub gehalten habe, Gott gleich <strong>zu</strong> sein’ (Phil 2, 6), weil er<br />

von Natur dasselbe ist.<br />

Aber‚ ‚dass er sich selbst entäußerte und Knechtsgestalt<br />

annahm und ward wie ein an<strong>der</strong>er Mensch und an Gebärden<br />

als ein Mensch erfunden, dass er sich selbst erniedrigte und<br />

gehorsam ward bis <strong>zu</strong>m Tode, ja <strong>zu</strong>m Tode am Kreuz, und dass<br />

Gott ihn darum erhöht hat und ihm einen Namen gegeben, <strong>der</strong><br />

über alle Namen ist, dass im Namen Jesu sich beugen sollen<br />

aller <strong>der</strong>er Knie, die im Himmel und auf Erden und unter <strong>der</strong><br />

Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus <strong>der</strong><br />

Herr sei, <strong>zu</strong>r Ehre Gottes des Vaters’ (Phil 2, 7-11), das steht<br />

nicht in jenen Schriften.<br />

Dass vor allen Zeiten und über allen Zeiten unwandelbar, gleich ewig<br />

wie du, beharrt dein eingeborener Sohn, und dass ‚aus seiner Fülle’<br />

(Joh 1, 16) die Seelen ihre Seligkeit empfangen, dass sie durch<br />

Anteilnahme an <strong>der</strong> in sich beharrenden Weisheit selbst <strong>zu</strong>r Weisheit<br />

erneuert werden, das findet sich da,<br />

aber dass er ‚in <strong>der</strong> Zeit für uns Gottlose gestorben ist’ und<br />

dass ‚du deines eigenen Sohnes nicht verschont, son<strong>der</strong>n ihn<br />

für uns alle dahingegeben hast’ (Röm 5, 6), das findet sich da<br />

nicht.<br />

Platons Idee des<br />

Guten- Ideen<br />

Plotin: Eines –<br />

Nous<br />

Formbestimmtheit<br />

aller Dinge<br />

Glaube an Jesus<br />

Christus als menschgewordenen<br />

Gott<br />

Hervorgang des<br />

zweiten göttlichen<br />

Prinzips aus dem<br />

ersten. (Eines-<br />

Nous)<br />

Inkarnation (Weih-<br />

nachten; als historischer<br />

Augenblick)<br />

Nous ist geistig,<br />

göttlich, wie das<br />

Eine<br />

Menschwerdung in<br />

Jesus von Nazareth,<br />

Tod (historisch)<br />

Ewigkeit,<br />

Göttlichkeit des<br />

Nous. Glück durch<br />

Teilhabe am Nous.<br />

Zeitlichkeit durch<br />

Menschwerdung<br />

Gottes


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WS 2011/12<br />

Prof. Dr. Johannes Brachtendorf<br />

Text 7:<br />

„Gut ist es überdies und sogar sehr gut, wenn es möglich ist, dass man sowohl sehe, wohin die<br />

Reise geht, als auch an das sich halte, worauf man auf <strong>der</strong> Reise getragen wird. Dies<br />

vermochten die großen Geister […]; sie vermochten es und sahen das, was ist. Denn sehend<br />

sagte Johannes: ‚Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das<br />

Wort’. Sie sahen das, und um <strong>zu</strong> dem <strong>zu</strong> kommen, was sie von ferne sahen, trennten sie sich<br />

nicht vom Kreuze Christi und verachteten nicht die Niedrigkeit Christi.“ (Augustinus,<br />

Vorträge über das Johannes-Evangelium II 3)<br />

„Die Kleinen aber, welche dies nicht verstehen können, aber vom Kreuze und Leiden<br />

und von <strong>der</strong> Auferstehung Christi sich nicht trennen, werden in demselben Schiff <strong>zu</strong> dem<br />

geführt, was sie nicht sehen, in welchem auch jene <strong>zu</strong>m Ziele kommen, die sehen.“<br />

„Denn niemand kann das Meer dieser Welt überqueren, außer er werde durch das<br />

Kreuz Christi getragen. Dieses Kreuz umfasst manchmal auch einer, <strong>der</strong> schwach ist an den<br />

Augen. Und wer nicht von ferne sieht, wohin er gehen soll, <strong>der</strong> entferne sich nicht von ihm,<br />

und es wird ihn ans Ziel führen.“ (Ebenda II 2)<br />

„Diese also [sc. die Philosophen] sahen das, was Johannes sagt, dass durch das Wort<br />

Gottes alles geworden ist. Denn sowohl dies findet sich in den Büchern <strong>der</strong> Philosophen, als<br />

auch, dass Gott einen eingeborenen Sohn hat, durch welchen alles ist. Sie konnten das sehen,<br />

was ist, aber sie sahen es von ferne, sie wollten sich nicht an die Niedrigkeit Christi halten<br />

und doch würden sie in diesem Schiffe sicher <strong>zu</strong> dem gelangt sein, was sie von ferne <strong>zu</strong> sehen<br />

vermochten, […]. Man muss über das Meer, und du verachtest das Kreuz? O stolze<br />

Weisheit!“ (Ebenda II 4)


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Prof. Dr. Johannes Brachtendorf<br />

<strong>Texte</strong> <strong>zu</strong> <strong>§</strong> 5: Natürliche <strong>Religion</strong><br />

Text 1:<br />

<strong>§</strong> 1) Was die Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung dem ganzen<br />

Menschengeschlechte.<br />

<strong>§</strong> 2) Erziehung ist Offenbarung, die dem einzelnen Menschen geschieht: und Offenbarung ist<br />

Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist und noch geschieht.<br />

(G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts)<br />

Text 2:<br />

<strong>§</strong> 4) Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könne: sie<br />

gibt ihm das, was er aus sich selbst haben könnte, nur geschwin<strong>der</strong> und leichter. Also<br />

gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche<br />

Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: son<strong>der</strong>n sie gab und gibt<br />

ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.<br />

(G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts)<br />

Text 3:<br />

<strong>§</strong> 77) Und warum sollten wir nicht auch durch eine <strong>Religion</strong>, mit <strong>der</strong>en historischen Wahrheit,<br />

wenn man will, es so misslich aussieht, gleichwohl auf nähere und bessere <strong>Begriff</strong>e<br />

vom göttlichen Wesen, von unsrer Natur, von unsern Verhältnissen <strong>zu</strong> Gott, geleitet<br />

werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr<br />

gekommen wäre?<br />

(G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts)<br />

Text 4:<br />

<strong>§</strong> 72) So wie wir <strong>zu</strong>r Lehre von <strong>der</strong> Einheit Gottes nunmehr des Alten Testaments entbehren<br />

können; so wie wir allmählich, <strong>zu</strong>r Lehre von <strong>der</strong> Unsterblichkeit <strong>der</strong> Seele, auch des Neuen<br />

Testaments entbehren <strong>zu</strong> können anfangen: könnten in diesem nicht noch mehr <strong>der</strong>gleichen<br />

Wahrheiten vorgespiegelt werden, die wir als Offenbarungen so lange anstaunen sollen, bis<br />

sie die Vernunft aus ihren an<strong>der</strong>n ausgemachten Wahrheiten hat herleiten und mit ihnen<br />

verbinden lernen?<br />

(G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts)<br />

Text 5:<br />

„Wir werden <strong>zu</strong>m Lernen […] auf einem doppelten Wege geführt, durch die Autorität und<br />

durch die Vernunft. In zeitlicher Hinsicht nimmt die Autorität die erste Stelle ein, in<br />

sachlicher Hinsicht aber die Vernunft. Man muss nämlich das, was faktisch als erstes <strong>zu</strong> Wort<br />

kommt, unterscheiden von dem, was höher ein<strong>zu</strong>schätzen ist.“ (Augustinus, De ordine II 9,<br />

26)


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WS 2011/12<br />

Prof. Dr. Johannes Brachtendorf<br />

<strong>§</strong> 6 Immanuel Kant<br />

Text 1:<br />

„Von dem Titel dieses Werks [sc. Die <strong>Religion</strong> innerhalb <strong>der</strong> Grenzen <strong>der</strong> bloßen<br />

Vernunft] merke ich noch an: Da Offenbarung doch auch reine Vernunftreligion in<br />

sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt diese das Historische <strong>der</strong><br />

ersteren, so werde ich jene als eine weitere Sphäre des Glaubens, welche die letztere,<br />

als eine engere in sich beschließt (nicht als zwei außer einan<strong>der</strong> befindliche, son<strong>der</strong>n<br />

als konzentrische Kreise) betrachten können, innerhalb <strong>der</strong>en letzterem <strong>der</strong> Philosoph<br />

sich als reiner Vernunftlehrer […] halten […] muss.<br />

Aus diesem Standpunkte kann ich nun auch den zweiten Versuch machen, nämlich<br />

von irgend einer dafür gehaltenen Offenbarung aus<strong>zu</strong>gehen, und […] die Offenbarung,<br />

als historisches System, an moralische <strong>Begriff</strong>e bloß fragmentarisch halten und sehen,<br />

ob dieses nicht <strong>zu</strong> demselben reinen Vernunftsystem <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> <strong>zu</strong>rück führe,<br />

welches […] für eigentliche <strong>Religion</strong> […] hinreichend sei.<br />

Wenn dieses <strong>zu</strong>trifft, so wird man sagen können, dass zwischen Vernunft und Schrift<br />

nicht bloß Verträglichkeit, son<strong>der</strong>n auch Einigkeit an<strong>zu</strong>treffen sei, so dass, wer <strong>der</strong><br />

einen […] folgt, nicht ermangeln wird, auch mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en <strong>zu</strong>sammen <strong>zu</strong> treffen.“<br />

(Immanuel Kant, Die <strong>Religion</strong> innerhalb <strong>der</strong> Grenzen <strong>der</strong> bloßen Vernunft, Vorrede<br />

<strong>zu</strong>r 2. Aufl., B XXI ff.)<br />

Text 2:<br />

„Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den <strong>Begriff</strong> des höchsten Guts,<br />

als das Objekt und den Endzweck <strong>der</strong> reinen praktischen Vernunft, <strong>zu</strong>r <strong>Religion</strong>, d. i.<br />

<strong>zu</strong>r Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote,<br />

nicht als Sanktionen, d. i. willkürliche für sich selbst <strong>zu</strong>fällige Verordnungen, eines<br />

fremden Willens, son<strong>der</strong>n als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich<br />

selbst,<br />

die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen, weil wir<br />

nur von einem moralisch-vollkommenen (heiligen und gütigen), <strong>zu</strong>gleich auch<br />

allgewaltigen Willen das höchste Gut, welches <strong>zu</strong>m Gegenstande unserer Bestrebung<br />

<strong>zu</strong> setzen uns das moralische Gesetz <strong>zu</strong>r Pflicht macht, und also durch<br />

Übereinstimmung mit diesem Willen da<strong>zu</strong> <strong>zu</strong> gelangen hoffen können.<br />

(Kant, Kritik <strong>der</strong> praktischen Vernunft, A 233)


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WS 2011/12<br />

Prof. Dr. Johannes Brachtendorf<br />

<strong>§</strong> 6 (Fortset<strong>zu</strong>ng)<br />

Text 3:<br />

„Die Bösartigkeit <strong>der</strong> menschlichen Natur ist also nicht [sowohl] Bosheit, wenn man dieses<br />

Wort in strenger Bedeutung nimmt, nämlich als eine Gesinnung [...], das Böse als<br />

Böses [...] in seine Maxime auf<strong>zu</strong>nehmen (denn die ist teuflisch); son<strong>der</strong>n vielmehr die<br />

Verkehrtheit des Herzens, welches nun, <strong>der</strong> Folge wegen, auch ein böses Herz heißt<br />

[...].“ (B 35 f.)<br />

„<strong>Der</strong> Satz: <strong>der</strong> Mensch ist böse, kann nach dem Obigen nichts an<strong>der</strong>es sagen wollen, als: er ist<br />

sich des moralischen Gesetzes bewusst, und hat doch die (gelegentliche) Abweichung<br />

von demselben in seine Maxime aufgenommen.“ (B 26 f.)<br />

Text 4:<br />

„Wie es nun möglich sei, dass ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst <strong>zu</strong>m guten<br />

Menschen mache, das übersteigt alle unsere <strong>Begriff</strong>e; denn wie kann ein böser Baum gute<br />

Früchte bringen? Da aber doch nach dem vorher abgelegten Geständnisse ein ursprünglich<br />

(<strong>der</strong> Anlage nach) guter Baum arge Früchte hervorgebracht hat und <strong>der</strong> Verfall vom guten ins<br />

Böse (wenn man wohl bedenkt, dass dieses aus <strong>der</strong> Freiheit entspringt) nicht begreiflicher ist,<br />

als das Wie<strong>der</strong>aufstehen aus dem Bösen <strong>zu</strong>m Guten: so kann die Möglichkeit des letztern<br />

nicht bestritten werden. Denn, ungeachtet jenes Abfalls, erschallt doch das Gebot: wir sollen<br />

bessere Menschen werden, unvermin<strong>der</strong>t in unserer Seele; folglich müssen wir es auch<br />

können,<br />

sollte auch das, was wir tun können, für sich allein un<strong>zu</strong>reichend sein, und wir uns dadurch<br />

nur eines für uns unerforschlichen höheren Beistandes empfänglich machen.“<br />

(Kant, <strong>Religion</strong> innerhalb <strong>der</strong> Grenzen <strong>der</strong> bloßen Vernunft, B 50)<br />

Text 5:<br />

„Alles, was, außer dem guten Lebenswandel, <strong>der</strong> Mensch noch tun <strong>zu</strong> können vermeint, um<br />

Gott wohlgefällig <strong>zu</strong> werden, ist bloßer <strong>Religion</strong>swahn und Afterdienst Gottes.“ (B<br />

261)<br />

Text 6:<br />

„Alles, was, außer dem guten Lebenswandel, <strong>der</strong> Mensch noch tun <strong>zu</strong> können<br />

vermeint, um Gott wohlgefällig <strong>zu</strong> werden, ist bloßer <strong>Religion</strong>swahn und Afterdienst<br />

Gottes.<br />

Ich sage, was <strong>der</strong> Mensch tun <strong>zu</strong> können glaubt; denn, ob nicht über alles, was wir tun<br />

können, noch in den Geheimnissen <strong>der</strong> höchsten Weisheit etwas sein möge, was nur<br />

Gott tun kann, um uns <strong>zu</strong> ihm wohlgefälligen Menschen <strong>zu</strong> machen, wird hierdurch<br />

nicht verneinet.“ (4. Stück, B 261 f.)


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<strong>§</strong>7 Kierkegaard<br />

Text 1:<br />

„Das Existieren als einzelner Mensch … ist … nicht Sein in demselben Sinne, wie eine<br />

Kartoffel ist, aber auch nicht in demselben Sinne, wie die Idee ist.“ (Kierkegaard,<br />

Unwissenschaftliche Nachricht II 33)<br />

Text 2:<br />

„<strong>Der</strong> Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das<br />

Selbst ist ein Verhältnis, das sich <strong>zu</strong> sich selbst verhält, o<strong>der</strong> ist das an dem Verhältnisse, dass<br />

das Verhältnis sich <strong>zu</strong> sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, son<strong>der</strong>n dass das<br />

Verhältnis sich <strong>zu</strong> sich selbst verhält.“ (Kierkegaard, Die Krankheit <strong>zu</strong>m Tode, 8)<br />

Text 3:<br />

„<strong>Der</strong> Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und<br />

Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese. Eine Synthese ist ein<br />

Verhältnis zwischen Zweien. Auf die Art betrachtet ist <strong>der</strong> Mensch noch kein Selbst. Im<br />

Verhältnis zwischen Zweien ist das Verhältnis das Dritte als negative Einheit, und die Zwei<br />

verhalten sich <strong>zu</strong>m Verhältnis und im Verhältnis <strong>zu</strong>m Verhältnis; so ist z.B. unter <strong>der</strong><br />

Bestimmung Seele das Verhältnis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis. Verhält sich<br />

hingegen das Verhältnis <strong>zu</strong> sich selbst, so ist das Verhältnis das positive Dritte, und dies ist<br />

das Selbst.“ (KT 8)<br />

Text 4:<br />

„Ein solches Verhältnis, das sich <strong>zu</strong> sich selbst verhält, muss entwe<strong>der</strong> sich selbst gesetzt<br />

haben o<strong>der</strong> durch ein An<strong>der</strong>es gesetzt sein. Ist das Verhältnis, das sich <strong>zu</strong> sich selbst verhält,<br />

durch ein An<strong>der</strong>es gesetzt, so ist das Verhältnis freilich das Dritte, aber dieses Verhältnis, das<br />

Dritte, ist doch wie<strong>der</strong>um ein Verhältnis, welches sich <strong>zu</strong> dem verhält, was das ganze<br />

Verhältnis gesetzt hat. Ein solches abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist des Menschen Selbst,<br />

ein Verhältnis, das sich <strong>zu</strong> sich selbst verhält, und, indem es sich <strong>zu</strong> sich selbst verhält, <strong>zu</strong><br />

einem An<strong>der</strong>en verhält.“ (KT 9)<br />

Text 5:<br />

„Im Sich-Verhalten-<strong>zu</strong>-sich-selbst und im Es-Selbst-sein-Wollen gründet das Selbst<br />

durchsichtig in <strong>der</strong> Macht, die es gesetzt hat.“ (KT 10)<br />

Text 6:<br />

„Man kann die Angst mit einem Schwindel vergleichen. Wer in eine gähnende Tiefe<br />

hinunterschauen muß, dem wird schwindlig. […] Demgemäß ist die Angst jener Schwindel<br />

<strong>der</strong> Freiheit, <strong>der</strong> aufkommt, wenn <strong>der</strong> Geist die Synthese setzen will und die Freiheit nun<br />

hinunter in ihre eigene Möglichkeit schaut und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran <strong>zu</strong><br />

halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit nie<strong>der</strong>. […] Im selben Moment ist alles<br />

verän<strong>der</strong>t, und wenn sich die Freiheit wie<strong>der</strong> erhebt, sieht sie, dass sie schuldig ist.“<br />

(Kierkegaard, <strong>Der</strong> <strong>Begriff</strong> Angst <strong>§</strong> 2, S. 72 (Reclam))

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