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“...leidenschaftlich neugierig.“ Die Welt erforschen mit Kunst und Kultur

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<strong>“</strong>...<strong>leidenschaftlich</strong> <strong>neugierig</strong>.<strong>“</strong>..<br />

<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong>erforschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong><br />

Kongressdokumentation<br />

B<strong>und</strong>esvereinigung <strong>Kultur</strong>elle Jugendbildung e.V.


<strong>“</strong>...<strong>leidenschaftlich</strong> <strong>neugierig</strong>.<strong>“</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong>erforschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong><br />

Kongressdokumentation<br />

Lernziel W<strong>und</strong>ern /// 03<br />

Ina Bielenberg<br />

<strong>Kultur</strong>elle Kinder- <strong>und</strong> Jugendbildung im Einsteinjahr /// 04<br />

Udo Kollenberg<br />

Bildung als Lebenskompetenz /// 06<br />

Max Fuchs<br />

Lernwerkstatt Schule /// 13<br />

Angelika Speck-Hamdan<br />

Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man erzählen /// 17<br />

Ernst Peter Fischer<br />

<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> verbessern /// 25<br />

Donata Elschenbroich<br />

<strong>Kunst</strong>, Wissenschaft <strong>und</strong> jugendliche Lebenswelt /// 31<br />

Julian Nida-Rümelin<br />

„Fliegenpflicht für Quadratköpfe<strong>“</strong> – Der andere Blick von Jugendlichen /// 37<br />

Jan Schmolling<br />

www.start-ab.com /// 39<br />

Manfred Grunenberg<br />

Entdeckerstationen <strong>und</strong> Workshops /// 40<br />

Margit Maschek-Grüneisl<br />

Entdeckerstationen <strong>und</strong> Workshops<br />

Laterna Magica /// 42 · Klingende Zahlen /// 43 · Das begehbare Gehirn /// 44<br />

· Perspektivwechsel /// 45 · Spaßmaschinen – Physik <strong>und</strong> Phantasie /// 46<br />

· MatheMobil /// 47 · Spielend verstehen <strong>und</strong> begreifen /// 48<br />

· Aktion: Achtung Wissensdurst /// 49 · Einsteins Souvenirwerkstatt /// 50<br />

· Riesenkaleidoskop /// 51 · Wasserexperimente /// 52 · Mathematiktheater /// 53<br />

Der Kongress "... <strong>leidenschaftlich</strong> <strong>neugierig</strong>. <strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong>erforschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>"<br />

wurde von der B<strong>und</strong>esvereinigung <strong>Kultur</strong>elle Kinder- <strong>und</strong> Jugendbildung gemeinsam<br />

<strong>mit</strong> dem B<strong>und</strong>esministerium für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend (BMFSFJ)<br />

veranstaltet <strong>und</strong> durch das BMFSFJ gefördert.<br />

B<strong>und</strong>esvereinigung <strong>Kultur</strong>elle Jugendbildung e.V.<br />

Küppelstein 34, 42857 Remscheid<br />

Fon 02191 . 79 43 90, Fax 02191 . 79 43 89<br />

Mail: info@bkj.de<br />

www.bkj.de<br />

Redaktion: Ina Bielenberg<br />

BKJ, Remscheid 2006


Seite: 3<br />

K o n g r e s s d o k u m e n t a t i o n<br />

<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG. DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<strong>“</strong><br />

INA BIELENBERG<br />

Lernziel W<strong>und</strong>ern<br />

EIN KONGRESS ZUR KULTURELLEN BILDUNG IM EINSTEINJAHR<br />

Das Leben lehrt uns: Das Beste kommt immer zum<br />

Schluss. Und weil das so ist, hatte die B<strong>und</strong>esvereinigung<br />

<strong>Kultur</strong>elle Jugendbildung BKJ in dem Jahr, in dem der Geburtstag<br />

von Albert Einstein <strong>und</strong> der Geburtstag der Relativitätstheorie<br />

gefeiert wurde, für den 2. <strong>und</strong> 3. Dezember<br />

2006 nach München eingeladen zum Kongress „... <strong>leidenschaftlich</strong><br />

<strong>neugierig</strong>. <strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong>erforschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Kultur</strong>". <strong>Die</strong>ser Kongress wurde in partnerschaftlicher Zusammenarbeit<br />

gemeinsam von der BKJ <strong>und</strong> dem B<strong>und</strong>esministerium<br />

für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend<br />

BMFSFJ organisiert <strong>und</strong> durchgeführt. Kooperationspartner<br />

vor Ort waren das Deutsche Museum, in dessen Räumen<br />

auch getagt wurde, <strong>und</strong> der <strong>Kultur</strong>- <strong>und</strong> Schulservice<br />

München.<br />

„Ich habe keine besondere Begabung, ich bin nur <strong>leidenschaftlich</strong><br />

<strong>neugierig</strong>.<strong>“</strong> <strong>Die</strong>se Neugier, die Albert Einstein als<br />

eine seiner wichtigsten Eigenschaften hervorgehoben hat,<br />

stand, verb<strong>und</strong>en <strong>mit</strong> Phantasie <strong>und</strong> Kreativität, Experimentierfreude<br />

<strong>und</strong> Erfinder-Leidenschaft, im Mittelpunkt<br />

dieses Kongresses. Das Leben des Physikers <strong>und</strong> Musikers<br />

Albert Einstein zeigt: <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Naturwissenschaften<br />

sind keine Gegensätze. Ganz im Gegenteil bieten vor allem<br />

kreative <strong>und</strong> künstlerische Angebote interessante <strong>und</strong><br />

spannende Zugänge zu Wissenschaft <strong>und</strong> Forschung, da<br />

sie die kindlichen Potenziale von Neugier <strong>und</strong> Phantasie in<br />

den Mittelpunkt stellen. <strong>Die</strong> inszenierten Lernräume, die<br />

die Träger <strong>und</strong> Einrichtungen der kulturellen Bildung für<br />

Kinder <strong>und</strong> Jugendliche schaffen, lassen <strong>mit</strong> ihren reichhaltigen,<br />

methodisch differenzierten Arrangements viel<br />

Freiraum für das explorative <strong>und</strong> experimentelle Handeln.<br />

„Wissen macht Spaß<strong>“</strong> ist die Botschaft dieser Projekte, <strong>und</strong><br />

sie weist da<strong>mit</strong> in eine ganz andere Richtung, als dies viele<br />

Bildungsreformer vor allem nach PISA getan haben:<br />

nicht das Zerreißen der Bildungsformen, sondern ihre<br />

Zusammenführung ist die Aufgabe der Zukunft.<br />

Das b<strong>und</strong>esweit begangene Einsteinjahr bot einen guten<br />

Rahmen, um sich <strong>mit</strong> diesen Potenzialen kultureller Bildung<br />

auseinander zu setzen. Durch Vorträge, Projektbeispiele<br />

<strong>und</strong> in Diskussionen wurden auf diesem Kongress<br />

die Zusammenhänge von <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft herausgestellt<br />

<strong>und</strong> die entsprechenden Ansätze der <strong>Kultur</strong>arbeit<br />

reflektiert <strong>und</strong> weiterentwickelt. Der praktischen Selbsttätigkeit<br />

der Teilnehmerinnen <strong>und</strong> Teilnehmer waren die<br />

Workshops gewidmet. Sie boten die Möglichkeit, innova-<br />

tive Methoden <strong>und</strong> Formen der kulturellen Bildungsarbeit<br />

selbst zu erproben.<br />

Gr<strong>und</strong>lage für diese Workshops bot eine Ausstellung, die<br />

Zielstellung des Kongresses unterstützte. Hier wurden gelungene<br />

Praxisbeispiele nicht nur präsentiert, sondern so<br />

genannte „Experimentierstationen<strong>“</strong> stellten die Verbindung<br />

von kultureller Bildung <strong>mit</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> Forschung<br />

anschaulich vor <strong>und</strong> luden die KongressteilnehmerInnen<br />

zum entdeckenden Lernen frei nach dem „hands on<strong>“</strong>-<br />

Prinzip ein.<br />

Über einh<strong>und</strong>ert <strong>Kultur</strong>pädagogInnen, LehrerInnen, KünstlerInnen<br />

<strong>und</strong> Wissenschaftlerinnen waren der Einladung<br />

nach München gefolgt. Ganz in der Tradition Einsteins, der<br />

immer wieder die Bedeutung von Kreativität <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong> für<br />

die Wissenschaft betont hatte, plädierten sie <strong>leidenschaftlich</strong><br />

für eine Vielfalt von spielerischen, künstlerischen <strong>und</strong><br />

sinnlichen Zugängen zu den Phänomenen <strong>und</strong> Geheimnissen<br />

der <strong>Welt</strong>. Der Mensch braucht Lernräume des aktiven,<br />

forschenden Aneignens von <strong>Welt</strong>. Bildung muss selbstständiges<br />

Denken ermöglichen. Kein Bildungsort darf Kindern<br />

das Lernen verleiden <strong>und</strong> Neugierde <strong>und</strong> Entdeckerleidenschaft<br />

zerstören. <strong>Die</strong> Teilnehmerinnen <strong>und</strong><br />

Teilnehmer waren sich einig, dass es ganz besonders<br />

wichtig ist, heute einen ganzheitlichen Bildungsbegriff zu<br />

vertreten, der die Vielfalt von Lernmöglichkeiten zulässt:<br />

die wissenschaftlichen genauso wie die sinnlich-ästhetischen.<br />

Wichtig ist, die Vielfalt der Zugangsweisen zu<br />

<strong>Welt</strong> zu fördern <strong>und</strong> zu erhalten, nicht, die eine gegen die<br />

andere auszuspielen.<br />

Für alle die, die nicht am Kongress teilnehmen konnten<br />

<strong>und</strong> für all die, die die vielen interessanten Beiträge noch<br />

einmal nachlesen möchten, haben wir diese Dokumentation<br />

zusammengestellt. Sie enthält die Vorträge der Referentinnen<br />

<strong>und</strong> Referenten sowie die Praxisbeispiele <strong>und</strong><br />

gibt einen Überblick über die bemerkenswerten Entdeckerstationen,<br />

die es allen TeilnehmerInnen ermöglichten, das<br />

auf dem Kongress ausgerufene „Lernziel W<strong>und</strong>ern<strong>“</strong> selbst<br />

zu erproben.


Seite: 4<br />

K o n g r e s s d o k u m e n t a t i o n<br />

<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

UDO KOLLENBERG<br />

<strong>Kultur</strong>elle Kinder- <strong>und</strong> Jugendbildung im Einsteinjahr<br />

GRUSSWORT DES BUNDESJUGENDMINISTERIUMS<br />

Meine sehr verehrten Damen <strong>und</strong> Herren,<br />

ich freue mich sehr, Sie heute im Namen des B<strong>und</strong>esministeriums<br />

für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend<br />

begrüßen zu dürfen <strong>und</strong> möchte Ihnen gleich zu Beginn<br />

die herzlichsten Grüße der neuen Jugendministerin, Frau<br />

Dr. von der Leyen, über<strong>mit</strong>teln. Frau von der Leyen sieht in<br />

der kulturellen Jugendbildung ein wichtiges Instrument,<br />

wenn es um Fragen der Jugendbildung außerhalb oder<br />

neben der Schule geht. Neue Chancen der Jugendbildung<br />

tun sich da auf, wo es um neue Wege bei der Ausgestaltung<br />

von Ganztagsschulen geht.<br />

Wie Sie wissen, war das Einsteinjahr eine gemeinsame<br />

Initiative von B<strong>und</strong>esregierung, Wissenschaft, Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>. Der B<strong>und</strong>esvereinigung <strong>Kultur</strong>elle Jugendbildung<br />

danke ich deshalb dafür, dass sie der Anregung unseres<br />

Hauses gefolgt ist <strong>und</strong> <strong>mit</strong> dieser Veranstaltung<br />

einen außergewöhnlichen Beitrag zum Einsteinjahr beisteuert.<br />

Und was liegt da näher, als sich <strong>mit</strong> den Potenzialen<br />

kultureller Bildung auseinander zu setzen? Noch dazu<br />

an einem Ort wie dem Deutschen Museum in München,<br />

das sich seit über 100 Jahren zur Aufgabe gemacht hat,<br />

nicht nur Naturwissenschaft <strong>und</strong> Technik anschaulich zu<br />

ver<strong>mit</strong>teln, sondern vor allem auch ihre kulturelle Bedeutung<br />

<strong>und</strong> ihre Verknüpfung <strong>mit</strong> der <strong>Kultur</strong>geschichte aufzuzeigen.<br />

„Abenteuer der Erkenntnis. Albert Einstein <strong>und</strong><br />

die Physik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts" ist die Sonderausstellung<br />

des Deutschen Museums im Einsteinjahr übertitelt.<br />

Und auf das „Abenteuer der Erkenntnis" konnten <strong>und</strong> können<br />

sich hier nicht nur Erwachsene begeben, sondern, unterstützt<br />

<strong>und</strong> interessiert durch ein abwechslungsreiches<br />

Veranstaltungsprogramm, vor allem auch Kinder,<br />

Jugendliche <strong>und</strong> ihre Familien. Daher gibt es wohl keinen<br />

geeigneteren Ort <strong>und</strong> keinen geeigneteren Kooperationspartner<br />

für einen Kongress, der die Erforschung der <strong>Welt</strong><br />

<strong>mit</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong> zum Inhalt hat.<br />

Wir haben in diesem Einsteinjahr nicht nur den h<strong>und</strong>ertjährigen<br />

Geburtstag der Relativitätstheorie gefeiert, die<br />

unser Verständnis von Raum, Zeit, Masse <strong>und</strong> Energie revolutionierte.<br />

Wir haben vor allem Albert Einstein als einen<br />

Menschen gefeiert, der noch heute fasziniert, anregt <strong>und</strong><br />

zu Recht für viele ein Vorbild ist. Albert Einstein bezog als<br />

Wissenschaftler <strong>und</strong> als überzeugter Humanist engagiert<br />

<strong>und</strong> deutlich Stellung, er mischte sich ein, wann <strong>und</strong> wo er<br />

es für richtig <strong>und</strong> nötig empfand. Seine Liebe zur Musik<br />

<strong>und</strong> zur Geige, eine Leidenschaft, die ihn sein ganzes Leben<br />

begleitete, weist auf die enge Verbindung von kultureller<br />

Bildung <strong>und</strong> naturwissenschaftlicher Neugierde hin.<br />

Albert Einstein, dessen Sprüche geradezu sprichwörtlich<br />

sind, hat einmal gesagt: „Freude am Schauen <strong>und</strong> Begreifen<br />

ist die schönste Gabe der Natur." Ein zauberhaftes Zitat,<br />

wie geschaffen für die Kinder- <strong>und</strong> Jugendkulturarbeit.<br />

Denn Schauen <strong>und</strong> Begreifen gehören ebenso wie Neugier<br />

<strong>und</strong> Fantasie, Kreativität <strong>und</strong> Erfindergeist zur kulturellen<br />

Bildung. In den Kindermuseen <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong>angeboten, den<br />

Musikschulen <strong>und</strong> Theaterworkshops, in den Medienwerkstätten<br />

<strong>und</strong> beim Kinderzirkus können junge Menschen<br />

<strong>erforschen</strong> <strong>und</strong> entdecken, ausprobieren <strong>und</strong> gestalten,<br />

Neues kennen lernen <strong>und</strong> bereits Bekanntes aus einer<br />

neuen Perspektive beleuchten – <strong>und</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

solch selbst erlebter Erfahrungen neue Erkenntnisse gewinnen,<br />

auch über Wissenschaft, Forschung <strong>und</strong> Technik.<br />

<strong>Die</strong> B<strong>und</strong>esvereinigung <strong>Kultur</strong>elle Jugendbildung hat in der<br />

Vorbereitung dieses Kongresses b<strong>und</strong>esweit recherchiert,<br />

welche Positionen <strong>und</strong> welche Angebote <strong>und</strong> Projekte der<br />

kulturellen Bildung existieren, die das Thema unseres Kongresses<br />

aufgreifen: da wurden kinetische <strong>Kunst</strong>objekte<br />

aus Schrott <strong>mit</strong> mechanischem Antrieb gebaut, ein Trickfilm<br />

zur Relativitätstheorie entstand, aus zahlreichen Erfindungen<br />

entstand eine „Fantasiemaschine" <strong>und</strong> ungewöhnliche<br />

Musikinstrumente wie ein Flaschophon,<br />

Röhrenglocken oder eine Pumporgel ermöglichten Kindern<br />

gr<strong>und</strong>legende Erfahrungen zu den Themen Klangphysik<br />

<strong>und</strong> Instrumentenk<strong>und</strong>e. All diesen Projekten gemein ist<br />

es, dass sie über sinnlich-ästhetische Erfahrungen naturwissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> technischen Phänomenen auf<br />

die Spur kommen, spielerisch, <strong>mit</strong> Spaß <strong>und</strong> hohem<br />

Erkenntnisgewinn für die teilnehmenden Kinder <strong>und</strong><br />

Jugendlichen.<br />

Wie Sie wissen, war das B<strong>und</strong>esministerium für Bildung<br />

<strong>und</strong> Forschung im Rahmen des Einsteinjahres nicht nur<br />

federführendes Ressort, sondern hat auch zahlreiche Projekte<br />

auf den Weg gebracht. Daneben hat das B<strong>und</strong>esjugendministerium<br />

nicht nur diesen Einsteinkongress initiiert,<br />

sondern einige weitere Projekte gefördert, die ich an<br />

dieser Stelle erwähnen möchte:


Seite: 5<br />

K o n g r e s s d o k u m e n t a t i o n<br />

<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Zum einen gibt es das Projekt KONTEXIS des Technischen<br />

Jugendfreizeit- <strong>und</strong> Bildungsvereins e.V., unterstützt<br />

durch unser Haus <strong>und</strong> dem Europäischen Sozialfond. Dort<br />

ist die Informationsschrift „Das Einsteinjahr – Impulse<br />

<strong>und</strong> Aussichten" entstanden <strong>und</strong> vier Arbeitshefte für<br />

Gr<strong>und</strong>schulen wurden herausgegeben, die auf ein äußerst<br />

positives Echo im gesamten deutschsprachigen Raum<br />

gestoßen sind. Das Ziel der Aktion bestand darin, das<br />

Forscher- <strong>und</strong> Entdeckertalent bei „Einsteins Erben" zu<br />

erschließen. Das Themenspektrum schuf zahlreiche<br />

Bezugspunkte zu Einsteins Wirken auf den unterschiedlichen<br />

Gebieten der Naturwissenschaft, brachte aber auch<br />

den Menschen Albert Einstein in seiner Vielschichtigkeit<br />

jungen Menschen nahe.<br />

Ein weiteres Projekt, welches gemeinsam von KONTEXIS<br />

<strong>und</strong> dem Deutsch-Französischen Jugendwerk organisiert<br />

<strong>und</strong> durchgeführt wurde, fand Mitte November dieses Jahres<br />

in München statt. <strong>Die</strong> Idee war, <strong>mit</strong> dem Einsteinforum<br />

„Jugend, Naturwissenschaft <strong>und</strong> Technik" den sprachlichen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Austausch zwischen jungen Deutschen,<br />

Franzosen <strong>und</strong> Schweizern für die gemeinsame Begeisterung<br />

für naturwissenschaftlich-technische Themen<br />

zu fördern. 27 Jugendprojekte aus Deutschland, Frankreich<br />

<strong>und</strong> der Schweiz erhielten die Möglichkeit, ihre Arbeiten<br />

<strong>und</strong> Experimente den Besuchern der Ausstellung in<br />

beiden Sprachen vorzustellen. Studierende aus Deutschland<br />

<strong>und</strong> Frankreich diskutierten <strong>mit</strong> Wissenschaftlerinnen<br />

<strong>und</strong> Wissenschaftlern über die genialen Ideen Einsteins<br />

<strong>und</strong> deren Bedeutung für die heutige Generation.<br />

Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: „Vor dem 1x1 sind<br />

alle Menschen gleich." Aber die Wege, meine sehr verehrten<br />

Damen <strong>und</strong> Herren, die Wege zum 1x1, d.h. zur Mathematik,<br />

zur Physik, zur Chemie, zur Technik <strong>und</strong> zu anderen<br />

Disziplinen, die Wege können <strong>und</strong> sollten vielfältig sein.<br />

Und all die faszinierenden Projekte, die im Mitgliederspektrum<br />

der BKJ entstanden sind, zeigen, dass <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Kultur</strong> Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen ausgesprochen interessante<br />

<strong>und</strong> spannende Wege zu den verschiedenen Wissenschaften<br />

aufzeigen <strong>und</strong> ermöglichen. Da<strong>mit</strong> sind solche<br />

Angebote Bildungsangebote im besten Sinne.<br />

Sie als Teilnehmerinnen <strong>und</strong> Teilnehmer des Kongresses<br />

haben nicht nur die Möglichkeit, sich diese fruchtbare Verbindung<br />

von Wissenschaft <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong> von fachk<strong>und</strong>igen<br />

Referenten <strong>und</strong> Referentinnen theoretisch erläutern zu<br />

lassen, sondern zahlreiche hoch interessante <strong>und</strong> lehrreiche<br />

Projekte präsentieren sich in einer parallelen Ausstellung<br />

<strong>und</strong> laden die Teilnehmerinnen <strong>und</strong> Teilnehmer zum<br />

entdeckenden Lernen frei nach dem „hands-on-Prinzip"<br />

ein.<br />

Um diesen Kongress <strong>mit</strong> seinen sicher anregenden Vorträgen<br />

<strong>und</strong> Diskussionen <strong>und</strong> den vielen interessanten Beispielprojekten<br />

– klingende Zahlen, Laterna magica, Mathematiktheater,<br />

Riesenkaleidoskop, Mathemobil, ein<br />

begehbares Gehirn, um nur einige zu nennen – zu organisieren,<br />

braucht man Kooperationspartner. Ich möchte die<br />

Gelegenheit nutzen, den Kooperationspartnern vor Ort für<br />

die gute Zusammenarbeit zu danken: dem <strong>Kultur</strong>- <strong>und</strong><br />

Schulservice München KS:MUC <strong>und</strong> dem Deutschen Museum,<br />

namentlich insbesondere Prof. Dr. Wolfgang Zacharias,<br />

Traudl Weber <strong>und</strong> Margit Maschek vom Verein <strong>Kultur</strong> <strong>und</strong><br />

Spielraum e.V.<br />

An dieser Stelle möchte ich auf die Regierungserklärung<br />

der B<strong>und</strong>eskanzlerin Merkel hinweisen. Meines Wissens<br />

hat sie zum erstenmal als B<strong>und</strong>eskanzlerin davon gesprochen,<br />

dass Geld für <strong>Kultur</strong> keinen Subventionen seien, sonder<br />

Investitionen in die Zukunft unseres Landes. <strong>Die</strong>s wird<br />

auch Auswirkungen für die kulturelle Jugendbildung haben<br />

können.<br />

Das B<strong>und</strong>esministerium für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong><br />

Jugend <strong>und</strong> die B<strong>und</strong>esvereinigung <strong>Kultur</strong>elle Jugendbildung<br />

als Veranstalter verbinden <strong>mit</strong> diesem Kongress das<br />

Anliegen, die Bildungswirkungen kultureller Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendarbeit deutlich zu machen, den fächerübergreifenden<br />

Mehrwert kultureller Angebote hervorzuheben <strong>und</strong> Anstöße<br />

für die fachliche Weiterentwicklung zu geben. In diesem<br />

Sinne wünsche ich dem Kongress heute <strong>und</strong> morgen<br />

einen interessanten Verlauf <strong>und</strong> vielleicht – durch Einstein<br />

inspiriert – neue Sichtweisen.<br />

Udo Kollenberg ist Unterabteilungsleiter im B<strong>und</strong>esministerium<br />

für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend<br />

(BMFSFJ).


Seite: 6<br />

K o n g r e s s d o k u m e n t a t i o n<br />

<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

MAX FUCHS<br />

Bildung als Lebenskompetenz<br />

ZUR ROLLE ÄSTHETISCHER UND WISSENSCHAFTLICHER ZUGANGSWEISEN ZUR WELT<br />

1. Annäherungen an den Bildungsbegriff<br />

Vermutlich ist das Gute an Gedenkjahren, dass es um Geburtstage<br />

oder Todestage von Menschen geht, die bereits<br />

verstorben sind. Sie können sich also nicht mehr wehren<br />

gegen die vielfältigsten öffentlichen Ehrungen, die ihnen<br />

zuteil werden. Letztes Jahr hatten wir den 200. Todestag<br />

von Immanuel Kant, dieses Jahr (2005) jährt sich zum<br />

200. Mal das Todesjahr von Friedrich Schiller; zugleich<br />

jährt sich zum 100. Mal das berühmte Jahr 1905, jenes<br />

Jahr, in dem der 26-jährige Albert Einstein <strong>mit</strong> einigen,<br />

zum Teil sehr kurzen Publikationen das <strong>Welt</strong>bild der Physik<br />

verändert hat. Es ist die Publikation seiner speziellen Relativitätstheorie,<br />

die das Ende des mechanistischen <strong>Welt</strong>bildes<br />

bedeutet. Es ging um gr<strong>und</strong>legende Kategorien der<br />

Physik, aber auch der Philosophie, nämlich um Licht, um<br />

Zeit, um die Bewegungsabläufe von Körpern.<br />

Albert Einstein ist ein guter Gewährsmann gerade für Fragen<br />

der kulturellen Bildung <strong>und</strong> dies nicht bloß, weil er<br />

selbst ein begeisterter Violinspieler war (wie man hört:<br />

eher begeistert als begabt), sondern weil seine eigene Bildungskarriere<br />

die Stärken <strong>und</strong> Schwächen eines Schulsystems<br />

demonstriert. Albert Einstein ist <strong>mit</strong> 16 Jahren vom<br />

Münchner Luitpold-Gymnasium abgegangen <strong>und</strong> er<br />

schreibt später 1936: „Mir scheint es das Schlimmste,<br />

wenn eine Schule prinzipiell <strong>mit</strong> den Methoden der Angst,<br />

der Gewalt <strong>und</strong> künstlichen Autorität arbeitet. Solche Behandlungsmethoden<br />

zerstören die ges<strong>und</strong>en Gefühle, die<br />

Aufrichtigkeit <strong>und</strong> das Selbstvertrauen der Schüler. Da<strong>mit</strong><br />

produziert man den unterwürfigen Untertan.<strong>“</strong> (Herneck<br />

1977, Seite 19). Er siedelt zu seinen Eltern nach Mailand<br />

<strong>und</strong> bittet noch im selben Jahr um die Entlassung aus der<br />

württembergischen Staatsbürgerschaft. <strong>Die</strong>se Staatsbürgerschaft<br />

hatte er, weil sein Geburtsort Ulm in Württemberg<br />

lag.<br />

Hier zeigt sich eine Parallele zu Friedrich Schiller, der ebenfalls<br />

eine elende Kindheit <strong>und</strong> Jugend in Württemberg verbringen<br />

musste, der unter den Schikanen des Schulsystems<br />

litt <strong>und</strong> der zu einer gehobenen Ausbildung nur<br />

dadurch kam, dass er sich als Medizinstudent dem Militär<br />

verschrieb. Vor diesem floh er schließlich als junger Mann<br />

nach Mannheim, weil er dort überhaupt eine erste Chance<br />

bekam, seine <strong>Kunst</strong> auszuleben („Kabale <strong>und</strong> Liebe<strong>“</strong> <strong>und</strong><br />

„<strong>Die</strong> Räuber<strong>“</strong> wurden am Mannheimer Theater uraufge-<br />

führt). Einstein wurde aus der württembergischen Staatsangehörigkeit<br />

entlassen <strong>und</strong> legte Zeit seines ganzen Lebens<br />

dann sehr viel Wert darauf, politisch nicht mehr an<br />

Deutschland geb<strong>und</strong>en zu sein. Gerade wenn man in Ulm<br />

oder in München Einstein als Sohn der Stadt feiert, sollte<br />

man dies nicht vergessen. Er hatte kein Abitur <strong>und</strong> fiel bei<br />

der ersten Aufnahmeprüfung am Polytechnikum in Zürich<br />

durch. Er hatte das Abitur schließlich nachgeholt <strong>und</strong> zwar<br />

an der Aarauer Kantonsschule, die ihre Aufgabe im Geiste<br />

Pestalozzis begriff. Und hier erlebte er eine ganz andere<br />

Form von Pädagogik: „Das erfreulichste Vorbild einer Erziehungsanstalt<br />

dieser Stufe.<strong>“</strong> Sie habe ihm so recht gezeigt,<br />

wie wichtig es sei, dass die Lehrkräfte in der Wahl der<br />

Lehrmethode freie Hand hätten <strong>und</strong> dass Lehrer <strong>und</strong><br />

Schüler zu verantwortungsvoller <strong>und</strong> freudiger Arbeit gebracht<br />

würden: „Denn der Mensch ist keine Maschine <strong>und</strong><br />

verkümmert, wenn ihm die Gelegenheit zu eigener Gestaltung<br />

<strong>und</strong> die Freiheit zu eigenem Urteil versagt wird.<strong>“</strong><br />

(ebd., S. 20). Wie aktuell dies gerade angesichts der PISA-<br />

Diskussion in Deutschland auch heute noch für uns ist,<br />

muss eigentlich nicht ausdrücklich erwähnt werden.<br />

Er begann sein Studium der Physik <strong>mit</strong> dem Ziel, Physiklehrer<br />

zu werden. Er machte auch das entsprechende Examen<br />

im Jahre 1900 <strong>mit</strong> der Zensur „Gut<strong>“</strong>, trat aber nicht<br />

in den Schuldienst ein, sondern bekam eine Anstellung am<br />

Patentamt Bern, wo er zwischen 1902 <strong>und</strong> 1909 arbeitete.<br />

Er hatte eine eher niederrangige Arbeit, die ihn zum einen<br />

zwar da<strong>mit</strong> konfrontierte, physikalische Abläufe der beantragten<br />

Patente sehr genau zu studieren, die ihm andererseits<br />

aber sehr viel Zeit zu eigenen Studien ließ. <strong>Die</strong>se<br />

führten schließlich zu den oben schon erwähnten revolutionären<br />

Arbeiten im Jahre 1905. Im Hinblick auf schulische<br />

Prozesse <strong>und</strong> auf Bildungsprozesse ist es interessant,<br />

dass er ebenfalls im Jahre 1905 seinen Doktorgrad<br />

erhielt, allerdings nicht <strong>mit</strong> den revolutionären Arbeiten,<br />

für die er später den Nobelpreis für Physik bekam, sondern<br />

er war gezwungen, eine neue, völlig andere Arbeit zu<br />

schreiben, die den akademischen Gepflogenheiten der<br />

Hochschule entsprach. Ebenso scheiterte er bei seinem ersten<br />

Versuch, sich an der Universität zu habilitieren. <strong>Die</strong>s<br />

gelang ihm erst bei seinem zweiten Versuch im Jahre<br />

1909. Mit 30 Jahren wurde er schließlich zum außerordentlichen<br />

Professor der Physik ernannt.<br />

Warum habe ich eingangs angesichts dieser Biografie von<br />

der Ambivalenz des Ehrens gesprochen? Einstein hatte of-


Seite: 7<br />

K o n g r e s s d o k u m e n t a t i o n<br />

<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

fensichtlich erhebliche Probleme <strong>mit</strong> dem regulären Schul<strong>und</strong><br />

Hochschulsystem seiner Zeit. Man muss dabei<br />

berücksichtigen, dass weder das Gymnasium noch die damalige<br />

Hochschule ein solcher Massenbetrieb war wie<br />

heute, sondern dass sich die Hochschullehrer durchaus<br />

sorgsam um die relativ wenigen Studenten gekümmert haben.<br />

Man möge sich nur einmal vorstellen, was ein solcher<br />

Einstein in einem System angestellt hätte, das strikt nach<br />

den Prinzipien des so genannten Bologna-Prozesses organisiert<br />

ist, bei dem also alle Studieninhalte streng modularisiert<br />

sind, also in kleinste vergleichbare Happen aufgeteilt<br />

werden, <strong>und</strong> bei dem das Studium nach den harten<br />

Prinzipien der Taylorisierung verläuft. Man braucht nur<br />

wenig Fantasie, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass in<br />

einem solchen System Albert Einstein keinen einzigen Abschluss<br />

hätte machen können. Ich erlebe dasselbe heute<br />

bei meinem Sohn, der an einer so genannten Elite-Universität<br />

Betriebswirtschaftslehre studiert. Selbstverständlich<br />

ist das Studium in Hinblick auf die internationale Vergleichbarkeit<br />

<strong>und</strong> dem ständigen Austausch von Studierenden<br />

nach den Prinzipien des Bologna-Prozesses aufgebaut.<br />

Man studiert also so genannte Modulen, wobei gerade im<br />

Gr<strong>und</strong>studium eine unglaubliche Stoffmenge nur durch<br />

fantasieloses Pauken angeeignet werden soll. Mit einem<br />

Studium an einer „Universität" (was etwas <strong>mit</strong> Universalität<br />

zu tun hat) hat diese Form des Drills überhaupt nichts<br />

zu tun, auch nicht <strong>mit</strong> einer eigenen, intensiven <strong>und</strong> kreativen<br />

Auseinandersetzung <strong>mit</strong> der Fachliteratur, denn es<br />

sind in der Regel handgemachte Texte der Hochschullehrer,<br />

die auswendig gelernt werden sollen.<br />

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine harte<br />

Kritik des Hamburger <strong>Kunst</strong>historikers Kemp im Merkur,<br />

der genau dies an dem Bologna-Prozess kritisiert hat. Er<br />

berichtet, dass er in den vielen Jahrzehnten seines Hochschullehrerdaseins<br />

<strong>mit</strong> einer Studienordnung zurecht hat<br />

kommen können, die gerade einmal fünf Seiten umfasste.<br />

<strong>Die</strong> neue Studienordnung des modularisierten Studiengangs<br />

umfasst dagegen 400 Seiten <strong>und</strong> Kemp äußerte die<br />

Vermutung, dass aufgr<strong>und</strong> der Organisation des Studiums<br />

diese Studienordnung vermutlich das dickste Buch ist, <strong>mit</strong><br />

dem sich die Studenten während ihres Studiums auseinander<br />

setzen. Neugierde, Forschung, Bildung, Freiheit – all<br />

diese Zentralbegriffe eines Humboldtschen Verständnisses<br />

einer Universität, die eben nicht bloß berufliche Bildung<br />

ver<strong>mit</strong>telt, sondern die auch so etwas wie einen Allgemeinbildungsanspruch<br />

hat, kann in den derart<br />

organisierten Hochschulen nicht mehr stattfinden. Vor diesem<br />

Hintergr<strong>und</strong> habe ich durchaus bedauert, dass Albert<br />

Einstein bei der offiziellen Einstein-Feier des B<strong>und</strong>esbildungsministeriums<br />

nicht hat dabei sein können, insofern<br />

er – wie bei solchen Veranstaltungen üblich – unausgesprochen,<br />

aber <strong>mit</strong> Sicherheit gegen seine Überzeugung<br />

als Zeuge für die Qualität der derzeitigen Hochschulreform<br />

hat herhalten müssen.<br />

Was hat dies nun <strong>mit</strong> dem Thema zu tun, Bildung als Lebenskompetenz<br />

zu begreifen? Zunächst einmal ist daran<br />

zu erinnern, dass Bildung in der Tat der komplementäre<br />

Begriff zu Leben ist. Bildung kann als diejenige individuelle<br />

Disposition verstanden werden, die einen zu einem Leben<br />

befähigt, das bestimmte Qualitätsmerkmale erfüllt:<br />

Selbstbewusstsein, Genuss, Anstrengungsbereitschaft,<br />

insbesondere die Bereitschaft, sein Leben selbst zu gestalten,<br />

selbst dafür zu sorgen, da<strong>mit</strong> es ein gutes, gelungenes<br />

<strong>und</strong> vielleicht sogar glückliches Leben wird. <strong>Die</strong>s<br />

ist die zentrale Aufgabe, auf die wir vorbereitet werden<br />

müssen.<br />

2. Lernen als menschliche Haltung zur <strong>Welt</strong><br />

Obwohl am Ende des letzten Abschnittes ein anspruchsvolles<br />

Problem formuliert worden ist, das jeder Mensch für<br />

sich in seinem eigenen Leben lösen muss, nämlich fähig<br />

<strong>und</strong> in der Lage zu sein, sein Leben selbst zu gestalten,<br />

muss man an dieser Aufgabe nicht verzweifeln. Man kann<br />

vielmehr feststellen, dass die Fähigkeit, diese Aufgabe lösen<br />

zu können, zu unserer anthropologischen Mitgift<br />

gehört. Während der Menschwerdung hat sich nämlich genau<br />

dieser Prozess herausgestellt: zum einen eine wachsende<br />

Befreiung von dem Determinismus der Natur, was<br />

bedeutet, dass der Mensch zunehmend in der Lage ist, die<br />

Gesetzmäßigkeiten der Natur zu erkennen <strong>und</strong> sich entsprechend<br />

so zu verhalten, als ob er sie beherrschen<br />

könnte. Gleichzeitig <strong>mit</strong> dieser Befreiung von Gesetzmäßigkeiten<br />

ist jedoch der Zwang entstanden, alle lebensrelevanten<br />

Entscheidungen nunmehr auch selbst treffen<br />

zu müssen.<br />

<strong>Die</strong> Freiheit vom Determinismus geht also einher <strong>mit</strong> einem<br />

neuen Zwang, nämlich <strong>mit</strong> dem Zwang, Entscheidungen<br />

treffen zu müssen. In diesem dialektischen Verhältnis<br />

zwischen Freiheit <strong>und</strong> Zwang hat sich Lernen als Gr<strong>und</strong>verhältnis<br />

des Menschen zur <strong>Welt</strong> <strong>und</strong> zu sich selbst herausgestellt.<br />

Wilhelm von Humboldt brachte das auf den<br />

Begriff, dass Bildung bedeute, so viel <strong>Welt</strong> wie möglich in<br />

sich aufzunehmen. In dem Maße, in dem der Mensch die<br />

<strong>Welt</strong> gestaltet – gestalten muss –, gestaltet er nicht bloß<br />

die <strong>Welt</strong>, sondern auch sich selbst. <strong>Welt</strong>verhältnis <strong>und</strong><br />

Selbstverhältnis entwickeln sich quasi im selben Prozess<br />

als zwei Seiten derselben Medaille. Das Lernen bezieht<br />

sich hier auf diesen Prozess der <strong>Welt</strong>- <strong>und</strong> Selbsteroberung


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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

- <strong>und</strong> ist ein von Gr<strong>und</strong> auf lustvoller Prozess. Denn an dieser<br />

Stelle lässt sich ein Ergebnis der Neurowissenschaften<br />

sinnvoll benennen: Man kann zeigen, dass Lernen, dass<br />

die konstruktive Tätigkeit des Gehirns Lust macht, weil in<br />

diesen Prozessen Endorphine ausgeschüttet werden. Das<br />

heißt aber auch zugleich, dass man süchtig werden kann<br />

nach Lernen. Der ohnehin schon lustvolle Prozess, wachsende<br />

Einflussmöglichkeiten zu erleben, wird chemisch<br />

noch unterstützt.<br />

Wenn dies aber so ist, dann wird es noch unverständlicher,<br />

warum das Lernen an sich einen solch schlechten<br />

Ruf hat. Wie gelingt es der Gesellschaft <strong>und</strong> wie gelingt es<br />

insbesondere der gesellschaftlichen Institution, die dafür<br />

verantwortlich ist, das Lernen derart in Verruf zu bringen,<br />

dass darunter nichts Freud- <strong>und</strong> Lustvolles mehr verstanden<br />

wird, sondern dass man davor nur noch die Flucht ergreifen<br />

will, wie ich es oben am Beispiel der Biografie von<br />

Einstein angedeutet habe. Einstein hat auch die Antwort<br />

darauf gegeben: Es kommt entscheidend darauf an, wie<br />

Schule, wie Lernen innerhalb <strong>und</strong> außerhalb der Schule<br />

stattfindet. Nimmt man den Lernenden als Subjekt seines<br />

eigenen Lernprozesses ernst, gibt man den Lehrenden die<br />

Möglichkeit, solche Methoden anzuwenden, die für die<br />

Lerngruppe, den Stoff <strong>und</strong> die Lernsituation angemessen<br />

sind oder glaubt man, dies alles zentralistisch durch eine<br />

bürokratische Anordnung regulieren zu können?<br />

3. Natur versus <strong>Kultur</strong><br />

Bildung wurde oben als diejenige individuelle Disposition<br />

beschrieben, die einen dazu befähigt, sein Leben bewusst<br />

in die eigenen Hände nehmen zu können. Bildung bezieht<br />

sich also auf eine spezifische Disposition, sich in der <strong>Welt</strong><br />

zu verorten. Doch was ist an dieser Stelle die „<strong>Welt</strong><strong>“</strong>? Eine<br />

klassische Begriffsklärung trennt in dieser „<strong>Welt</strong><strong>“</strong> die Natur-<br />

von der <strong>Kultur</strong>seite. <strong>Kultur</strong> bedeutet hierbei all das,<br />

was der Mensch in der Gestaltung der Natur an Veränderungen<br />

durchgeführt hat. <strong>Kultur</strong> ist also quasi Menschenwerk<br />

<strong>und</strong> steht insofern schon feindlich der Natur gegenüber,<br />

als Natur dasjenige ist, was man verändern will, was<br />

ja heißt, es nicht für gut genug bef<strong>und</strong>en zu haben. Und<br />

genau an dieser Stelle entsteht ein Streit, der bis heute<br />

nicht beigelegt ist, der Streit zwischen den so genannten<br />

zwei <strong>Kultur</strong>en (Snow), nämlich der naturwissenschaftlichtechnischen<br />

<strong>Kultur</strong> <strong>und</strong> der literarischen- oder allgemeiner<br />

der künstlerisch-ästhetischen <strong>Kultur</strong>. Es lohnt sich gerade<br />

bei dem Thema der heutigen Tagung, auf diesen Streit ein<br />

wenig genauer einzugehen. Dass er bis heute virulent ist,<br />

kann ich etwa dann erleben, wenn es im Kontext der<br />

UNESCO <strong>und</strong> hier speziell der Deutschen UNESCO-Kommis-<br />

sion zu Nachbenennungen von Mitgliedern kommen soll.<br />

UNESCO ist die Organisation der Vereinten Nationen, die<br />

sich um Education, Science and Culture, also um Bildung,<br />

um Wissenschaft <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong> kümmert. Auch in dieser<br />

Organisation, die – etwas salopp gesprochen – für das<br />

Gute im Menschen verantwortlich ist, kommt es immer<br />

wieder zu Konkurrenzen, wenn nämlich die Naturwissenschaftler<br />

sehr genau beobachten, dass die <strong>Kunst</strong>leute<br />

keine zahlenmäßige Dominanz erhalten.<br />

Geklagt wird übrigens in beiderlei Richtungen: Ich selbst<br />

war ursprünglich Mathematiker <strong>und</strong> Mathematiklehrer <strong>und</strong><br />

kann mich sehr gut an die Klagen in diesen Kontexten erinnern,<br />

dass Mathematik <strong>und</strong> Naturwissenschaften in der<br />

Gesellschaft ständig unterschätzt <strong>und</strong> unterbewertet werden.<br />

Eine häufige Klage ist die, dass man in der Gesellschaft<br />

durchaus zugeben kann, sogar <strong>mit</strong> einem gewissen<br />

Stolz, dass man in Mathematik oder Physik eine „Fünf<strong>“</strong> als<br />

Zensur auf dem Zeugnis hatte. Doch kein Mensch würde in<br />

derselben Gesellschaft eingestehen, dass er ein „Mangelhaft<strong>“</strong><br />

in Deutsch hatte. 1984 habe ich dieses Arbeitsfeld<br />

verlassen <strong>und</strong> bin in den <strong>Kunst</strong>bereich übergegangen. <strong>Die</strong>ser<br />

Übergang war an bestimmten Stellen überhaupt nicht<br />

so dramatisch, wie man meinen könnte, denn die Klagen,<br />

die dort erhoben worden sind, kamen mir sehr vertraut<br />

vor: Alle stöhnten <strong>und</strong> beklagten sich darüber, dass <strong>Kunst</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Kultur</strong> in der Gesellschaft hoffnungslos vernachlässigt<br />

würden <strong>und</strong> dass vielmehr Mathematik <strong>und</strong> Naturwissenschaften<br />

im Vordergr<strong>und</strong> stünden. <strong>Die</strong>se Klage wird bis<br />

heute berechtigt geführt, denn eine Hauptkritik an der<br />

PISA-Diskussion besteht darin, dass das Kognitive, dass<br />

die Naturwissenschaften <strong>und</strong> die Mathematik dort im Vordergr<strong>und</strong><br />

stehen <strong>und</strong> dass Fragen des Ästhetischen, auch<br />

des Ethischen oder auch des Sozialwissenschaftlichen<br />

überhaupt keine Rolle spielen. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> war<br />

es durchaus überraschend, als bei der großen Abschlusstagung<br />

des Deutschen <strong>Kultur</strong>rates zur kulturellen Bildung<br />

im vergangenen Jahr der Leiter der Sternwarte in Berlin,<br />

Prof. <strong>Die</strong>ter Herrmann, vor dem dort anwesenden <strong>Kultur</strong>publikum<br />

beklagte, wie groß die Benachteiligung der<br />

Naturwissenschaften im Schulsystem sei. <strong>Die</strong> Naturwissenschaften,<br />

so auch die offizielle Diskussionsr<strong>und</strong>e zum<br />

Abschluss des Einstein-Jahres, haben es schwer, öffentlich<br />

bekannt zu werden. Es wurde gesagt, dass zwar jeder<br />

prominente Künstlerinnen <strong>und</strong> Künstler kenne, aber die<br />

Namen der deutschen Nobelpreisträger in den Naturwissenschaften<br />

nur den allerwenigsten bekannt seien.<br />

Der Streit zwischen den zwei <strong>Kultur</strong>en ist also nach wie vor<br />

aktuell; er ist inzwischen um einen weiteren Streitpunkt<br />

erweitert worden: So erweitert Wolf Lepenies die bisheri-


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gen zwei <strong>Kultur</strong>en in seinem Buch „<strong>Die</strong> drei <strong>Kultur</strong>en<strong>“</strong><br />

(1984) um eine weitere. Er berichtet vom Ehrenhof der<br />

Pariser Universität Sorbonne, wo im Innenhof Standbilder<br />

von Pasteur <strong>und</strong> Hugo stehen, also einem berühmten Naturwissenschaftler<br />

<strong>und</strong> einem bekannten Literaten, wohingegen<br />

außerhalb des Ehrenhofes ein Standbild von<br />

Comte angebracht ist, also dem Erfinder der Soziologie.<br />

Und darum geht es ihm, dass nämlich <strong>mit</strong> der Soziologie in<br />

der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts eine dritte <strong>Kultur</strong><br />

entstanden ist, die die Konkurrenz der beiden bisherigen,<br />

nämlich der Literatur- <strong>und</strong> der Naturwissenschaft, um eine<br />

erweitert. Warum wird dieser Streit so erbittert geführt?<br />

Wenn man über Bildung als Lebenskompetenz spricht,<br />

dann muss man sich fragen, auf welche Inhalte sich diese<br />

Kompetenzen denn eigentlich beziehen. Es geht also um<br />

eine Art Kanon, der festlegt, was zu den Lebenskompetenzen<br />

gehört, die dann auch im öffentlichen Bildungssystem<br />

ver<strong>mit</strong>telt werden müssen. Offenbar lohnt sich dieser<br />

Streit: „Das zentrale Thema der drei <strong>Kultur</strong>en ist die Konkurrenz<br />

einer sozialwissenschaftlichen <strong>und</strong> einer literarischen<br />

Intelligenz, die in Frankreich, England <strong>und</strong> Deutschland<br />

um den Anspruch konkurrieren, dem Menschen der<br />

Industriegesellschaft die angemessene Lebenslehre zu<br />

bieten. Letztlich stehen sich in dieser Auseinandersetzung<br />

Aufklärung <strong>und</strong> Gegen-Aufklärung gegenüber, wobei<br />

die Soziologie oft genug <strong>mit</strong> dem Sozialismus gleichgesetzt,<br />

die Dichtung in der Regel als Hort der traditionellen<br />

Werte einer vorindustriellen Gesellschaft beschworen<br />

wird.<strong>“</strong> (Lepenies 1984, Klappentext). Es geht also um so<br />

etwas wie das Leitmedium in der Gesellschaft <strong>und</strong> dies ist<br />

keine bloß abstrakte Diskussion, sondern man hat es dabei<br />

<strong>mit</strong> handfesten Interessen zu tun:<br />

Es geht um den Platz der jeweiligen Disziplin im Lehrplan.<br />

Da<strong>mit</strong> sind u.a. Lehrerstellen verb<strong>und</strong>en. Es wird<br />

also ein durchaus interessanter Arbeitsmarkt angesprochen.<br />

Solche Lehrer müssen an Universitäten ausgebildet<br />

werden, sodass die Frage nach dem Leitmedium verb<strong>und</strong>en<br />

ist <strong>mit</strong> der Frage von Hochschullehrerstellen,<br />

also <strong>mit</strong> dem Problem akademischer Karrieremöglichkeiten.<br />

Als Fazit aus diesen Überlegungen kann man ziehen, dass<br />

der Streit zwischen <strong>Kultur</strong> <strong>und</strong> Natur (<strong>und</strong> Soziologie <strong>und</strong><br />

Ökonomie) unvermeidbar ist, weil es sich zum einen zwar<br />

auch um gravierende Fragen der <strong>Welt</strong>erkenntnis handelt,<br />

also um die Frage von wahr oder falsch, es aber auch um<br />

Fragen der <strong>Welt</strong>anschauung geht. Es geht um Pfründe, es<br />

geht um ökonomische Aspekte <strong>und</strong> es geht auch um politischen<br />

Einfluss.<br />

Letztlich geht es allerdings auch um die zentrale Frage,<br />

die der Mensch offensichtlich nicht vermeiden kann, die<br />

Frage nämlich danach, was der Mensch eigentlich ist. Wie<br />

deutet sich der Mensch selbst, ist er eher ein <strong>Kultur</strong>- oder<br />

ein Naturwesen, ist er eher ein ökonomisches, ein soziales<br />

oder ein politisches Wesen? Der Mensch, so Charles Taylor,<br />

ist das sich selbst interpretierende Tier. Bewusste Lebensführung<br />

bedeutet daher auch, sich selber zwischen Modellen<br />

einer solchen Lebensführung zu entscheiden, also für<br />

sich zu klären, ob man eher ein homo ludens, ein homo faber,<br />

ein homo oeconomicus, ein politisches oder ein soziales<br />

Wesen ist. Es geht also um nichts weniger als um die<br />

Frage, was eigentlich richtiges Menschsein bedeutet.<br />

4. <strong>Die</strong> Antwort der <strong>Kultur</strong>philosophie <strong>und</strong> Anthropologie<br />

Auf die zuletzt gestellte Frage danach, was der Mensch<br />

eigentlich sei, gibt es inzwischen eine Vielzahl von Antworten.<br />

Ich will hier nur eine einzige Antwort andeuten,<br />

nämlich diejenige, die Ernst Cassirer gegeben hat. Ernst<br />

Cassirer bietet sich gerade im Kontext einer Einstein-<br />

Tagung sehr gut an: Nicht bloß, dass Cassirer Zeitgenosse<br />

Einsteins war, er gilt auch als derjenige Philosoph, der unter<br />

den Naturwissenschaftlern als einer der ihren anerkannt<br />

wird. Cassirer hat sich sehr intensiv nicht bloß <strong>mit</strong><br />

Mathematik <strong>und</strong> Physik befasst <strong>und</strong> dazu entscheidende<br />

Publikationen vorgelegt, er hat insbesondere Bücher zur<br />

Relativitätstheorie geschrieben, die er <strong>mit</strong> Einstein diskutiert<br />

hat. Jürgen Habermas nennt Cassirer das letzte Universalgenie<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Seine <strong>Kultur</strong>philosophie<br />

besteht nun darin, unterschiedliche <strong>Welt</strong>zugangsweisen<br />

als „symbolische Formen<strong>“</strong> zu unterscheiden: Wissenschaften,<br />

Sprache, Mythos <strong>und</strong> Religion, Wirtschaft, <strong>Kunst</strong>, Politik<br />

<strong>und</strong> Technik. All diese <strong>Welt</strong>zugangsweisen hat der<br />

Mensch entwickelt, um sein Überleben auf menschliche<br />

Weise sicherzustellen. Wichtig bei diesem Katalog unterschiedlicher<br />

<strong>Welt</strong>zugangsweisen ist nun, dass jede für<br />

sich die <strong>Welt</strong> als Ganzes in den Blick nehmen kann, jede<br />

allerdings unter einer spezifischen Perspektive. Cassirer<br />

spricht in diesem Zusammenhang von einem jeweils spezifischen<br />

„Brechungswinkel<strong>“</strong>. Der Mensch insgesamt<br />

braucht alle symbolischen Formen, unter denen es zudem<br />

keine Hierarchie gibt. Allerdings ist es so, dass nicht jeder<br />

Mensch in jeder dieser symbolischen Formen eine gleich<br />

hohe Kompetenz erwerben kann. Nun könnte eine einfache<br />

Antwort lauten, dass das gerade in der <strong>Kultur</strong>arbeit oft<br />

beschriebene Prinzip der Ganzheitlichkeit auch hier die<br />

Lösung brächte: Nur der ganzheitlich entwickelte Mensch,<br />

der gleichermaßen Kreativität, Kognition <strong>und</strong> Emotion<br />

pflegt, kann unter Nutzung aller symbolischen Formen ein<br />

angemessenes Verhältnis zur <strong>Welt</strong> <strong>und</strong> zu sich entwickeln.


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Warum funktioniert das nicht?<br />

5. Zwei Antwortversuche<br />

Eine erste Antwort dafür, warum das nahe liegende Prinzip<br />

der Ganzheitlichkeit nicht sofort das Ende der Streitigkeiten<br />

um den Konkurrenzkampf unterschiedlicher <strong>Welt</strong>zugangsweisen<br />

bedeutet, habe ich oben bereits angedeutet.<br />

Es gibt zum einen objektive Schwierigkeiten, die Relevanz<br />

<strong>und</strong> Reichweiten der jeweiligen symbolischen Formen zu<br />

bestimmen. Denn jede hat ihren Universalitätsanspruch,<br />

da man die <strong>Welt</strong> als Ganzes durchaus in einer ökonomischen,<br />

politischen oder technischen Perspektive betrachten<br />

kann. Das Problem besteht darin, dass es offenbar typisch<br />

menschlich ist, dass jeder seine eigene Sichtweise<br />

zu absolutieren geneigt ist. Der Mensch als Gattungswesen,<br />

so kann man also daraus schlussfolgern, braucht alle<br />

symbolischen Formen gleichermaßen, allerdings kann jeder<br />

individuelle Mensch nicht gleichermaßen kompetent in<br />

jeder dieser symbolischen Formen sein, zumal jede dieser<br />

Formen auch <strong>mit</strong> einer spezifischen Weise der Ausprägung<br />

seines Menschseins, also <strong>mit</strong> seinem Verhältnis zu sich<br />

<strong>und</strong> zur <strong>Welt</strong> verb<strong>und</strong>en ist. An dieser Stelle kann man auf<br />

ein Buch von Eduard Spranger hinweisen (Lebensformen,<br />

1921), in dem er „Gr<strong>und</strong>typen der Individualität<strong>“</strong> vorgestellt<br />

hat: Der theoretische Mensch, der ökonomische<br />

Mensch, der ästhetische Mensch, der soziale Mensch, der<br />

Machtmensch, der religiöse Mensch. Jeder dieser Typen<br />

ist dadurch gekennzeichnet, dass er unter all den symbolischen<br />

Formen von Ernst Cassirer nicht bloß eine Auswahl<br />

trifft, sondern auch eindeutig Schwerpunkte setzt. Das<br />

Projekt des guten Lebens, das jedem von uns aufgegeben<br />

ist, findet also bei jedem von uns eine ganz individuelle<br />

Lösung. Im Rahmen der B<strong>und</strong>esvereinigung <strong>Kultur</strong>elle<br />

Jugendbildung haben wir dieses Problem in einem mehrjährigen<br />

Modellprojekt dadurch aufgegriffen, dass wir versucht<br />

haben, den Begriff der kulturellen Bildung <strong>mit</strong> Hilfe<br />

des Begriffes der Lebenskunst zu veranschaulichen: Welchen<br />

Beitrag, so war unsere Frage, leisten die Künste, leistet<br />

kulturelle Bildung bei der individuellen Ausgestaltung<br />

des eigenen Projektes des guten Lebens? Ein erstes Lernziel<br />

bestand dabei darin zu akzeptieren, dass für jeden<br />

Einzelnen die Entscheidung anders ausgefallen ist. Vielfalt<br />

in der Möglichkeit, sein Leben zu gestalten, ist offenbar<br />

ebenso eine anthropologische Mitgift wie die Fähigkeit,<br />

dass diese Gestaltung auch gelingt.<br />

Ein zweiter Antwortversuch zeigt, dass diese Entscheidung<br />

zwischen unterschiedlichen <strong>Welt</strong>zugangsformen alles<br />

andere als harmlos ist. Denn immer wieder hat sich in<br />

der Geschichte der Menschheit gezeigt, dass die Auseinan-<br />

dersetzung darüber, welche <strong>Welt</strong>zugangsweisen eine gewisse<br />

Priorität haben sollen, sehr viel <strong>mit</strong> Politik zu tun<br />

hat. Insbesondere ist Wissenschaft nicht immer bloß die<br />

Suche nach der Wahrheit, sondern sie gerät immer wieder<br />

in eine große Nähe zur Ideologie, also zu Versuchen, eine<br />

bestimmte politische Herrschaft durchzusetzen <strong>und</strong> zu<br />

erhalten. Man kann sogar so weit gehen <strong>und</strong> behaupten,<br />

dass auch die Geschichte der Naturwissenschaft überhaupt<br />

nicht verstanden werden kann, wenn man diese<br />

machtpolitische Dimension ausklammert. Ich will ganz<br />

knapp einige Etappen dieser Entwicklung skizzieren.<br />

Zu beginnen ist <strong>mit</strong> René Descartes, der üblicherweise an<br />

den Beginn der neuzeitlichen Philosophiegeschichte gesetzt<br />

wird. Descartes zählt zu der Linie des Rationalismus<br />

in der Philosophie <strong>und</strong> dies kam dadurch zu Stande, dass<br />

er sehr rigide das Geistige (als Reich der Freiheit) von der<br />

Natur (als Reich des Determinismus) getrennt hat. <strong>Die</strong>ser<br />

Dualismus zwischen Geist <strong>und</strong> Natur, interpretiert als Gegensatz<br />

zwischen Freiheit <strong>und</strong> Determinismus, ist wie eingangs<br />

beschrieben an dem Streit zwischen den zwei (beziehungsweise<br />

drei) <strong>Kultur</strong>en zu spüren. Bevor Descartes<br />

allerdings zu stark als Übeltäter gebranntmarkt wird, der<br />

uns alle aktuellen Schwierigkeiten verursacht hat, muss<br />

man die Hintergründe seiner damaligen Trennung verstehen.<br />

Der Hauptstreit der gerade erst entstehenden Philosophie<br />

bestand darin, sich von der Theologie zu emanzipieren.<br />

Denn bis dahin galt sie als Magd der Theologie, hat<br />

sich also <strong>mit</strong> ihren Aussagen im Zweifelsfalle den theologischen<br />

Aussagen unterzuordnen. <strong>Die</strong> Theologie wiederum<br />

war fest in der Hand der Kirche <strong>und</strong> Kirche war nicht bloß<br />

eine geistige Macht, sondern wollte durchaus weltliche<br />

Macht sein, zu erinnern ist etwa an den Streit zwischen<br />

Kaiser <strong>und</strong> Papst.<br />

In dieser Situation galt es also zum einen, durchaus <strong>mit</strong><br />

dem Risiko, sein Leben zu verlieren, für die Freiheit des<br />

Denkens einzustehen. <strong>Die</strong> Lösung, die Descartes einfiel,<br />

war, die Natur als gesetzlich konstituierten Zusammenhang<br />

zu verstehen, der quasi als Schöpfung Gottes untersucht<br />

werden durfte. Als Rationalismus betrachtet man<br />

diese Lehre deshalb, weil Descartes die gr<strong>und</strong>legenden Instrumente<br />

zur Ordnung der <strong>Welt</strong> als angeboren betrachtete.<br />

Insbesondere hatten diese (angeborenen) Ideen eine<br />

Priorität gegenüber der sinnlichen Erfahrung.<br />

Dagegen wehrte sich wiederum der „experimentelle Philosoph<strong>“</strong><br />

(so nannte man damals die Naturforscher) Isaac<br />

Newton. In einem forcierten Gegensatz zu diesem kontinentalen<br />

Rationalismus betonte er in der Beschreibung<br />

seiner Methoden deren empirischen Charakter, wobei er<br />

ein wenig unterschlagen hat, wie viel an Theorie für eine


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solche Empirie notwendig ist. Zu dieser notwendigen Theorie,<br />

die man ohne philosophische Reflexion überhaupt<br />

nicht erhält, gehört etwa entschieden eine veränderte<br />

Theorie des Raumes. <strong>Die</strong>ses Selbstmissverständnis, das<br />

sehr stark aus seinem betonten Gegensatz zu Descartes<br />

entstand, entwickelte sein Fre<strong>und</strong>, der Philosoph John<br />

Locke, den philosophischen Ansatz des Empirismus, wobei<br />

der Widersacher von Locke weniger der längst verstorbene<br />

Descartes, sondern vielmehr der kontinentale Sachwalter<br />

des Rationalismus, nämlich Leibniz war. <strong>Die</strong>ser<br />

philosophische Gr<strong>und</strong>lagenstreit zwischen Rationalismus<br />

<strong>und</strong> Empirismus wurde zudem durch den Konkurrenzkampf<br />

um das Erstrecht an der Differentialrechnung<br />

zwischen Newton <strong>und</strong> Leibniz überlagert.<br />

<strong>Die</strong> nächste Etappe in diesem Konkurrenzkampf beginnt<br />

dort, wo man auf dem Kontinent den Empirismus von John<br />

Locke, den man fälschlicherweise als Methodologie der<br />

neuen Physik von Newton gedeutet hat, verbreitet. Auch<br />

diese Verbreitung geschah in einem weltanschaulich bedeutungsvollen<br />

Kontext, der sehr viel <strong>mit</strong> dem Kampf gegen<br />

Kirche <strong>und</strong> den alten Adel zu tun hat. Hier sind Voltaire<br />

<strong>und</strong> seine Lebensgefährtin, Madame de Châtelet, zu nennen,<br />

die aus dem empiristischen Ansatz von Locke eine<br />

philosophische Gr<strong>und</strong>lehre entwickelten, die später der<br />

Physikhistoriker Dijksterhuis in seinem großen Buch „<strong>Die</strong><br />

Mechanisierung des <strong>Welt</strong>bildes<strong>“</strong> beschrieben hat. Man<br />

erinnere sich, dass man inzwischen in dem vorrevolutionären<br />

Frankreich lebt, in dem die Aufklärung eine große<br />

Rolle spielt <strong>und</strong> in der alle philosophischen Äußerungen<br />

etwas <strong>mit</strong> dem politischen Kampf zwischen Adel <strong>und</strong> dem<br />

später so genannten Dritten Stand zu tun haben.<br />

Für die Pädagogik ist dieser Streit insofern interessant,<br />

als dass der erste Pädagogikprofessor überhaupt, Ernst<br />

Christian Trapp, versucht hat, aus der <strong>Kunst</strong>lehre Pädagogik<br />

eine Wissenschaft zu machen <strong>und</strong> hierbei auf das<br />

bewährte <strong>und</strong> allseits bew<strong>und</strong>erte Modell der Mechanik<br />

zurückgegriffen hat. Allerdings hatte er als erkenntnistheoretische<br />

Basis nicht das empiristische Selbstmissverständnis<br />

von Newton, sondern vielmehr die philosophische<br />

Überhöhung <strong>und</strong> Verengung durch Locke <strong>und</strong> vor<br />

allen Dingen durch Voltaire <strong>und</strong> Châtelet zu Gr<strong>und</strong>e gelegt.<br />

Genau diese Engführung des Erkenntnisprozesses, der<br />

durch Übertragung einer bestimmten einzelwissenschaftlichen<br />

Methode auf eine andere Wissenschaft zustande<br />

gekommen ist, hat später in der zweiten Hälfte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts der Berliner Philosoph Wilhelm Dilthey aufgegriffen<br />

bei seiner Konstituierung der Geisteswissenschaften.<br />

Der Descartes'sche Gegensatz zwischen Natur<br />

<strong>und</strong> Geist wurde bei ihm zu einem Gegensatz der Metho-<br />

den, bei denen die eine (naturwissenschaftliche) Methode<br />

lediglich zu einem „Erklären<strong>“</strong> führe, wohingegen Geisteswissenschaften<br />

es <strong>mit</strong> kulturellen Artefakten zu tun habe,<br />

die man bestenfalls „verstehen<strong>“</strong> könne. Hier also die Empirie<br />

eines experimentellen Vorgehens, dort die elaborierte<br />

Hermeneutik der Geistesmenschen.<br />

<strong>Die</strong>ser Streit zwischen zwei Methoden, der naturwissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> der geisteswissenschaftlichen, war zudem<br />

politisch überlagert, insofern Dilthey sehr klar einen<br />

Zusammenhang sah zwischen dem „oberflächlichen Empirismus<br />

der Engländer <strong>und</strong> Franzosen<strong>“</strong> auf der einen Seite<br />

<strong>und</strong> der „tief gehenden geistigen <strong>Kultur</strong><strong>“</strong> der Deutschen,<br />

was noch bei den Ursachen des Ersten <strong>Welt</strong>krieges eine<br />

Rolle spielte. Denn dort wurde sehr deutlich von den jeweiligen<br />

geistigen Eliten beschrieben, dass es um einen<br />

Kampf zwischen der „Zivilisation<strong>“</strong> der „<strong>Kultur</strong><strong>“</strong> ging. Wie lebendig<br />

dieser Streit bis heute ist, kann man an dem jüngst<br />

von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften<br />

veröffentlichten „Manifest Geisteswissenschaften<strong>“</strong><br />

erkennen.<br />

Es ist deutlich geworden, dass es bei der Frage, welche der<br />

beiden <strong>Kultur</strong>en eine Priorität haben soll, nicht bloß um die<br />

wertfreie Frage nach der Wahrheit geht, sondern dass diese<br />

Frage eng verb<strong>und</strong>en ist <strong>mit</strong> Macht <strong>und</strong> Politik.<br />

6. Zusammenfassung in Thesen<br />

1. Es ist – etwa in Anschluss an die Philosophie von Ernst<br />

Cassirer – die Vielfalt menschlicher <strong>und</strong> menschenmöglicher<br />

<strong>Welt</strong>zugangsweisen zu respektieren. <strong>Kultur</strong> kann<br />

in diesem Sinne als die Summe aller <strong>Welt</strong>zugangsweisen<br />

verstanden werden.<br />

2. Es ist zudem zu respektieren, dass jeder Einzelne seine<br />

eigene Schwerpunktsetzung in diesem Feld möglicher<br />

<strong>Welt</strong>zugangsweisen setzen muss.<br />

3. Bildung kann als die subjektive Seite der (oben definierten)<br />

<strong>Kultur</strong> verstanden werden, also als die individuelle<br />

Aneignung der jeweils vorhandenen kulturellen Kompetenzen<br />

der Menschheit. Das bedeutet zugleich, dass Bildung<br />

eine gewisse Vielseitigkeit <strong>und</strong> Pluralität in der Aneignung<br />

aller symbolischen Formen ermöglichen muss.<br />

4. Der Streit um die jeweilige Relevanz der einzelnen symbolischen<br />

Formen ist nicht nur nicht vermeidbar, sondern<br />

ist eine ständige Aufgabe der Menschen. Es geht<br />

darum, Grenzen der Wirksamkeit der jeweiligen <strong>Welt</strong>zugangsweise<br />

zu finden.<br />

5. <strong>Die</strong>ser Streit um die Reichweite der unterschiedlichen<br />

symbolischen Formen ist dabei nicht bloß ein Streit um<br />

das Wahre, sondern dieser Streit wird zudem überlagert


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durch Fragen der Macht <strong>und</strong> Herrschaft.<br />

6. Insbesondere geht es heute weniger um einen Streit<br />

zwischen den Künsten <strong>und</strong> den Naturwissenschaften,<br />

sondern vielmehr darum, den Allmachtsanspruch einer<br />

ökonomischen Rationalität zu begrenzen. Eine verantwortungsvolle<br />

Naturwissenschaft, die etwa über die<br />

ökologische Dimension neuer technischer Entwicklungen<br />

informiert ist, <strong>und</strong> eine verantwortungsvolle <strong>Kultur</strong>pädagogik<br />

ziehen dabei am selben Strang, nämlich die<br />

totale Durchsetzung ökonomischer Verwertungsaspekte<br />

in allen menschlichen Bereichen zu verhindern.<br />

Literatur<br />

B<strong>und</strong>esvereinigung <strong>Kultur</strong>elle Jugendbildung (Hg.): Lernziel<br />

Lebenskunst. Konzepte <strong>und</strong> Perspektiven. Remscheid:<br />

BKJ 1999.<br />

B<strong>und</strong>esvereinigung <strong>Kultur</strong>elle Jugendbildung (Hg.): Partizipation<br />

<strong>und</strong> Lebenskunst. Beteiligungsmodelle in der kulturellen<br />

Jugendbildung. Remscheid: Schriftenreihe der BKJ<br />

2000.<br />

B<strong>und</strong>esvereinigung <strong>Kultur</strong>elle Jugendbildung: <strong>Kultur</strong>elle<br />

Bildung <strong>und</strong> Lebenskunst – Ergebnisse <strong>und</strong> Konsequenzen<br />

aus dem Modellprojekt „Lernziel Lebenskunst<strong>“</strong> Remscheid:<br />

BKJ 2001.<br />

Cassirer, E.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine<br />

Philosophie der <strong>Kultur</strong>. Frankfurt/M.: Fischer 1990<br />

(Original: 1944).<br />

Dijksterhuis, E. J.: <strong>Die</strong> Mechanisierung des <strong>Welt</strong>bildes.<br />

Berlin usw. 1956.<br />

Einstein, A:/Infeld, L.: <strong>Die</strong> Evolution der Physik. Wien/<br />

Hamburg: Zsolnay 1950.<br />

Einstein, A.: Mein <strong>Welt</strong>bild. Frankfurt/M. usw.: Ullstein<br />

1980.<br />

Fuchs, M.: Das Scheitern des Philanthropen Ernst Christian<br />

Trapp. Eine Untersuchung zur sozialen Genese der Erziehungswissenschaft<br />

im 18. Jh. Weinheim/Basel: Beltz<br />

1984.<br />

Fuchs, M.: Untersuchungen zur Genese des mathematischen<br />

<strong>und</strong> naturwissenschaftlichen Denkens.<br />

Weinheim/Basel: Beltz 1984.<br />

Fuchs, M.: Mensch <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>. Anthropologische Gr<strong>und</strong>lagen<br />

von <strong>Kultur</strong>arbeit <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>politik. Wiesbaden:<br />

Westdeutscher Verlag 1999.<br />

Herneck, F.: Albert Einstein. Leipzig: Teubner 1977.<br />

Lepenies, W.: <strong>Die</strong> drei <strong>Kultur</strong>en. Soziologie zwischen Literatur<br />

<strong>und</strong> Wissenschaft. München/Wien: Hanser 1985.<br />

Safranski, R.: Schiller oder <strong>Die</strong> Erfindung des Deutschen<br />

Idealismus, München/Wien: Hanser 2004.<br />

Snow, C. P.: <strong>Die</strong> zwei <strong>Kultur</strong>en <strong>und</strong> die wissenschaftliche<br />

Revolution. London 1959.<br />

Spranger, E.: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche<br />

Psychologie <strong>und</strong> Ethik der Persönlichkeit. Tübingen:<br />

Neomarins Verlag 1950.<br />

Max Fuchs, Prof. Dr., Erziehungs- <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>wissenschaftler,<br />

Direktor der Akademie Remscheid, Vorsitzender<br />

der B<strong>und</strong>esvereinigung <strong>Kultur</strong>elle Jugendbildung,<br />

des Deutschen <strong>Kultur</strong>rates <strong>und</strong> des Instituts für Bildung<br />

<strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>, lehrt <strong>Kultur</strong>arbeit an der Universität<br />

Duisburg-Essen.


Seite: 13<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

ANGELIKA SPECK-HAMDAN<br />

Lernwerkstatt Schule<br />

„Wissen allein ist tot, die Schule aber dient dem<br />

Lebendigen.<strong>“</strong> (Albert Einstein)<br />

Einstein spricht <strong>mit</strong> diesem Satz die wichtigste Aufgabe<br />

der Schule an, nämlich das Leben <strong>mit</strong> dem Wissen zu verbinden<br />

<strong>und</strong> als lebensbedeutsam erlebbar zu machen. Das<br />

gelingt Schule leider nicht immer. Eine Möglichkeit, dies zu<br />

verstärken, liegt in der Idee der Lernwerkstatt, die das aktive<br />

<strong>und</strong> dem Leben verb<strong>und</strong>ene Lernen in den Mittelpunkt<br />

stellt.<br />

Leben heißt lernen<br />

Lernen beginnt nicht <strong>mit</strong> der Schule, sondern <strong>mit</strong> der Geburt.<br />

Das weiß jeder, der kleine Kinder beobachtet. Kinder -<br />

<strong>und</strong> auch schon Säuglinge - lernen unablässig: immer gezielter<br />

nach einem Gegenstand zu greifen, bekannte von<br />

unbekannten Personen zu unterscheiden, die Dinge der<br />

<strong>Welt</strong> <strong>mit</strong> Begriffen zu benennen, die Sprache der Umgebung<br />

immer differenzierter zu gebrauchen, alleine zu<br />

essen, <strong>mit</strong> einem Dreirad, einem Fahrrad zu fahren usw.<br />

Jeden Tag kommt etwas Neues hinzu, das aufmerksame<br />

Erwachsene <strong>mit</strong> Freude wahrnehmen. Aber auch die Kinder<br />

selbst sind stolz auf das, was sie auf Gr<strong>und</strong> von Lernprozessen<br />

können. „Ich kann's! Schau, was ich kann!<strong>“</strong>,<br />

sind wichtige Aufforderungen an die Adresse der Umgebung.<br />

Sie machen deutlich, wie sehr Kindern das eigene<br />

Können wichtig ist. Es ist Teil der Selbstdefinition. Und um<br />

etwas zu können, strengen sich Kinder in der Regel auch<br />

gerne <strong>und</strong> selbstverständlich an. Lernen außerhalb <strong>und</strong><br />

vor allem vor der Schule wird üblicherweise nicht als<br />

Problem angesehen, Lernen in der Schule dagegen schon<br />

eher. Um der Frage auf den Gr<strong>und</strong> zu gehen, warum dies<br />

so empf<strong>und</strong>en wird, ist es hilfreich, sich <strong>mit</strong> dem Unterschied<br />

zwischen dem Lernen hier <strong>und</strong> dem Lernen da zu<br />

befassen.<br />

Lernen in anderen Lebenswelten als der Schule erwächst<br />

in der Regel aus einer Situation, die es erforderlich macht,<br />

sich eine Fähigkeit oder eine Kenntnis anzueignen. Wenn<br />

ein Kind sich an einem Gesellschaftsspiel in der Familie<br />

beteiligen möchte, muss es dessen Regeln erlernen <strong>und</strong><br />

lernen, sich auch daran zu halten, da<strong>mit</strong> es <strong>mit</strong>machen<br />

kann. Wenn ein Kind einen Turm aus Bauklötzen bauen<br />

möchte, wird es im Handlungsvollzug lernen, die Klötze so<br />

aufeinander zu setzen, dass das Gleichgewicht gewahrt<br />

bleibt. Es erwirbt im Spiel eine Vorstellung über Stabilität<br />

<strong>und</strong> Balance. Ein zweites Bestimmungsmerkmal des Lernens<br />

in anderen Lebenswelten ist das des eigenen Interesses,<br />

das in den genannten Beispielen ebenso aufscheint.<br />

Kinder wollen etwas können, das andere, größere<br />

Kinder auch schon können, z.B. Fahrrad fahren oder Fußball<br />

spielen. Deshalb nehmen sie die zweifellos da<strong>mit</strong> verb<strong>und</strong>ene<br />

Mühe des Lernens auf sich. Das betrifft auch so<br />

diffizile Tätigkeiten wie etwa die Bedienung eines Mobiltelefons;<br />

entscheidend als Motiv ist das Interesse an einer<br />

Sache. Es kann sozusagen Flügel verleihen <strong>und</strong> nicht<br />

geahnte Kräfte freisetzen.<br />

Lernen in der Schule folgt in aller Regel einem Plan; was in<br />

der Schule gelernt werden soll, ist festgelegt. Kinder sollen<br />

lesen lernen, sollen schreiben lernen, sollen rechnen lernen,<br />

sollen Fremdsprachen lernen usw. In Lehrplänen <strong>und</strong><br />

Curricula ist festgehalten, was die ältere Generation der<br />

nachwachsenden weitergeben möchte: Wissen <strong>und</strong> Erfahrungen,<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten. Je nach Erfordernis<br />

der Zeit müssen diese Vorschriften angepasst werden; so<br />

lernen Kinder heute im Gegensatz zu Kindern vor fünfzig<br />

Jahren zum Beispiel auch <strong>mit</strong> einem Computer umzugehen.<br />

Der Plan des Lernens liegt vor, unabhängig vom Interesse<br />

der einzelnen Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen. Seine Umsetzung<br />

wird auch eingefordert, man kann ihm nicht<br />

ausweichen, denn die Schule ist eine Pflichteinrichtung.<br />

Dass es dabei zu konfligierenden Interessen kommen<br />

kann, liegt auf der Hand.<br />

Bildung ist auf Lernprozesse angewiesen. Jede Art der Bildung<br />

baut auf der angeborenen Lernfähigkeit <strong>und</strong> -bereitschaft<br />

von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen auf. Wir unterscheiden<br />

in der Regel zwischen formeller, nicht-formeller <strong>und</strong><br />

informeller Bildung. Formelle Bildung findet in der Schule<br />

statt. Sie ist hoch strukturiert <strong>und</strong> hat Pflichtcharakter.<br />

Nicht-formelle Bildung umfasst freiwillige <strong>und</strong> thematisch<br />

eingegrenzte Bildungsangebote; sie findet zum Beispiel in<br />

der Jugend- <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>arbeit statt. Informelle Bildung ist<br />

nicht geplant, entwickelt sich aus der Situation <strong>und</strong> findet<br />

im Alltag statt. Der Gegensatz zwischen formeller Bildung<br />

auf der einen <strong>und</strong> nicht-formeller Bildung <strong>und</strong> informeller<br />

Bildung auf der anderen Seite entspricht dem oben beschriebenen<br />

Lernen in <strong>und</strong> außerhalb der Schule. Eine<br />

Möglichkeit, Bildungsgrenzen zu überschreiten, Bildungsbereiche<br />

<strong>mit</strong>einander zu verbinden, stellt das Konzept der


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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Lernwerkstatt dar, das im Folgenden beschrieben werden<br />

soll.<br />

Was sind Lernwerkstätten?<br />

Lernwerkstätten sind zunächst Orte, an denen gelernt<br />

wird. Da<strong>mit</strong> Lernprozesse in Gang kommen, sind diese Ort<br />

in besonderer Weise gestaltet. Sie sind als Lernlandschaften<br />

gestaltet, <strong>mit</strong> vielen verschiedenen Anreizen zum Lernen,<br />

<strong>mit</strong> Möglichkeiten, an den eigenen Interessen anzuknüpfen<br />

<strong>und</strong> den eigenen Fragen forschend nachzugehen,<br />

<strong>mit</strong> Gelegenheiten, sich durch Lernerfahrungen des eigenen<br />

Könnens zu versichern. Als Lernorte stehen sie einem<br />

breiteren Publikum offen <strong>und</strong> sind so auch Orte der Begegnung.<br />

Lernende treffen sich <strong>und</strong> können sich austauschen.<br />

Dabei ist es nicht unerwünscht, dass sie ihre Lernprozesse<br />

aufeinander beziehen <strong>und</strong> in Kooperationen<br />

eintreten. Dort, wo Lernwerkstätten entstanden sind, ziehen<br />

sie vor allem diejenigen an, die sich einem innovativen<br />

Lernbegriff verschrieben haben, der noch näher gekennzeichnet<br />

werden soll. Sie bilden daher so etwas wie<br />

Innovationszellen in der Bildungslandschaft. Der entscheidende<br />

Punkt aber ist der, dass sich Lernwerkstätten als<br />

Orte der Selbstbildung verstehen. Nicht die Fremdbelehrung<br />

ist das Leitbild, sondern das eigenaktiv lernende<br />

Individuum, das sich selbst bildet. ¹<br />

Lernwerkstätten gibt es etwa seit 25 Jahren in Deutschland.<br />

<strong>Die</strong> ersten befanden sich an Hochschulen, z.B. an der<br />

Technischen Universität Berlin, an der Hochschule der<br />

Künste in Berlin <strong>und</strong> an der Gesamthochschule Kassel.<br />

Von dort griff die Idee auf andere Universitäten, Fortbildungsinstitute<br />

<strong>und</strong> auch auf Schulen über. <strong>Die</strong> vorhandenen<br />

Lernwerkstätten unterscheiden sich je nach institutioneller<br />

Anbindung <strong>und</strong> je nach Schwerpunkt ihres<br />

Selbstverständnisses. An vielen Schulen bilden sie ein<br />

Zentrum für forschendes <strong>und</strong> selbstreguliertes Lernen, sowohl<br />

für Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler als auch für Lehrerinnen<br />

<strong>und</strong> Lehrer. Aber auch Kindertagesstätten <strong>und</strong> Horte<br />

haben sich der Idee der Lernwerkstatt geöffnet <strong>und</strong> Räume<br />

entsprechend gestaltet. Mittlerweile gibt es aber auch<br />

virtuelle Lernwerkstätten im Internet, die zwar nicht die<br />

sinnliche Qualität eines Raumes voll <strong>mit</strong> ansprechenden<br />

Materialien aufweisen, sich aber gleichwohl als Orte der<br />

Selbstbildung verstehen <strong>und</strong> dafür die verschiedensten<br />

Angebote bereithalten.<br />

Folgende sechs Merkmale einer Lernwerkstatt seien herausgehoben:<br />

Aktives Lernen: In Lernwerkstätten wird auf aktives<br />

Lernen gesetzt. <strong>Die</strong> Lernenden suchen sich ihr Lernziel<br />

selbst <strong>und</strong> wählen selbst den Weg dorthin. Lehrpersonen<br />

übernehmen eher die Rolle von Lernanregern oder<br />

Lernbegleitern.<br />

Gestalteter Raum: Lernwerkstätten sind zum Lernen<br />

animierende <strong>und</strong> das Lernen befördernde Räume. Das<br />

gelingt durch die Auswahl <strong>und</strong> Anordnung des Materials.<br />

<strong>Die</strong> Gestaltung des Raumes gehört zu den wichtigsten<br />

Aufgaben des Lehrpersonals, das ja in seiner aktiven<br />

Rolle etwas zurück tritt.<br />

Aktive Sammlung: Da ständig Neues erforscht, Neues<br />

gelernt wird <strong>und</strong> anderen Lernern <strong>und</strong> Lernerinnen zur<br />

Verfügung gestellt werden soll, wächst <strong>und</strong> wandelt<br />

sich die Sammlung des Materials. Lernwerkstätten enthalten<br />

zum großen Teil Lernspuren der in ihnen stattfindenden<br />

Lernprozesse, aber auch bewusst neu gesetzte<br />

Impulse.<br />

Erfahrungsaustausch: In Lernwerkstätten treffen sich<br />

am Lernen interessierte Personen, meist Pädagogen.<br />

Sie haben hier die Gelegenheit, sich <strong>mit</strong> Gleichgesinnten<br />

auszutauschen <strong>und</strong> sich ihre Erfahrungen <strong>mit</strong>zuteilen.<br />

Ideenbörse: Dabei stellen sie einander selbstverständlich<br />

auch ihre Ideen zur Verfügung. Von vielen Lernwerkstätten<br />

geht daher eine innovative Dynamik aus. In ihnen<br />

wird gesammelt <strong>und</strong> präsentiert. Das schafft eine<br />

anregende <strong>und</strong> im guten Sinn ansteckende Atmosphäre.<br />

Reflexive Distanz: Lernwerkstätten schaffen durch ihre<br />

andere Akzentuierung die Möglichkeit, zum pädagogischen<br />

Alltag etwas Abstand zu gewinnen. Mit Hilfe dieser<br />

Distanz gelingt es leichter, das eigene pädagogische<br />

Geschäft neu zu reflektieren, vor allem im kollegialen<br />

Gespräch <strong>mit</strong>einander.<br />

Gr<strong>und</strong>idee: Ein konstruktivistisches Verständnis vom<br />

Lernen<br />

In der neueren Lehr-Lern-Forschung hat sich eine<br />

gemäßigt konstruktivistische Auffassung vom Lernen<br />

weitgehend etabliert. Der Gr<strong>und</strong>gedanke ist nicht neu,<br />

auch wenn gerne vom "Neuen Lernen" gesprochen wird. Im<br />

Mittelpunkt steht das aktiv lernende Subjekt, das in seinem<br />

Kopf die <strong>Welt</strong> sozusagen neu rekonstruiert, indem es<br />

auf Gr<strong>und</strong> von Erfahrungen <strong>und</strong> Vorerfahrungen subjektiv<br />

stimmige Theorien generiert, die sich an neuen Erfahrungen<br />

bewähren müssen. Vorläufer dieses Gr<strong>und</strong>gedankens<br />

finden sich sowohl in der internationalen wie auch in der<br />

deutschen Reformpädagogik, auch wenn hier <strong>mit</strong> einem<br />

anderen Vokabular gearbeitet worden ist. Als direkte<br />

„Paten<strong>“</strong> lassen sich u.a. Jean Piaget, Hans Aebli oder die so<br />

genannten radikalen Konstruktivisten wie v. Foerster oder<br />

v. Glasersfeld nennen. Ihnen ging bzw. geht es vor allem<br />

darum, Lernen als eigene Konstruktion der Wirklichkeit zu


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K o n g r e s s d o k u m e n t a t i o n<br />

<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

verstehen - daher auch die Bezeichnung „Konstruktivismus<strong>“</strong>.<br />

.<br />

<strong>Die</strong>se Auffassung lässt sich wie folgt kennzeichnen:<br />

Lernen ist ein aktiver Prozess:<br />

Lernen ist geistige Tätigkeit <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> etwas Aktives; der<br />

Wissenserwerb erfolgt in tätiger Auseinandersetzung <strong>mit</strong><br />

einem Lerngegenstand. <strong>Die</strong>s kann ein manuelles Handeln<br />

sein, aber auch ein aktives Zuhören oder ein gedankliches<br />

Schlussfolgern. Konsequenterweise bedeutet Lehren dann<br />

vor allem, die geistige Aktivität der Lernenden zu provozieren<br />

bzw. anzuregen. In Lernwerkstätten übernimmt weitgehend<br />

der Raum bzw. dessen Gestaltung diese animierende<br />

Funktion.<br />

Lernen ist ein konstruktiver Prozess:<br />

Beim Lernen wird die <strong>Welt</strong> (die Wirklichkeit) sozusagen im<br />

Kopf (re)konstruiert. Das bedeutet, dass neue Informationen<br />

jeweils auf der Basis der vorhandenen kognitiven<br />

Strukturen oder Schemata verarbeitet werden. So baut<br />

sich ein immer dichteres Netz an Wissen (oder an kognitiven<br />

Strukturen) auf, das an die jeweils neuen Erfahrungen<br />

immer wieder angeglichen werden muss. Hier wird vor allem<br />

die wichtige Rolle der Vorerfahrungen für das Lernen<br />

deutlich. Lehren bedeutet unter diesem Gesichtspunkt,<br />

Hilfestellung für eine "tragfähige Konstruktion" zu geben,<br />

was genaues Beobachten voraussetzt. Lernwerkstätten<br />

eröffnen insofern eine noch genauere Beobachtung, als<br />

dass die Lernenden mehr Möglichkeiten des Versuchens<br />

haben.<br />

Lernen erfolgt selbstreguliert:<br />

Der Aspekt der Selbststeuerung schließt nicht nur die nahe<br />

liegende Bedeutung effizienter Lernstrategien ein. Fast<br />

jeder Lehrer / jede Lehrerin hat schon die Erfahrung machen<br />

müssen, dass sich einzelne Schülerinnen <strong>und</strong><br />

Schüler auch den bestgemeinten Lehrbemühungen entziehen.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich entscheidet jeder Lernende nur selbst,<br />

ob <strong>und</strong> wie er Lernimpulse aufnimmt. Lernende sind keine<br />

Lernmaschinen, sondern autonome Menschen <strong>mit</strong> spezifischen,<br />

individuell verschiedenen Lernvoraussetzungen.<br />

Auf der Seite der Lehrenden ist eine Anerkennung der Autonomie<br />

der Lernenden gefordert, die schon darin bestehen<br />

kann, dass den Fragen <strong>und</strong> Versuchen der Lernenden<br />

<strong>mit</strong> Ernst <strong>und</strong> Verständnis begegnet wird. Lernwerkstätten<br />

kommen diesem Aspekt in besonderer Weise entgegen,<br />

weil die gesamte Gestaltung <strong>und</strong> Organisation auf<br />

Selbstregulation abgestellt ist.<br />

Lernen erfolgt kumulativ:<br />

Der konstruktive Charakter des Wissenserwerbs schließt<br />

ein, dass Wissen vorhandenes Wissen (vorhandene Strukturen)<br />

voraussetzt. Folglich werden insbesondere solche<br />

Erfahrungen zu Wissen verarbeitet werden können, für die<br />

bereits Muster oder Schemata vorliegen. Andere Erfahrungen<br />

können sozusagen nicht „angedockt<strong>“</strong>, nicht umgesetzt<br />

werden. Das hat die Bildung von gewissen „Kumuli<strong>“</strong><br />

zur Folge; deutlich wird das bei persönlichen Interessensgebieten,<br />

auf denen auch Laien sich ein hoch differenziertes<br />

Fachwissen aneignen können. Für das Lehren besteht<br />

die Herausforderung darin, die Punkte ausfindig zu machen,<br />

an die sich neue Informationen am besten anschließen<br />

lassen. <strong>Die</strong>se Absicht muss auch der Gestaltung<br />

einer Lernwerkstatt zu Gr<strong>und</strong>e liegen.<br />

Lernen findet in sozialen <strong>und</strong> situativen Kontexten statt:<br />

Kognitive Prozesse finden nicht losgelöst, sondern in der<br />

Regel in kontextueller Einbindung statt. Dabei beeinflussen<br />

diese Kontexte auch das Verarbeiten <strong>und</strong> Verwerten<br />

von Informationen. Sie sind insbesondere hinsichtlich der<br />

Motivation, aber auch hinsichtlich der flexiblen Anwendung<br />

des Wissens von Bedeutung. Folglich schließt Lehren<br />

das bewusste Gestalten dieser Kontexte z.B. in Form<br />

einer Lernwerkstatt <strong>mit</strong> ein.<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong>verständnis heraus ergeben sich einige-<br />

Anforderungen an die Gestaltung von Lernwerkstätten. Sie<br />

dürfen nicht nur tote Sammlungen von beliebigem Material<br />

sein, auch dürfen sie nicht ohne Rücksicht auf die Nutzer<br />

<strong>und</strong> deren Interessen eingerichtet werden. Eine Lernwerkstatt<br />

für Kinder muss anders aussehen als eine Lernwerkstatt<br />

für erwachsene Pädagogen. Doch beide sollen sich<br />

als <strong>neugierig</strong> Lernende erfahren können. Sie müssen das<br />

Lernen als lebendiges Gr<strong>und</strong>bedürfnis, so wie sie es in der<br />

frühen Kindheit in Alltagssituationen erfahren haben, wieder<br />

spüren können <strong>und</strong> davon geleitet werden.<br />

Lernwerkstätten müssen die Neugier <strong>und</strong> das Interesse<br />

der Nutzer <strong>und</strong> Nutzerinnen bewusst herausfordern. Sie<br />

müssen sie aktivieren, dass sie sich handelnd <strong>mit</strong> anspruchsvollen<br />

Problemen auseinander setzen <strong>und</strong> dabei<br />

unterschiedliche Kompetenzen ausbilden können. Der Verschiedenheit<br />

der Lernerinnen <strong>und</strong> Lerner müssen sich<br />

Lernwerkstätten durch Vielfalt stellen, Vielfalt an Themen,<br />

Vielfalt an möglichen Lernwegen, Vielfalt an Zugängen,<br />

Vielfalt an Erfahrungsmöglichkeiten. Da<strong>mit</strong> sich selbstreguliertes<br />

Lernen entwickeln kann, muss Orientierung für<br />

die Lernerinnen <strong>und</strong> Lerner gesichert werden. Das geschieht<br />

vor allem durch eine klare <strong>und</strong> übersichtliche<br />

Struktur in räumlicher, zeitlicher <strong>und</strong> organisatorischer<br />

Hinsicht. Wenn jeder weiß, was wann wo stattfindet, was<br />

wo zu finden ist, welche Regeln in der Lernwerkstatt gelten,<br />

wie die zur Verfügung gestellten Werkzeuge zu bedienen<br />

sind, werden „Reibungsverluste<strong>“</strong> im Lernprozess ver-


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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

mieden. Man kann sich auf den Gegenstand, die Problemstellung<br />

<strong>und</strong> das Lernen selbst konzentrieren. <strong>Die</strong> eine<br />

Forderung, die bildungspolitisch hoch aktuell ist. Lernende<br />

erfahren sich als Akteure ihrer eigenen Bildung.<br />

Lernwerkstätten – Impulse für Bildung<br />

Bildung ist im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert zum „Megathema<strong>“</strong> geworden.<br />

<strong>Die</strong> Herausforderungen der Zukunft werden sich nur<br />

meistern lassen, wenn ausreichend gebildete <strong>und</strong> ausgebildete<br />

Menschen zur Verfügung stehen. Investitionen in<br />

Bildung sind Zukunftsinvestitionen ersten Ranges. Nimmt<br />

man die Prognosen der Zukunftsforscher ernst, so lassen<br />

sich einige Herausforderungen schon relativ klar umreißen.<br />

Angesichts weiter wachsender Pluralität wird es<br />

auf autonome <strong>und</strong> urteilsfähige Persönlichkeiten ankommen.<br />

Bildung wird nicht <strong>mit</strong> Abschluss der Berufsausbildung<br />

abgeschlossen sein. Lebensbegleitendes Lernen <strong>und</strong><br />

Lernfähigkeit bis ins Alter werden gefragt sein. Angesichts<br />

der Umwälzungen auf dem Gebiet der Arbeit wird von den<br />

Menschen Flexibilität <strong>und</strong> Mobilität gefordert sein. Kreativität<br />

wird einen neuen hohen Stellenwert erlangen. Es wird<br />

darauf ankommen, sich in einer immer komplexer werdenden<br />

<strong>Welt</strong> zurecht zu finden. Das gelingt nur auf der Basis<br />

hoch entwickelter persönlicher Kompetenzen, die im Lauf<br />

einer Bildungsbiografie erworben werden. Schule <strong>und</strong><br />

Hochschule allein können dies nicht gewährleisten. Bildung<br />

muss zur Angelegenheit der gesamten Gesellschaft<br />

werden. Jeder <strong>und</strong> jede Einzelne sollte nicht nur Gelegenheit<br />

erhalten, sich die nötigen Kompetenzen anzueignen,<br />

er oder sie sollte auch lernen, die Verantwortung für das eigene<br />

Lernen selbst zu übernehmen <strong>und</strong> in diesem Sinn die<br />

eigene Lernfähigkeit weiter zu entwickeln. Der oben skizzierte<br />

konstruktivistische Lernbegriff schließt gut an diese<br />

Vorstellungen an. Daher ist es sicher nicht verstiegen,<br />

Lernwerkstätten eine Rolle in der zukunftsorientierten Bildungslandschaft<br />

zuzuweisen.<br />

Es bleibt aber zu prüfen, wo Lernwerkstätten am besten<br />

institutionell zu verorten sind. Gr<strong>und</strong>sätzlich schließen<br />

sich <strong>neugierig</strong> forschendes Lernen <strong>und</strong> Schule nicht aus,<br />

dient doch die Schule dem Lebendigen, wie der eingangs<br />

zitierte Ausspruch Albert Einsteins es treffend ausdrückt.<br />

Widerspricht aber die starke Betonung der Selbstbestimmung<br />

beim Lernen nicht dem Pflichtcharakter von schulischer<br />

Bildung? Schulen haben staatlich verordnete Curricula<br />

zu erfüllen. Je engmaschiger diese „gestrickt<strong>“</strong> sind,<br />

desto kleiner sind die Freiräume für selbstbestimmtes<br />

Lernen. Voraussetzung für diese Art des Lernens aber ist<br />

genügend Freiraum. Forschendes, selbstbestimmtes Lernen<br />

erfordert insbesondere auch Zeit, wie sie in unserer<br />

Schule in der Regel nicht zur Verfügung steht. Erst lang-<br />

sam setzt <strong>mit</strong> der Einführung von mehr Ganztagsangeboten<br />

eine Veränderung ein. Um die Gr<strong>und</strong>idee der Lernwerkstatt<br />

zu etablieren – im Raum der Schule <strong>und</strong> im Raum<br />

außerhalb der Schule – ist also mehr Freiraum <strong>und</strong> mehr<br />

Zeit nötig. <strong>Die</strong> Schule allein könnte da<strong>mit</strong> überfordert sein.<br />

Denkbar sind daher „Bildungspartnerschaften<strong>“</strong> <strong>mit</strong> Partnern,<br />

die ihrer Konzeption nach eher dem nicht-formellen<br />

Lernen verpflichtet sind wie z.B. Kindertagesstätten, Horte<br />

oder Anbieter kultureller Bildung. <strong>Die</strong> Partner hätten<br />

über Lernwerkstätten einen gemeinsamen Bezugs- <strong>und</strong><br />

Begegnungspunkt. Lernwerkstätten könnten als Brücken<br />

zwischen den Bildungsbereichen fungieren <strong>und</strong> auf diese<br />

Weise zur oft geforderten Kooperation zwischen schulischer<br />

<strong>und</strong> außerschulischer Bildung beitragen.<br />

Darüber hinaus dürften von diesen Lernwerkstätten Impulse<br />

für eine neue Lernkultur ausgehen, die in alle beteiligten<br />

Bildungsbereiche ausstrahlen sollten. Man könnte<br />

sie sich als „Sauerteig<strong>“</strong> für eine neue Lernkultur vorstellen,<br />

die die Gr<strong>und</strong>idee des selbstbestimmten <strong>und</strong> selbstregulierten<br />

Lernens verbreiten. Das gelänge über die Brückenfunktion<br />

zwischen den Institutionen. <strong>Die</strong> Art des Lernens<br />

in Lernwerkstätten lässt außerdem erwarten, dass hier<br />

dem für die Zukunft bedeutsamen kreativen Denken eine<br />

größere Chance gegeben ist als in der manchmal zu stark<br />

regulierten Schule. Von der Lernwerkstatt könnte der Funke<br />

der Erneuerung der eingefahrenen Vorstellung vom Lernen<br />

auf die gesamte Bildungslandschaft überspringen.<br />

¹Lernwerkstätten sind (...) Räume, die voller Material stecken <strong>und</strong> in denen<br />

sich Erwachsene, manchmal auch Kinder, treffen, um sich <strong>mit</strong> diesen Materialien<br />

lernend auseinander zu setzen - durch eigenes Tun <strong>und</strong> aktive Nutzung<br />

all dessen, was in diesen Räumen vorhanden ist, durch Sichten des Materials<br />

für eine spätere Verwendung in anderen Lernzusammenhängen oder<br />

durch Gespräche über pädagogische Fragen in Arbeits- bzw. Beratungssituationen.<br />

Lernwerkstätten erscheinen häufig wie ‚offene Klassenzimmer' <strong>und</strong><br />

wollen für diesen Typ von Lernumgebung auch in Grenzen ein Modell abgeben.<br />

Man findet deshalb in Lernwerkstätten meist verschiedenen Arbeitsbereiche<br />

(Schreiben <strong>und</strong> Drucken, Experimentieren, künstlerischer Ausdruck,<br />

Mathematik, Naturerk<strong>und</strong>ung, Textilarbeit usw.) <strong>mit</strong> der entsprechenden Ausstattung,<br />

dazu Ausstellungen von Projektergebnissen <strong>und</strong> gelegentlich<br />

selbst entwickelte Arbeitsmaterialien, die an InteressentInnen zur Erprobung<br />

weitergegeben werden, oder auch das Lehr<strong>mit</strong>tel-Angebot aus pädagogischen<br />

Verlagen, Kleinverlagen <strong>und</strong> Materialvertrieben." (Ernst, Karin 1990,<br />

zit. nach: Ernst, Karin & Wedekind, Hartmut: Lernwerkstätten - eine Übersicht,<br />

in: Ernst, Karin & Wedekind, Hartmut (Hg.): Lernwerkstätten in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland <strong>und</strong> Österreich. Eine Dokumentation. Frankfurt:<br />

Gr<strong>und</strong>schulverband 1993, S. 9 - 32, S. 9)<br />

Angelika Speck-Hamdan, Prof. Dr., ist seit 1995<br />

Professorin für Gr<strong>und</strong>schulpädagogik <strong>und</strong> -didaktik an<br />

der Universität München. Ihre Arbeitsschwerpunkte<br />

sind u.a. Lehren <strong>und</strong> Lernen, neue Medien im Unterricht,<br />

Schriftspracherwerb <strong>und</strong> interkulturelles<br />

Lernen. <strong>Die</strong> Lernwerkstatt an der LMU München geht<br />

wesentlich auf ihre Initiative zurück.


Seite: 17<br />

K o n g r e s s d o k u m e n t a t i o n<br />

<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

ERNST PETER FISCHER<br />

Wovon man nicht sprechen kann, das muss man erzählen<br />

POETISCHE HILFEN FÜR DIE WISSENSCHAFTEN VON DER NATUR<br />

In einem Rahmen, der Wissenschaft <strong>und</strong> Poesie umfassen<br />

soll, ist es vielleicht angemessen, <strong>mit</strong> einem Märchen zu<br />

beginnen, das ein Physiker einmal erzählt hat, um zu erläutern,<br />

wohin seine Tätigkeit führen kann: „Es gab einen<br />

Rabbiner, der wegen seiner Weisheit berühmt war <strong>und</strong> zu<br />

dem alle Leute kamen, um seinen Rat einzuholen. Ein<br />

Mann besuchte ihn einmal voller Verzweiflung über all die<br />

Veränderungen, die um ihn herum vor sich gehen. Er jammerte<br />

über den Schaden, den der so genannte technische<br />

Fortschritt verursache: ´Ist nicht diese ganze technische<br />

Plage vollständig wertlos´, sagte er, ´wenn man an die<br />

wirklichen Werte des Lebens denkt?´ Aber der Rabbiner<br />

antwortete: ´Alles vermag uns zu lehren. Nicht bloß alles,<br />

was Gott geschaffen hat, auch alles, was der Mensch gemacht<br />

hat, vermag uns zu lehren.´ – ´Was können wir´,<br />

fragte der Mann zweifelnd, ´von der Eisenbahn lernen?´<br />

– ´Dass man um eines Augenblicks willen alles versäumen<br />

kann.´ – ´Und vom Telegrafen?´ – ´Dass jedes Wort<br />

gezählt <strong>und</strong> angerechnet wird.´ – Und vom Telefon?´<br />

– ´Dass man dort hört, was wir hier reden.´ Der Besucher<br />

verstand, was der Rabbiner meinte <strong>und</strong> ging davon.<strong>“</strong> Es ist<br />

kein Geringerer als Werner Heisenberg, der dieses (<strong>und</strong><br />

andere) Märchen nutzt, um sich <strong>und</strong> seine Wissenschaft<br />

für ein breites Publikum verständlich zu machen, wie in aller<br />

Ausführlichkeit in meiner Biografie „Das selbstvergessene<br />

Genie<strong>“</strong> nachzulesen ist. Für Heisenberg war der Gedanke<br />

selbstverständlich, als gebildeter Mensch sowohl<br />

Interesse am naturwissenschaftlichen Denken als auch<br />

an Kenntnissen von literarischen Texten zu haben. Dass<br />

es zwischen diesen beiden Bereichen eine Spaltung in<br />

zwei <strong>Kultur</strong>en geben könnte, wie sie der englische Romancier<br />

<strong>und</strong> Physiker Charles P. Snow 1959 diagnostizierte<br />

<strong>und</strong> benannte, wäre Heisenberg nur schwer zu ver<strong>mit</strong>teln<br />

gewesen. Für ihn wäre die Trennung bestenfalls der „Snow<br />

vom vergangenen Jahr<strong>“</strong> gewesen <strong>und</strong> tatsächlich lässt<br />

sich bei näherer Betrachtung immer erkennen, dass die<br />

Themen, die in der Literatur <strong>und</strong> in der Naturwissenschaft<br />

ihren Ausdruck finden, vielleicht oberflächlich verschieden<br />

sind, in der Tiefe aber zusammenhängen.<br />

<strong>Die</strong>s lässt sich besonders gut an dem Beispiel belegen,<br />

das Snow benutzt, um seine Unterscheidung von zwei <strong>Kultur</strong>en<br />

einzuführen. Es geht um Shakespeares Sonette <strong>und</strong><br />

den Zweite Hauptsatz der Thermodynamik, die jeder gebildete<br />

Mensch kennen sollte. Wer dieses Duo zur Sprache<br />

bringt, wird sicher eher Gegenüber finden, die bei dem<br />

physikalischen Lehrsatz die Schulter zucken <strong>und</strong> nicht<br />

wissen, was er aussagt: nämlich, dass eine komplizierte<br />

Variable der Wärmelehre <strong>mit</strong> Namen Entropie nicht abnehmen<br />

<strong>und</strong> nur größer werden kann. Das <strong>Kunst</strong>wort „Entropie<strong>“</strong><br />

ist von Physikern des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts so gebildet<br />

worden, dass es ähnlich wie Energie klingt <strong>und</strong> die Absicht<br />

lag darin, <strong>mit</strong> seiner Hilfe dem Ersten Hauptsatz der Thermodynamik,<br />

der die Erhaltung der Energie festhält, einen<br />

Zweiten an die Seite zu stellen, der helfen sollte, das Funktionieren<br />

von Maschinen zu verstehen, um ihren Wirkungsgrad<br />

verbessern zu können. Der gef<strong>und</strong>ene Hauptsatz<br />

konstatierte das Wachsen der Entropie, die als<br />

messbare Größe so zunimmt, wie die Ordnung in einem<br />

Kinderzimmer abnimmt, wenn niemand aufräumt, aber<br />

auf Details kommt es nicht an. Wichtig ist, dass <strong>mit</strong> diesem<br />

Konzept <strong>und</strong> seinem Hauptsatz die Physik in der Lage<br />

ist, die Richtung zu bestimmen, in der die Zeit läuft – eben<br />

hin zu größerer Entropie.<br />

Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik ist also eine<br />

Aussage über die Zeit, <strong>und</strong> genau um diese geheimnisvolle<br />

Entität geht es ebenfalls in Shakespeares Sonetten, wenigstens<br />

zu einem Teil. Während der Dichter versucht, die<br />

Zeit festzustellen, um die Geliebte im Gedicht unsterblich<br />

(„ewig<strong>“</strong>) zu machen, drückt der Physiker <strong>mit</strong> seinem Naturgesetzen<br />

aus, dass dies in Wirklichkeit nicht geht.<br />

Natürlich zerstört die Wissenschaft da<strong>mit</strong> manchen süßen<br />

Traum, <strong>und</strong> natürlich ist es schöner, von der Liebe zu lesen,<br />

als zur Kenntnis zu nehmen, was im Leben tatsächlich<br />

passiert. Doch die kühne Annahme, dass jeder Shakespeares<br />

Sonette <strong>und</strong> niemand den zitierten Hauptsatz<br />

kennt, ist unsinnig, wie jede Gegenprobe in jedem Hörsaal<br />

bei jeder Vorlesung bestätigt. Man hat zwar davon gehört,<br />

dass es Shakespeares Sonette gibt. Aber von dieser<br />

Kenntnis bis zu ihrem Kennen ist noch ein langer Weg,<br />

den die meisten so wenig gehen wie zum Zweiten Hauptsatz<br />

der Thermodynamik. Dabei lohnt sich die Auseinandersetzung<br />

<strong>mit</strong> ihm, die es auch poetisch gibt, nämlich<br />

etwa in dem Roman „Gravity's Rainbow<strong>“</strong> von Thomas<br />

Pynchon („Das Ende der Parabeln<strong>“</strong>).<br />

<strong>Die</strong> Idee der Komplementarität<br />

In diesem Beitrag wird die Ansicht vertreten, dass die beiden<br />

<strong>Kultur</strong>en der literarischen Intelligenz <strong>und</strong> des wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisstrebens vielfach in einem Verhält-


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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

nis zueinander stehen, das man <strong>mit</strong> dem Ausdruck Komplementarität<br />

belegen kann. Mit der Idee der Komplementarität<br />

wird die Tatsache anerkannt, dass keine einzelne<br />

Beschreibung der <strong>Welt</strong> ausreicht, um sie zu erfassen. Zu<br />

jeder Beschreibung der Natur (bzw. des Wirklichen) gibt<br />

es eine andere, die der ersten zwar widerspricht, die aber<br />

<strong>mit</strong> ihr gleichberechtigt ist. Komplementäre Beschreibungen<br />

sind richtig, ohne die vollständig Wahrheit zu enthalten<br />

<strong>und</strong> das bekannteste Beispiel liefert die anschauliche<br />

Darstellung der atomaren Eigenschaften durch das duale<br />

Begriffspaar Welle <strong>und</strong> Teilchen. Elektronen können sich<br />

sowohl als Wellen als auch als Partikel verhalten <strong>und</strong><br />

ihnen kommen diese zugleich widersprüchlichen <strong>und</strong> zusammengehörenden<br />

Eigenschaften in Experimenten zu,<br />

die sich gegenseitig ausschließen.<br />

<strong>Die</strong> Idee der Komplementarität lässt sich auch auf die gesamte<br />

Natur anwenden, die wir als die Mutter ansehen<br />

könne, die uns hervorgebracht hat, die wir aber auch als<br />

Rohstofflieferantin nutzen können. Und wer sich w<strong>und</strong>ert,<br />

wieso es keine einheitliche Farbenlehre gibt, sondern immer<br />

noch über die Frage gestritten wird, wer das Wesen<br />

der Farben besser erfasst, der analysierende Physiker<br />

Newton oder der schauende Dichter Goethe, kann die Lösung<br />

in der Idee der Komplementarität finden. Was Goethe<br />

denkt, ist komplementär zu dem, was Newton meint, wie<br />

sich etwa zeigen lässt, wenn man fragt, was in der jeweiligen<br />

Theorie als einfach angesehen wird. Für den Physiker<br />

ist rotes Licht einfach, weil es sich durch eine Wellenlänge<br />

charakterisieren lässt. Für den Dichter ist das Sonnenlicht<br />

einfach, weil es ohne Hilfs<strong>mit</strong>tel <strong>und</strong> ohne Zerlegung dem<br />

Auge gegeben ist.<br />

Komplementarität scheint eine umfassende Wirklichkeit<br />

des Lebens zu sein, denn wir alle unterscheiden tagtäglich<br />

zwischen Dingen, über die man sich einigen kann, <strong>und</strong><br />

Dingen, die uns etwas bedeuten. Auch gibt es Fragen, die<br />

sich <strong>mit</strong> Informationen beantworten lassen, z.B. „Wie viele<br />

Wörter enthält dieser Text?<strong>“</strong> <strong>und</strong> Fragen, bei denen dies<br />

nicht der Fall ist, z.B. „Wie gut ist dieser Text?<strong>“</strong> <strong>und</strong> die also<br />

etwas anderes brauchen. Für unsere Zwecke macht es<br />

auch Sinn, das Verhältnis von <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft <strong>mit</strong><br />

dem Begriff der Komplementarität zu bezeichnen <strong>und</strong> es<br />

ist wohl der amerikanische Schriftsteller Raymond Chandler<br />

gewesen, der am besten ausgedrückt hat, wie dies im<br />

Detail verstanden werden kann. In einem Tagebucheintrag<br />

aus dem Jahre 1938 notiert Chandler in einem „Notebook<strong>“</strong><br />

unter der Überschrift „Großer Gedanke<strong>“</strong> folgende Sätze: „Es<br />

gibt zwei Arten von Wahrheit: <strong>Die</strong> Wahrheit, die den Weg<br />

weist, <strong>und</strong> die Wahrheit, die das Herz wärmt. <strong>Die</strong> erste<br />

Wahrheit ist die Wissenschaft <strong>und</strong> die zweite ist die <strong>Kunst</strong>.<br />

Keine ist unabhängig von der anderen oder wichtiger als<br />

die andere. Ohne <strong>Kunst</strong> wäre die Wissenschaft so nutzlos<br />

wie eine feine Pinzette in der Hand eines Klempners. Ohne<br />

Wissenschaft wäre die <strong>Kunst</strong> ein wüstes Durcheinander<br />

aus Folklore <strong>und</strong> emotionaler Scharlatanerie. <strong>Die</strong> Wahrheit<br />

der <strong>Kunst</strong> verhindert, dass die Wissenschaft unmenschlich<br />

wird <strong>und</strong> die Wahrheit der Wissenschaft verhindert,<br />

dass die <strong>Kunst</strong> sich lächerlich macht."<br />

Wittgensteins Irrtümer<br />

Mit diesen Ausführungen wird nach <strong>und</strong> nach erkennbar,<br />

wie der Titel des Beitrags gemeint ist, nämlich als eine Ermutigung,<br />

den Erkenntnissen der Wissenschaft eine poetische<br />

Form zu geben. Sie kann <strong>und</strong> wird beiden nutzen:<br />

den Leuten in der Wissenschaft, also den Forschern, ebenso<br />

wie den Leuten vor der Wissenschaft, also der Öffentlichkeit.<br />

Natürlich ist die Überschrift nach dem letzten Satz geformt,<br />

dem die Ziffer 7 vorangestellt ist <strong>und</strong> <strong>mit</strong> dem der<br />

Philosoph Ludwig Wittgenstein seinen „Tractatus logicophilosophicus<strong>“</strong><br />

abschließt: „Wovon man nicht sprechen<br />

kann, darüber muss man schweigen.<strong>“</strong> <strong>Die</strong>se kühne Behauptung<br />

ist 1921 zum ersten Mal in Buchform erschienen<br />

<strong>und</strong> unentwegt wiederholt worden. Hier wird die Überzeugung<br />

geäußert, dass sie satzunsinnig ist, weil sie etwas<br />

übersieht <strong>und</strong> zwar ebenso wie der Satz <strong>mit</strong> der Ziffer 1,<br />

<strong>mit</strong> dem der Tractatus beginnt. <strong>Die</strong> einleitende Auskunft<br />

des Philosophen lautet: „<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> ist alles, was der Fall ist<strong>“</strong>,<br />

<strong>und</strong> da<strong>mit</strong> verpasst er mindestens die Hälfte des Ganzen,<br />

um das es ihm geht. <strong>Die</strong> moderne Physik kann schon zu<br />

Wittgensteins Lebzeiten eine umfassendere Variante anbieten,<br />

wie sie etwa bei Anton Zeilinger nachzulesen ist. In<br />

seinem Buch „Einsteins Schleier<strong>“</strong> (2003) schreibt der<br />

österreichische Physiker: „<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> ist alles, was der Fall<br />

ist, <strong>und</strong> auch alles, was der Fall sein könnte.<strong>“</strong><br />

Wenn wir nun vom ersten zum schon erwähnten letzten<br />

Satz springen – „Wovon man nicht sprechen kann, darüber<br />

muss man schweigen<strong>“</strong> -, zeigt sich, dass auch er ergänzt<br />

<strong>und</strong> variiert werden muss <strong>und</strong> zwar vielleicht so, wie es im<br />

Titel versucht worden ist: Wovon man nicht sprechen<br />

kann, darüber muss man nicht schweigen, davon kann<br />

man erzählen. Mut zu dieser Variante haben als erste die<br />

Physiker gehabt, vor allem Werner Heisenberg <strong>und</strong> Niels<br />

Bohr. Bei Heisenberg kann man den Satz finden, „Worüber<br />

man nicht reden kann, darüber muss man sich verständigen,<br />

darüber muss man einen Dialog führen <strong>und</strong> es ist die<br />

Aufgabe des Wissenschaftlers, da<strong>mit</strong> zu beginnen, um den<br />

Weg zu der <strong>Welt</strong> zu bereiten, die zu finden er in der Lage


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<strong>und</strong> die zu kennen sein Privileg ist". Und Bohr hat um 1950<br />

immer wieder betont, dass die Atomphysik (Quantenmechanik)<br />

ein Beispiel dafür liefert, dass man einen Sachverhalt<br />

klar verstanden haben kann <strong>und</strong> doch weiß, dass sich<br />

nur in Bildern <strong>und</strong> Gleichnissen darüber reden lässt.<br />

Wir müssen diese Bilder <strong>und</strong> Gleichnissen finden, um zu<br />

sagen bzw. zu erzählen, was ein Atom wirklich ist. <strong>Die</strong>s ist<br />

deshalb keineswegs so einfach wie die Philosophie meint,<br />

weil das Atom eben nicht etwas ist, was der Fall ist. Das<br />

Atom ist schon lange kein unteilbarer Gegenstand mehr –<br />

es ist also kein Atom im ursprünglichen Wortsinn. Es ist<br />

überhaupt kein Gegenstand – es kann z.B. weder eine Farbe<br />

noch eine Temperatur haben -, weshalb auch der oft<br />

gehörte Satz "<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> ist aus Atomen aufgebaut" keinen<br />

Sinn macht <strong>und</strong> ins Leere zielt. Atome sind nichts, aus<br />

denen man etwas aufbauen kann; sie werden durch komplexe<br />

(imaginäre) mathematische Funktionen beschrieben<br />

<strong>und</strong> repräsentieren eine Wirklichkeit (keine Realität),<br />

die eher eine Möglichkeit (Potentia) ist, wie es Zeilinger<br />

ausdrückt. Atome werden uns als Form zugänglich <strong>und</strong> sie<br />

unterscheiden sich von der konkret sichtbaren Realität<br />

(angeleitet vom lateinischen res) deutlich.<br />

In einem Text von Werner Heisenberg aus den 1940er Jahren,<br />

dem andere später den Titel "Ordnung der Wirklichkeit"<br />

gegeben haben <strong>und</strong> der in seinen Gesammelten Werken<br />

von 1984 zu finden ist, versucht sich der Physiker an<br />

der Aufgabe, das wissenschaftlich Erkannte <strong>und</strong> mathematisch<br />

Beherrschte in die Worte eines Märchens zu bringen:<br />

„Auf die Frage, wie denn die Wirklichkeit eigentlich<br />

sei, kann man kaum anders antworten als auf die alte Frage<br />

im Märchen: Wie lange dauert denn die Ewigkeit? Am<br />

Ende der <strong>Welt</strong> steht ein Berg, ganz aus Diamant, <strong>und</strong> alle<br />

h<strong>und</strong>ert Jahre fliegt ein Vögelchen dorthin <strong>und</strong> wetzt seinen<br />

Schnabel, <strong>und</strong> wenn der ganze Berg abgetragen ist,<br />

dann wird erst eine Sek<strong>und</strong>e der Ewigkeit vergangen sein.<strong>“</strong><br />

Gemeinsamkeiten von <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft<br />

Das Verhältnis aus <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft ist natürlich<br />

keineswegs umfassend beschrieben, wenn man es unter<br />

dem Aspekt der Komplementarität sieht. Vielmehr lassen<br />

sich historisch viele Gemeinsamkeiten nachweisen <strong>und</strong><br />

die wohl nachhaltigste hat sich am Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

gezeigt, als sowohl den Wissenschaftlern als<br />

auch den Künstlern der Gegenstand abhanden gekommen<br />

ist, den sie erfassen wollten. In der Physik wandelte sich<br />

das Bild des Atoms von einem Planetensystem im Kleinen<br />

<strong>mit</strong> kleinen Kügelchen (Elektronen), die um klobigere Kugeln<br />

kreisen (Atomkern) zu einem symmetrisch fassbaren<br />

Formengebilde. Und in der Malerei wechselten die Bilder<br />

etwa von Wassilij Kandinsky von Motiven, auf denen noch<br />

Gegenstände erkennbar sind (Telegrafenmasten, Eisenbahnzüge,<br />

Wolken), über Darstellungen, die mehr freie<br />

Farben als erkennbare Formen (etwa die eines Rückens<br />

oder eines Klaviers) zeigen, hin zu den völlig abstrakten<br />

Gemälden seiner Kompositionen. <strong>Die</strong> alte Frage, warum die<br />

modernen Maler abstrakt malen, kann im Anschluss an<br />

diese Parallelität übrigens einfach beantwortet werden:<br />

Bilder sind abstrakt, weil die <strong>Welt</strong> so ist. Denn wenn etwa<br />

eine Pflanze eigentlich aus Atomen besteht, dann besteht<br />

sie in der uns zugänglichen Tiefe der Wirklichkeit aus den<br />

Formen, <strong>mit</strong> denen die Physiker die Atome erfassen<br />

können.<br />

Übrigens hat der Wandel der Physik hin zum dinglosen Verständnis<br />

von Atomen begonnen, nachdem die Physiker –<br />

unter Anleitung von Einstein – gelernt hatten, die Objekte<br />

ihrer Begierde zu zählen. Da die Gegenwart vor allem <strong>mit</strong><br />

dem Zählen der Gene in Genomen beschäftigt ist, darf man<br />

den Verdacht bzw. die Hoffnung äußern, dass im Falle<br />

eines Erfolges etwas Vergleichbares passiert, dass dann<br />

nämlich auch die Gene aufhören, Dinge zu sein. Wer die<br />

ganze Palette der Phänomene anschaut, die Genforscher<br />

durch ihre Lieblingsobjekte erklären wollen, wird da<strong>mit</strong><br />

ohnehin rechnen. Denn die Gene sind längst so gespalten<br />

wie das komplementäre Atom, das Welle <strong>und</strong> Teilchen zugleich<br />

ist. Gene sind stabil (im Organismus) <strong>und</strong> instabil<br />

(in der Evolution) zugleich, sie sind sowohl Molekül als<br />

auch Information, sie kommen uns als flexibles Material<br />

<strong>und</strong> als planendes Steuerzentrum entgegen. Sie geben<br />

einem Individuum seine Wirklichkeit, liefern der Evolution<br />

ihre Möglichkeiten.<br />

Solch eine Situation ruft im Sinne von Bohr nach einer<br />

literarischen Festlegung des Gens <strong>und</strong> einen ersten Versuch<br />

hat sich der Berliner Wissenschaftshistoriker Hans-<br />

Jörg Rheinberger vorgenommen, als er den berühmten<br />

Satz von Gertrude Stein, „Eine Rose ist eine Rose ist eine<br />

Rose<strong>“</strong> weiterführte <strong>und</strong> formulierte: „Ein Gen ist ein Gen ist<br />

ein Gen<strong>“</strong>. Vielleicht kann man dieser Festlegung zwei Varianten<br />

an die Seite stellen, die den dynamischen Charakter<br />

der Gene besser erfassen, also zum Beispiel „Ein Gen ist<br />

ein Gen wird ein Gen<strong>“</strong> oder „Ein Gen ist ein Gen macht ein<br />

Gen<strong>“</strong>. Auf dieses Thema kommen wir ganz zuletzt noch<br />

einmal zurück.<br />

Heisenberg auf Helgoland<br />

Wenn es um das Verhältnis von <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft<br />

geht, taucht früher oder später die Frage nach der Kreati-


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vität auf. Und wer sich ihr annimmt, wird bald bemerken,<br />

dass da sehr einseitig geurteilt wird. Nur Künstler scheinen<br />

kreativ zu sein <strong>und</strong> schöpferische Momente zu erfahren,<br />

während die Forscher bestenfalls systematisch vorgehen<br />

<strong>und</strong> Glücksmomente kennen. <strong>Die</strong>se Einseitigkeit<br />

hat aber vor allem da<strong>mit</strong> zu tun, dass sich weder modische<br />

Kreativitätsforscher noch ernsthafte Geisteswissenschaftler<br />

ausreichend <strong>mit</strong> den Hervorbringungen der Naturforscher<br />

befasst haben. Natürlich sind Physiker kreativ<br />

<strong>und</strong> das eindrucksvollste Beispiel liefert Heisenberg, dessen<br />

wichtige Aufforderung zum Dialog erneut zitiert werden<br />

soll, um die Betonung diesmal anders zu setzen:<br />

"Worüber man nicht reden kann, darüber muss man sich<br />

verständigen, darüber muss man einen Dialog führen, <strong>und</strong><br />

es ist die Aufgabe des Wissenschaftlers, da<strong>mit</strong> zu beginnen,<br />

um den Weg zu der <strong>Welt</strong> zu bereiten, die zu finden er<br />

in der Lage <strong>und</strong> die zu kennen sein Privileg ist." Heisenberg<br />

stellt in seiner Autobiografie "Der Teil <strong>und</strong> das Ganze"<br />

(1969) den Mut dar, den es braucht, einen neuen Weg<br />

wirklich zu gehen – was anders ist denn Kreativität, als einen<br />

neuen Weg zu finden? -, <strong>und</strong> er stellt sein Erleben im<br />

entscheidenden Moment dar: „Ich hatte das Gefühl, durch<br />

die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf<br />

einen tief darunter liegenden Gr<strong>und</strong> von merkwürdiger innerer<br />

Schönheit zu schauen <strong>und</strong> es wurde mir fast<br />

schwindlig bei dem Gedanken, dass ich nun dieser Fülle<br />

von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die<br />

Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte.<strong>“</strong><br />

Was Heisenberg in seinen Erinnerungen beschreibt, kann<br />

als mystisches Einheitserlebnis verstanden werden, das<br />

durch mathematische Symbole ver<strong>mit</strong>telt wird. Wir lesen<br />

von der un<strong>mit</strong>telbaren Erfahrung einer anderen Wirklichkeit,<br />

die allerdings nicht – als etwas Göttliches – höher,<br />

sondern – als etwas Ästhetisches – tiefer liegt <strong>und</strong> so<strong>mit</strong><br />

der humanen Sphäre verhaftet bleibt. Das visionäre Erleben<br />

lässt Heisenberg erglühen <strong>und</strong> erzeugt in ihm eine<br />

Hochstimmung, die ihn sein Leben riskieren lässt, wie seine<br />

Autobiografie nicht explizit ausdrückt, aber implizit erkennen<br />

lässt. Es ist unbegreiflich <strong>und</strong> für die Zunft beschämend,<br />

dass diese Passagen aus Heisenbergs Werk<br />

nicht das geringste Interesse auf Seiten der Geisteswissenschaftler<br />

gef<strong>und</strong>en haben. Dabei schildert Heisenberg<br />

die Entdeckung einer völlig neuen <strong>Welt</strong> – man könnte es<br />

sein inneres Amerika nennen, weil er sich wie Kolumbus<br />

fühlt, der weiß, dass von einem gewissen Punkt eine Rückkehr<br />

ausgeschlossen ist -, deren wesentliche Dimension<br />

den merkwürdig schönen Namen „imaginär<strong>“</strong> führt. Heisenbergs<br />

Weg führt zu der Einsicht, dass die Realität nicht<br />

durch Funktionen <strong>mit</strong> der gleichen Qualität erfasst werden<br />

kann. <strong>Die</strong> neue Physik zeigt, dass imaginäre – imagina-<br />

tive? – Dimensionen nötig sind, um die wirkliche <strong>Welt</strong> daraus<br />

beleiten zu können, <strong>und</strong> jede Determiniertheit geht bei<br />

dem Versuch verloren, in die Wirklichkeit zu gelangen.<br />

Am Ausgangspunkt von Heisenbergs Aufbruch in das neue<br />

Land der Physik stand ein Satz, der deutlicher als viele andere<br />

ausdrückt, welche Form der Physik <strong>mit</strong> ihm <strong>und</strong> seiner<br />

Zeit zu Ende gegangen ist. Heisenberg gelingt die zutreffende<br />

Beschreibung des atomaren Verhaltens von dem<br />

Augenblick an, in dem er sich zu der Sicht entscheidet, die<br />

in seinen Worten so lautet: „<strong>Die</strong> Bahn des Elektrons entsteht<br />

erst dadurch, dass wir sie beobachten.<strong>“</strong><br />

Es ist klar, dass <strong>mit</strong> dem Erfolg dieses Ansatzes die Rückkehr<br />

des Subjekts in die unbarmherzig objektive <strong>Welt</strong> der<br />

Physik unvermeidlich wird, was Einstein so ausgedrückt<br />

hat: „Physikalische Theorien sind freie Erfindungen des<br />

menschlichen Geistes<strong>“</strong>. Wenn man will, kann man der modernen<br />

Physik hier einen alten <strong>Kultur</strong>begriff unterschieben<br />

<strong>und</strong> zwar den der Romantik. Ihre Vertreter verstehen<br />

die Natur bekanntlich „im Modell der <strong>Kunst</strong><strong>“</strong>, wie es der<br />

Ideenhistoriker Isaiah Berlin einmal ausgedrückt hat. Romantiker<br />

finden die Natur nicht, sie erfinden sie; sie entdecken<br />

nichts, sie erschaffen <strong>und</strong> entwerfen. In der Romantik<br />

ist die Natur nicht mehr nur „Mutter Natur<strong>“</strong> (natura<br />

naturans), sondern „etwas, dem ich meinen Willen aufzwinge,<br />

eine Sache, der ich Form gebe<strong>“</strong> (natura naturata)<br />

<strong>und</strong> es braucht nicht betont zu werden, dass die Gr<strong>und</strong>haltung<br />

der Komplementarität <strong>mit</strong> nichts anderen gerechnet<br />

hat.<br />

<strong>Die</strong>se Denkform hat auch der Literaturwissenschaftler<br />

Peter von Matt in seiner Abschiedsvorlesung erkannt, die<br />

in dem Band „Öffentliche Verehrung für Luftgeister<strong>“</strong> (2003)<br />

enthalten ist <strong>und</strong> "Hoffmanns Nacht <strong>und</strong> Newtons Licht"<br />

nebeneinander stellt. Newtons Entdeckungen zeigen eine<br />

geordnete <strong>Welt</strong>, in der alles am Himmel <strong>und</strong> auf Erden<br />

nach festen Regeln zugeht. Für von Matt stellen nun E.T.A.<br />

Hoffmanns fantastische Helden die Kinder des Gegenlichts<br />

dar. Seine Figuren gehören zur „schwarzen Sonne<br />

der Nacht<strong>“</strong>, wie es Novalis einmal ausgedrückt hat. Hoffmanns<br />

Geschichten setzen Newton voraus, der die <strong>Welt</strong><br />

als geschlossenes Ganzes ohne Schwelle zu einem Geisterreich<br />

zeigt. Und auf diesen Totalitätsanspruch möchte<br />

die Poesie, möchten Hoffmann <strong>und</strong> andere Autoren antworten.<br />

Sie entwerfen, wenn man so will, einen Gegenhimmel<br />

der Literatur <strong>und</strong> er muss in der anderen Richtung gesucht<br />

werden, in der Newton fündig wurde, als er die<br />

universalen Gesetze des Kosmos fand. <strong>Die</strong> „schwarze Sonne<br />

der Nacht<strong>“</strong> schwebt im Inneren der Menschen. Novalis<br />

spricht von einem „inneren Universum<strong>“</strong>, Jean Paul nennt


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das Reich des Unbewussten „dieses wahre innere Afrika<strong>“</strong><br />

(1823) <strong>und</strong> es ist ein Physiker, nämlich Werner Heisenberg,<br />

der h<strong>und</strong>ert Jahre später in diese Richtung aufbricht<br />

<strong>und</strong> sein schon erwähntes „inneres Amerika<strong>“</strong> findet, als er<br />

zu verstehen versucht, was die <strong>Welt</strong> im Innersten zusammenhält.<br />

Heisenberg entdeckt dabei die imaginäre Beschreibung<br />

der Realität <strong>und</strong> im Atom vor allem sich selbst,<br />

nämlich seine eigene Beschreibung. <strong>Die</strong> Übereinstimmung<br />

<strong>mit</strong> dem, was Heinrich von Ofterdingen in dem gleichnamigen<br />

Roman von Novalis beim Besuch eines Bergwerks im<br />

Inneren der Erde findet, ist dabei nicht zu übersehen.<br />

Literatur <strong>und</strong> Quantentheorie<br />

Das Wechselspiel aus Literatur <strong>und</strong> Quantentheorie ist<br />

sehr lohnend, wie Elisabeth Emter in einem Buch <strong>mit</strong> diesem<br />

Titel (De Gruyter Verlag, Berlin 1995) überzeugend<br />

<strong>und</strong> materialreich darstellt. Es geht der Autorin um die Rezeption<br />

der modernen Physik in Schriften zur Literatur <strong>und</strong><br />

Philosophie deutschsprachiger Autoren zwischen 1925<br />

<strong>und</strong>1970<strong>und</strong> sie findet w<strong>und</strong>erbare Quellen dazu, zum Beispiel<br />

ein Interview <strong>mit</strong> dem Romancier Wolfgang Koeppen,<br />

in dem er 1974 geäußert hat:<br />

„Sie fragten nach literarischen Vorbildern <strong>und</strong> Einflüssen<br />

auf mich – jetzt möchte ich Ihnen sagen, dass die neuen<br />

Erkenntnisse der Physik, besonders der modernen Physik,<br />

einen Einfluss auf meine Entwicklung gehabt haben. (...)<br />

Ich empfange da ganz deutlich ein <strong>Welt</strong>bild, das meinen<br />

Ahnungen entspricht in vielem", um fortzufahren, (die<br />

Physik) ist die bedeutendste geistige Erscheinung unserer<br />

Tage<strong>“</strong>.Bis heute tauchen zum Beispiel literarische Verweise<br />

auf die Welle-Teilchen-Dualität der atomaren Wirklichkeit<br />

auf. So etwa in den „Fluchtstücken<strong>“</strong> von Anne<br />

Michaels:<br />

„Ich erinnere mich daran, wie jemand auf einer unserer<br />

Partys über die Dualität von Partikeln <strong>und</strong> Wellen sprach.<br />

Nach einer Weile sagte Jakob: ´Vielleicht ist es einfach so,<br />

dass das Licht, wenn es vor einer Wand steht, gezwungen<br />

ist, sich zu entscheiden´. Alle lachten, hörten nur den Laien,<br />

der über Physik redete! Aber ich wusste, was Jakob<br />

meinte. Das Partikel ist der säkulare Mensch, die Welle der<br />

Gläubige. Und ob man <strong>mit</strong> der Lüge lebt oder <strong>mit</strong> der Wahrheit,<br />

ist gleichgültig, solange man nur die Wand überwindet.<br />

Und während manche durch die Liebe angetrieben<br />

werden (diejenigen, die sich entscheiden), treibt die meisten<br />

die Furcht (die, die sich entscheiden, indem sie sich<br />

nicht entscheiden). Dann sagte Jakob: `Vielleicht ist ein<br />

Elektron weder ein Partikel noch eine Welle, sondern etwas<br />

ganz anderes, etwas Komplizierteres – eine Dissonanz<br />

–, wie der Kummer, dessen Schmerz die Liebe ist.´<strong>“</strong><br />

Ein literarisch lohnendes <strong>und</strong> wissenschaftlich spannendes<br />

Thema der Quantentheorie steckt in der Frage, wie das<br />

Beobachtete vom Beobachter abhängt. Dazu finden sich<br />

zum Beispiel Passagen bei Bertolt Brecht in „Der Messingknauf<strong>“</strong>.<br />

Hier heißt es: „<strong>Die</strong> Physiker sagen uns, dass ihnen<br />

bei der Untersuchung der kleinsten Stoffteilchen plötzlich<br />

ein Verdacht gekommen sei, das Untersuchte sei durch die<br />

Untersuchung verändert worden. Zu den Bewegungen, welche<br />

sie unter dem Mikroskop beobachten, kommen Bewegungen,<br />

welche durch die Mikroskope verursacht werden.<br />

Andererseits werden auch die Instrumente, wahrscheinlich<br />

durch die Objekte, die auf sie eingestellt werden, verändert.<br />

Das geschieht, wenn Instrumente beobachten,<br />

was geschieht erst, wenn Menschen beobachten?<strong>“</strong><br />

<strong>Die</strong>ser Frage geht der britische Dramatiker Michael Frayn<br />

in seinem Theaterstück „Kopenhagen<strong>“</strong> nach, das deshalb<br />

nach der dänischen Hauptstadt benannt ist, weil sich hier<br />

im Herbst 1941 die beiden bereits genannten Bohr <strong>und</strong><br />

Heisenberg getroffen haben, um ... Ja, was wollten die beiden<br />

damals im Zweiten <strong>Welt</strong>krieg besprechen, nachdem<br />

die Physiker erkannt hatten, dass sich Atombomben bauen<br />

lassen? Was wollte Heisenberg in Kopenhagen, das von<br />

deutschen Truppen besetzt war? Warum ist er zu seinem<br />

Lehrer Bohr gefahren, der ihn doch jetzt als Feind betrachten<br />

musste?<br />

<strong>Die</strong> Wissenschaftshistoriker können keine Auskunft geben,<br />

weil die Quellen fehlen <strong>und</strong> nach Jahrzehnten der<br />

Spekulation <strong>und</strong> Gerüchte hat sich ein Dichter die Freiheit<br />

genommen, die Frage nach der historischen Wahrheit auf<br />

der Bühne zu klären. Das Stück gewinnt seine Qualität dadurch,<br />

dass der gut informierte <strong>und</strong> physikalisch versierte<br />

Autor Heisenberg <strong>und</strong> Bohr aus dem Jenseits operieren<br />

lässt <strong>und</strong> ihnen die Aufgabe gibt, selbst herauszufinden,<br />

was sie damals gesagt haben. Mehrere Versionen werden<br />

durchprobiert <strong>und</strong> es braucht nicht betont zu werden, dass<br />

auf diese w<strong>und</strong>erbare Weise das Beobachterproblem der<br />

Quantenphysik vorgeführt werden kann. Am Ende bleibt<br />

auch unter den Menschen die Unbestimmtheit bzw. Unsicherheit,<br />

die zu den großen Entdeckungen Heisenbergs für<br />

den Bereich der Atome gehört <strong>und</strong> der zufolge Atome gar<br />

keinen bestimmten Zustand einnehmen, wenn es niemanden<br />

gibt, der ihn bestimmt (beobachtet) hat.<br />

Verstehen oder Verständnis?<br />

„Kopenhagen<strong>“</strong> bringt Physik <strong>und</strong> die Verantwortung der<br />

Physiker auf die Bühne <strong>und</strong> es ist nicht allzu sehr übertrieben,<br />

wenn man behauptet, dass auf diese Weise mehr


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Verständnis für die Wissenschaft erreicht wird als <strong>mit</strong><br />

allen möglichen anderen Erklärungsversuchen etwa im<br />

Tagesjournalismus. Der Verdacht kann geäußert werden,<br />

dass die <strong>Kunst</strong> im Allgemeinen <strong>und</strong> die Literatur im Besonderen<br />

besser geeignet sind, ein „Public <strong>und</strong>erstanding of<br />

science<strong>“</strong> zu erreichen als die bisher eingesetzten Verfahren.<br />

Mit dem englischen Ausdruck „Public <strong>und</strong>erstanding<br />

of science<strong>“</strong> wird auch in Deutschland das Bemühen beschrieben,<br />

die Wissenschaft der Öffentlichkeit näher zu<br />

bringen <strong>und</strong> der Gr<strong>und</strong>, warum diese vier Worte nicht übersetzt<br />

werden, liegt nicht nur darin, dass „Denglisch<strong>“</strong> die<br />

neue Sprache der Moderne geworden ist, sondern auch,<br />

weil man sich vor einem Bekenntnis drückt. Meint „<strong>und</strong>erstanding<strong>“</strong><br />

Verstehen oder Verständnis? Verständnis für<br />

Wissenschaft hat man, wenn man der Forschung mehr<br />

Geld gibt. Von Verstehen ist dann aber noch lange keine<br />

Rede.<br />

Dass es am Verstehen (<strong>und</strong> dann auch am Verständnis)<br />

mangelt, beweist die Existenz einer offiziellen Kampagne,<br />

die von den Forschungsinstitutionen ausgegangen ist,<br />

vom B<strong>und</strong>esministerium übernommen worden ist <strong>und</strong><br />

jetzt irgendwelchen Agenturen <strong>mit</strong> ihren Hochglanzfolien<br />

überlassen wird. Denn wenn es eine Kampagne namens<br />

„Public <strong>und</strong>erstanding of science<strong>“</strong> (PUS) gibt, heißt das ja,<br />

dass die Sache selbst – das Verstehen – fehlt. Nun bemüht<br />

man sich um ein "Public <strong>und</strong>erstanding of science" seit<br />

mehreren Jahrzehnten, aber niemand ist auf die Idee gekommen,<br />

dass daraus unbedingt der Schluss zu ziehen<br />

ist, dass <strong>mit</strong> den alten Methoden der Ver<strong>mit</strong>tlung aufgehört<br />

werden muss. Leider bemühen sich heute offiziell immer<br />

noch die selben Leute um ein „Public <strong>und</strong>erstanding<br />

of science<strong>“</strong>, die bislang ohne Erfolg geblieben sind. Mit anderen<br />

Worten: Sie werden den Karren erneut in den Dreck<br />

fahren, diesmal aber <strong>mit</strong> mehr Schwung <strong>und</strong> besser organisiert.<br />

<strong>Die</strong> Frage, was zu einem Verstehen von Wissenschaft fehlt,<br />

hat der französische Historiker Jacques Barzun bereits<br />

1961 beantwortet. In dem Vorwort zu dem Buch „Voraussicht<br />

<strong>und</strong> Verstehen<strong>“</strong> von Stephen Toulmin ist zu lesen:<br />

„Man kann sagen, dass die westliche Gesellschaft gegenwärtig<br />

die Wissenschaft beherbergt wie einen fremden<br />

Gott. Unser Leben wird von seinen Werken verändert, aber<br />

die Bevölkerung des Westens ist von einem Verständnis<br />

dieser seltsamen Macht wohl ebenso weit entfernt, wie ein<br />

Bauer in einem abgelegenen <strong>mit</strong>telalterlichen Dorf es von<br />

einem Verständnis der Theologie des Thomas von Aquin<br />

gewesen ist. Und was schlimmer ist: <strong>Die</strong> Lücke ist heute<br />

sichtlich größer als sie vor h<strong>und</strong>ert Jahren war. <strong>Die</strong><br />

Schwierigkeit besteht darin, dass die Wissenschaft –<br />

selbst für die Wissenschaftler – aufgehört hat, eine prinzipielle<br />

Einheit <strong>und</strong> ein Gegenstand der Kontemplation zu<br />

sein.<strong>“</strong><br />

„Public <strong>und</strong>erstanding of science<strong>“</strong><br />

Darum geht es also: Wissenschaft als prinzipielle Einheit<br />

darzustellen <strong>und</strong> zu einem Gegenstand der Kontemplation<br />

zu machen <strong>und</strong> diese Aufgabe lässt sich zum Beispiel <strong>mit</strong><br />

Hilfe der Literatur lösen – Scientia poetica heißt also die<br />

Herausforderung. Nachzulesen ist dieser Gedanke natürlich<br />

schon bei Johann Wolfgang von Goethe, der in seiner<br />

Farbenlehre feststellt:<br />

„Wenn wir von ihr eine Art von Ganzheit erwarten, müssen<br />

wir die Wissenschaft notwendig als <strong>Kunst</strong> denken.<strong>“</strong><br />

Konkret besteht die Aufgabe darin, die Wissenschaft zu<br />

gestalten, ihr eine Form zu geben, die sie für Menschen<br />

wahrnehmbar <strong>und</strong> erlebbar macht, wie es etwa in dem erwähnten<br />

Theaterstück geschehen ist. <strong>Die</strong> Wissenschaft<br />

braucht eine ästhetische Komponente, wie sie unter anderen<br />

in einigen Romanen von Thomas Mann zu finden ist,<br />

der sein literarisches Schaffen einmal als „Abschreiben<br />

auf höherer Ebene<strong>“</strong> bezeichnet hat. Auf diese höhere Ebene<br />

kommt es an <strong>und</strong> sie zu erreichen benötigt einen ähnlich<br />

schwierigen Akt, wie es das wissenschaftliche Arbeiten<br />

selbst ist.<br />

Was Not tut für ein „Public <strong>und</strong>erstanding of science<strong>“</strong> lässt<br />

sich so formulieren: Es gilt, wissenschaftliche Erkenntnisse<br />

so darzustellen, dass ihr Zusammenhang (Kontext) <strong>mit</strong><br />

dem Lebensganzen erkennbar <strong>und</strong> der humane Bezug ersichtlich<br />

wird, an dem Menschen vor allem interessiert<br />

sind. Gelungen ist dies schon in Theaterstücken, wobei es<br />

neben Michael Frayns „Kopenhagen<strong>“</strong> noch Carl Djerassis<br />

„Unbefleckt<strong>“</strong> <strong>und</strong> das w<strong>und</strong>erbare Drama „Sauerstoff<strong>“</strong> gibt,<br />

das Djerassi zusammen <strong>mit</strong> Roald Hoffman geschrieben<br />

hat, der Nobelpreisträger für Chemie ist.<br />

Eine wichtige Unterscheidung<br />

Da es in diesem Beitrag um die Verbindung zwischen<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Literatur geht, muss ein Thema angesprochen<br />

werden, <strong>mit</strong> dem eine Menge Missverständnisse<br />

verb<strong>und</strong>en sind. Es fällt immer wieder auf, dass die handelnden<br />

Individuen in der Literatur präsenter sind als in<br />

der Wissenschaft. <strong>Kunst</strong> kennt Klassiker, Wissenschaft<br />

nicht. Der Gr<strong>und</strong> dafür ist einfach anzugeben. Denn um<br />

Goethe zu verstehen, muss man Goethes Texte lesen. Aber<br />

um Newton zu verstehen, muss man ein Lehrbuch der<br />

Physik lesen. Was Newton gef<strong>und</strong>en hat, geht in der Kor-


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pus der Wissenschaft ein <strong>und</strong> taucht in didaktisch geeigneter<br />

Darstellung im Lehrbuch auf.<br />

So zutreffend dies ist, der Schluss, der daraus gezogen<br />

wird, ist falsch. Er lautet nämlich etwa so: Wenn Goethe<br />

nicht gelebt hätte, gäbe es seine Gedichte <strong>und</strong> Dramen<br />

nicht. Aber wenn Newton nicht gelebt hätte, gäbe es sein<br />

Gravitationsgesetz trotzdem, das hätte dann eben jemand<br />

anders gef<strong>und</strong>en.<br />

Was dabei nicht nur falsch, sondern unsinnig ist, bringt die<br />

Unterscheidung zwischen Werk <strong>und</strong> Inhalt hervor. Was wir<br />

von einem Dichter kennen, ist das Werk, bei Goethe etwa<br />

den „Götz von Berlichingen<strong>“</strong>. Was wir von einem Forscher<br />

kennen, ist der Inhalt seiner Einsicht, bei Newton etwa<br />

„Kraft gleich Masse mal Beschleunigung<strong>“</strong>. Werk <strong>und</strong> Inhalt<br />

kann man noch weniger vergleichen als Hosen <strong>und</strong> H<strong>und</strong>e<br />

<strong>und</strong> so darf auch behauptet werden, dass die abschätzige<br />

Meinung über die Einzigartigkeit eines Forschers Unsinn<br />

ist. <strong>Die</strong>s kann am Beispiel der berühmtesten Struktur demonstriert<br />

werden, die das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hervorgebracht<br />

hat. Gemeint ist die Doppelhelix, bei der wir fragen<br />

können, ob sie eine Entdeckung oder eine Erfindung ist.<br />

Natürlich werden die meisten rasch <strong>mit</strong> „Entdeckung<strong>“</strong> antworten,<br />

aber nur, um in Verlegenheit zu kommen, wenn sie<br />

sagen sollen, wo die Doppelhelix denn vorher gesteckt hat,<br />

als sie noch nicht gef<strong>und</strong>en war.<br />

Wer über diesen Sachverhalt nachdenkt, wird zu der Einsicht<br />

kommen, dass die Doppelhelix sowohl Schöpfung als<br />

auch Entdeckung ist. Der Bereich ihres Daseins ist nicht<br />

allein die Natur, sondern auch die Gedankenwelt <strong>und</strong> Literatur<br />

der Naturwissenschaft. Der Unterschied zwischen<br />

Entdeckung <strong>und</strong> Schöpfung hat in der Naturwissenschaft<br />

wenig philosophische <strong>und</strong> erst recht keine praktische Bedeutung.<br />

Naturwissenschaftler <strong>und</strong> Dichter repräsentieren<br />

die gleiche Höhe der <strong>Kultur</strong>. Alles andere zu behaupten,<br />

wäre falsche Bescheidenheit.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Kunst</strong> der Gene<br />

Mit der Doppelhelix aus DNA ist natürlich weitgehend verstanden<br />

worden, was die Struktur von Genen ist. <strong>Die</strong>s darf<br />

nicht zu der Hoffnung verleiten, nun sei auch gleich <strong>und</strong> in<br />

ähnlicher Güte verstanden, welche Funktion Gene übernehmen<br />

(abgesehen davon, dass sie Informationen für<br />

den Bau von Proteinen liefern, die unter anderem für die<br />

chemischen Reaktionen in Zellen sorgen, ohne die kein<br />

Leben möglich ist).<br />

Eine Rolle der Gene besteht sicher darin, das Leben in die<br />

Lage zu versetzen, sich in jeder Generation neu zu schaffen.<br />

Bevor erk<strong>und</strong>et wird, wie dies im molekularen Detail<br />

abläuft, muss erörtert werden, in welchen Denkformen der<br />

gesamte Vorgang begriffen werden kann, der sich dadurch<br />

auszeichnet, dass er von innen nach außen verläuft. <strong>Die</strong><br />

Frage, wie Organismen sich selbst aus sich selbst hervorbringen,<br />

wurde früher durch einen Homunkulus beantwortet,<br />

der zum Beispiel in einer Samenzelle hocken sollte.<br />

Doch solch eine Idee kann nicht funktionieren, weil in diesem<br />

Menschlein ein noch kleineres Menschlein enthalten<br />

sein muss <strong>und</strong> das Argument an dieser Stelle natürlich<br />

nicht Halt macht. Es macht nie Halt <strong>und</strong> läuft sich in seiner<br />

unendlichen Wiederholung tot (infiniter Regress). Als<br />

neue Lösung wird seit den 1960-er Jahren das genetische<br />

Programm angeboten <strong>und</strong> in modernen Texten zur Genetik<br />

ist viel von „vor- <strong>und</strong> umprogrammieren<strong>“</strong> die Rede. Doch<br />

dies macht wenig Sinn, denn wenn eine Eizelle ein Programm<br />

abspult <strong>und</strong> Instruktionen gibt, dann muss es<br />

jemanden oder etwas geben, der oder das diese Anweisungen<br />

interpretiert <strong>und</strong> umsetzt <strong>und</strong> dieses Etwas muss so<br />

unabhängig von den Instruktionen sein wie ein Mechaniker<br />

von den Bauplänen des Autos, das er zusammensetzt.<br />

Da<strong>mit</strong> haben wir nur eine neue Frage, nämlich woher<br />

kommt aber der Mechaniker des Lebens?<br />

Der Mechaniker kann weder von Anfang an da gewesen<br />

noch später entstanden sein. Im ersten Fall würden wir<br />

nur das uralte vitalistische Kaninchen aus dem Zylinder<br />

ziehen <strong>und</strong> im zweiten Fall den Genen zumuten, etwas<br />

schon gemacht zu haben, bevor es sie gegeben hat. Wir<br />

verwickeln uns also in ein zirkuläres Argument, bei dem<br />

(in der Computersprache) die Software auf einer Hardware<br />

laufen soll, für die sie noch keine Bauanleitung geliefert<br />

hat. Um eine bessere Beschreibung anbieten zu können,<br />

sollte der Gedanke ernst genommen werden, dass Organismen<br />

sich selbst machen, was konkret bedeutet, dass wir<br />

den Machenden nicht von dem Gemachten trennen können.<br />

Da<strong>mit</strong> finden wir den Anschluss an die Literatur <strong>und</strong><br />

die <strong>Kunst</strong>, denn auch bei der Entstehung eines <strong>Kunst</strong>werks<br />

kann diese Trennung nicht erfolgen.<br />

Der englische Biologe Enrico Coen hat aus diesem Gr<strong>und</strong><br />

heraus in seinem Buch „The Art of Genes<strong>“</strong> (1999) den Vorschlag<br />

gemacht, die Entwicklung eines Organismus von<br />

der formlosen Eizelle zum gestalten Körper im Bild der<br />

menschlichen Kreativität (<strong>und</strong> nicht als bloße Ausführung<br />

eines Programm) zu verstehen. Der Vorgang, der von Genen<br />

zu Gestalten führt, hat tatsächlich mehr <strong>mit</strong> der Schaffung<br />

eines Originals als <strong>mit</strong> der Anfertigung einer Kopie zu<br />

tun, wenn man die molekularen Details entsprechend deutet,<br />

wie hier nur angemerkt werden kann.


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Coen macht im Rahmen seiner künstlerisch verstandenen<br />

<strong>und</strong> kreativ wirkenden Gene den konzeptionellen Vorschlag<br />

anzunehmen, dass in einem Organismus ein „Muster<br />

an verborgenen Farben<strong>“</strong> steckt <strong>und</strong> zwar so, wie es<br />

viele Bilder zeigen, die in Fachzeitschriften zu sehen sind.<br />

Mit diesem Muster ist die Verteilung einer Gruppe von Proteinen<br />

gemeint, die „Masterproteine<strong>“</strong> genannt werden, weil<br />

sie in der Lage sind, die Verwendung der Gene (ihre Expression)<br />

zu regulieren <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> andere Proteine in Gang<br />

zu setzen.<br />

Masterproteine finden <strong>und</strong> binden ihre Zielgene <strong>mit</strong> Hilfe<br />

einer so genannten Homeodomäne, <strong>und</strong> <strong>mit</strong> diesem Begriff<br />

gelingt es, Anschluss an die moderne Entwicklungsbiologie<br />

zu finden, die einem uralten Rätsel des Lebens<br />

auf die genetische Spur gekommen ist. Gemeint ist die<br />

1894 zum ersten Mal beschriebene „Homöosis<strong>“</strong>, die heute<br />

„Homeose<strong>“</strong> heißt, weil sich dieses Wort besser in das Englische<br />

einfügen lässt. Der Begriff geht auf den Engländer<br />

William Bateson zurück, der in seinem Buch „Materials for<br />

the Study of Variation<strong>“</strong> ähnliche bzw. angepasste Strukturen<br />

von Organismen schildert, die zwar richtig aussehen,<br />

sich aber am falschen Ort zeigen. Bateson findet unter anderem<br />

bei Fliegen dort Flügel, wo sonst ein Bein ist <strong>und</strong><br />

bei Krebsen Augen, wo sich gewöhnlich Antennen zeigen.<br />

Inzwischen ist bekannt, dass diese Monster durch die<br />

Fehlwirkung von Genen zustanden kommen, die als homeotische<br />

Gene bezeichnet werden. Und wer fragt, was sie<br />

genau tun, erfährt, dass sie Identität <strong>und</strong> Reihenfolge von<br />

Körpersegmenten festlegen. In ihnen findet sich die unter<br />

Fachleuten berühmte Homeobox, die als DNA-Segment von<br />

180 Basenpaaren offenbar schon seit Urzeiten von der<br />

Evolution gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> bewahrt worden ist. <strong>Die</strong> Homeobox<br />

erscheint in einem Protein als die bereits erwähnte<br />

Homeodomäne <strong>und</strong> alle diese Details lassen sich konzeptionell<br />

so zusammenbinden, dass ein Begriff dabei auftaucht,<br />

der Literaturwissenschaftler erfreut. Denn die Gene,<br />

die Masterproteine regulieren, heißen bei Coen<br />

Interpretationsgene. Er wählt diesen Namen, weil sie auf<br />

einen festen Bezugsrahmen (das Spektrum der Masterproteine)<br />

reagieren <strong>und</strong> dies erstens selektiv <strong>und</strong> zweitens<br />

aufgr<strong>und</strong> historischer Vorgaben (Evolution) tun. Genau<br />

deshalb fühlt sich der Biologe berechtigt, von einer „Interpretation<strong>“</strong><br />

<strong>und</strong> auch von entsprechenden Genen zu sprechen.Interpretationsgene<br />

interagieren nicht nur <strong>mit</strong> Masterproteinen,<br />

sie produzieren sie auch <strong>und</strong> verfeinern<br />

dabei das „Muster<strong>“</strong> an Aktivität, das der Entwicklung zugr<strong>und</strong>e<br />

liegt (Elaboration). Gene können Masterproteine<br />

sowohl produzieren als auch interpretieren <strong>und</strong> dieser<br />

kontinuierliche Vorgang kann zu komplexen Strukturen<br />

führen. Da<strong>mit</strong> finden wir eine Form von Kreativität des<br />

Genoms, als interaktiver Prozess verstanden, der das<br />

Vorhandene deutet <strong>und</strong> nach historischen Vorgaben auf<br />

ihm aufbaut.<br />

Wissen wir da<strong>mit</strong>, was ein Gen ist? Natürlich nicht, wie<br />

man leicht erkennt, wenn man andere Begriffsbildungen<br />

anschaut, etwa die von Richard Dawkins, der den Bestseller<br />

„Das egoistische Gen<strong>“</strong> (The selfish gene) von 1976 geschrieben<br />

<strong>und</strong> da<strong>mit</strong> sogar im Oxford Dictionary eine Ergänzung<br />

bei dem Eintrag „selfish<strong>“</strong> bewirkt hat.<br />

Hier soll <strong>mit</strong> einem literarischen Beispiel geendet werden,<br />

<strong>und</strong> dazu ist niemand besser geeignet als Cees Nooteboom,<br />

der einmal Südostasien bereist hat <strong>und</strong> darüber in<br />

dem Buch „Der Buddha hintern Bretterzaun<strong>“</strong> berichtet<br />

(1995). Hier hört er einem Reiseführer zu, der über das<br />

asiatische Denken <strong>und</strong> einen zentralen Begriff in ihm, das<br />

Karma, berichtet: „Etwas [von der Rede über das Karma]<br />

war hängen geblieben. Bei der Wiedergeburt werde man<br />

nicht selbst, die Person, in einer anderen Gestalt wiedergeboren,<br />

nein, das Gepäck geht weiter, werde gleichsam wie<br />

bei einer Flugreise, bei der man umsteigen müsse, vorausgeschickt.<br />

Das hatte ihm gefallen. Er erinnerte sich, vor<br />

nicht allzu langer Zeit etwas über Gene gelesen zu haben,<br />

die sich unseres Körpers nur vorübergehend auf dem Weg<br />

zu ´etwas anderem´ bedienen, die einfach da<strong>mit</strong> beschäftigt<br />

seien, zu überleben, <strong>mit</strong> uns als Zwischenstation. Auch<br />

das hatte ihm gefallen. Der Körper als Durchgangsstation<br />

für eine unbekannte Größe. Dann war die Idee des vorausgeschickten<br />

Gepäcks als Metapher gar nicht so schlecht.<strong>“</strong><br />

Finde ich auch.<br />

Ernst Peter Fischer, Prof. Dr., ist Professor für Wissenschaftsgeschichte<br />

an der Universität Konstanz. Zahlreiche<br />

Veröffentlichung zur „Kreativität in der Wissenschaft<strong>“</strong>,<br />

„Ästhetische Momente der Wissenschaft<strong>“</strong>,<br />

„Farbsysteme in <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft<strong>“</strong>, „Gemeinsamkeiten<br />

in der Geschichte von <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft<strong>“</strong>.<br />

Weitere Informationen zu Prof. Dr. Ernst Peter<br />

Fischer: www.epfischer.com


Seite: 25<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> verbessern<br />

ERFINDEN UND TECHNISCHES TRÄUMEN*<br />

„Technische Früherziehung<strong>“</strong> soll, so heißt es, demnächst<br />

ein Thema in der Erzieherausbildung werden. Da sollte jede<br />

künftige Erzieherin Leonardo da Vinci begegnen. Um zu erfahren,<br />

wie produktiv sein Blick war, ein Blick auf die Natur,<br />

der exakt beobachtet <strong>und</strong> abbildet, dann aber wieder<br />

gleitet <strong>und</strong> aus dem Augenwinkel heraus beobachtend, intuitiv<br />

wie im Spiel, neue Bilder entstehen lässt. <strong>Die</strong> Erzieher<br />

sollten auch erfahren, wie es Leonardo, einem nicht<br />

akademisch gebildeten Mann, gelang, das Wissen seiner<br />

Zeit überall aufzusuchen, in Gesprächen <strong>und</strong> in Besuchen<br />

der Werkstätten <strong>und</strong> Ateliers in Europa, <strong>und</strong> wie er es einfließen<br />

lassen konnte in seine ästhetische <strong>und</strong> erfinderische<br />

Produktivität.<br />

Leonardo wuchs auf zwischen Wind <strong>und</strong> Handwerk in Vinci,<br />

einem toskanischen Dorf. Er nennt sich „Leonardo Vinci,<br />

ein Schüler der Erfahrung". Bücher, sagt er, hatte er keine.<br />

Stattdessen wollte er, lebenslang, wie die Kinder immer<br />

wieder genau hinschauen, theorielos. Wie den Kindern<br />

ging es ihm zu langsam, bei der Ernte, beim Transport. <strong>Die</strong><br />

tägliche Mühsal war eine Quelle seiner technischen Phantasie.<br />

(...)<br />

<strong>Die</strong>ses „technische Träumen<strong>“</strong> erfasst manchmal auch die<br />

Kinder in Gesprächen untereinander, wenn sie sich gegenseitig<br />

überbieten im Ausmalen von Rekorden menschlicher<br />

Hochleistungen oder den übernatürlichen Fähigkeiten von<br />

Robotern <strong>und</strong> darüber in Ekstase geraten. <strong>Die</strong> Erwachsenen,<br />

wenn sie zu solchen Sessions zugelassen werden,<br />

können die Kinder bei ihren Übungen des technischen<br />

Möglichkeitssinns nur ermutigen. Leonardo hätte sagen<br />

können: „<strong>Die</strong> Menschen werden durch Türen gehen, die<br />

kein Mensch öffnet". Das tut heute jedes zweite Kind beim<br />

Aldi.<br />

„Leonardo da Vinci<strong>“</strong> nennt sich auch eine Erfinderwerkstatt<br />

im norddeutschen Kindergarten Walsrode, von einer<br />

Erzieherin <strong>mit</strong> einer kunstpädagogischen Ausbildung ins<br />

Leben gerufen. <strong>Die</strong> Kinder sprangen vor allem auf Leonardo<br />

als Erfinder an. Mit Material vom Baumarkt <strong>und</strong> von<br />

Schrottplätzen entstanden Skulpturen, die weniger<br />

„schön<strong>“</strong> sein sollten, das waren sie in den Augen der Kinder<br />

sowieso, als vor allem traumhaft nützlich. Das Gute<br />

vom Bösen sollten diese Werke trennen können. Eine<br />

Föhnmaschine, die schlechte Luft von der guten trennt,<br />

eine Pumpstation fürs Aquarium, die das gute Wasser den<br />

Fischen zuführt <strong>und</strong> das schlechte ableitet. <strong>Die</strong> Objekte<br />

gingen auf Ausstellungsreise in mehrere Kindergärten.<br />

Nach einigen Wochen kamen sie wieder zurück. <strong>Die</strong> Kinder<br />

packten aus <strong>und</strong> enträtselten ihre Erfindungen - was hatten<br />

sie sich damals dabei gedacht? <strong>Die</strong> bizarren Konstruktionen<br />

wieder zu lesen forderte ihnen einiges ab. Manchmal<br />

hatten die Hände der Idee vorausgebaut, <strong>und</strong> das<br />

bloße Anschauen konnte das technische Träumen nicht<br />

gleich wieder in Gang setzen. Aber irgendwann fanden sie<br />

ihren Faden wieder, <strong>und</strong> sie glaubten nach wie vor an ihre<br />

Ideen. <strong>Die</strong> Sechsjährige: „Morgen erfinde ich das weiter."<br />

Fliegen <strong>und</strong> das Luftballon-Maß<br />

(...) 2004 schrieb die „Vereinigung Hamburger Kindertagesstätten<strong>“</strong><br />

einen Wettbewerb aus: „Wer fliegt am besten?<br />

Ein Projekt zum naturwissenschaftlichen <strong>und</strong> technischen<br />

Lernen für Kinder im Vorschulalter". Der Zeitpunkt war<br />

ungünstig. In Hamburg gab es damals nach der Einführung<br />

des Elterngutschein-Systems heftige Auseinandersetzungen<br />

um die Budgets <strong>und</strong> die Stellenpläne der<br />

Kindergärten. Aber dennoch machten sich über h<strong>und</strong>ert<br />

Hamburger Kindergärten auf, <strong>mit</strong> ihren Kindern auszuloten,<br />

was das ist, Schwerelosigkeit. Eine so große spontane<br />

Resonanz auf ein Bildungsprojekt im Elementarbereich<br />

hatte es in Deutschland bis dahin nicht gegeben. <strong>Die</strong> Veranstalter<br />

mussten mehrere Räume anmieten, um der Jury<br />

auch nur eine Vorauswahl der eingegangenen Objekte <strong>und</strong><br />

Aufzeichnungen präsentieren zu können. Fluggeräte, Modelle,<br />

Dossiers, Bücher, Fotoalben, <strong>Kunst</strong>werke: Naturthemen<br />

r<strong>und</strong> ums Fliegen, <strong>und</strong> physikalisch-technische Projekte.<br />

„Wie das Thema zu uns kam<strong>“</strong> erzählt das Forschertagebuch<br />

aus einem Kindergarten. Es begann <strong>mit</strong> Flugversuchen,<br />

Flatterversuchen der Kinder: Sie fotografierten sich<br />

gegenseitig beim Absprung vom Tisch, in der Luft, vor der<br />

Landung. Oder so konnte es auch losgehen: Eine Papiertüte<br />

wurde <strong>mit</strong> warmer Föhnluft gefüllt, zugeklebt - <strong>und</strong> sie<br />

hebt ab! Jahrh<strong>und</strong>erte lang hat die Menschheit an einem<br />

Flugmotor gebastelt; heute kann es die modernste Forschungsaufgabe<br />

sein zu eruieren, wie etwas „ohne Motor<strong>“</strong><br />

fliegen kann. Im Forschertagebuch beschrieben, <strong>mit</strong> Fotos,<br />

<strong>mit</strong> Zeichnungen, den Fragen der Kinder folgend. Auch eine<br />

Spalte für „unerledigte Einfälle<strong>“</strong> gab es da. In einem anderen<br />

Kindergarten hieß das Forschertagebuch Nebelbuch


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oder Wolkenbuch. <strong>Die</strong> Wolkenreporter des Kindergartens<br />

protokollieren ihre Himmelsbeobachtungen <strong>mit</strong> Fotos. <strong>Die</strong><br />

Erzieherinnen notieren die Hypothesen der Kinder: warum<br />

Nebelschwaden fliegen, warum Wolken nicht vom Himmel<br />

fallen. Drei Kinder versammeln sich unter einem weißen<br />

Laken: Wie fühlt sich eine Wolke?<br />

Sie hauchen auf Glasscheiben <strong>und</strong> fotografieren Nebellandschaften.<br />

Sie besuchen die Hamburger Lotsenstation,<br />

<strong>und</strong> es entstehen dramatische Bilder von Schiffen im Nebel.<br />

Das Thema dehnt sich aus, die Terminologie von Erwachsenen<br />

<strong>und</strong> Kindern ebenso. Auch die Erwachsenen<br />

kommen aus dem Lernen nicht heraus. Nimbostratus,<br />

Stratocumulus, Altocumulus! Ein Gang in die <strong>Kunst</strong>halle,<br />

zu Caspar David Friedrich. Von dem es heißt, dass er an<br />

den Tagen, an denen er sich vorgenommen hatte, Luft zu<br />

malen, besonders unausstehlich war. <strong>Die</strong> Erzieher gestalteten<br />

die Themen in neuen Dimensionen. Nicht <strong>mit</strong> Wattebäuschen<br />

<strong>und</strong> Krepppapier wurde gebastelt, sondern <strong>mit</strong><br />

sechzig Quadratmetern Gaze wurde eine Fassade des Kindergartens<br />

in Nebel gehüllt. Eine Erzieherin hatte ein billiges<br />

Angebot im Internet entdeckt.<br />

Überhaupt: Recherchen im Internet. Vielen Erwachsenen<br />

<strong>und</strong> Kindergartenkindern sind sie längst selbstverständlich.<br />

Ein Kindergarten dehnte den Medieneinsatz auf eine<br />

WebCam-Beobachtung aus. Im Nistkasten auf dem Gelände<br />

wurde eine Videokamera eingebaut, die Kinder verfolgten<br />

wochenlang auf dem Monitor das Nisten <strong>und</strong> Brüten<br />

von Kohlmeisen, sie notierten ihre Beobachtungen über<br />

die Aufzucht der Jungen, ihre ersten Flugversuche. Wochenlang<br />

einen Prozess beobachten <strong>und</strong> die Entwicklung<br />

dokumentieren – das ist Wissenschaft!<br />

Wissenschaftlich auch die Übungen zum Perspektivenwechsel.<br />

Wie sieht unsere Kita aus der Sicht von Vögeln<br />

aus? Dazu ein Modell bauen – dabei wird das Konzept „Modell<strong>“</strong><br />

als solches verstanden. Und dazu noch diese diffizile<br />

Aufgabe. Dreiräder von oben, das ging noch, aber die Hortkinder<br />

<strong>und</strong> die Kindergartenkinder von oben – alle gleich<br />

groß, oder wie? In einem anderen Kindergarten gab es Vogelstimmenkurse,<br />

<strong>mit</strong> Mikrophon aufgezeichnet. Und –<br />

„Niemand versteht etwas vom Fliegen, der nicht fliegenzu-lassen<br />

versteht<strong>“</strong> (Michel Serres) – in vielen Kindergärten<br />

Experimente zu Luftwiderstand <strong>und</strong> Luftströmung, <strong>mit</strong><br />

Frisby-Modellen, Fallschirmen, Drachen, Propellern, Raketen.<br />

Besonders rätselhaft: der Bumerang.<br />

<strong>Die</strong> Universalität des Naturforschens! Das Fliegen <strong>und</strong> Wesen,<br />

die fliegen, das fasziniert alle, man muss sich dabei<br />

nicht elaboriert auf Deutsch ausdrücken können. Bienen,<br />

regsam <strong>und</strong> produktiv, Libellen, ihre virtuosen Propellertechniken<br />

...Und die Fledermäuse, diese rätselhaften Wesen,<br />

etwas unheimlich auch. Fledermäuse sind keine<br />

erfahrungsnahen Tiere, umso interessanter waren die<br />

Hypothesen der Kinder über ihre Flugtechniken. <strong>Die</strong> Tiere<br />

wiegen nur sechs Gramm, gerade so viel wie ein Plastikbecher,<br />

fanden die Kinder heraus. Aber sie hören Töne, die<br />

dem Menschen unhörbar bleiben. <strong>Die</strong> Kinder studieren<br />

Echo („Echolot<strong>“</strong>) <strong>und</strong> Schall („Ultraschall<strong>“</strong>) <strong>und</strong> haben nun<br />

ein Konzept von Orientierung. Sie messen die Spannweite<br />

der Fledermausflügel <strong>mit</strong> einem Lineal <strong>und</strong> vergleichen sie<br />

<strong>mit</strong> den eigenen Armen. Sie baumeln an den Knien kopfunter<br />

an der Turnstange: so schläft die Fledermaus.<br />

Eine Kindergruppe ohne ein einziges muttersprachlich<br />

deutsches Kind hatte sich aufs Studium der „Seeadler<strong>“</strong><br />

verlegt. <strong>Die</strong> Entscheidung für dieses Tier trafen die Kinder<br />

nach der Vogelbeobachtung in einem Wildpark. Im Bestimmungsbuch<br />

hatten sie gef<strong>und</strong>en: Specht, Fledermaus,<br />

Möwe, Eule, Wespe, Libelle, Ente <strong>und</strong> Seeadler. Der Seeadler<br />

als Untersuchungsobjekt erhielt die meisten Stimmen<br />

der Kinder. Sie bauten ein überlebensgroßes Modell eines<br />

„Adlerhorstes". Sie beobachteten die Eigenschaften von<br />

Federn im Gebläse eines Ventilators, <strong>und</strong> die Erzieherinnen<br />

regten Zeichnungen an zu „Gefiederk<strong>und</strong>e". „Fangtechniken<strong>“</strong><br />

war ein anderes Forschungsthema. Und alle<br />

zusammen montierten eine „Nahrungscollage<strong>“</strong> (Thema<br />

unter anderem: „Nahrungskette<strong>“</strong> <strong>und</strong> „unvermeidliches<br />

Töten"). Solche Begriffe mögen nicht wörtlich ins Vokabular<br />

der Kinder aus kurdischen <strong>und</strong> afghanischen Familien<br />

eingegangen sein. Wohl aber die differenzierten, die anspruchsvollen<br />

Sachverhalte. Und alle kennen nun den Namen<br />

von einem seltenen Wesen der Lüfte: Seeadler. Der<br />

Seeadler hat einen Fisch in seiner Greif! rief ein Kind.<br />

Daneben gab es ruhige Kindergartenprojekte: „Der Wind<br />

verleiht uns Flügel. Über den Flug der Samen.<strong>“</strong> Es entstand<br />

ein Bilderbuch über die Reise eines Löwenzahnsamens.<br />

Andere Kindergruppen umkreisten das Thema historisch:<br />

Wie der Mensch zum Fliegen kam. Da entstand Mitgefühl<br />

für diejenigen unter unseren Vorfahren, die ebenso versessen<br />

<strong>und</strong> optimistisch gesucht haben wie manche von uns<br />

heute.<br />

Andere Kindergruppen gingen es mehr von der technischen<br />

Seite an. Was schwer ist, hat es schwer <strong>mit</strong> dem<br />

Fliegen. Wie schwer sind die Dinge, wenn man sie zum<br />

Fliegen bringen will, in welchem Maß kann man das beschreiben?<br />

Es entstand das Luftballon-Maß. Wie viel gasgefüllte<br />

Luftballons braucht es, um einen Gegenstand zum<br />

Abheben zu bringen? Für einen Wollhandschuh zwei Bal-


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lons, für eine Zahnbürste drei. Es gelang sogar <strong>mit</strong> einem<br />

Teddybär (400 Gramm). Fünf<strong>und</strong>zwanzig Ballons brachten<br />

ihn zum Sitzen. Mit vierzig konnte er schwankend stehen.<br />

Plus zehn Luftballons macht fünfzig: Seine Beine hoben<br />

sich momentweise vom Tisch. Nochmal zehn dazu. Er<br />

schwebt! Und ein weiterer dramatischer Zehnerschritt: Mit<br />

siebzig Ballons erhob er sich vor den Augen der Kinder<br />

über dem Kindergarten. Er entschwebte in seiner Ballontraube<br />

<strong>und</strong> ging h<strong>und</strong>ert Kilometer weiter auf der Insel<br />

Fehmarn in einem Vorgarten nieder. Dort fanden ihn elfjährige<br />

Zwillinge, <strong>und</strong> wenige Tage später traf eine Postkarte<br />

im Kindergarten ein. <strong>Die</strong> Kinder verfolgten auf der Landkarte<br />

die Reise des Teddys über die Ostsee. Ob ein Engel<br />

ein bisschen bei der Flugrichtung nachgeholfen hat? „Es<br />

ist ein hübsches Wort, dass Kinder ihren Engel haben, <strong>und</strong><br />

man muss nicht sehr gläubig sein, um es zu glauben.<strong>“</strong><br />

(Th. Fontane)<br />

Das Thema war ein gut gesetztes Segel. Wochenlang wehte<br />

ein anderer Wind durch viele Kindergärten. Nebelkammern,<br />

Windkanäle, Forscherecken <strong>mit</strong> Ferngläsern, Briefwaagen,<br />

Ventilatoren. Wetterstationen, Adlerhorst,<br />

Brutkästen, Modellwerkstatt, <strong>und</strong> es wurde in Tagebüchern<br />

aufgezeichnet, Tabellen geführt, statt wie sonst<br />

oft nur kleinteilig dekoriert. Das Thema brach prismatisch<br />

in viele Richtungen auf, <strong>und</strong> für viele war es bei der Preisvergabe<br />

noch längst nicht erschöpft. Fortsetzung folgt,<br />

schrieben einige Kindergärten in ihre Dossiers. <strong>Die</strong>se Aufzählung<br />

der Fülle muss nicht entmutigen, nicht zum Stoffgedränge<br />

verleiten. „Man muss nicht bei allem dabei gewesen<br />

sein<strong>“</strong>, sagt Wagenschein, „aber man muss wissen, wie<br />

es ist, wenn man dabei war.<strong>“</strong><br />

Überrascht waren die Veranstalter auch von der öffentlichen<br />

Unterstützung in Hamburg. Was heißt da Unterstützung.<br />

Sie wollten selbst dabei sein, die Professoren, die<br />

Wissenschaftler an der Technischen Universität, das Flugpersonal<br />

auf dem Flughafen, die Fachleute vom Zoo, die<br />

Journalisten. Sie waren <strong>neugierig</strong> auf die Kinder, die ihnen<br />

ihr Lebensthema oder ihren Beruf neu zu sehen halfen. In<br />

einem neuen Einfallswinkel: die <strong>Welt</strong> im Frühlicht.<br />

„Es funktioniert?!<strong>“</strong> Technik im Kindergarten. – „Kaputtversuche<strong>“</strong><br />

in der Gr<strong>und</strong>schule<br />

(...) <strong>Die</strong> Trennung von Technik <strong>und</strong> Naturwissenschaft ist<br />

erst in der Neuzeit entstanden. Verstehen der Natur <strong>und</strong><br />

praktische Manipulation der Natur gelten erst seitdem als<br />

zwei verschiedene Bereiche. Aber den Kindern noch lange<br />

Zeit nicht. Auch nicht unserem Schutzgeist, dem Experimentalphysiker<br />

Georg Christoph Lichtenberg. <strong>Die</strong> ganze<br />

<strong>Welt</strong>, so spekuliert er, sei vielleicht ein noch nicht gelungener<br />

Versuch? Ein bloßes Probestück, an dem noch gearbeitet<br />

werden muss? Und er fragt sich, wie es oft auch die<br />

Kinder tun: „Wie nah wohl zuweilen unsere Gedanken an<br />

einer großen Entdeckung hinstreichen mögen?<strong>“</strong> 1 Und<br />

w<strong>und</strong>ert sich: „Wie lange haben nicht die Ingredienzen des<br />

Schießpulvers nebeneinander existiert vor dem Schießpulver!<strong>“</strong><br />

2 Technische Erfindungen sprudeln aus ihm hervor.<br />

Den Blitzableiter hat er erf<strong>und</strong>en. Und er schlug vor, „Kaffee-Grütze-Mühlen<br />

<strong>und</strong> dergleichen an die Wagen anzubringen,<br />

so hätten sie etwas zu tun, wenn sie leer nach<br />

Hause fahren<strong>“</strong>. 3 Lichtenberg träumte davon, „einen Erfinder<br />

zu erfinden<strong>“</strong>, „einen Finder zu finden für alle Dinge!<strong>“</strong> 4<br />

Lichtenbergs Zeitgenosse Ernst Christian Trapp, der erste<br />

deutsche Professor der Pädagogik, Gründer des Dessauer<br />

Philanthropins, eines Internats für Zöglinge der Aristokratie<br />

<strong>und</strong> des gehobenen Bürgertums, denkt als Pädagoge<br />

auch in diese Richtung; er möchte seine Schüler zu Erfindern<br />

erziehen. Das Problem stellt sich den Pädagogen am<br />

Ende des 18.Jahrh<strong>und</strong>erts nicht gr<strong>und</strong>sätzlich anders als<br />

heute: <strong>Die</strong> gesellschaftliche Arbeit ist unanschaulich geworden,<br />

für die Kinder abstrakt, die Kinder wachsen in<br />

Wohnstuben auf, unter dem Einfluss von Frauen. Trapp<br />

fragt: Wie sollen die Knaben in ihrer Scheinwelt, bedient<br />

von allen Seiten, ihr Spiel eine bloße Als-ob Tätigkeit, jemals<br />

zu aktiven <strong>und</strong> weitblickenden Geschäftsbürgern<br />

werden? <strong>Die</strong> Schulen der Philanthropisten empfahlen sich<br />

nicht nur durch die Einführung der Kinder in die „Realien<strong>“</strong>,<br />

Schulfächer <strong>mit</strong> praktischem Nutzen, sondern auch durch<br />

die Ermutigung des Erfindergeists. Trapp ließ die Schüler<br />

das Erfinden üben, indem sie Tische, Stühle, Spinnräder,<br />

Uhren, Klavier zerlegten <strong>und</strong> wieder neu zusammensetzten.<br />

Dabei wurden sie immer auch nach möglichen technischen<br />

Verbesserungen gefragt.<br />

Neuerdings wird den deutschen Kindergärten in den Bildungsplänen<br />

der Länder ein weiteres Bildungsthema aufgetragen,<br />

die „Technische Früherziehung<strong>“</strong>. Wie das aussehen<br />

soll, erläutern die Autoren der Bildungspläne nicht, auf<br />

jeden Fall soll es etwas anderes sein als das Basteln nach<br />

vorgegebenem Muster oder als angeleitete Handarbeit,<br />

aber es soll beides auch nicht ganz ersetzen. Denn wie<br />

kann man die Leistung einer Nähmaschine würdigen,<br />

wenn man selbst nie zwei Stücke Stoff <strong>mit</strong> Nadel <strong>und</strong> Faden<br />

verb<strong>und</strong>en hat? Technische Früherziehung soll Hand<br />

in Hand gehen <strong>mit</strong> Naturforschung im Kindergarten. Im<br />

Sommer 2005 hat das Bildungswerk der bayerischen Wirtschaft<br />

einen Kindergartenwettbewerb ausgelobt: „Es funktioniert?!<br />

Technik im Kindergarten<strong>“</strong>, bei dem erste Ideen<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen <strong>mit</strong> dem neuen Thema gesammelt werden<br />

sollen.


Seite: 28<br />

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In kurzer Zeit haben sich achtzig bayerische Kindergärten<br />

zur Teilnahme angemeldet. Während dieses Buch in Druck<br />

geht, sind die Projekte noch nicht abgeschlossen. Mehrere<br />

Kindergärten haben den Bau von Alarmanlagen angekündigt,<br />

auch wenn die Kinder noch nicht immer wissen, was<br />

sie da<strong>mit</strong> schützen wollen. (Eine Kindergruppe schlug vor:<br />

wir schützen unsere Alarmanlage.) Auch eine Anlage, die<br />

anzeigt, ab welcher Lautstärke der Schallpegel für die Ohren<br />

der Kinder unangenehm wird, ist in Arbeit. Für solche<br />

Projekte gibt es bisher keine Vorbilder, <strong>und</strong> die Unerschrockenheit,<br />

<strong>mit</strong> der Erzieherinnen nun schon seit einigen<br />

Jahren immer wieder neue Bildungsthemen aufgreifen,<br />

ist erstaunlich. <strong>Die</strong> Jury wird die Maßstäbe für<br />

gelungene Produkte erst entwickeln müssen.<br />

Was immer die Erzieher <strong>mit</strong> den Kindern entwickeln, es<br />

kann an keinen Vorgängern gemessen werden. Keiner der<br />

Autoren von Bildungsplänen kann sagen, wie man <strong>mit</strong><br />

großen Kindergruppen Haltungen des Tüftelns <strong>und</strong> Konstruierens<br />

aufbaut, die nicht so nervenverschleißend sind,<br />

dass sie nur einmal <strong>und</strong> nie wieder durchgeführt werden.<br />

In einigen Hamburger Kindertagesstätten gibt es seit<br />

2005 „physikalische Experimentierstationen<strong>“</strong>. <strong>Die</strong>ses Modellprojekt<br />

( „Versuch macht klug<strong>“</strong>) wird von der Universität<br />

Flensburg begleitet. In ausgewählten Lernstationen,<br />

den Kitas für einige Wochen zur Verfügung gestellt, sollen<br />

die Kinder Experimente ohne Anleitung durch Erwachsene<br />

ausführen können. <strong>Die</strong> Erzieherinnen <strong>und</strong> die wissenschaftliche<br />

Begleitung beobachten, ob die Stationen die<br />

Kinder zum Handeln <strong>und</strong> zu Fragen auffordern, <strong>und</strong> welche<br />

räumliche Umgebung dafür am günstigsten ist. <strong>Die</strong> Experimentierstationen<br />

sind inspiriert von der Mini-Phänomenta,<br />

einer Wanderausstellung, die von der Universität Flensburg<br />

für die Gr<strong>und</strong>schulen entwickelt wurde. <strong>Die</strong> Erzieher<br />

<strong>und</strong> die Eltern der Kitas werden angeregt, solche Experimentierstationen<br />

für die Kinder später nachzubauen,<br />

nachdem die Leihexponate wieder zurückgegangen sind.<br />

Solche „Versuchstationen<strong>“</strong> zu Themen wie Bauen, Konstruieren,<br />

Schwerkraft (begehbare Brücke, weiche Brücke,<br />

längste Kugelbahn), Wasser <strong>und</strong> Luft (Luftdruckhebebühne,<br />

Hydraulikspritzen, Luftballon im Luftstrom, Magdeburger<br />

Halbkugeln/Gummisaugheber), Bildern in Bewegung<br />

(Kita-Kino) , Magnetismus <strong>und</strong> Strom (Magnete <strong>mit</strong> verschiedenen<br />

Materialien, Durchgangsprüfer, Bleistifttonleiter)<br />

sind in der Ausstattung von Kindergärten etwas ganz<br />

Neues. Einige Hamburger Fachschulen für Erzieher haben<br />

sich inzwischen vorgenommen, <strong>mit</strong> ihren Schülerinnen an<br />

ähnlichen Experimentierstationen zu arbeiten. Anders als<br />

bei angeleiteten Experimenten <strong>mit</strong> einer Erzieherin, waren<br />

für manche Kinder diese Forscherecken auch deshalb in-<br />

teressant, weil sie in der Kita über einen längeren Zeitraum<br />

aus dem Augenwinkel verfolgen konnten, wie andere<br />

Kinder <strong>mit</strong> diesem Angebot umgingen. <strong>Die</strong> Kinder erklärten<br />

sich gegenseitig die Phänomene, „Magnet ist, wenn es die<br />

schwarzen Stücke nach oben zieht <strong>und</strong> das Plastik unten<br />

liegen bleibt.<strong>“</strong> „Was leitet, piept. Kork piept nicht, aber die<br />

Metallscheibe piept."<br />

Der katholische Kindergarten in Lüdinghausen, Westfalen,<br />

hat schon längere Erfahrung <strong>mit</strong> technischen Projekten.<br />

„Wir haben klein angefangen, das Projekt ist groß geworden<br />

durch die Kinder<strong>“</strong> (Nicole Borgmann, Leiterin). Im Kindergarten<br />

von Lüdinghausen gibt es nicht nur die obligate<br />

Puppenecke <strong>und</strong> Rollenspielkiste, sondern auch den Elektrobereich,<br />

die Wasserwerkstatt, die Ecke <strong>mit</strong> Magneten,<br />

das Kinderbüro <strong>mit</strong> Computer, das Modell des Sonnensystems,<br />

einen Bauwagen „Peter Lustig<strong>“</strong> als Werkstatt im<br />

Garten. Natürlich werden die Erzieherinnen oft gefragt, wie<br />

sich die Mädchen an den Technikprojekten beteiligen. Sie<br />

haben beobachtet, dass die Mädchen bei Projekten <strong>mit</strong><br />

dem Stromkreis vor allem dann initiativ wurden, wenn sie<br />

dadurch etwas verschönern konnten, das Puppenhaus<br />

elektrifizieren zum Beispiel, während die Buben sich ohne<br />

Umschweife für das Phänomen, das nackte Modell <strong>mit</strong> Leitung<br />

<strong>und</strong> Lämpchen, interessierten.<br />

Bei unseren Dreharbeiten zu „<strong>Die</strong> Befragung der <strong>Welt</strong><strong>“</strong> fielen<br />

die Mädchen als die aufmerksameren, ausdauernderen<br />

<strong>und</strong> artikulierteren Beobachterinnen auf. Da gab es keine<br />

„Sperren gegenüber Naturforschung<strong>“</strong> im vorschulischen<br />

Alter. Bei PISA 2001 haben die Mädchen in Deutschland in<br />

den naturwissenschaftlichen Fächern nicht auffällig<br />

schlechter abgeschnitten. Laut einer Studie der Association<br />

for Women in Science unterscheiden sich die Leistungen<br />

der Mädchen bis zur 6. Klasse in den mathematischen<br />

<strong>und</strong> naturwissenschaftlichen Fächern nicht von denen ihrer<br />

männlichen Mitschüler. 5 Der Frankfurter Physikdidaktiker<br />

Fritz Siemsen sieht ein Problem für die weiblichen<br />

Physikstudentinnen darin, dass sie von vorneherein<br />

größere Komplexität in Problemstellungen vermuten als<br />

ihre männlichen Kommilitonen, die die Aufgaben naiver,<br />

direkter, angehen. <strong>Die</strong> Berufswahl von Frauen in naturwissenschaftlich/technischen<br />

Feldern kann sich in relativ<br />

kurzer Zeit verändern. Der Anteil der Frauen im Architekturstudium,<br />

ehemals ein Männerfach, ist in den vergangenen<br />

zwanzig Jahren stark gestiegen. Anders ist es bei den Ingenieurwissenschaften.<br />

Unter den wenigen Studienanfängerinnen<br />

im Maschinenbau gibt es hohe Abbruchquoten,<br />

vor allem deshalb, vermutet der Soziologe Ortwin Renn,<br />

weil sie als Frauen im Studium so vereinzelt sind. Anders<br />

in Portugal: Seit ca. zwanzig Jahren sind dort fünfzig Pro-


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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

zent der Studienanfänger in den Ingenieurwissenschaften<br />

Frauen. Ortwin Renn erklärt das <strong>mit</strong> der Öffentlichkeitsarbeit<br />

am Image des Berufs in Portugal. Demnach wäre die<br />

Berufswahl im naturwissenschaftlich-technischen Feld<br />

durchaus zu beeinflussen.<br />

Zurück zur technischen Früherziehung. Auch im Sachunterricht<br />

der Gr<strong>und</strong>schulen, in dem einige Jahrzehnte lang<br />

die sozialen Themen dominiert hatten, wendet man sich<br />

neuerdings wieder stärker dem Naturforschen <strong>und</strong> technischen<br />

Projekten zu. In der „Regenbogenschule<strong>“</strong> im hessischen<br />

Münster nehmen drei Erstklässler beim „Kaputtversuch<strong>“</strong><br />

eine Reiseschreibmaschine auseinander. Sie waren<br />

überzeugt, dass es ihnen gelingen würde, sie zum Flugzeug<br />

umzubauen, <strong>und</strong> haben drei Sitzungen der so beliebten<br />

St<strong>und</strong>en in der Erfinderwerkstatt nur auf dieses Umbauprojekt<br />

verwandt. Sie haben dann ihre Grenzen<br />

erkannt. Doch der Realitätsschock hat sie nicht entmutigt.<br />

„Das erfinden wir später weiter", erklärten sie <strong>und</strong> suchten<br />

sich eine neue Aufgabe.<br />

Wie beispielsweise die Wunschmaschine Roboter-Schrubber,<br />

<strong>mit</strong> motorgetriebenem Zahnbürstenkopf. Oder den<br />

Roboter-Bodenwischer: Der aus einem Föhn ausgebaute<br />

Ventilator wurde an einer Stange angebracht, an dessen<br />

unterem Ende Läppchen befestigt waren. Wischend<br />

wandert das Gerät über den Tisch.<br />

<strong>Die</strong> Erfinderwerkstatt ist ein übersichtlicher, wohlgeordneter<br />

Raum. Werkstattpflege ist Teil aller Projekte. <strong>Die</strong> Lehrer<br />

führen Buch über die Versuche, die die Kinder besonders<br />

häufig nachfragen: Offensichtlich war da für die Kinder etwas<br />

unerledigt geblieben. <strong>Die</strong> Lehrer beteiligen die Kinder<br />

auch an der Bewertung der Experimente, einem Ranking<br />

der Versuche durch die Schüler: Ist das ein guter Versuch?<br />

Sollte der zum Dauerangebot in der Forscherwerkstatt<br />

werden? Und sie entwickeln gemeinsam <strong>mit</strong> den Viertklässlern<br />

„gute Experimente<strong>“</strong> für die Erstklässler. <strong>Die</strong><br />

älteren Schüler demonstrieren den Kleineren in Forscherkonferenzen<br />

ihre eigenen Projekte.<br />

Wie so oft, wenn ein Kindergarten oder eine Schule gute<br />

Ideen haben, dann sind es gleich sehr viele auf einmal. In<br />

der Regenbogenschule scheint Lehrern <strong>und</strong> Schülern immer<br />

die Schulzeit zu knapp. Eine der vielen wechselnden<br />

Rollen der Kinder bei den Werkstattst<strong>und</strong>en ist die des<br />

Zeitwächters. Er oder sie hat im Blick, dass die Kindergruppen<br />

beim Untersuchen <strong>und</strong> Tüfteln sich kurz vor der abschließenden<br />

Forscherkonferenz noch einmal darüber absprechen,<br />

wie sie ihr Vorgehen im Plenum darstellen<br />

werden. Und im Plenum versuchen die Zeitwächter dafür<br />

zu sorgen, dass jede Gruppe gleich viel Zeit zur Vorstellung<br />

bekommt.<br />

Eine kleine Gr<strong>und</strong>schule in einer ländlichen Gemeinde. Im<br />

abschließenden Forscherrat der Erfinderwerkstatt kommt<br />

die Sprache der Dritt- <strong>und</strong> Viertklässler auf Belastungstest<br />

... Saugnäpfe ... Leuchtdiode .... Tonkopf ... Schreib-Lesekopf<br />

.... Und es bestechen gebildete Sprachbewegungen<br />

wie: „Das geht folgendermaßen....", „Frau Bauer, kann es<br />

sein, dass...?", „Ich habe mich gefragt...", „das fand ich<br />

merkwürdig...", „dabei handelt es sich um...", „davon haben<br />

wir Proben genommen...", „hier habe ich herausgef<strong>und</strong>en....<br />

(Zwischenruf: „Immer nur du!", da korrigiert sich die<br />

Achtjährige) „nachdem die Meret mir gezeigt hat, dass..."<br />

<strong>Die</strong> Erstklässler können fünf randvoll gefüllte Gläser auf<br />

einem Tablett durch die ganze Werkstatt balancieren. Im<br />

Forscherraum gibt es auch ein Skelett. „Das teure Ding<br />

stand früher im Materialraum <strong>und</strong> wurde nur zu allen heiligen<br />

Zeiten ins Klassenzimmer getragen. Jetzt steht es immer<br />

hier, <strong>und</strong> die Kinder bauen manchmal daran, sie versuchen<br />

zum Beispiel, das Bein anders einzuhängen, ob der<br />

Mensch dann besser rückwärts laufen könnte? Aber behutsam,<br />

<strong>mit</strong> Gewalt geht nichts, das wissen sie. Frau Bauer<br />

hat auch beobachtet, dass in der Werkstatt nie geklaut<br />

wird. Während im Klassenzimmer, wenn Luftballons in der<br />

Mengenlehre eingesetzt werden, gelegentlich der eine<br />

oder andere verschwindet. <strong>Die</strong> Forscherwerkstatt an der<br />

Gr<strong>und</strong>schule hat das Freizeitverhalten der Kinder verändert,<br />

zum Beispiel die Wunschlisten für Weihnachten, erzählen<br />

die Eltern. <strong>Die</strong> Kinder wünschen sich weniger fertiges<br />

Spielzeug <strong>und</strong> stattdessen Baukästen, Materialkästen,<br />

Werkzeug.<br />

Mit welcher Professionalität gerade die bei den Kindern besonders<br />

beliebten „Kaputtversuche<strong>“</strong> begleitet werden, fällt<br />

den Lehrern selbst gar nicht auf. Auf Regalen stehen immer<br />

wieder neue Geräte, Toaster, Föhn, Uhren, Rührstab,<br />

Cassettenrecorder zum Zerlegen. Ein Kaputtversuch ist<br />

nicht Zerstören, <strong>und</strong> Vandalismus schon gar nicht. Aber<br />

beides wird beim Tun <strong>mit</strong>gedacht, <strong>und</strong> das ist erregend.<br />

„Wollt ihr, dass ich euch das erkläre?", fragt die Lehrerin<br />

gelegentlich in eine werkelnde Gruppe. Wenn dann die Kinder<br />

an ihr vorbeischauen, weiß sie Bescheid. <strong>Die</strong> Kinder<br />

brauchen Neuland. „<strong>Die</strong> Erwachsenen müssen zur Seite<br />

treten <strong>und</strong> Platz freigeben können", sagt Frau Bauer.<br />

Dann aber staut sie das Interesse an einer wichtigen Stelle.<br />

Drei Mädchen nahmen eine Nähmaschine auseinander,<br />

die eine Großmutter der Werkstatt für die Kaputtversuche<br />

überlassen hatte. <strong>Die</strong> Nähmaschine war so gut gewartet


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<strong>und</strong> geölt, wie das üblich war, als eine Nähmaschine noch<br />

den Ehrenplatz in der Aussteuer einnahm. <strong>Die</strong> Schrauben<br />

ließen sich butterweich lösen, <strong>und</strong> die drei Mädchen erfasste<br />

ein Furor, noch eine Schraube für mich zum Herausdrehen!<br />

<strong>und</strong> da ist noch eine für dich! Sie hatten nur noch<br />

Augen für Schrauben. Bald wäre alles in viele kleine<br />

Einzelteile zerlegt gewesen, <strong>und</strong> Schwungriemen <strong>und</strong><br />

Schiffchen, die nähmaschinen-spezifischen Bauteile,<br />

wären irgendwo unbeachtet im Haufen unter vielen<br />

Schrauben begraben worden. Da intervenierte die Lehrerin:<br />

Was ist das eigentlich für eine braune Substanz an<br />

dem großen Gewinde? <strong>Die</strong> Mädchen hielten inne, sie nahmen<br />

etwas Maschinenöl von einer große Schraube ab <strong>und</strong><br />

übertrugen es auf ein Glasplättchen (<strong>mit</strong> einem gewöhnlichen<br />

Teelöffel übrigens, nicht <strong>mit</strong> einem „Spatel<strong>“</strong> aus einem<br />

didaktischen Materialkasten), <strong>und</strong> legten die Probe<br />

unters Mikroskop. <strong>Die</strong> Lehrerin selbst war nicht weniger<br />

interessiert. Auf gleicher Augenhöhe untersuchten sie die<br />

Konsistenz von altem Schmieröl.<br />

*Textkapitel in Auszügen aus: Donata Elschenbroich: <strong>Welt</strong>w<strong>und</strong>er.<br />

Kinder als Naturforscher, München (<strong>Kunst</strong>mann)<br />

2005, S. 159 ff. Abdruck <strong>mit</strong> fre<strong>und</strong>licher Genehmigung der<br />

Autorin <strong>und</strong> des Verlags.<br />

1Lichtenberg, a.a.O., K308<br />

2a.a.O. 3Lichtenberg, Zit. Schöne, S. 113<br />

4Lichtenberg,a.a.O., J 1621<br />

5Südd.Zeitung 20.1.2005<br />

Donata Elschenbroich, Dr., <strong>Kultur</strong>wissenschaftlerin<br />

<strong>und</strong> Expertin für Bildung in frühen Jahren, arbeitet am<br />

Deutschen Jugendinstitut (DJI) auf dem Gebiet der<br />

international vergleichenden Kindheitsforschung.<br />

Veröffentlichungen: „<strong>Welt</strong>wissen der Siebenjährigen<strong>“</strong><br />

(2001), „<strong>Welt</strong>w<strong>und</strong>er. Kinder als Naturforscher<strong>“</strong><br />

(2005).


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JULIAN NIDA-RÜMELIN<br />

<strong>Kunst</strong>, Wissenschaft <strong>und</strong> jugendliche Lebenswelt<br />

I. <strong>Die</strong> Sprache<br />

Ich beginne scheinbar weit ab vom Thema <strong>mit</strong> einer Art<br />

sprachphilosophischen Perspektive, man könnte auch sagen,<br />

einer Wittgenstein'schen Perspektive. <strong>Die</strong> zentrale<br />

Idee ist die Folgende: Wenn wir uns verständigen, dann<br />

verständigen wir uns im Rahmen einer etablierten Praxis.<br />

Wir verwenden sprachliche Äußerungen, um uns etwas<br />

<strong>mit</strong>zuteilen <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> das funktioniert, ist es erforderlich,<br />

dass unsere Praxis gewisse Gemeinsamkeiten aufweist,<br />

dass sie bestimmten Regeln folgt, wie wir <strong>mit</strong> bestimmten<br />

Äußerungen in bestimmten Kontexten umgehen. Es gibt<br />

zwei mögliche Interpretationen der Wittgenstein'schen<br />

These, dass die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks<br />

sein Gebrauch ist.<br />

<strong>Die</strong> eine Interpretation ist behavioristisch: Man schaut<br />

sich an, welche Regeln werden von den Sprachbenutzern<br />

befolgt <strong>und</strong> dann stellt man fest, dass sie sich nicht präzise<br />

<strong>und</strong> explizit angeben lassen, weil das, was man beobachtet,<br />

immer noch unterschiedlich interpretiert werden<br />

kann. Welche Regel ist das eigentlich, die hier zur Anwendung<br />

kommt? Das Problem des Regelfolgens, <strong>mit</strong> dem sich<br />

Wittgenstein intensiv beschäftigt hat. Eine Äußerung, z.B.<br />

„Verlasse den Raum!<strong>“</strong>, adressiert an eine Person, hat eine<br />

klare Bedeutung. <strong>Die</strong>se zeigt sich daran, dass unter bestimmten<br />

Bedingungen – nämlich dass die Person, die das<br />

sagt, Autorität hat gegenüber der Person, die das hört –<br />

diese Weisung dann auch befolgt wird. Man betrachtet gewissermaßen<br />

wie ein Verhaltensforscher das menschliche<br />

Verhalten <strong>und</strong> stellt einen Zusammenhang her <strong>mit</strong> ihren<br />

Äußerungen. Das ist die eine Interpretation.<br />

<strong>Die</strong>se springt zu kurz <strong>und</strong> man kann sich das an Folgendem<br />

klar machen: Zwar ist die Redeweise weit verbreitet,<br />

dass man auch bei technischen Systemen davon spricht,<br />

dass sie kommunizieren, aber wir wissen natürlich alle,<br />

dass sie nicht wirklich kommunizieren. Ich würde sogar<br />

sagen, dass die berühmte Bienensprache ebenfalls keine<br />

echte Kommunikationsform ist. Alles deutet darauf hin,<br />

dass das strikt genetisch verankerte Prozesse sind <strong>und</strong><br />

die Bienen keine Absichten verfolgen <strong>mit</strong> ihren Zeichen,<br />

die sie geben. <strong>Die</strong> Biene hat solche Absichten nicht, die ihr<br />

da gerne zugeschrieben werden, etwa sie möchte die anderen<br />

Bienen auf eine Futterquelle aufmerksam machen<br />

etc. Sie müsste aber solche Intentionen haben, da<strong>mit</strong> das,<br />

was sie da als Zeichen äußert, dieses Fliegen in einer bestimmten<br />

Weise, Bedeutung hat. Um es auf die Spitze zu<br />

treiben: Der Thermostat weiß nicht, wie warm es im Zimmer<br />

ist. <strong>Die</strong> zweite, vernünftigere Interpretation ist daher:<br />

Wir haben so etwas wie einen vorsprachlichen Raum der<br />

Qualitäten, der Unterscheidungsfähigkeiten. Auf diese rekurrieren<br />

unsere Intentionen (<strong>und</strong> sicher auch die höher<br />

entwickelter Säugetiere). <strong>Die</strong>se Intentionen <strong>und</strong> der vorsprachliche<br />

Qualitätsraum bilden die beiden Pfeiler der<br />

Spracherlernens <strong>und</strong> der Bedeutungszuschreibung.<br />

Und da sind wir auch schon bei Kindern, bei Kleinkindern<br />

zumal. Jeder, der das un<strong>mit</strong>telbar in seiner Lebenswelt beobachtet,<br />

wird nicht bezweifeln können, dass Kinder über<br />

einen vorsprachlichen Qualitätsraum verfügen <strong>und</strong> dass<br />

sie dann sehr rasch die sprachlichen Ausdrücke korrelieren<br />

<strong>mit</strong> bestimmten Qualitäten. Man zeigt ihnen z.B. drei<br />

H<strong>und</strong>e <strong>und</strong> auf einmal erkennen sie jeden H<strong>und</strong> als H<strong>und</strong>,<br />

sogar jede H<strong>und</strong>eabbildung als H<strong>und</strong>eabbildung! Das geht<br />

aber nur, wenn vorher schon Qualitäten, also Unterscheidungen,<br />

möglich sind, bevor überhaupt die Sprache ins<br />

Spiel kommt.<br />

Sprache ist Praxis, Praxis heißt Austausch von Intentionen,<br />

von Absichten. Sprachliche Äußerungen erhalten Bedeutung<br />

durch die sie begleitenden Absichten, die sie steuern<br />

<strong>und</strong> <strong>mit</strong> denen Individuen dann aufeinander Bezug nehmen<br />

– das ist die Basis von sprachlicher Verständigung.<br />

Wenn man das zu Ende denkt, dann heißt das, dass die<br />

Frage, ob etwas eine bestimmte Bedeutung hat, nicht so<br />

sehr davon abhängt, welche Regeln etabliert sind (das ist<br />

die behavioristisch linguistische Perspektive), sondern in<br />

erster Linie davon abhängt, welche Intentionen im Spiel<br />

sind. Was beabsichtigt der Sprecher <strong>mit</strong> der Äußerung, welche<br />

Absichten erkennt der Hörer, wenn er die Äußerung<br />

hört: Das ist die Basis von Bedeutung. Uns steht das reichhaltige<br />

Reservoir von Äußerungen in Gestalt einer komplexen,<br />

grammatikalisch strukturierten Sprache <strong>mit</strong> Tausenden<br />

von Termen zur Verfügung. Da sind Regeln wichtig,<br />

da<strong>mit</strong> die Sprache entsprechend komplex werden kann,<br />

aber Verständigung kann man sich auch außersprachlich<br />

vorstellen, etwa in Gestalt bestimmter Zeichen, die geeignet<br />

sind, Intentionen <strong>mit</strong>zuteilen.<br />

Bei Wittgenstein gibt es eine w<strong>und</strong>erschöne Metapher, das


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ist die des Flussbetts: Wenn wir etwas begründen, z.B. eine<br />

Überzeugung, dann müssen wir auf etwas rekurrieren.<br />

<strong>Die</strong>ses Begründen hat natürlich irgendwo ein Ende <strong>und</strong> da<br />

bringt er das Bild des Flussbettes ins Spiel <strong>und</strong> sagt: Ich<br />

stelle mir das so vor, jedes Begründen hat ein Ende in<br />

nicht mehr weiter Begründbarem. Aber das Verhältnis von<br />

Begründetem <strong>und</strong> Begründendem ist ein fließendes Verhältnis,<br />

so wie in einem Flussbett der Übergang zwischen<br />

dem, was fließt <strong>und</strong> dem Bett des Flusses ein kontinuierlicher,<br />

ein fließender ist. Sie können sich so ein Flussbett<br />

<strong>mit</strong> Schlamm vorstellen, da gibt es einen Übergang, aber<br />

es ist nicht wirklich klar zu bestimmen, wann das Flussbett<br />

wirklich beginnt <strong>und</strong> wann der Fluss. Zudem ändert<br />

das Flussbett seinen Ort, es ist nicht ein für allemal starr,<br />

sondern verändert sich im Laufe der Jahrh<strong>und</strong>erte. <strong>Die</strong>se<br />

Flussbettmetapher gibt, so glaube ich, ein sehr schönes<br />

Bild: <strong>Die</strong> Lebenswelt Erwachsener ist durch eine weitgehend<br />

erstarrtes Flussbett charakterisiert.<br />

Uns ist vieles als nicht mehr näher begründungsbedürftig<br />

einfach selbstverständlich, steht fest, wird nicht in Frage<br />

gestellt. <strong>Die</strong>ses Flussbett ist bei Jugendlichen, zumal bei<br />

Kindern, eben im Fluss, es verändert sich, es ist noch flexibel,<br />

die Grenzen sind nicht klar. Was ist selbstverständlich,<br />

worauf kann man sich verlassen, was ist nicht selbstverständlich,<br />

was muss erst begründet werden? <strong>Die</strong><br />

berühmte Phase, die „Warum-Fragephase<strong>“</strong> von Kindern,<br />

die lange anhält, über Jahre hinweggeht, die bringt das<br />

zum Ausdruck. Das Flussbett ist noch nicht starr, es ist<br />

noch im Fluss <strong>und</strong> die Frage ist, wie weit muss es zementiert<br />

werden, um die Metapher auf die Spitze zu treiben<br />

<strong>und</strong> wie weit sollte es weich bleiben, dieses Flussbett?<br />

II. <strong>Die</strong> Wissenschaften<br />

<strong>Die</strong> moderne Wissenschaft beginnt <strong>mit</strong> einer globalen<br />

Skepsis, <strong>mit</strong> einer umfassenden Skepsis. Sie beginnt insbesondere<br />

<strong>mit</strong> solchen eminenten Denkern wie Descartes,<br />

auch Thomas Hobbes <strong>und</strong> anderen. Vorausgegangen war<br />

eine tiefe Erschütterung des etablierten <strong>Welt</strong>bildes. Vorher<br />

schien vieles klar <strong>und</strong> wo etwas nicht klar war, gab es Autoritäten,<br />

die entschieden, klerikale Autoritäten. Und es<br />

dauert einige Jahrh<strong>und</strong>erte, bis sich die Wissenschaft aus<br />

dieser Verankerung in einem autoritativ gesetzten, aber<br />

auch tief in der Lebenswelt des Mittelalters verankerten<br />

<strong>Welt</strong>bildes löst. Das geht von der italienischen Frührenaissance<br />

bis (im Gr<strong>und</strong>e) ins 18. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein, dieser<br />

Ablösungsprozess. Das ist ein Kampf, <strong>mit</strong> vielen Toten<br />

übrigens, die als Ketzer umgebracht wurden. Und man<br />

kann sogar sagen, dass die europäische Katastrophe des<br />

30-jährigen Krieges gewissermaßen das letzte Aufbäu-<br />

men des alten autoritativen <strong>Welt</strong>bildes gegenüber der<br />

dann durch Toleranz <strong>und</strong> Pluralität gekennzeichneten<br />

europäischen Aufklärung war.<br />

<strong>Die</strong> moderne Wissenschaft beginnt also <strong>mit</strong> einer umfassenden,<br />

tief greifenden, lebensweltumfassenden Skepsis.<br />

Wer das nicht glaubt, der lese die Meditationes von Descartes.<br />

Gerade die vierte Meditation ist besonders schön in<br />

dieser Hinsicht. Descartes sagt darin, dass er sich angewöhnt<br />

habe, seinen Wahrnehmungen kein Vertrauen mehr<br />

zu schenken: „Ich verlasse mich nur auf die Vernunft.<strong>“</strong><br />

Nicht einmal auf die Wahrnehmung will er sich verlassen,<br />

auf gar nichts mehr, nur noch auf die Vernunft. Und da<strong>mit</strong><br />

beginnt ein rationalistisches Zeitalter, das ist die erste<br />

Phase der modernen Wissenschaft. Vernünftig begründet,<br />

das ist Wissenschaft. Alles andere ist Intuition, Vorurteil,<br />

Lebenswelt <strong>und</strong> <strong>mit</strong> dieser rationalistischen Gestalt von<br />

Wissenschaft besonders im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert entfernen<br />

sich Wissenschaft <strong>und</strong> Lebenswelt voneinander.<br />

<strong>Die</strong> leitende Idee der rationalistischen Wissenschaft ist,<br />

dass wir <strong>mit</strong> einem völlig neuen Begründungsspiel beginnen,<br />

nämlich streng rational, aus unbezweifelbaren, der<br />

Vernunft un<strong>mit</strong>telbar zugänglichen Prämissen unsere wissenschaftlich<br />

begründeten Überzeugungen ableiten. Was<br />

nicht wissenschaftlich in diesem Sinne begründet ist, ist<br />

unbegründet, darauf kann man sich nicht verlassen. <strong>Die</strong>s<br />

ist ein unglaublich ehrgeiziges Programm <strong>und</strong> dieses Programm<br />

scheitert. Es scheitert deswegen, weil dieses ehrgeizige<br />

Ziel nicht erreichbar ist. Es ist nicht möglich, alles<br />

zu bezweifeln <strong>und</strong> dann von vorne noch einmal rational zu<br />

beginnen. Das haben bis in die Gegenwart immer wieder<br />

philosophische <strong>und</strong> wissenschaftliche Strömungen versucht,<br />

dies geht nicht. <strong>Die</strong> Lebenswelt imprägniert die<br />

Wissenschaft, im Guten wie im Schlechten. Im Guten, als<br />

dass wir ohne diese lebensweltliche Imprägnierung überhaupt<br />

keine Verlässlichkeit hätten, nicht vertrauen könnten.<br />

Das ist der Beginn der Wissenschaft, dass man sich<br />

wechselseitig vertraut, dass es einen gewissen Vertrauensvorschuss<br />

gibt, dass wir zum Beispiel ungefähr in der<br />

gleichen Weise Dinge beobachten. In den Naturwissenschaften<br />

ist dies ganz zentral.<br />

Wir haben in unserer Lebenswelt einen robusten Realismus.<br />

Es gibt Dinge, es gibt Menschen, es gibt das „Fremdpsychische<strong>“</strong>,<br />

wie das im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert gerne genannt<br />

wurde. Eine absurde Vorstellung, dass es nur mich gibt als<br />

Einziges <strong>und</strong> alles andere nur ein Schein wäre. Das sind alles<br />

verlässliche Orientierungen, die in unserer Lebenswelt<br />

verankert sind, die gesamte „Folk Psychology<strong>“</strong>, wie die<br />

Amerikaner das gerne nennen, also die volkstümliche Psy-


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chologie, <strong>mit</strong> der wir unser Alltagsleben steuern, ist unverzichtbar.<br />

Wir könnten gar nicht interagieren ohne diese<br />

„Folk Psychology<strong>“</strong>. <strong>Die</strong>s aber nicht als etwas, was in der<br />

Wissenschaft überw<strong>und</strong>en wird, genauso wenig wie unsere<br />

alltäglichen Beobachtungen <strong>und</strong> Überzeugungen die<br />

normalen Gegenstände unserer Lebenswelt betreffend:<br />

<strong>Die</strong>se <strong>mit</strong>telgroßen, festen Gegenstände unsere Lebenswelt<br />

betreffend, die werden nicht in Frage gestellt durch<br />

die Wissenschaft. Auch nicht durch Einstein. Nein, die Physik,<br />

auch die moderne, sehr unanschauliche, auch die<br />

Quantenphysik, gibt eine neue Interpretation der verschiedenen<br />

kausalen <strong>und</strong> systematischen Zusammenhänge.<br />

Sie entwickelt auch eine eigene Beschreibungsform, aber<br />

sie stellt das nicht in Frage. Manchmal wird im Hinblick auf<br />

Einstein gesagt, dass er alle unsere intuitiven physikalischen<br />

Vorstellungen revolutionierte, z.B. Gleichzeitigkeit<br />

gibt es nicht mehr im strengen Sinne. Das gilt aber nicht<br />

für normale Geschwindigkeiten, normale Entfernungen<br />

usw. Da gibt es Gleichzeitigkeit innerhalb unserer alltäglichen<br />

Messgenauigkeit. <strong>Die</strong> Einstein'sche Physik gerät<br />

nicht in Widerspruch zu unseren lebensweltlichen physikalischen<br />

Intuitionen. Das sieht nur so aus. Unsere Lebenswelt<br />

ist nicht durch diese Grenzbereiche charakterisiert,<br />

in der dann die Differenz zwischen unserer<br />

Alltagsphysik <strong>und</strong> der relativistischen Physik <strong>und</strong> der allgemeinen<br />

Relativitätstheorie deutlich wird. Das heißt, die<br />

Lebenswelt prägt die Wissenschaft, viel mehr als viele<br />

Wissenschaftler glauben oder viel mehr als ihnen sympathisch<br />

ist. <strong>Die</strong> Programme, die Wissenschaft als ein ganz<br />

anderes Rationalitätsmodell gegen die Lebenswelt stellen,<br />

scheitern. Das hat Descartes versucht als einer der großen<br />

Denker, auch Leibniz in gewissen Grenzen, Spinoza, aber<br />

diese großen Theoriegebäude haben heute lediglich einen<br />

philosophiehistorischen Wert, aber niemand wird mehr<br />

ernsthaft denken, man könne in dieser Weise Wissenschaft<br />

betreiben.<br />

Da<strong>mit</strong> bin ich noch einmal bei der Frage, wie sich das <strong>mit</strong><br />

den Regeln verhält <strong>und</strong> wie <strong>mit</strong> der Lebenswelt <strong>und</strong> speziell<br />

der jugendlichen Lebenswelt. Jetzt mache ich eine etwas<br />

boshafte Bemerkung: <strong>Die</strong>ses Selbstbild der rationalistischen<br />

Wissenschaft, zumal der rationalistischen<br />

Philosophie <strong>und</strong> rationalistischen Naturwissenschaft, hat<br />

auch unsere Bildungseinrichtungen stark geprägt. Etwa in<br />

der folgenden Weise: Wir müssen die Jugendlichen heranführen<br />

an etwas gr<strong>und</strong>stürzend anderes, was erst einmal<br />

eine völlig neue Rationalitäts- <strong>und</strong> Begründungsform ist,<br />

insbesondere in den Naturwissenschaften. Und dadurch<br />

entsteht bei einem guten Teil derjenigen, die das zu lernen<br />

haben, ein gar nicht so unnatürlicher Abwehrreflex. <strong>Die</strong><br />

mathematische Darstellungsform ist eine faszinierende<br />

Beschreibungsweise von Phänomenen, die meistens intuitiv<br />

sehr präsent sind. Aber die Schwierigkeit, diese Beschreibungsform,<br />

diese besondere Sprache, die die gesamten<br />

Naturwissenschaften imprägniert, zu akzeptieren,<br />

ist durch die Ideologie <strong>mit</strong>verursacht, es gäbe eine von der<br />

Lebenswelt abgekoppelte naturwissenschaftliche Realität,<br />

an die man die Jugendlichen heranführen muss, indem<br />

man sie erst einmal wegführt von dem, was ihnen vertraut<br />

ist. <strong>Die</strong>s scheint mir eine Schieflage herbeigeführt zu haben,<br />

die nicht ganz unproblematisch ist.<br />

III. <strong>Die</strong> Künste<br />

Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung der Künste. Da<br />

ist im Gr<strong>und</strong>e ein ganz ähnliches Phänomen zu beobachten.<br />

<strong>Die</strong> traditionelle <strong>Kunst</strong>, wobei „modern<strong>“</strong> <strong>und</strong> „traditionell<strong>“</strong><br />

in der <strong>Kunst</strong> sehr viel später einsetzt als in den modernen<br />

Wissenschaften. <strong>Die</strong> moderne Wissenschaft<br />

beginnt spätestens im frühen 17. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>mit</strong> Vorläufern<br />

seit der italienischen Renaissance. <strong>Die</strong> moderne<br />

<strong>Kunst</strong> beginnt um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende des 19. zum 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit: <strong>Die</strong> traditionelle<br />

<strong>Kunst</strong> war in den Regeln <strong>und</strong> Konventionen der<br />

etablierten Wahrnehmung <strong>und</strong> der etablierten - im weitesten<br />

Sinne - Politik- <strong>und</strong> Machtverhältnisse verankert. Es<br />

dominierten zwei Ausdrucksformen dieser Verhältnisse,<br />

jedenfalls in der bildenden <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> der Musik: die klerikale<br />

<strong>und</strong> die feudale. Das waren die beiden großen Prägemuster<br />

<strong>und</strong> die Künste knüpften un<strong>mit</strong>telbar an die Geschichten<br />

an, die allen bekannt waren, aus der Bibel etwa<br />

oder aus den Heldengeschichten der verschiedenen Fürstengeschlechter.<br />

In der Musik ist das alles noch ein bisschen<br />

komplizierter, aber jedenfalls für die bildende <strong>Kunst</strong><br />

gilt das <strong>und</strong> für weite Bereiche der Poetik <strong>und</strong> der Schriftstellerei.<br />

Was passiert gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts? Es passiert<br />

zweierlei. Einmal löst sich die <strong>Kunst</strong> aus diesen beiden<br />

großen, prägenden Paradigmen, aus den klerikalen<br />

<strong>und</strong> feudalen werden nun bürgerliche. Der Markt kommt<br />

charakteristischerweise ins Spiel. Es entsteht eine kaufkräftige<br />

Nachfrage, Auftragskunst geht zurück. <strong>Kunst</strong> ist<br />

nicht mehr in erster Linie Repräsentationskunst, auch in<br />

dem weiten Sinne der Repräsentationen sakraler Gehalte<br />

wie etwa in den Kirchen. Und das zweite ist: Sie löst sich<br />

aus den etablierten Formen, sie entwickelt sogar zunehmend<br />

zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts eine regelaverse,<br />

regelablehnende Attitüde, d. h. jede Regel, wenn mal etabliert,<br />

muss überw<strong>und</strong>en werden durch die nächste Phase<br />

einer innovativen <strong>Kunst</strong>entwicklung.


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<strong>Die</strong> Biografie Picassos ist eine permanente Abfolge von immer<br />

wieder neuen innovativen Entwürfen künstlerischer<br />

Formensprache. Das Faszinierende dabei ist, dass da<strong>mit</strong><br />

zweierlei passiert <strong>und</strong> zwar simultan passiert: Das eine<br />

ist, die Künste gewinnen zum ersten Mal eine Autonomie,<br />

die sie vorher nie in ihrer Geschichte hatten, eine autonome<br />

Formensprache, eine autonome Rolle <strong>und</strong> auch eine<br />

sehr innovative Rolle in der Gesellschaft. Aber sie büßen<br />

zur gleichen Zeit das ein, was ich gelegentlich als Lesbarkeit<br />

bezeichnet habe. Das kann man in dem Wittgenstein'schen<br />

Bild sehr schön klar machen. <strong>Die</strong> Regeln, die Lesbarkeit<br />

sichern, werden alle paar Jahre verändert <strong>und</strong> das<br />

können diejenigen <strong>mit</strong>machen, die sozusagen drin sind,<br />

d. h. die Fachwelt, die „Artworld<strong>“</strong>, wie das gelegentlich neudeutsch<br />

bezeichnet wird. Aber die, die draußen sind, verstehen<br />

das einfach nicht, so wie wenn wir die Wörter anders<br />

verwenden würden als wir es normalerweise in<br />

unserer Alltagssprache tun. Hier zeigt sich der Zusammenhang<br />

<strong>mit</strong> der Sprachphilosophie. In der Wissenschaft habe<br />

ich zum Beispiel von der mathematischen Sprache gesprochen.<br />

In der <strong>Kunst</strong> habe ich von Sprachen der <strong>Kunst</strong> gesprochen.<br />

<strong>Die</strong> Künste <strong>und</strong> die Wissenschaften sind verschiedene<br />

Praktiken der Verständigung. Und wenn sich die<br />

Regeln dauernd ändern, dann wird es schwierig, jeweils<br />

sicher zu stellen, dass nach wie vor die Leute das selbe<br />

meinen, wenn sie die selben Ausdrücken verwenden. Das<br />

heißt, es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen diesem<br />

innovativen Potenzial der modernen <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> der<br />

Lesbarkeit der modernen <strong>Kunst</strong>. <strong>Die</strong>ses Spannungsverhältnis<br />

hält bis heute an.<br />

Es ist charakteristisch für die moderne <strong>Kunst</strong>entwicklung,<br />

dass die Bürger, auch die kulturinteressierten, in der Regel<br />

einige Jahrzehnte hinterherhinken. So sind z.B. Ausstellungen<br />

zur klassischen Moderne der Renner, sind immer<br />

voll, das war zu Lebzeiten der Künstler nicht so. Der „Blaue<br />

Reiter<strong>“</strong> in München war eine belächelte Randerscheinung<br />

der damaligen <strong>Kunst</strong>, gerade in München <strong>mit</strong> einer besonders<br />

konservativ abwehrenden Stimmung gegenüber diesen<br />

neuen Strömungen. Aber München war im Rückblick<br />

betrachtet neben Paris die vielleicht zweitwichtigste europäische<br />

<strong>Kunst</strong>stadt in dieser Zeit. Aber das war damals<br />

nicht Mainstream, man könnte sagen, es wird gewissermaßen<br />

nachholend gelernt, welche Regelveränderungen<br />

stattgef<strong>und</strong>en haben. Erst dann wird die Sprache wieder<br />

verständlich <strong>und</strong> dann entsteht das Interesse. In der zeitgenössischen<br />

Musik ist es besonders extrem. Da ist der<br />

Kreis derjenigen, die in die entsprechenden Konzerte gehen,<br />

sehr klein <strong>und</strong> er beschränkt sich meist auf die Studierenden<br />

von Musikhochschulen <strong>und</strong> Angehörigen der jeweiligen<br />

Komponisten. Ich karikiere jetzt etwas, aber hier<br />

droht ein kultureller Fadenriss, eine große <strong>Kunst</strong>gattung<br />

erstarrt in Traditionspflege.<br />

IV. Jugendliche Lebenswelt<br />

Was bis dahin hoffentlich in Umrissen klar geworden ist:<br />

Es gibt einen komplexen Zusammenhang zwischen Lebenswelt,<br />

Verständigung, <strong>Kunst</strong>, Wissenschaft <strong>und</strong> dem<br />

innovativen Potenzial, was in <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft<br />

steckt. <strong>Die</strong> dauernde Veränderung. Lesbarkeit, Verständlichkeit<br />

beruht auf etablierten Regeln, die ich kenne <strong>und</strong><br />

auf die ich mich verlasse. Innovation beruht auf Veränderung<br />

der Regeln in Wissenschaft <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong>. Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> <strong>Kunst</strong> sind die zwei Kerne der Innovation der Gesellschaft.<br />

<strong>Die</strong>se zwei Kerne hängen viel enger <strong>mit</strong>einander<br />

zusammen, wenn man in die Geschichte der <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong><br />

Wissenschaftsentwicklung schaut, als es heute erscheint.<br />

<strong>Die</strong> jugendliche Lebenswelt <strong>und</strong> die kindliche Lebenswelt<br />

hat den Vor- <strong>und</strong> den Nachteil, relativ wenig durch Regeln<br />

verfestigt zu sein. Es ist noch fast alles offen. <strong>Die</strong> die Erwachsenen<br />

gelegentlich amüsierenden Worterfindungen,<br />

Satzbauformen, die oft merkwürdigen Assoziationen, das<br />

ist typisch für dieses Nichtfestgelegte <strong>und</strong> es macht uns<br />

Erwachsenen den riesigen Raum der Möglichkeiten bewusst.<br />

Kluge Eltern korrigieren nicht permanent, sind sozusagen<br />

nicht die Zementbauer des Flussbettes, sondern<br />

lassen das ein bisschen treiben. Sie reden natürlich selbst<br />

weitgehend in ihrer etablierten Sprache, übernehmen gelegentlich<br />

einiges, was kleine Kinder erfinden, um sich gegenüber<br />

diesen verständlich zu machen, da ist eine Art<br />

Sprachschöpfung im Spiel. Im Laufe der Jahre sedimentiert<br />

das, etabliert sich als Flussbett - <strong>mit</strong> allerdings<br />

fließenden Übergängen - in einer alltäglichen Sprachverwendung,<br />

wie das Erwachsene kennen. Das heißt dann<br />

„Akkulturation<strong>“</strong> oder „Sozialisation<strong>“</strong> oder wie auch immer,<br />

d. h. wir haben uns auf diese Regeln letztlich verständigt<br />

<strong>und</strong> halten sie ein.<br />

Und jetzt kommt das Aber: Denn da<strong>mit</strong> geht etwas verloren,<br />

nämlich die Offenheit der Regeln des Flussbettes, das<br />

Weiche, das Formbare. Das macht ja gerade das Besondere<br />

von <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft aus. Man kann alles auch<br />

ganz anders interpretieren <strong>und</strong> ganz anders sehen <strong>und</strong> die<br />

Regeln von heute auf morgen ändern. Einstein ist ein w<strong>und</strong>erbares<br />

Beispiel. Ich habe in diesem Jahr noch einmal alle<br />

Aufsätze, die er im Jahre 1905 geschrieben hat, gelesen.<br />

Sie sind von lakonischer Kürze, kommen völlig ohne<br />

empirische Datenerhebung aus. Aber das, was vorfindlich<br />

ist, was allen bekannt war, interpretieren sie in einer radikalen,<br />

revolutionären Weise neu.


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Eine neue Interpretation bieten für das, was allen bekannt<br />

war. Das war zuerst einmal überhaupt nicht überzeugend.<br />

Für die Mehrzahl der Physiker hat es ein paar Jahre gebraucht,<br />

bis das allgemeine Anerkennung fand, eigentlich<br />

bis zu seinem Nobelpreis. Auch wenn man die Begründung<br />

des Nobelpreises 1921, sechzehn Jahre nach dem annus<br />

mirabilis, ansieht, zeigt sie eine gewisse Skepsis <strong>und</strong> sie<br />

bezieht sich fast ausschließlich auf den fotoelektrischen<br />

Effekt, d. h. also auf das, was man noch am eindeutigsten<br />

für belegbar hielt. <strong>Die</strong> Dinge, bei denen man sich nicht so<br />

sicher war, ob sie auf Dauer Bestand haben, die ließ man<br />

lieber weg. Anders formuliert: Einstein hätte eigentlich 5<br />

Nobelpreise verdient gehabt für jeden dieser Aufsätze im<br />

Jahr 1905 <strong>und</strong> man hat eben einen ausgewählt. Warum ich<br />

springe ist, Einstein ist derjenige, der sagt, ich trau dem<br />

Braten nicht, ich schau mir das mal an, überlege, ob es<br />

nicht vielleicht eine viel elegantere, wenn auch unseren<br />

Intuitionen widersprechende Interpretation gibt.<br />

Es ist etwas Kindliches darin zu sagen: „Ich steig aus diesem<br />

Flussbett aus, in dem wir uns alle bewegen <strong>und</strong> versuche<br />

einmal ganz etwas anderes.<strong>“</strong> Aufgr<strong>und</strong> dieser geradezu<br />

kindlichen Neugierde haben manche Einstein<br />

übrigens – zu Unrecht – vor allem in Amerika später karikiert<br />

als wissenschaftliches Genie, das sich aber eben<br />

sonst in Politik <strong>und</strong> Alltag gar nicht auskennt. Sein politisches<br />

Wirken sollte da<strong>mit</strong> abgeschwächt werden, weil er<br />

sich eindeutig positioniert hat in vielen humanitären Fragestellungen<br />

<strong>und</strong> das war vielen unbequem. So naiv im<br />

Umgang <strong>mit</strong> anderen wie manche Zeitzeugen <strong>und</strong> vor allem<br />

Journalisten das karikiert haben, war er <strong>mit</strong> Sicherheit<br />

nicht. Ich glaube, manches zeigt im Gegenteil eine hohe Intelligenz<br />

auch in Alltagsinteraktionen. Es gibt eine schöne<br />

Anekdote: Einer der wenigen deutschen Physiker, <strong>mit</strong> denen<br />

er nach der Zeit der NS-Diktatur Kontakt hatte, war Von<br />

der Laue. Ein Kollege ging in den 50-er Jahren nach<br />

Deutschland zurück <strong>und</strong> Einstein sagte zu ihm: „Grüßen<br />

Sie Laue!<strong>“</strong> Der antwortete, dass sich viele freuen werden,<br />

wenn er Grüße ausrichte <strong>und</strong> zählte verschiedene Namen<br />

auf. Einstein zögerte <strong>und</strong> sagte: „Grüßen Sie Laue!<strong>“</strong> Das ist<br />

etwas ungewöhnlich in der Kommunikationsform, aber es<br />

scheint mir eine ausgesprochen intelligente Art zu sein,<br />

<strong>mit</strong> der angespannten Situation, nach allem, was war, umzugehen,<br />

wenn er auch von sich selbst zugegeben hat,<br />

dass ihm vielleicht im Nahbereich die Warmherzigkeit fehle,<br />

wie vielen sehr intelligenten Menschen. Das war sicher<br />

nicht ganz unproblematisch, insbesondere für die Frauen<br />

in seinem Leben, aber das ist jetzt nicht das Thema, was<br />

wir hier vertiefen müssen.<br />

V. <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft in der jugendlichen Lebenswelt<br />

Von Max Weber stammt die berühmte These, dass wir in einem<br />

permanenten Rationalisierungs- <strong>und</strong> Entzauberungsprozess<br />

sind. Das ist die Moderne, Entzauberung ist der<br />

Kern der modernen Entwicklung. Weber hat das bedauert,<br />

aber so analysiert. <strong>Die</strong> individuelle Entwicklung des Erwachsenwerdens<br />

kann man durchaus als eine Entzauberung<br />

sehen, verschiedene Fantasiegebilde, das fließende<br />

Übergehen von Fantasie in Realität, treten zurück, das<br />

Realitätsprinzip, von dem die Psychoanalytiker sprechen,<br />

bemächtigt sich zunehmend der privaten Lebensorientierung.<br />

<strong>Kunst</strong> ist das Mittel der Wiederverzauberung, der Uminterpretation,<br />

des Widerständigen gegenüber den Rationalitäten<br />

der Ökonomie <strong>und</strong> der eng verstandenen Wissenschaft.<br />

<strong>Kunst</strong> ist in der Hinsicht ein Beitrag, dieser Form<br />

der Rationalisierung eine andere Logik entgegen zu setzen,<br />

in ganz verschiedenen Formen, in irritierenden Formen,<br />

Provokation, regelbrechenden Formen, auch unterdessen<br />

wieder narrative, Geschichten erzählende <strong>Kunst</strong>.<br />

Und das erklärt, glaube ich, die besondere Faszination gerade<br />

der zeitgenössischen Vielfalt von <strong>Kunst</strong> für Jugendliche.<br />

Es sind oft eher die Erwachsenen, die sich aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer festen Erwartungen, wie denn <strong>Kunst</strong> zu sein hat, gegenüber<br />

modernen <strong>Kunst</strong>entwicklungen abschließen,<br />

während Jugendliche meist überhaupt kein Problem haben,<br />

sich darauf einzulassen, weil sie eben dieses zementierte<br />

Flussbett noch nicht kennen. <strong>Die</strong> Dinge sind noch<br />

variabel, sind noch offen.<br />

<strong>Die</strong> moderne Wissenschaft hat sich gelöst aus der Scholastik.<br />

Scholastik heißt Schulwissenschaft <strong>und</strong> überall dort,<br />

wo Wissen verschult wird d. h. in ganz bestimmten kanonischen<br />

Formen dargeboten wird, geht dieses Innovative,<br />

Kreative, etablierte Regeln auch Gefährdende, geht wissenschaftliche<br />

Innovation verloren. <strong>Die</strong> Scholastik ist der<br />

Feind der Wissenschaft, Verschulung ist der Feind des forschenden<br />

Geistes. Deswegen müssen wir sehr aufpassen,<br />

dass wir jetzt bei der Umstellung auf stärker verschulte<br />

Studiengänge nicht den Rest des Humboldt'schen Geistes<br />

der Verbindung von Forschung <strong>und</strong> Lehre <strong>und</strong> Kreativität<br />

vertreiben, den Rest, der sich noch da <strong>und</strong> dort hält.<br />

Das heißt, <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft sollten jedenfalls auch<br />

un<strong>mit</strong>telbar, nicht nur ver<strong>mit</strong>telt über Pädagogik, zugänglich<br />

sein. <strong>Die</strong> un<strong>mit</strong>telbare Begegnung <strong>mit</strong> Künstlern ist<br />

etwas, was Jugendliche fasziniert <strong>und</strong> zwar gerade weil<br />

Künstler meistens rücksichtslos in ihrer Kreativität sind.<br />

<strong>Die</strong> sagen: „Hier stehe ich <strong>und</strong> wenn ihr <strong>mit</strong>machen wollt,


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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

macht <strong>mit</strong>, ansonsten geht ihr nach Hause.<strong>“</strong> Ich kenne das<br />

von meinem eigenen Vater, der auch Künstler war. <strong>Die</strong>se<br />

gewisse Rücksichtslosigkeit kommt bei Jugendlichen sogar<br />

an. Das ist nicht pädagogisch weich gespült, es ist irritierend,<br />

es ist manchmal sogar brutal. Wir haben in München<br />

diese Erfahrungen unter anderem <strong>mit</strong> dem Projekt<br />

„West End Opera<strong>“</strong>. <strong>Die</strong> schwierigen Jugendlichen waren auf<br />

einmal <strong>mit</strong> Künstlern konfrontiert, die sagen: „Ihr seid<br />

pünktlich da oder ihr macht nicht mehr <strong>mit</strong>.<strong>“</strong> Und auf einmal<br />

geht, was man nie für möglich gehalten hat, zum Beispiel<br />

regelmäßig da zu sein <strong>und</strong> die Bühnenshow vorzubereiten.<br />

Moderne Ästhetik ist eine Schrumpfform. Was wir heute<br />

unter Ästhetik verstehen, hat <strong>mit</strong> dem ursprünglichen Begriff<br />

nicht mehr allzu viel zu tun. Was ich meine, ist die<br />

umfassende Fähigkeit einer komplexen <strong>und</strong> differenzierten<br />

Wahrnehmung. <strong>Die</strong>se zu fördern, scheint mir in unseren<br />

Bildungseinrichtungen zu kurz zu kommen. Nach meinem<br />

oberflächlichen Eindruck, mehr als Elternteil denn als<br />

Philosoph, habe ich den Eindruck, dass Kinder in einer Präzision<br />

wahrnehmen, die später wahrscheinlich notgedrungen<br />

verloren gehen muss, um ihnen eine Horizont öffnende<br />

Orientierung zu ermöglichen. Kinder haben eine ganz<br />

präzise, geradezu mikrokosmische, d.h. auf den kleinen<br />

Kosmos gerichtete Aufmerksamkeit <strong>und</strong> deswegen auch<br />

eine immense Offenheit für alle ästhetischen Veränderungen<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen. <strong>Die</strong>sen großen Schatz muss man<br />

ernst nehmen, das ist genau die Verbindung, die man<br />

braucht: Kognition <strong>und</strong> Ästhetik, das hängt eng <strong>mit</strong>einander<br />

zusammen.<br />

<strong>Die</strong> moderne Naturwissenschaft ist anders als man das in<br />

vielen Lehrbüchern nachlesen kann. Sie ist vor allem ein<br />

Verdienst von Frauen, von adligen Damen zugegebenermaßen,<br />

die Salons unterhalten haben. Und in diesen Salons<br />

wurde allerlei Zauberwerk veranstaltet, da krachte<br />

<strong>und</strong> blitzte es usw. <strong>und</strong> junge Naturforscher wurden eingeladen,<br />

ihre jüngsten Experimente auf diese Weise vorzustellen<br />

<strong>und</strong> zu entwickeln. <strong>Die</strong> Salons adliger Damen sind<br />

für die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft gar<br />

nicht zu überschätzen.<br />

<strong>Die</strong>s zeigt aber die enge Verbindung von drei Dingen, nämlich<br />

Spiel, <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft. Das sind künstlerisch<br />

qualitätsvolle Präsentationen <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong> spielt auch in der<br />

Hinsicht eine Rolle, als dass wissenschaftliche Theorien einen<br />

Entwurfscharakter <strong>mit</strong> ästhetischen Qualitäten haben.<br />

Sie sollten elegant sein, schön sein. Theoretische<br />

Physiker schwärmen immer von der Schönheit von Theorien<br />

<strong>und</strong> leiden darunter, dass es in letzter Zeit etwas<br />

schwierig geworden ist, die Schönheit der Theorien darzustellen.<br />

Einstein ist da vielleicht das letzte überzeugende<br />

Beispiel für eine ästhetisch schöne Theorie in der Physik.<br />

Aber Theorien sind nicht etwas, was man aufgr<strong>und</strong> von<br />

Verallgemeinerung von Daten erhält, sondern das sind geistige,<br />

kreative Entwürfe, so wie ein Architekt ein Haus entwirft.<br />

Theorien haben Entwurfscharakter, sie sind in der<br />

Hinsicht <strong>Kunst</strong>, sie haben eine künstlerische Qualität. Es<br />

gibt einen engen Zusammenhang zwischen Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> <strong>Kunst</strong>. Und beide, Wissenschaft <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong>, haben ein<br />

enges Verhältnis zum Spielerischen, zum Ausprobieren,<br />

zum Spiel, zum Nichtfestgelegten <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> zu dem, was<br />

die kindliche <strong>und</strong> jugendliche Lebenswelt in der einen oder<br />

anderen Form sehr stark prägt. Das Spielerische ist eigentlich<br />

das Zentrum, ohne Druck, ohne die Erwartung, die Ergebnisse<br />

gleich präsentieren zu müssen, ohne Nutzanwendung.<br />

Das macht das Spiel aus. Es entlastet.<br />

Gr<strong>und</strong>lagenforschung <strong>und</strong> Forschung generell muss entlastet<br />

werden, muss spielerisch bleiben können, das war immer<br />

die Voraussetzung für erfolgreiche Forschung <strong>und</strong> erfolgreiche<br />

Wissenschaft: dass sie etwas Spielerisches hat,<br />

dass sie Spiel ist. Und wer heute die zunehmend sich etablierenden<br />

Regeln der Beantragung von Dritt<strong>mit</strong>telprojekten<br />

kennt, der weiß, was ich meine, wenn ich sage, dass<br />

die Gefahr besteht, dass diese spielerische Qualität von<br />

Forschung verloren geht.<br />

Deswegen glaube ich, dass wir einen Fehler machen, wenn<br />

wir Kinder <strong>und</strong> Jugendliche in dieser Trias Spiel, Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> <strong>Kunst</strong> nicht von vornherein <strong>mit</strong> zum Teil schon<br />

sehr avancierten Formen von Wissenschaft <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong><br />

Kontakt aufnehmen lassen. Das muss nicht alles im Detail<br />

verstanden werden. Für die ästhetische Qualität von wissenschaftlichen<br />

Experimenten <strong>und</strong> künstlerischen Produkten<br />

sind Kinder <strong>und</strong> Jugendliche sehr offen. Ich weiß,<br />

dass es dazu gute Bücher, gute Museumsangebote –<br />

gerade hier im Deutschen Museum –, gute Workshops, ein<br />

weites Feld erfolgreicher Praxis gibt, aber ich denke, das<br />

ist ausweitbar.<br />

Julian Nida-Rümelin, Prof. Dr., Ordinarius für politische<br />

Theorie <strong>und</strong> Philosophie an der Universität München.<br />

Letzte Buchpublikationen: Über menschliche Freiheit<br />

(Reclam 2005); Humanismus als Leitkultur (C.H.Beck<br />

2006).


Seite: 37<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

JAN SCHMOLLING<br />

„Fliegengewicht für Quadratköpfe<strong>“</strong> - Der andere Blick von Jugendlichen<br />

BEISPIELE AUS DEM DEUTSCHEN JUGENDVIDEOPREIS YOUNG MEDIA<br />

Junge Menschen zum kreativen Umgang <strong>mit</strong> audiovisuellen<br />

Medien zu motivieren <strong>und</strong> ihre Sichtweisen in den öffentlichen<br />

Diskurs einzubringen, zählt zu den Aufgaben<br />

des Kinder- <strong>und</strong> Jugendfilmzentrums in Deutschland<br />

(KJF). Weit über 30.000 Medienmacherinnen <strong>und</strong> Medienmacher<br />

haben sich <strong>mit</strong> mehr als 6.000 Produktionen an<br />

dem im Auftrag des B<strong>und</strong>esjugendministeriums veranstalteten<br />

Wettbewerb beteiligt, der 1988 unter der Bezeichnung<br />

Jugend <strong>und</strong> Video gestartet wurde <strong>und</strong> heute Deutscher<br />

Jugendvideopreis YOUNG MEDIA heißt. Das Archiv<br />

beinhaltet ca. 500 Videofilme, die einen umfassenden<br />

Überblick über die Veränderung der inhaltlichen <strong>und</strong><br />

ästhetischen Trends bieten.<br />

Doch es sind nicht allein Breitenwirksamkeit <strong>und</strong> Resonanz,<br />

die die Bedeutung dieses Wettbewerbs ausmachen;<br />

es ist insbesondere auch die Qualität der Filme, die sich,<br />

zumal bei den prämierten Beiträgen, durch authentische<br />

Sichtweisen, unkonventionelle Zugänge <strong>und</strong> subversive<br />

Bilder auszeichnen. <strong>Die</strong>ser andere Blick von Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen steht beim Deutschen Jugendvideopreis im<br />

Mittelpunkt.<br />

Alles ist relativ: Wechselbeziehungen von Raum <strong>und</strong> Zeit<br />

sind charakteristisch für künstlerische Prozesse <strong>und</strong> insbesondere<br />

Film vermag das Raum- <strong>und</strong> Zeitkontinuum<br />

reichlich durcheinander zu wirbeln. Das Jonglieren <strong>mit</strong><br />

Realitäten, die Wechsel von Perspektiven, die Hinterfragung<br />

vermeintlicher Gewissheiten usw., dem Macher verleiht<br />

der Film unbegrenzte Kreativ-Ressourcen <strong>und</strong> dem<br />

Zuschauer das Erlebnis neuer ungeahnter Zusammenhänge.<br />

Zum Thema der Veranstaltung „...<strong>leidenschaftlich</strong> <strong>neugierig</strong><br />

– <strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong>erforschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong><strong>“</strong> passend<br />

möchte ich exemplarisch zwei Kurzfilme<br />

präsentieren. Zunächst Fliegenpflicht für Quadratköpfe,<br />

über den sein Autor Stephan Müller lapidar schreibt: "Eine<br />

22-jährige Berliner Flitzpiepe stellt Methoden der nachhaltigen<br />

Langeweileverscheuchung vor.<strong>“</strong><br />

Fliegenpflicht SCREENSHOTS „HÜTE<strong>“</strong><br />

<strong>Die</strong> Jury urteilte über Fliegenpflicht für Quadratköpfe:<br />

„Selten kommen so viele kreative Einfälle in einem Kurzfilm<br />

zusammen: sprechende Taschen, Dächer als formschöne<br />

Hüte aufgesetzt, lebende Plakatkunst. Stefan Müller<br />

platzt nur so vor Ideen. Seine kuriosen <strong>und</strong> originellen<br />

Einfälle sind voller Energie <strong>und</strong> Lebensfreude <strong>und</strong> reißen<br />

einen aus dem Kinosessel. Mit einem wachsamen Blick für<br />

lustige Umcodierungen von Gegenständen <strong>und</strong> Stadtumgebungen<br />

kreiert er einen Film, der nicht nur durch seinen<br />

Humor besticht. Auch die mutige Umsetzung <strong>mit</strong> einer<br />

w<strong>und</strong>erbar verknüpfenden Montage der einzelnen Sketche<br />

ist stilvoll im Film untergebracht. <strong>Die</strong> amüsanten Einfälle<br />

kommen ohne aufwändige Effekte aus <strong>und</strong> zeugen doch<br />

von Tiefgang <strong>und</strong> Intelligenz.<strong>“</strong><br />

Fliegenpflicht SCREENSHOTS „STOP<strong>“</strong> + andere<br />

Während der Film Fliegenpflicht für Quadratköpfe in quasidadaistischer<br />

Manier <strong>mit</strong> Gestaltungs- <strong>und</strong> Wahrnehmungsmustern<br />

spielt, hat der Kurzfilm Das Universum –<br />

Ein Produkt des Zufalls? von Nicolaus Chibac, ein Preisträger<br />

des Jahres 2000, das Thema, naturwissenschaftliche<br />

Zusammenhänge <strong>mit</strong> künstlerischen Mitteln vorstellbar zu<br />

machen. <strong>Die</strong> Handlung: Der Protagonist soll ein Referat<br />

vorbereiten <strong>und</strong> verzweifelt ob der spröden Theorie. „Wenn<br />

ich das morgen vortrage, die schlafen mir doch ein<strong>“</strong>, so<br />

seine Befürchtung. Nach einem kreativen Impuls beginnt<br />

er <strong>mit</strong> Farben, Airbrush <strong>und</strong> Wasserverwirbelungen zu experimentieren:<br />

Astronomie – einmal anders lautet sodann<br />

seine Devise.<br />

<strong>Welt</strong>all SCREENSHOTS<br />

Das Fazit der Jury: „Nicolas Chibac schafft <strong>mit</strong> seinem Video<br />

eine ausdrucksstarke Analogie. Farbwirbel <strong>und</strong> Farbverläufe<br />

im Wasser dienen zur Veranschaulichung von<br />

Phänomenen im Universum. <strong>Die</strong> Erforschung des <strong>Welt</strong>alls<br />

<strong>und</strong> die Entstehung eines Bildes stehen in einem direkten<br />

Zusammenhang. Durch die dichte filmische Auflösung in<br />

bemerkenswerten Kameraperspektiven <strong>und</strong> präzisen Montagen<br />

entsteht aus einem Mikrokosmos die Vorstellung<br />

vom Makrokosmos. Nicolas Chibac zeigt sich dabei gleichermaßen<br />

ästhetisch <strong>und</strong> fachlich versiert.<strong>“</strong><br />

<strong>Die</strong>se Filmbeispiele verweisen in anschaulicher Weise auf<br />

die Affinitäten von Wissenschaft <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong>, auf den<br />

künstlerisch inspirierten Forschergeist <strong>und</strong> das durch wissenschaftliches<br />

Interesse motivierte künstlerische Handeln.<br />

Sie demonstrieren die Chancen, Erkenntnisprozesse<br />

zu fördern, wenn man sich den Naturwissenschaften <strong>mit</strong><br />

künstlerischen Mitteln annähert. Für die Bildungsarbeit<br />

ergeben sich u.a. folgende Schlussfolgerungen:


Seite: 38<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Künstlerische Interventionen sind in besonderem Maße<br />

geeignet, abstrakte naturwissenschaftliche Themenbereiche<br />

sinnlich nachvollziehbar zu machen.<br />

Der Blick von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen ist etwas Besonderes<br />

<strong>und</strong> Einzigartiges. Er verdient Wertschätzung<br />

<strong>und</strong> braucht Veröffentlichung, denn er erweitert die individuelle<br />

<strong>und</strong> gesellschaftliche Wahrnehmungsfähigkeit.<br />

Medienforen wie der Deutsche Jugendvideopreis können<br />

für die Bildungsarbeit in vielerlei Hinsicht wirksam sein:<br />

produktionsseitig, auf den Autor bezogen, durch die Anerkennung<br />

seiner Leistung <strong>und</strong> rezeptionsseitig als Vorbild<br />

<strong>und</strong> Motivation für den Zuschauer. Motivieren zum selbstbewussten<br />

multimedialen Querdenken – darum geht es<br />

dem KJF. Kinder <strong>und</strong> Jugendliche sollen nicht als angepasste<br />

Mitglieder einer Matrix „funktionieren<strong>“</strong> wie in dem<br />

gleichnamigen Kinofilm, sondern sollen das System, die<br />

<strong>Welt</strong> in der sie leben, hinterfragen <strong>und</strong> neu gestalten. Film<br />

ist ein Medium, <strong>mit</strong> dem das auf eine faszinierende Weise<br />

erprobt <strong>und</strong> umgesetzt werden kann.<br />

Jan Schmolling ist wissenschaftlich-pädagogischer<br />

Mitarbeiter des Kinder- <strong>und</strong> Jugendfilmzentrums (KJF)<br />

<strong>und</strong> dessen stellvertretender Leiter.


Seite: 39<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

MANFRED GRUNENBERG<br />

www.start-ab.com<br />

INTERNATIONALER REMIX-CONTEST IM INTERNET<br />

Experimentieren <strong>mit</strong> Klängen, neue Töne entdecken, eigene<br />

Musik erfinden – all dies passt sehr gut ins Einsteinjahr.<br />

<strong>Die</strong> Musikschule Bochum, die Folkwang Musikschule<br />

Essen, die Musikschule Oberhausen <strong>und</strong> TRESOHR Oberhausen<br />

haben gemeinsam ein Forum geschaffen, das der<br />

„<strong>leidenschaftlich</strong>en Neugier<strong>“</strong> von Jugendlichen in Sachen<br />

Musik einen Raum bietet.<br />

www.start-ab.com ist ein Wettbewerb für Kreative. Ein<br />

bekannter Künstler bzw. eine Gruppe (z.B. Herbert<br />

Grönemeyer, Yello, Clueso u.a.) stellt ein Musikstück zur<br />

Verfügung. <strong>Die</strong> jugendlichen TeilnehmerInnen laden dieses<br />

Stück aus dem Internet <strong>und</strong> remixen es, d.h. verändern<br />

<strong>und</strong> ergänzen die Tonspuren <strong>und</strong> erstellen eine ihrem Geschmack<br />

entsprechende Version des Stücks. Im Remix<br />

muss der Ausgangstrack erkennbar sein. Ansonsten sind<br />

der Kreativität keine Grenzen gesetzt. <strong>Die</strong> Producer, also<br />

die Jugendlichen, können selbsterstellte Samples, So<strong>und</strong>s<br />

hinzufügen, eigene So<strong>und</strong>s beisteuern <strong>und</strong> sogar live eingespielte<br />

Instrumente benutzen.<br />

Der Zeitrahmen ist eng gesetzt: 48 St<strong>und</strong>en haben die<br />

WettbewerbsteilnehmerInnen Zeit, dann müssen Sie ihr<br />

Stück fertig haben, müssen es konvertiert haben in die<br />

Formate mp3 <strong>und</strong> RealAudio <strong>und</strong> dann ins Internet hochladen.<br />

<strong>Die</strong> Trackdauer selbst darf 3:30 Minuten nicht<br />

überschreiben – das Zeitli<strong>mit</strong> zwingt zu konzentriertem<br />

Arbeiten.<br />

Der PC steht als Produktionswerkzeug für ein musikalisches<br />

Endprodukt im Mittelpunkt. <strong>Die</strong> Form des Remix-<br />

Wettbewerbs greift Musizierformen auf, wie sie sich in den<br />

letzten Jahren in der <strong>Kultur</strong> des Hip Hop (Rap,Djing) entwickelt<br />

haben. Das Internet bietet die Plattform für Kommunikation<br />

unter den Teilnehmern, den Juroren <strong>und</strong> den<br />

Organisatoren. Engste Kooperation zwischen den Musikschulen<br />

<strong>und</strong> der Musikwirtschaft bietet die Gewähr für<br />

einen qualitativ hochwertigen Standard des Projekts.<br />

Wertvolle Preise werden bereitgestellt <strong>und</strong> die Organisation<br />

gemeinsam bewältigt. Ziel ist eine langfristig angelegte,<br />

permanente, unabhängige <strong>und</strong> nichtkommerzielle<br />

Internet-Plattform.<br />

Der Erfolg gibt diesem ungewöhnlichen <strong>und</strong> innovativen<br />

Format recht. Beim ersten Wettbewerbsdurchlauf im Jahr<br />

2000 gab es 54 Anmeldungen <strong>und</strong> 12 Remixe. Der sechste<br />

Durchlauf 2005 brachte insgesamt 2.000 Anmeldungen<br />

<strong>und</strong> 218 Remixe. Teilgenommen haben Jugendliche aus<br />

insgesamt 17 Nationen. Alle Informationen auch über den<br />

Wettbewerb sind unter www.start-ab.com zu erhalten.<br />

Manfred Grunenberg ist Schulmusiker <strong>und</strong> Gitarrist. Er<br />

leitet die Musikschule Bochum, die <strong>mit</strong> 150 Lehrerinnen<br />

<strong>und</strong> Lehrern sowie r<strong>und</strong> 7.000 Schülerinnen <strong>und</strong><br />

Schülern die zweitgrößte Musikschule in Deutschland<br />

ist. Ehrenamtlich ist er stellvertretender Vorsitzender<br />

Landesverbandes deutscher Musikschulen NRW.


Seite: 40<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

MARGIT MASCHEK-GRÜNEISL<br />

Entdeckerstationen <strong>und</strong> Workshops<br />

ZUR EINFÜHRUNG IN DEN PRAXISTEIL DES KONGRESS<br />

Wenn von Albert Einstein die Rede ist, wird sehr häufig das<br />

Kindlich-Neugierige <strong>mit</strong> dem Genialen, das Spielerische<br />

(zweckfreie) <strong>mit</strong> der wissenschaftlichen (zweckbezogenen)<br />

Vorgehensweise, das Kognitive <strong>mit</strong> dem Emotionalen<br />

in einem Atemzug genannt. Albert Einstein hat dies selbst<br />

genau so beschrieben <strong>und</strong> auch Zeitgenossen, die Einstein<br />

kannten <strong>und</strong> seine Arbeit bew<strong>und</strong>erten, bestätigten diese<br />

Einschätzung. Das Experimentelle <strong>und</strong> das Explorative waren<br />

Motor seiner Arbeit, auch wenn Einstein dies vorwiegend<br />

gedanklich ausgelebt hat.<br />

Das Tagungskonzept versucht, genau diesem Ansatz Rechnung<br />

zu tragen. Es ermöglicht den TeilnehmerInnen über<br />

die eher theoretische Auseinandersetzung hinaus <strong>mit</strong><br />

Blick auf die Verbindung von <strong>Kunst</strong>, <strong>Kultur</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft<br />

das Entdecken unterschiedlicher Ansätze der kulturellen<br />

Jugendbildung. <strong>Die</strong>se widmen sich explizit oder in<br />

Teilbereichen naturwissenschaftlichen Fragestellungen<br />

oder thematisieren sie in ihren Angeboten für Kinder. <strong>Die</strong><br />

Angebote werden den TagungsteilnehmerInnen so präsentiert,<br />

wie sie auch in anderen Zusammenhängen Kindern<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen zugänglich sind: <strong>Die</strong> Besucher sind eingeladen,<br />

zuzuschauen <strong>und</strong> <strong>mit</strong>zumachen, auszuprobieren,<br />

etwas selbst zu machen <strong>und</strong> zu gestalten, Fragen zu stellen<br />

oder zu unterlassen.<br />

Gleichzeitig sind die Entdeckerstationen öffentlich zugänglich,<br />

tagsüber werden 250 Kinder aus Münchner<br />

Schulen <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>einrichtungen eingeladen. Wir befinden<br />

uns in einem Technik-Museum zur ganz normalen Betriebszeit,<br />

dem Deutschen Museum in München. In die bestehenden<br />

Ausstellungen <strong>und</strong> Abteilungen, zwischen einzelnen<br />

Exponaten <strong>und</strong> Schaukästen, sind die Stationen zu<br />

Themen aus der Biologie, Physik, Mathematik, Chemie aufgebaut,<br />

die sich sowohl ästhetisch anders präsentieren<br />

als auch methodisch andere Aneignungs- <strong>und</strong> Umgangsformen<br />

durch die Besucherinnen <strong>und</strong> Besucher intendieren<br />

als die Dauerausstellungen.<br />

<strong>Die</strong> vorgestellten Projekte gehen unter anderem davon<br />

aus,<br />

dass Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen die Möglichkeit gegeben<br />

werden muss, sich ein Gr<strong>und</strong>wissen in Naturwissenschaften<br />

anzueignen <strong>und</strong> spezifische Denkweisen kennen<br />

zu lernen. Dazu gehört, dass sie Phänomene wahrnehmen,<br />

erfahren, Sachverhalte kennen lernen können,<br />

eigene Hypothesen entwerfen <strong>und</strong> Experimente entwickeln<br />

<strong>und</strong> durchführen können sowie Antworten <strong>und</strong><br />

Lösungen finden, Ansätze von Theoriebildung versuchen<br />

können. Das passiert z. T. bezogen auf die einzelnen<br />

Fachdisziplinen <strong>und</strong> Wissenschaften oder auch interdisziplinär<br />

<strong>und</strong> festgemacht an umfassenden,<br />

alltagsbezogenen, kindspezifischen Fragestellungen;<br />

dass naturwissenschaftliche Phänomene in ihrer jeweils<br />

eigenen Ästhetik zum Ausgangspunkt gemeinsamer,<br />

auch künstlerischer Auseinandersetzung angeboten<br />

werden müssen – quer durch die <strong>Kunst</strong>- <strong>und</strong><br />

<strong>Kultur</strong>sparten <strong>und</strong> dass diese Auseinandersetzung in<br />

hohem Maße erkenntnisfördernd auf naturwissenschaftliche<br />

Zusammenhänge zurückwirken kann.<br />

Es soll hier, obwohl die Projekte sowohl hinsichtlich ihrer<br />

Dimension <strong>und</strong> Ausgestaltung, so hinsichtlich ihrer Zielgruppen,<br />

Methoden <strong>und</strong> Themenstellung, sehr unterschiedlich<br />

ausfallen, versucht werden, einige übereinstimmende<br />

Merkmale zu beschreiben, da<strong>mit</strong> klar wird, worin<br />

der speziell kulturpädagogische Ansatz einer Beschäftigung<br />

<strong>mit</strong> Naturwissenschaften besteht.<br />

Sowohl in der Konzeptionsphase als auch in der Umsetzung<br />

<strong>und</strong> Betreuung der Projekte spielen Expertenwissen<br />

<strong>und</strong> Fachkompetenzen aus den Bereichen <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft<br />

zusammen. Manches Mal in einer Person vereint<br />

(die Physikerin, die gleichzeitig Musik macht, der<br />

Künstler, der sich für kinetische Objekte <strong>und</strong> Physik interessiert),<br />

im anderen Falle in engen Kooperationsverhältnissen<br />

zwischen Künstlern <strong>und</strong> Wissenschaftlern oder<br />

Technikern.<br />

Viele der Projekte sind folglich Kooperationsprojekte<br />

zwischen wissenschaftlichen <strong>und</strong> kunst- oder kulturpädagogischen<br />

Einrichtungen. Dadurch werden Aktualität<br />

<strong>und</strong> Professionalität der Projekte gewährleistet.<br />

Der Schwerpunkt liegt auf Projekten außerhalb der Schule<br />

<strong>und</strong> Schulzeit; für kunst- <strong>und</strong> kulturpädagogische Ansätze<br />

werden häufig Orte erschlossen, die streng genommen der<br />

klassischen naturwissenschaftlichen Bildung verpflichtet<br />

sind (naturwissenschaftliche Einrichtungen, Museen,<br />

Science-Veranstaltungen). Genauso häufig aber suchen<br />

sich diese Projekte Orte aus, die da<strong>mit</strong> nicht assoziiert<br />

werden (Schulhöfe, Spielplätze, Kindermuseen, Freizeit-


Seite: 41<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

einrichtungen). In beiden Fällen verändern die Projekte<br />

das Lernsetting vor Ort.<br />

Entsprechend häufig sind die Ansätze der Beteiligung von<br />

Kindern an der Ausgestaltung des Angebots. Zum Teil sind<br />

die Projekte so angelegt, dass Kinder von Beginn an dabei<br />

sind <strong>und</strong> an der Umsetzung von Ideen intensiv <strong>mit</strong>arbeiten.<br />

<strong>Die</strong> Veränderbarkeit der Lernumgebung durch die Kinder<br />

selbst ist in fast allen Projekten vorgesehen.<br />

Wissen wird didaktisch so aufbereitet, dass seine Produktion<br />

schrittweise erlebt <strong>und</strong> erfahren wird. <strong>Die</strong> Projekte<br />

versuchen, Fragen nach Sinn <strong>und</strong> Sinnhaftigkeit naturwissenschaftlichen<br />

Wissens für Kinder offen zu halten. <strong>Die</strong><br />

Kinder selbst sind aufgefordert auszuloten, was ihnen dabei<br />

wichtig <strong>und</strong> bedeutsam erscheint. Das spielerische<br />

<strong>und</strong> experimentelle Vorgehen ist dabei zentral. Auf ihre<br />

Fragen erhalten sie in jedem Fall hilfreiche <strong>und</strong> kindgemäße<br />

Antworten.<br />

Das natürliche Forscher-Verhalten, also die Neugierde der<br />

Kinder, wird in einem ästhetisch motivierenden <strong>und</strong> zum<br />

Mitmachen anregenden Milieu angesprochen, das den Kindern<br />

auch individuelle Lernleistungen ermöglicht.<br />

Über die Verweildauer <strong>und</strong> Intensität, <strong>mit</strong> der sich Kinder<br />

einzelnen Angeboten widmen, entscheiden sie selbst.<br />

<strong>Die</strong> zur Präsentation während der Tagung ausgewählten<br />

Projekte waren – aufgr<strong>und</strong> des hohen technischen Aufwands<br />

– mehrheitlich aus dem Münchner Raum; trotzdem<br />

wurde Wert darauf gelegt, auch aus anderen B<strong>und</strong>esländern<br />

(<strong>und</strong> sogar aus Japan!), Beispiele einer gelingenden<br />

Praxis zu zeigen. Möge die Dokumentation den Blick auf<br />

viele weitere Projektbeispiele öffnen <strong>und</strong> vielen Partnern<br />

Anregung sein.<br />

Margit Maschek ist Sozialpädagogin <strong>und</strong> hat an der<br />

Philosophischen Hochschule in München Erwachsenenpädagogik<br />

studiert. Sie ist Mitbegründerin des Vereins<br />

<strong>Kultur</strong> <strong>und</strong> Spielraum e.V. <strong>und</strong> dort Projektleiterin<br />

beim <strong>Kultur</strong>pädagogischen <strong>Die</strong>nst. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten<br />

gehören die Themen <strong>Kultur</strong>, <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong><br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Lesen <strong>und</strong> Schreiben.


Seite: 42<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Laterna Magica<br />

VOR- UND FRÜHGESCHICHTE DES KINOS<br />

<strong>Die</strong> Laterna Magica, erf<strong>und</strong>en 1659, war ein Vorläufer des<br />

Kinos: Da<strong>mit</strong> konnten schon Bilder auf eine Leinwand projiziert<br />

werden, nicht nur (wie <strong>mit</strong> dem späteren Dia-Projektor)<br />

still stehende Bilder, sondern (fast wie im Kino) auch<br />

schon „lebende<strong>“</strong> Bilder: Im „Zirkus<strong>“</strong>-Programm sieht man<br />

u. a. springende Pferde, brüllende Löwen, jonglierende<br />

Artisten, turnende Akrobaten usw..<br />

<strong>Die</strong>se Bewegungsillusion wurde – mehr als zwei Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

vor der Erfindung des Kinos – durch komplizierte,<br />

meist geheim gehaltene Konstruktionen bewirkt, die das<br />

Publikum damals erstaunen oder (wegen <strong>mit</strong>unter erscheinender<br />

„Geister<strong>“</strong>) erschauern ließ. Deshalb nannte<br />

man die Laterna Magica damals auch „Zauberlaterne<strong>“</strong> oder<br />

„Schreckenslaterne<strong>“</strong>.<br />

Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert war die Laterna Magica Unterhaltung<br />

für bürgerliche Kreise. Noch zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

war sie (in Kleinform) beliebtes Spielzeug im Kinderzimmer.<br />

Siehe auch:<br />

Katrin Hoffmann: Magische Schatten.<br />

Deutsches Filmmuseum 1988.<br />

Hauke Lange-Fuchs: <strong>Die</strong> Geburt des Kinos.<br />

Frankfurt/M 1994:BJF.<br />

Wie die Bilder laufen lernten. Mannheim 1995.<br />

Brockhaus Verlag.<br />

KONTAKT:<br />

Jörg Klinner<br />

Sternberger Weg 21<br />

24321 Lütjenburg<br />

Fon 04381.60 59<br />

joergklinner@gmx.de; www.magiclantern.org.uk<br />

Hauke Lange-Fuchs<br />

Barstenkamp 32<br />

24113 Kiel


Seite: 43<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Klingende Zahlen<br />

MATHEMATIK HÖREN - MIT MUSIK RECHNEN<br />

Gezeigt wird ein kleiner Ausschnitt der großen Ausstellung,<br />

die das Mobile Musik Museum für das Kindermuseum<br />

ZOOM in Wien entwickelt hat:<br />

Der Wackel-Stab zeigt seinen Schwingungsknotenpunkt.<br />

An der riesigen Röhrenglocke kann man Vibrationen erspüren<br />

<strong>und</strong> den Bauplan der Windspiele <strong>erforschen</strong>.<br />

<strong>Die</strong> „Parameter<strong>“</strong>-Glocken bergen viele Klang-Geheimnisse:<br />

Länge, Dicke, Wandstärke oder Durchmesser verändern<br />

den Klang von Aluminium-Röhren. Natürlich kann<br />

man hier auch ein kleines Konzert geben.<br />

Im Kinderreich des Deutschen Museums (Kellergeschoss)<br />

steht das große Erdxylofon, an dem bis zu 8 Personen <strong>mit</strong><br />

mathematischen Bewegungsmustern Musik machen können.<br />

Hier kann man auch hören, wie „Resonanz<strong>“</strong> den Ton<br />

verändert <strong>und</strong> den Unterschied zwischen Holz, Metall <strong>und</strong><br />

Plastik – bearbeitet <strong>und</strong> unbearbeitet – erk<strong>und</strong>en.<br />

Im Workshop werden die interaktiven Exponate Wackelstab,<br />

Große Röhrenglocke <strong>und</strong> Parameterglocken sowie<br />

das Erdxylophon besprochen <strong>und</strong> auf Ver<strong>mit</strong>tlungsmethoden<br />

für Klangphysik untersucht. <strong>Die</strong>se Methoden sind für<br />

die Schule auch <strong>mit</strong> „low-tech<strong>“</strong>-Exponaten zu übernehmen.<br />

Zusätzlich gibt es einige Spielregeln für mathematische<br />

Körpermusik: Kardinalteilung, zwei gegen drei <strong>und</strong> indische<br />

Talazyklen <strong>mit</strong> 5, 7, 9 <strong>und</strong> 18 Achtel-Takten werden<br />

spielerisch ver<strong>mit</strong>telt <strong>und</strong> erprobt.<br />

Michael Bradke sammelt für sein Mobiles Musik Museum<br />

seit vielen Jahren Geräuschwerkzeuge, Musikinstrumente,<br />

klingende F<strong>und</strong>stücke <strong>und</strong> musikalische Spielregeln r<strong>und</strong><br />

um die <strong>Welt</strong>. Einen Teil seiner Sammlungen wie das „Museum<br />

der Körperklänge<strong>“</strong>, „M<strong>und</strong>musik<strong>“</strong>, „Orchesterspiele<strong>“</strong><br />

oder den „Klangraum Regenwald<strong>“</strong> zeigt er in Form von publikumsaktivierenden<br />

Bühnen-Auftritten von 30 bis 60 Minuten<br />

Dauer, für große Gruppen bis 250 Personen, in Kindertheatern,<br />

Turnhallen oder an der freien Luft.<br />

Mit kleineren Gruppen<br />

<strong>und</strong> bei Fortbildungen<br />

ver<strong>mit</strong>telt er sein Wissen<br />

über Instrumentenbau<br />

<strong>und</strong> musikalische Kommunikation<br />

in Klangwerkstatt-Projekttagen<br />

zu Themen wie „Erdxylophon<strong>“</strong><br />

oder „Luftorchester". Seine riesigen robusten<br />

Klangskulpturen „Wasserorchester", „Klangkanal", „Gigantenorchester"<br />

<strong>und</strong> „Klangkiste" verführen jeweils bis zu 50<br />

Menschen ab 2 Jahren zum freien Spiel, meistens bei<br />

Open-Air-Events.<br />

Mit allen Klangskulpturen <strong>und</strong> Publikumsaktionen lassen<br />

sich große Familien-Musikfeste gestalten. Das Mobile Musik<br />

Museum macht international <strong>mit</strong> kleinen <strong>und</strong> großen<br />

Kooperationspartnern MusikMitMach-Ausstellungen <strong>und</strong><br />

entwickelt einzelne themenbezogene interaktive Klangskulpturen.<br />

KONTAKT:<br />

Mobiles Musik Museum<br />

Meineckstr. 45<br />

40474 Düsseldorf<br />

Fon 0211.37 19 11<br />

Michael.bradke@t-online.de; www.musikaktion.de


Seite: 44<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Das begehbare Gehirn<br />

„Das Begehbare Gehirn<strong>“</strong> ist eine künstlerische Rauminstallation,<br />

die in abstrahierter Form Vorgänge im Gehirn spielerisch<br />

erlebbar macht.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong>, die wir erleben, wird von den Erfahrungen bestimmt,<br />

die wir <strong>mit</strong> unseren Sinnen machen. <strong>Die</strong> Sinne<br />

sind wie Fenster in einem Haus, durch die man die <strong>Welt</strong><br />

draußen wahrnehmen kann. Während man in einem Haus<br />

jedoch gewöhnlich nur durch ein Fenster zur Zeit schaut,<br />

nehmen wir Eindrücke, die durch die Fenster unserer Sinne<br />

ins Haus – das Gehirn – gelangen, gleichzeitig wahr.<br />

„Das begehbare Gehirn<strong>“</strong> ist eine Erlebnis-Installation des<br />

Kindermuseums Halle. Das Eintauchen in das Gehirn ermöglicht<br />

es, einige Funktionen des Gehirns spielerisch<br />

nachzuvollziehen <strong>und</strong> <strong>mit</strong> allen Sinnen zu erleben.<br />

Der Verein Kreative Kinderwerkstatt-Kindermuseum Halle<br />

wurde 1992 gegründet, ist ein anerkannter freier Träger<br />

der Jugendhilfe <strong>und</strong> Mitglied im DPWV, in der B<strong>und</strong>esvereinigung<br />

<strong>Kultur</strong>elle Jugendbildung (BKJ) <strong>und</strong> im B<strong>und</strong>esverband<br />

deutscher Kinder- <strong>und</strong> Jugendmuseen. Das Kindermuseum<br />

Halle ist das erste eigenständige Kindermuseum<br />

Sachsen-Anhalts <strong>und</strong> Mitteldeutschlands.<br />

Das Kindermuseum Halle reagiert <strong>mit</strong> Projekten, thematischen<br />

Kinder-Aktions-Ausstellungen, die Künstler gemeinsam<br />

<strong>mit</strong> Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen erarbeiten <strong>und</strong><br />

künstlerischen Workshops auf das, was Heranwachsende<br />

bewegt. <strong>Die</strong> große Öffentlichkeit der Aktions-Ausstellungen<br />

<strong>und</strong> die Würdigung der Arbeit von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

trägt zur Stärkung des Selbstbewusstseins, zur<br />

Milderung sozialer Defizite <strong>und</strong> zur nachhaltigen Beeinflussung<br />

des Freizeitverhaltens bei. <strong>Die</strong> Arbeit des Kindermuseums<br />

Halle wurde 2004 <strong>mit</strong> der „Goldenen Göre<strong>“</strong><br />

des Deutschen Kinderhilfswerkes in der Kategorie Kinderkultur<br />

ausgezeichnet.<br />

KONTAKT<br />

Kreative Kinderwerkstatt-Kindermuseum Halle e.V.<br />

Böllberger Weg 188<br />

06110 Halle<br />

Fon 0345.97 72 797<br />

Kindermuseum-halle@freenet.de;<br />

www.kindermuseum-halle.de


Seite: 45<br />

K o n g r e s s d o k u m e n t a t i o n<br />

<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Perspektivenwechsel<br />

Alles relativ – oder? <strong>Die</strong> Perspektive macht's!<br />

Überlegungen zum Perspektivenwechsel haben Albert Einstein<br />

zu seinen bedeutsamsten Erkenntnissen geführt.<br />

<strong>Die</strong> Installation „Einstein <strong>und</strong> die <strong>Kunst</strong><strong>“</strong> lädt Kinder auf<br />

eine Zeitreise ein: von Leonardo da Vinci bis in die<br />

Gegenwart. Verschiedene Bild- <strong>und</strong> Ereignis-Quadrate<br />

können entlang einer leuchtenden Zeitlinie zugeordnet<br />

werden. Dadurch ergeben sich vielfältige Anknüpfungspunkte<br />

für Fragen <strong>und</strong> Diskussionen.<br />

Durch kleine Aufgabenstellungen <strong>und</strong> Spiele werden<br />

Kindern einige gr<strong>und</strong>legende Konzepte der Moderne<br />

(Gleichzeitigkeit, Gleichräumlichkeit) in <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong><br />

Wissenschaft näher gebracht.<br />

- Warum hat Einstein die „Raumzeit<strong>“</strong> erf<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

wie hat Picasso sie gemalt?<br />

- Wie stellst du dir eine „Lebenslinie<strong>“</strong> vor?<br />

- Warum ist der Raum gekrümmt <strong>und</strong> die Leinwand<br />

flach?<br />

- Wie spät ist es wohl jetzt am Jupiter?<br />

„Body-Mandala<strong>“</strong> nennt sich ein Angebot, das räumliches<br />

Vorstellungsvermögen, Körperwahrnehmung <strong>und</strong> Kommunikation<br />

in der Gruppe gleichermaßen fördert. <strong>Die</strong><br />

Aufgabenstellung ist einfach: Mit dem eigenen Körper<br />

auf einem blauen Teppich liegend als Gruppe interessante<br />

„Mandalas<strong>“</strong> kreieren, die von einer Webcam aus<br />

der Vogelperspektive erfasst werden <strong>und</strong> simultan am<br />

Bildschirm sichtbar sind. (Idee <strong>und</strong> Umsetzung entstanden<br />

im Rahmen des multimedialen <strong>Kunst</strong>SpielLern-<br />

Raumes „Artespace<strong>“</strong>.)<br />

<strong>Die</strong> Pädagogische Aktion Spielkultur e.V. organisiert <strong>Kultur</strong><strong>und</strong><br />

Medienprojekte für Kinder, Jugendliche <strong>und</strong> Erwachsene.<br />

Seit über 30 Jahren entwickeln wir vor allem im<br />

Auftrag des Stadtjugendamtes der Landeshauptstadt München<br />

sinnliche <strong>und</strong> digitale Spiel-, Lern- <strong>und</strong> Erfahrungsräume:<br />

zum Beispiel <strong>mit</strong> mobilen Projekten im gesamten<br />

Stadtgebiet, Mitmachausstellungen, Natur- <strong>und</strong> Sinnesprojekten,<br />

museums- <strong>und</strong> spielpädagogischen Angeboten <strong>und</strong><br />

Projekten im virtuellen Raum, dem Cyberspace. Unsere<br />

Programme besuchen jährlich zwischen 20.000 <strong>und</strong><br />

40.000 Kinder, Jugendliche <strong>und</strong> Erwachsene.<br />

KONTAKT:<br />

Pädagogische Aktion/ Spielkultur e.V.<br />

Augustenstraße 47/ Rgb.<br />

80333 München<br />

Fon 089.26 09 208<br />

info@spielkultur.de; www.spielkultur.de;<br />

www.artespace.de


Seite: 46<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Spaßmaschinen – Physik <strong>und</strong> Phantasie<br />

<strong>Die</strong> beiden ersten großen Spaßmaschinen standen unter<br />

dem Motto „Alles dreht sich<strong>“</strong>. Sie wurden im Jahr 2000 von<br />

Kindern im Alter von 5 bis 12 Jahren in einem gemeinsamen<br />

Workshop der DGhK <strong>und</strong> dem Deutschen Museum<br />

in der Flugwerft Schleißheim gebaut. Spaßmaschinen-<br />

Projekte verbinden die Neugierde der Kinder an physikalischen<br />

Vorgängen <strong>mit</strong> dem Spaß, selbst eine ungewöhnliche<br />

Maschine entwerfen <strong>und</strong> bauen zu können. <strong>Die</strong> Maschinen<br />

müssen keine zielgerichtete Funktion erfüllen,<br />

allein durch Konstruktion <strong>und</strong> Bau der Maschinen erfahren<br />

die TeilnehmerInnen einiges über Physik im Alltag (Kettenantrieb,<br />

Luftwiderstand, Reibung etc.), Metallbearbeitung<br />

<strong>und</strong> die Konstruktion von Systemen.<br />

Das Arbeitsprinzip <strong>und</strong> die Vorgehensweise beim Bau<br />

großer Gemeinschaftsprojekte werden anhand kleiner<br />

Spaßmaschinen aufgezeigt. Mit Fantasie <strong>und</strong> Vorstellungskraft<br />

<strong>und</strong> angeregt durch unterschiedlichste Materialien<br />

(Draht, Alufolie, Federn, Nieten, Schnüre, Bleche, Papier<br />

usw.) werden nach eigenen Plänen <strong>und</strong> Entwürfen eigene,<br />

einzigartige Fantasie- <strong>und</strong> Spaßmaschinen zum Mitnehmen<br />

<strong>und</strong> zuhause Weiterprobieren gebaut.<br />

<strong>Die</strong> Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind ist<br />

ein b<strong>und</strong>esweit agierender Verein, dessen Regionalvereine<br />

verschiedene Bildungsaktivitäten für Kinder, Eltern <strong>und</strong><br />

Lehrkräfte anbieten. Zur Tätigkeit des Regionalvereins<br />

München/Bayern gehören eine Reihe von Aktionsprogrammen<br />

<strong>mit</strong> unterschiedlichen Kooperationspartnern ( „Alles<br />

dreht sich – Spaßmaschinen<strong>“</strong>; „Mit Newton zu den Sternen<strong>“</strong>,<br />

die KinderUni-München etc.), die offen für alle Kinder<br />

sind, sowie Bildungsangebote für Mitgliederkinder <strong>und</strong><br />

-jugendliche(Workshops) <strong>und</strong> Informationsveranstaltungen<br />

<strong>und</strong> Vorträge für Eltern, Lehrer <strong>und</strong> alle am Bereich<br />

„Hochbegabung<strong>“</strong> Interessierten.<br />

KONTAKT:<br />

Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind<br />

(DGhK) / Regionalverein München/Bayern e.V.<br />

Ludwig-Festl-Str.5<br />

85604 Zorneding<br />

Fon 08106.29 201<br />

cornelia@gottswinter.com;<br />

www.dghkmuenchenbayern.de


Seite: 47<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

MatheMobil<br />

Das MatheMobil ist ein Spielangebot für Vor- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schulkinder,<br />

das von der kindlichen Begeisterung für Zahlen,<br />

Mengen <strong>und</strong> geometrischen Formen ausgeht <strong>und</strong> auf<br />

spielerische Weise einen ersten Zugang zur Mathematik<br />

eröffnet. Das Programm enthält Spielangebote aus folgenden<br />

zusammenhängenden Themenbereichen:<br />

Zählen, Zahl <strong>und</strong> Menge;<br />

Messen, Wiegen, Maßeinheiten;<br />

Fläche, Form <strong>und</strong> Körper.<br />

<strong>Die</strong>se drei Themenbereiche bieten eine Vielzahl an einfach<br />

verständlichen Spielen für die verschiedenen Interessenslagen<br />

<strong>und</strong> Fertigkeiten der Kinder. MatheMobil ist ein mobiles<br />

Projekt des Kinder- <strong>und</strong> Jugendmuseums München in<br />

Kooperation <strong>mit</strong> dem Schulreferat der LH München, Fachabteilung<br />

5 (Kindertagesstätten, Horte, Tagesheime).<br />

Wie ein traditionelles Museum beschäftigt sich auch ein<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendmuseum <strong>mit</strong> dem Sammeln, Ordnen,<br />

Bewahren <strong>und</strong> Erforschen von Dingen. Vor allem aber auch<br />

<strong>mit</strong> der Ver<strong>mit</strong>tlung <strong>und</strong> Bildung <strong>mit</strong>tels eines besonderen<br />

Prinzips: „hands on!<strong>“</strong><br />

Dabei steht die Neugier der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen im<br />

Vordergr<strong>und</strong>, die Entdeckerfreude <strong>und</strong> das Experimentieren:<br />

Berühren, Begreifen, Anfassen, Verstehen. Erfahrungen<br />

<strong>mit</strong> allen Sinnen, <strong>mit</strong> Kopf, Herz <strong>und</strong> Hand machen zu<br />

können, ist sowohl zentrales Ziel wie Methode des Kinder<strong>und</strong><br />

Jugendmuseums.<br />

<strong>Die</strong>ses Konzept bedingt eine besondere Ausstellungspräsentation:<br />

„please touch!<strong>“</strong>. Der direkte, aktive <strong>und</strong> interaktive<br />

Kontakt wird ausdrücklich gewünscht <strong>und</strong> gefordert:<br />

<strong>Die</strong> Dinge sind sinnlich erfahrbar präsentiert, alle Orte<br />

sind begehbar <strong>und</strong> bespielbar <strong>und</strong> alle Stationen beziehen<br />

die Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen <strong>mit</strong> ein. Sich <strong>mit</strong> aufregenden,<br />

informativen, wichtigen Dingen <strong>und</strong> Phänomenen<br />

auseinander setzen – real <strong>und</strong> digital –, da<strong>mit</strong> spielen <strong>und</strong><br />

experimentieren, Neues erfahren <strong>und</strong> freiwillig lernen <strong>mit</strong><br />

Spaß <strong>und</strong> Spannung, das sind die Merkmale eines Kinder<strong>und</strong><br />

Jugendmuseums: Lernen <strong>mit</strong> allen Sinnen <strong>und</strong> durch<br />

Tun.<br />

KONTAKT:<br />

Pädagogische Aktion/<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendmuseum München e.V.<br />

Arnulfstr.3<br />

80335 München<br />

Fon 089.54 54 08 80<br />

Fax 089.54 54 09 90<br />

Kindermuseum@web.de;<br />

www.kindermuseum-muenchen.de


Seite: 48<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Spielend verstehen <strong>und</strong> begreifen<br />

PHYSIK FÜR KINDER AB 4 JAHREN<br />

Wieso fliegt die Figur von der Drehscheibe? Wie schaffen<br />

es ein schwerer Erwachsener <strong>und</strong> ein leichtes Kind, eine<br />

Wippe ins Gleichgewicht zu bringen? Rollt eine leere oder<br />

eine <strong>mit</strong> Steinen gefüllte Dose schneller ein schräges Brett<br />

hinunter? Anhand verschiedener Modelle von Rutsche,<br />

Wippe <strong>und</strong> Karussell können Kinder (<strong>und</strong> Erwachsene) die<br />

physikalische Gesetzmäßigkeiten der Reibung, des Gleichgewichts,<br />

der Hebelwirkung <strong>und</strong> der Fliehkraft erleben.<br />

Sie experimentieren dabei eigenständig <strong>und</strong> können selbst<br />

Erklärungen für ihre Beobachtungen finden.<br />

<strong>Die</strong> einfachen Experimente ermöglichen Kindern bereits<br />

im Kindergartenalter, Interesse an physikalischen Phänomenen<br />

zu entwickeln bzw. ihre natürliche Neugier daran<br />

zu befriedigen. <strong>Die</strong> Kinder lernen auf spielerische Weise.<br />

<strong>Die</strong> Spiellandschaft Stadt hat dieses Projekt <strong>mit</strong> vielen<br />

Kindergärten <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schulklassen auf Spielplätzen<br />

<strong>und</strong> Schulhöfen durchgeführt. Dabei konnten die Kinder<br />

physikalische Gesetzmäßigkeiten am eigenen Körper <strong>und</strong><br />

am Modell erleben <strong>und</strong> erfahren.<br />

<strong>Die</strong> Spiellandschaft Stadt fördert reale <strong>und</strong> digitale Spiel<strong>und</strong><br />

Aktionsräume für Kinder im Stadtgebiet von München<br />

<strong>mit</strong> dem Ziel, die ganze Stadt als Spiellandschaft zu erschließen<br />

<strong>und</strong> neue Erfahrungs- <strong>und</strong> Bildungsanlässe zu<br />

öffnen. Durch thematische Spielaktionen, mobil <strong>mit</strong> dem<br />

Spielbus oder stationär im Spielhaus, werden Kindern auf<br />

spielerische Art <strong>und</strong> Weise Schlüsselkompetenzen ver<strong>mit</strong>telt.<br />

Gemeinsam <strong>mit</strong> Partnern führt die Spiellandschaft<br />

Stadt Projekte durch, die in Inhalt <strong>und</strong> Ziel neue Spielideen<br />

ver<strong>mit</strong>teln. Wissen <strong>und</strong> Informationen über Spiel, Spielraum,<br />

Spielaktionen <strong>und</strong> Veranstaltungen für Kinder in<br />

München werden im Kinderinformationsladen, im Internet,<br />

am Kindertelefon <strong>und</strong> im Veranstaltungskalender weitergegeben.<br />

KONTAKT:<br />

Spiellandschaft Stadt e.V.<br />

Albrechtstr. 37<br />

80636 München<br />

Fon 089.18 33 35<br />

sambale@spiellandschaft.de; www.spiellandschaft.de


Seite: 49<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Aktion: Achtung Wissendurst!<br />

<strong>Die</strong> Aktion „Achtung Wissensdurst<strong>“</strong> ist ein Kooperationsprojekt<br />

der Museumspädagogischen Abteilung des<br />

Deutschen Museums <strong>mit</strong> dem Verein <strong>Kultur</strong> & Spielraum<br />

München e.V.<br />

Jeder Mensch hat Fragen, auf die er keine Antworten weiß.<br />

In Aktionswochen zu unterschiedlichen Programmen im<br />

Deutschen Museum, beim KINDER-KUNST-LABOR zu den<br />

Münchner Wissenschaftstagen <strong>und</strong> im Forschungscampus<br />

der Spielstadt Mini-München fragen wir seit nunmehr zwei<br />

Jahren Kinder beim Spiel „Achtung Wissensdurst<strong>“</strong>, welche<br />

Fragen sie schon immer gerne beantwortet hätten. Wir<br />

sammeln diese Fragen nicht nur, wir veröffentlichen sie<br />

sofort <strong>und</strong> vor Ort an einem interaktiven Spielobjekt <strong>mit</strong><br />

vielen Fächern <strong>und</strong> Schiebern, der „Wissensgalerie<strong>“</strong>. Vielleicht,<br />

so das Kalkül, wissen andere Kinder <strong>und</strong> Erwachsene<br />

auf die Kinderfragen eine Antwort, schreiben sie auf<br />

<strong>und</strong> schieben sie hinter die Fragen: Ein Frage- <strong>und</strong> Antwortspiel<br />

der besonderen Art entsteht. Alle Kinder, die Fragen<br />

stellen, werden am Ende eines „Wissensdurstjahres<strong>“</strong><br />

zu einer Abschlussveranstaltung ins Deutsche Museum<br />

eingeladen, bei der sich ein Wissenschaftler jeweils den<br />

Fragen der Kinder stellt <strong>und</strong> die Teilnehmerkinder ein Treffen<br />

<strong>mit</strong> Wissenschaftlerinnen <strong>und</strong> Wissenschaftlern im Labor<br />

sowie Sachbücher <strong>und</strong> Eintrittskarten in Münchner<br />

Museen gewinnen können. Fragen, die besonders häufig<br />

auftauchen, werden im Kursprogramm des Kinderkollegs<br />

(in der Werkstatt für AHA-Erlebnisse (siehe <strong>Kultur</strong> & Spielraum)<br />

<strong>und</strong>/oder im Workshopprogramm des Deutschen<br />

Museums) aufgegriffen.<br />

Innerhalb der Hauptabteilung Bildung des Deutschen Museums<br />

entwickelt die Museumspädagogische Abteilung<br />

spezielle interaktive Programme für Schulklassen <strong>und</strong> Programme<br />

für Kinder <strong>und</strong> Familien in der Freizeit. Ziel der<br />

Schulklassenprogramme ist, die Kinder verstärkt zu eigener<br />

Aktivität <strong>und</strong> selbst geleiteter Auseinandersetzung <strong>mit</strong><br />

den im Deutschen Museum präsentierten Themen aus<br />

Naturwissenschaft <strong>und</strong> Technik anzuregen. <strong>Die</strong> Ferienprogramme<br />

konzentrieren sich jeweils auf ein bestimmtes<br />

Thema wie Wasser, Luft oder in diesem Jahr Einstein. Eine<br />

Kombination von offenem Programm, bei dem die Kinder<br />

jederzeit <strong>mit</strong>machen können, <strong>mit</strong> Workshops oder Führungen,<br />

zu denen man sich anmeldet, sowie Specials wie<br />

Vortrags- <strong>und</strong> Diskussionsforen bietet Kindern <strong>mit</strong> ganz<br />

unterschiedlichen Interessen <strong>und</strong> <strong>mit</strong> verschieden<br />

großem Zeitbudget die Möglichkeit, einen Einstieg in das<br />

Programm zu finden.<br />

Zu den Märchen im Museum sind schon Kinder ab 4 Jahren<br />

eingeladen. <strong>Die</strong> Geschichten werden speziell für das<br />

Deutsche Museum geschrieben oder adaptiert <strong>und</strong> enthalten<br />

– außer der spannenden Geschichte – gut verpackte<br />

Sachinformationen. So können die Kinder <strong>mit</strong> einer ihnen<br />

vertrauten Form einen ersten Zugang zum Museum <strong>und</strong> zu<br />

Naturwissenschaft <strong>und</strong> Technik finden.<br />

KONTAKT:<br />

Deutsches Museum/ Museumspädagogik<br />

Museumsinsel 1<br />

80538 München<br />

Fon 089.21 79 462<br />

g.weber@deutsches-museum.de;<br />

www.deutsches-museum.de


Seite: 50<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Einsteins Souvenir- <strong>und</strong> Zitatenschatz<br />

Zwei Mitmacheinheiten des Herbstferienprogramms 2005<br />

für Kinder von 8 bis 13 Jahren, „EinStein der Weisheit – auf<br />

der Suche nach Albert Einstein im Deutschen Museum<strong>“</strong>, einem<br />

Kooperationsprogramm von Deutschem Museum <strong>und</strong><br />

<strong>Kultur</strong> & Spielraum e.V., werden im Rahmen der Tagung<br />

nachträglich vorgestellt. Beide Mitmacheinheiten sind als<br />

Bestandteil eines größeren Ganzen zu sehen, einem ausdifferenzierten<br />

Spiel- <strong>und</strong> Aktionsprogramm, über das man<br />

sich an den Experimentierstationen informieren kann.<br />

Einsteins Souvenirwerkstatt<br />

Einstein als Postkarte, als Plakat, auf dem T-Shirt, dem<br />

Handtuch <strong>und</strong> als Actionfigur. Nicht nur Einsteins Konterfei,<br />

auch seine, die berühmteste Formel der <strong>Welt</strong>: <strong>Die</strong>se<br />

Bilder sind vielen Kindern vertraut, auch wenn sie nicht<br />

genau wissen, wer Einstein genau war. In der Souvenirwerkstatt<br />

werden diese Bildzitate aufgegriffen <strong>und</strong> weitergeführt.<br />

Einfache Stempeltechniken <strong>und</strong> Bildverfremdungs-verfahren<br />

(übermalen, collagieren), Stoffdruck <strong>und</strong><br />

die materialreiche „Verzierung<strong>“</strong> von Einstein-Büsten kommen<br />

hierbei zur Anwendung.<br />

Einsteins Zitatenschatz<br />

Von vielen bekannten Zitaten kennt man die Urheber nicht<br />

(mehr). Hier hat Aneignung so gut <strong>und</strong> nachhaltig funktioniert,<br />

dass man sie als „Volksgut<strong>“</strong> begreift. Bei einigen von<br />

Einsteins Satzgeschöpfen ist dies längst der Fall, z.B. „Ordnung<br />

braucht nur der Dumme, das Genie beherrscht das<br />

Chaos<strong>“</strong> oder „Fantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen<br />

ist begrenzt<strong>“</strong>. An der Spielstation finden Kinder unterschiedliche<br />

Anregungen, sich <strong>mit</strong> Einsteins Wort-Hinterlassenschaften<br />

zu beschäftigen, <strong>mit</strong> den bekannten <strong>und</strong><br />

weniger bekannten.<br />

<strong>Kultur</strong> & Spielraum e.V. organisiert im Auftrag des Stadtjugendamtes<br />

München kulturpädagogische Programme für<br />

Kinder, Jugendliche <strong>und</strong> Familien. <strong>Die</strong>se finden statt als<br />

mobile Angebote an verschiedenen Orten <strong>und</strong> zu unterschiedlichen<br />

Anlässen in der ganzen Stadt (als „Bildungsereignisse<strong>“</strong>,<br />

z.B. Stadtspiele, Ferien-<strong>Kunst</strong>akademie, Spielstadt<br />

Mini-München, KinderUni, Reihe WISSENschafft<br />

SPIELRAUM, Projekte in Museen, Kinderkolleg), als kontinuierliche<br />

Programmangebote in den Kinder- <strong>und</strong> Jugendkulturwerkstätten<br />

Seidlvilla <strong>und</strong> Pasinger Fabrik (Kurse,<br />

Aktionsprogramme, Festivals) <strong>und</strong> in Partizipationsprojekten<br />

des Kinder- <strong>und</strong> Jugendforums. <strong>Kultur</strong> & Spielraum e.V.<br />

arbeitet innerhalb der Bildungslandschaft München <strong>und</strong><br />

Bayern in stabilen <strong>und</strong> temporären Kooperationsnetzwerken<br />

an der Schnittstelle <strong>Kultur</strong>, Schule <strong>und</strong> Soziales.<br />

<strong>Die</strong> Beschäftigung <strong>mit</strong> naturwissenschaftlichen <strong>und</strong> technischen<br />

Fragestellungen aus dem Blickwinkel der kultur<strong>und</strong><br />

kunstpädagogischen Arbeit ermöglicht einen ganzheitlichen,<br />

sinnlichen <strong>und</strong> auch für Kinder nachvollziehbaren<br />

eigenen spielerischen Zugang zu den die oftmals<br />

fachspezifisch aufgesplitteten <strong>und</strong> sinnentleerten<br />

Wissensbereichen.<br />

KONTAKT:<br />

<strong>Kultur</strong> & Spielraum e.V.<br />

Ursulastraße 5<br />

80802 München<br />

Fon 089.34 16 76<br />

info@kultur<strong>und</strong>spielraum.de<br />

www.kultur<strong>und</strong>spielraum.de<br />

www.kinderkolleg.de


Seite: 51<br />

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<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Riesenkaleidoskop<br />

MAN-GE-KO UND KALEIDOSKOPWÜRFEL<br />

<strong>Die</strong> ersten Kaleidoskope gab es Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Schon damals faszinierten die Menschen die Effekte<br />

<strong>und</strong> ästhetischen Wirkungen, die durch optische Phänomene<br />

erzeugt wurden. Das Spiel <strong>mit</strong> Spiegeln <strong>und</strong> Licht<br />

fordert seitdem Handwerker <strong>und</strong> Künstler in aller <strong>Welt</strong> heraus<br />

<strong>und</strong> erfreut Kinder wie Erwachsene gleichermaßen.<br />

KollegInnen vom Kindermuseum Akita-City auf der Insel<br />

Hokkaido im Norden Japans haben es im August 2005 geschafft,<br />

ein für Kinder begehbares Kaleidoskop zu bauen,<br />

ein MAN-GE-KYO. <strong>Die</strong>ses außergewöhnliche Objekt hat<br />

dann die lange Reise nach Deutschland angetreten <strong>und</strong><br />

steht nun an den beiden Tagen Kindern <strong>und</strong> Familien zur<br />

Nutzung zur Verfügung bzw. dient als Anregung für den<br />

Bau ähnlicher Objekte z.B. für Kindermuseen. Darüber hinaus<br />

bieten die beiden Referenten in Workshops die Anleitung<br />

zum Bau eigener kleiner faszinierender Kaleidoskopwürfel<br />

zum Mitnehmen.<br />

<strong>Die</strong> japanischen Kollegen Takaaki Sonoda <strong>und</strong> Akira Sakaya<br />

sind auf Einladung von PA/SPIELkultur e.V. (siehe auch unter<br />

„Perspektivenwechsel!<strong>“</strong>) <strong>mit</strong> ihrem Man-ge-kyo-Objekt<br />

in München zu Gast. Neben dem Programm im Deutschen<br />

Museum werden sie ihre Aktivitäten auch im Schwabinger<br />

Kinderkrankenhaus vorstellen. Das Riesenkaleidoskop ist<br />

ein Spielobjekt, das in der B<strong>und</strong>esrepublik bleibt, sei es als<br />

Gr<strong>und</strong>stock für weitere zu konstruierende Optik-Exponate<br />

für eine Mitmachaktion, sei es als Einzelobjekt für einzelne<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendmuseen zur Ausleihe.<br />

KONTAKT:<br />

Kyushu-Universität<br />

Natural Science Learning Center of Akita City<br />

München:<br />

Karla Leonhardt-Zacharias<br />

Pädagogische Aktion/Spielkultur e.V.<br />

Augustenstraße 47/ Rgb.<br />

80333 München<br />

Fon 089.26 09 208<br />

info@spielkultur.de; www.spielkultur.de


Seite: 52<br />

K o n g r e s s d o k u m e n t a t i o n<br />

<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Wasserexperimente<br />

Wasser macht aus der Erde das, was sie ist: einen Planeten<br />

voller Leben. Während es bei den interaktiven Exponaten<br />

im Kinderreich des Deutschen Museums vor allem um<br />

die Erprobung <strong>und</strong> Erforschung physikalischer Eigenschaften<br />

von Wasser geht, öffnet sich den Kindern im<br />

Studienlabor <strong>und</strong> bei den Experimenten auch der Blick auf<br />

(bio-)chemische Zusammenhänge, die <strong>mit</strong> Wasser zu tun<br />

haben.<br />

„Ich bin ein Wissenschaftler!<strong>“</strong> Kinder wollen alles wissen –<br />

<strong>und</strong> müssen alles wissen, denn wer viel weiß, der kann<br />

viel machen. Deshalb gibt es im Deutschen Museum das<br />

Kinderreich. Das Angebot richtet sich an Wissenschaftler<br />

im Alter von 3 bis 8 Jahren <strong>und</strong> umfasst viele Bereiche, die<br />

es auf der <strong>Welt</strong> zu entdecken gibt:<br />

Draußen ist die <strong>Welt</strong>: Natur, <strong>Welt</strong>, Wasser<br />

Stark <strong>und</strong> schnell: Kraft, Bewegung, Energie<br />

Hell <strong>und</strong> dunkel: Licht, Optik, Astronomie<br />

Ich <strong>und</strong> du: Kommunikation<br />

Laut <strong>und</strong> leise: Schall, Akustik, Musik<br />

Ergänzt wird das interaktive Spiel- <strong>und</strong> Forscherangebot<br />

durch die Bibliothek, das Studienlabor <strong>und</strong> durch ein Schiff,<br />

einen echten Seenotkreuzer, der auf der Museumsinsel<br />

gestrandet ist.<br />

Im Studienlabor des Kinderreichs treffen sich ein Mal<br />

wöchentlich bei wechselnden offenen Angeboten die Museumskinder;<br />

ansonsten werden zu einzelnen Schwerpunktwochen<br />

Experimente <strong>und</strong> Versuchsstationen für Kinder<br />

angeboten. ErzieherInnen <strong>und</strong> Lehrkräfte kommen<br />

regelmäßig ins Kinderreich, um sich über Fördermöglichkeiten<br />

von Kindern im Elementarbereich informieren zu<br />

lassen.<br />

Das Kinderreich ist täglich geöffnet. Das ganze Jahr über.<br />

KONTAKT:<br />

Deutsches Museum<br />

Kinderreich<br />

Museumsinsel 1<br />

80538 München<br />

Fon 089.21 79 411<br />

m.koehler@deutsches-museum.de;<br />

kinderreich@deutsches-museum.de


Seite: 53<br />

K o n g r e s s d o k u m e n t a t i o n<br />

<strong>“</strong>...LEIDENSCHAFTLICH NEUGIERIG.<strong>“</strong> DIE WELT ERFORSCHEN MIT KUNST UND KULTUR<br />

Mathematiktheater<br />

Mathematiktheater ist ein Versuch, Zugang <strong>und</strong> Verstehen<br />

zur Allgegenwart der Mathematik in der Lebenswelt zu fördern.<br />

Um davon eine Vorstellung zu bekommen, wird die<br />

schlichte Umkehrung angenommen: Was wäre, wenn<br />

... die <strong>Welt</strong> ganz ohne Zahlen auskommen müsste <strong>und</strong><br />

funktionieren würde?<br />

Durch die einfache Vorgabe werden Kinder angeregt, nach<br />

eigener Fantasie <strong>und</strong> Vorstellungskraft selbst Szenarien<br />

<strong>und</strong> Szenen zu entwickeln, sie zu Theaterbildern umzuarbeiten<br />

<strong>und</strong> einzuüben. Im Workshop spielen Kinder einzelne<br />

Szenen an <strong>und</strong> laden dann das Publikum ein, den Faden<br />

weiterzuspinnen. Je intensiver sich Kinder <strong>mit</strong> der Thematik<br />

befassen, umso mehr Fragen tauchen auf: Was haben<br />

denn Zahlen <strong>mit</strong> Fernsehen zu tun? Woher wissen wir eigentlich,<br />

welches Datum heute <strong>und</strong> wie viel Uhr es gerade<br />

ist? Woher kommen alle Maßeinheiten?<br />

Das Mathematiktheater wurde im Jahre 2002 von Frau<br />

Dr. Gratz (geb. Kettler) an der Technischen Universität<br />

München gegründet. <strong>Die</strong> Uraufführung des Stückes „<strong>Die</strong><br />

<strong>Welt</strong> ohne Zahl<strong>“</strong> fand am 01.05.2002 im Rahmen der Veranstaltung<br />

„Mathematik zum Anfassen<strong>“</strong> des Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendmuseums München statt. Das Theaterstück wird in<br />

überarbeiteter Form ab Juli 2006 beim Deutschen Theaterverlag<br />

zu beziehen sein. Das Projekt „Mathematiktheater<strong>“</strong><br />

wurde von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert <strong>und</strong> ist<br />

<strong>mit</strong>tlerweile an vielen Schulen in München durchgeführt<br />

worden.<br />

KONTAKT:<br />

Mathematik-Theater<br />

Connolystraße 32<br />

80809 München<br />

Fon 089.28 92 45 23<br />

m.kettler@sp.tum.de

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