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(Z. 3 -5). - hemmerich-online

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Analyse der Kurzgeschichte „Die Klavierstunde“ von G. Wohmann (1966)<br />

Achtung: Diese Analyse erhebt in keiner Weise den (unmöglichen) Anspruch, als<br />

„Musterlösung“ zu gelten. Sie ist nur eine Möglichkeit unter vielen, eine schriftliche<br />

Analyse zu dieser Kurzgeschichte anzufertigen. Betrachte sie als eine mögliche<br />

beispielhafte Umsetzung der im Unterricht behandelten Richtlinien und Kriterien.<br />

Die Kurzgeschichte „Die Klavierstunde“ von Gabriele Wohmann aus dem Jahr<br />

1966 schildert den Weg eines Jungen zu seiner Klavierstunde sowie die Vorberei-<br />

tungen seiner alten Lehrerin, die zeitgleich in ihrem Haus auf ihn wartet. Beide<br />

wünschen sich zwar sehnlich den Ausfall der verhassten Klavierstunde herbei, fü-<br />

gen sich schließlich aber ihren Verpflichtungen und treffen zur Unterrichtsstunde<br />

aufeinander.<br />

Im Zentrum der Geschichte steht dabei die Sehnsucht der beiden Protagonisten<br />

nach Veränderung und individueller Freiheit, die jedoch unerfüllt bleibt, da sie in<br />

der tristen Routine des Alltags ihre Wünsche letztlich ihrem Pflichtgefühl unter-<br />

ordnen. Um den aus dem Spannungsverhältnis von Selbstbestimmung und<br />

Pflichtgefühl resultierenden inneren Konflikt sowie den äußeren Konflikt zwi-<br />

schen Klavierschüler und -lehrerin zu veranschaulichen, setzt Wohmann ver-<br />

schiedene erzähltechnische und sprachliche Mittel ein, die im Folgenden analysiert<br />

werden sollen.<br />

Der Handlungsaufbau der Geschichte ist geprägt durch viele Wechsel der perso-<br />

nalen Erzählperspektive zwischen Schüler und Lehrerin, die sich mit fortschrei-<br />

tender Handlung in immer kürzeren Abständen vollziehen (vgl. Z. 25, 59, 75, 85,<br />

95, 100, 103, 108, 112, 117, 119, 121, 123), bevor sie schließlich in Z. 126 beim<br />

Aufeinandertreffen der Figuren verschmelzen. Dieser Wechsel – in Kombination<br />

mit der Tatsache, dass sich die Figuren auf der Inhaltsebene trotz gegenseitiger<br />

Abneigung aufeinander zu bewegen – erzeugt den Eindruck zweier Körper auf<br />

Kollisionskurs. Die Verkürzung der Erzählabschnitte erhöht dabei zugleich das<br />

Tempo, was beim Leser ein Gefühl von Spannung und Hektik erzeugt.<br />

Dieser Leseeindruck spiegelt sich in der Gefühlslage der Figuren wieder, deren<br />

Bewusstseinstrom durch den personalen Erzähler – häufig in Form kurzer, para-<br />

taktischer Einschübe wie „Owehowehoweh.“ (Z. 31), „Einfach wegbleiben.“ (Z.<br />

59) oder „Ihn wegschicken“ (Z. 82) – wiedergegeben wird. Diese Satzfragmente<br />

imitieren das Bruchstückhafte gedanklicher Assoziationen und bringen so die<br />

Ängste und den Stress der Figuren direkt, d. h. ohne Mittlung durch den Erzähler,<br />

zum Ausdruck, was den Leseeindruck zusätzlich intensiviert.<br />

Das durch den Perspektivwechsel erzeugte Tempo wird jedoch zugleich kontras-<br />

tiert durch das eigentlich sehr langsame Erzähltempo, welches der hinauszögern-<br />

den Haltung des Jungen („Er blieb stehen, stelle die schwere Mappe mit den No-<br />

ten zwischen die Beine […]“, Z. 61f.) und der melancholischen Langsamkeit der<br />

alten Lehrerin („Sie saß ganz still, das nasse Tuch beschwichtigte die Stirn: […]“,<br />

Z. 82f.) entspricht. Während die Schnitte zwischen den Handlungsorten immer<br />

schneller werden, scheinen die beiden Protagonisten, besonders gegen Ende der<br />

Geschichte, das Zusammentreffen bis auf die allerletzte Sekunde hinauszögern<br />

wollen, wobei sich zugleich auch die parataktischen, bewusstseinstromartigen<br />

Formulierungen der Sehnsüchte häufen: „Kopfschmerzen, unerträgliche. Weg-<br />

schicken, widerlicher kleiner Kerl. Die Mappe loswerden, nicht hingehen. Widerli-<br />

che alte Tante.“ (Z. 119-122) Die Kontrastierung von Stress bzw. Hektik und hin-<br />

auszögernder Langsamkeit erzeugt ein Spannungsverhältnis, welches die Zuspit-<br />

zung sowohl des inneren Konflikts zwischen Pflichtbewusstsein und Freiheits-<br />

drang als auch des äußeren Konflikts zwischen den Figuren verdeutlicht.<br />

Beide Konflikte werden zwar am Ende der Geschichte „gelöst“, indem Schüler<br />

und Lehrerin sich den äußeren Zwängen fügen und zur Klavierstunde aufeinan-<br />

dertreffen. Diese Entscheidung bedeutet aber zugleich für beide eine bedrückende<br />

Niederlage, was sich vor allem anhand der sprachlichen Aspekte und der einge-<br />

setzten Metaphorik zeigen lässt.<br />

Negativ konnotierte Ausdrücke wie „hartnäckig“ (Z. 6f.), „Angst“ (Z. 10) „fürch-<br />

terlich“ (Z. 8f.), „finster“ (Z. 13) oder „müde, renitent“ (Z. 33) sind kennzeich-<br />

nend für die Wortwahl der Geschichte und erzeugen so von Anfang an die feind-<br />

selige Atmosphäre, welche die Beziehung der Protagonisten zueinander im gesam-<br />

ten Handlungsverlauf prägt. Dass die Figuren jedoch trotz aller Feindseligkeit und<br />

Kontrastierung gewisse Parallelen aufweisen, soll im Folgenden herausgestellt<br />

werden.


Wie sehr die Angst vor der nahenden Klavierstunde die Beziehung der Figuren zu<br />

ihrer gesamten Umwelt belastet, macht die Eingangspassage deutlich:<br />

Der Junge, der offensichtlich viel lieber draußen spielen würde („Die Umgebung<br />

wurde vertraut: ein Platz für Aktivität […] ein Kind rollerte vorbei“, Z. 60-64),<br />

scheint diesem Sommertag, weil er ihn in der dunklen Kammer verbringen soll,<br />

nichts Positives abgewinnen zu können: „Das hatte jetzt alles keine Beziehung zu<br />

ihm […] (es war höchstens eine feindselige Beziehung)“ (Z. 1-6). Selbst die Son-<br />

nenstrahlen verbreiten nur eine „schläfrige Hitze […] im breiten Schacht der Stra-<br />

ße“ (Z. 3-5). Die Metapher der „schläfrigen Hitze“ steht in klarem Gegensatz zur<br />

„vertrauten Aktivität“ und verdeutlicht, wie sehr die Wahrnehmung der Umwelt<br />

durch die Gemütslage beeinflusst wird. Der Mund des Jungen ist „trocken vor<br />

Angst“ (Z. 10), als er „in sich die fürchterliche Möglichkeit [findet], nicht hinzu-<br />

gehen“ (Z. 8f.). Wie sehr er mit seinem Gewissen ringt, zeigt zum einen bereits<br />

das zunächst übertrieben wirkende Attribut „fürchterlich“, zum anderen die in der<br />

Folge eingesetzte Wiederholung: „[…] er könnte wirklich so etwas tun“ (Z. 10f);<br />

„Er könnte es tun“ (Z. 12) „Er brauchte nicht hinzugehen, er könnte sich wider-<br />

setzen“ (Z. 14-16). Er scheint sich hier selbst erst von der Möglichkeit überzeugen<br />

zu müssen, dass er tatsächlich anders handeln könnte. Die schlussendliche Ergeb-<br />

nislosigkeit dieses Überzeugungsversuchs wird aber bereits angedeutet, indem sei-<br />

ne Gedankengänge mit den tatsächlich vollzogenen Handlungen kontrastiert wer-<br />

den: „Er tat so, als bemerke er nichts davon, dass er weiterging, stellte sich über-<br />

rascht, ungläubig.“ (Z. 20-22) Jeder Schritt bedeutet für ihn eine Qual, was sym-<br />

bolhaft durch das „Gewicht der Hefte“ (Z. 86) veranschaulicht wird: „jede einzel-<br />

ne Note hemmte seine kurzen Vorwärtsbewegungen.“ (Z. 87f.)<br />

Dass die alte Klavierlehrerin in sehr ähnlicher Weise einen aussichtslosen Kampf<br />

mit sich selbst führt, veranschaulicht das Eingangsbild der „knochigen Arme“ und<br />

„sehr dünnen Hände“ (Z. 25f.), die sie, ermattet auf der Chaiselongue liegend, zu<br />

Fäusten ballt (vgl. Z. 26f.). Nach einem ersten zaghaften Überwindungsversuch,<br />

der von Schwindel und Kopfschmerzen gefolgt wird, setzt sie sich deshalb wieder<br />

(vgl. Z. 35-37), „den nassen Blick starr, freudlos auf das schwarze Klavier gerich-<br />

tet“ (Z. 37-39). Die Häufung negativ konnotierter Adjektive in diesen Beschrei-<br />

bungen macht klar, wie fremd und feindselig ihr eigenes Klavierzimmer ihr in die-<br />

sem Moment erscheint. Die nahende Klavierstunde lässt auch sie – ähnlich wie<br />

ihren Schüler – vor allem mit Schläfrigkeit und Trägheit reagieren, was durch die<br />

übertrieben gebrechliche Darstellung der Figur noch intensiviert wird: „Mit der<br />

Handfläche stemmte sie das Gewicht ihres Arms gegen die Stirn und schob die<br />

lappige, lose Haut in die Höhe bis zum Haaransatz.“ (Z. 49-52) Auch das Stilmit-<br />

tel der Wiederholung wird hier wieder aufgegriffen. Während es beim Jungen aber<br />

noch zur Veranschaulichung des inneren Konflikts genutzt wird (u. a. „Er könnte<br />

es tun“, Z. 12), reicht es bei der alten Lehrerin lediglich für Ausrufe der Resignati-<br />

on: „Owehowehoweh“ (Z. 31, 35); „Owehoweh“ (Z. 52).<br />

Es lässt sich aber erkennen, dass trotz der offensichtlichen Kontrastierung der Fi-<br />

guren und ihrer Lebensräume durch die Gegensatzpaare „alt vs. jung“, „innen vs.<br />

außen“, „dunkel vs. hell“ und ihrer gegenseitigen Feindseligkeit, einige Parallelen<br />

zu finden sind, die sich sogar auf erzähltechnischer und sprachlicher Ebene nie-<br />

derschlagen – so auch in einer parallelen Satzstruktur: „Kopfschmerzen, unerträg-<br />

liche. Wegschicken, widerlicher kleiner Kerl. Die Mappe loswerden, nicht hinge-<br />

hen. Widerliche alte Tante.“ (Z. 119-122) Die Tatsache, dass dieser Parallelismus<br />

hier in direktem Kontrast steht mit dem unverhohlenen Bekenntnis der gegensei-<br />

tigen Abneigung, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Ironie der Geschichte: Beide<br />

Figuren verfolgen eigentlich dasselbe Ziel, dennoch stehen sie sich feindselig ge-<br />

genüber und müssen, entgegen aller Sehnsüchte, immer wieder aufs Neue zur<br />

verhassten Klavierstunde antreten. Die ewig gleiche, frustrierende Monotonie die-<br />

ses Alltags wird durch das im letzten Satz der Geschichte metaphorisch eingesetz-<br />

te Metronom veranschaulicht. Es „tickte laut und humorlos“ (Z. 138).<br />

Mit der unerfüllten Sehnsucht der beiden Figuren steht eine grundsätzlich negati-<br />

ve Aussage im Zentrum der Geschichte. Die Textanalyse auf erzähltechnischer<br />

sowie sprachlicher Ebene hat jedoch nicht nur diese negativen Aspekte des Textes<br />

zutage gefördert. Vielmehr regen die ironisierend eingesetzten Parallelen zwischen<br />

den vermeintlichen „Gegenspielern“ zum Nachdenken an, ob in dem speziellen<br />

Fall der Geschichte, aber auch im Allgemeinen, viel Feindseligkeit und Zwang<br />

nicht leicht, z. B. durch mehr Kommunikationsbereitschaft, zu verhindern wären.

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