Inhaltsverzeichnis Aufsätze - PRuF

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25.02.2013 Aufrufe

Aufsätze Stefan Thierse – Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung im Europäischen Parlament MIP 2010 16. Jahrgang EP nicht zustande kam: die Arbeitszeitrichtlinie. 3 An diesem Fallbeispiel lässt sich überprüfen, inwiefern die Fraktionen im EP zu einem geschlossenen Abstimmungsverhalten und zur Strukturierung des Parteienwettbewerbs auf Basis des Links-Rechts-Konflikts in Sachfragen fähig sind, wenn sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch zwischen den Parteiakteuren eklatante Unterschiede in den ordnungspolitischen Präferenzen erwartet werden können – Konfliktlinien somit quer zu parteipolitischen Lagergrenzen liegen. Auf Basis der von Hazan (2003) vorgeschlagenen kausalen Mechanismen für Abstimmungsgeschlossenheit wird in Abschnitt II. zunächst die Bedeutung zentraler Konfliktdimensionen für Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung dargestellt. Komplementär zur Rolle der ideologischen Positionierung werden in Abschnitt III. die binnenorganisatorischen Voraussetzungen und Restriktionen für Geschlossenheit und für einen strukturierten Wettbewerb der Parteiakteure erörtert. In Abschnitt IV. folgt eine Analyse der Koalitions- und Interaktionsmuster der Fraktionen am Beispiel der Revision der Arbeitszeitrichtlinie. Hierbei dient die Ermittlung der Geschlossenheit in den insgesamt 43 namentlichen Abstimmungen der Identifizierung von Variationen in Interaktions- und Wettbewerbsverhalten. Abschnitt V. schließt mit einer Bilanz der Ergebnisse. II. Parteienwettbewerb und Konfliktlagen im EP 1. Das Parteiensystem im EP Bereits in der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) organisierten sich die von den nationalen Parlamenten entsandten Delegierten ab 1953 entsprechend ihrer weltanschaulichen Orientierung in Fraktionen, welche die damals in Westeuropa vorherrschenden Parteienfamilien (Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberale) 3 Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung. 26 abbildeten (Oudenhove 1965). Als „Vorreiter der Parteienintegration“ haben die Fraktionen in dem Maße an Bedeutung gewonnen, in dem auch die legislativen Kompetenzen des EP zugenommen haben (Oppelland 2006: 507). Die Aufwertung des EP zu einem mit dem Rat formal gleichberechtigen Gesetzgebungsorgan wirkte nicht nur katalytisch auf die Entwicklung der Fraktionen, sondern hat auch zu einer tiefgreifenden und nachhaltigen Transformation des Fraktionengefüges geführt (vgl. Judge/Earnshaw 2003). Von einem Parteiensystem, verstanden als „system of interactions resulting from inter-party competition“ (Sartori 1976: 44), kann man im engeren Sinne erst ab den frühen 1990er Jahren sprechen. Besonders anschaulich lässt sich der Transformationsprozess am Beispiel der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) verdeutlichen. Sie richtete formal erst nach Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht ein „whips office“ ein, um das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten zu überwachen und zu steuern (vgl. Kreppel 2002: 198). Mit der Aufnahme der britischen und dänischen Konservativen 1993 schuf die nun als EVP-ED firmierende Fraktion die Voraussetzungen für eine Ausdehnung um nicht-christdemokratische Parteien aus dem sog. ‚bürgerlichen‘ Lager und avancierte ab Ende der 1990er Jahre zur stärksten Kraft im EP (vgl. Corbett u.a. 2007: 78ff.; Oppelland 2006: 503). Der Fall der EVP illustriert, dass erst die Aussicht auf die Gestaltung materieller Politikergebnisse ein Wettbewerbsmoment in Gang setzte, das die organisatorische Professionalisierung sowie die Bildung von Mehrheiten in den strategischen Fokus der Fraktionen und der sie konstituierenden nationalen Parteidelegationen rückte. 2. Konfliktdimensionen und Wettbewerbsmuster a.) Links-Rechts-Dualismus Der auf nationalstaatlicher Ebene geläufige Links-Rechts-Konflikt, der sich im weitesten Sinne um die Rolle des Staates in der Gestaltung wirtschaftlicher und sozialer Beziehungen zen-

MIP 2010 16. Jahrgang Stefan Thierse – Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung im Europäischen Parlament Aufsätze triert, stellt nach herrschender Meinung die dominante Konfliktlinie und Wettbewerbsdimension im EP dar und hat den stärksten Effekt auf das Abstimmungs- und Koalitionsverhalten der Abgeordneten (vgl. Hix u.a. 2007; Kreppel/Hix 2003; Hix/Lord 1997: 26). Speziell der Dualismus zwischen staatlicher Intervention in das Marktgeschehen und möglichst uneingeschränkter Marktfreiheit hat einen nachweisbaren Einfluss auf die Haltung der etablierten Parteienfamilien gegenüber der europäischen Integration. Im Allgemeinen befürworten im heutigen Stadium der (Markt-)Integration vor allem sozialdemokratische Parteien eine Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses. Davon versprechen sie sich, auf nationalstaatlicher Ebene verloren gegangene Handlungsspielräume zur Regulierung des Marktwettbewerbs in der supranationalen Arena wiederzugewinnen. Folgerichtig plädieren am ehesten sozialdemokratische Parteien für eine gemeinsame Beschäftigungspolitik oder verbindliche Sozialstandards auf EU-Ebene. Liberale, konservative und christdemokratische Parteien stehen der Marktintegration aufgrund der Stimulierung zwischenstaatlichen Wettbewerbs aufgeschlossen gegenüber, lehnen aber die Errichtung supranationaler Regulierungsstandards tendenziell ab. Die prinzipielle Abneigung der radikalen Linken gegenüber der europäischen Integration speist sich aus der perzipierten einseitigen Fixierung der EU auf Marktschaffung sowie aus der Skepsis, den Kapitalismus auf supranationaler Ebene zügeln zu können (vgl. McElroy/Benoit 2007; Hooghe u.a. 2002: 973f.). Wenngleich die Positionierung im Sozialstaatskonflikt die höchste Bindekraft für die aus Mainstream-Parteien bestehenden transnationalen Fraktionen entfaltet und die größten Profilierungs- und Abgrenzungsmöglichkeiten schafft (vgl. Hix/Lord 1997: 25f.), besitzt dieser Gegensatz durchaus auch trennenden Charakter. Mit Blick auf die Links-Rechts-Positionierung der einzelnen Mitgliedsparteien weisen gerade die großen Fraktionen eine beträchtliche Variationsbreite auf. Dies gilt insbesondere für die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), die seit der EU-Osterweiterung stark gewachsen und heterogener geworden ist. Unter ihrem Dach sind Parteien aus zwei unterschiedlichen Parteienfamilien vereint, die überdies in wirtschaftspolitischen Fragen sowohl links als auch rechts der Mitte stehen (vgl. Corbett u.a. 2007: 85f.; Hooghe/Marks 2001: 174). 4 Die christdemokratische EVP ist in ihrer allgemeinen Positionierung ‚linker‘ als viele Mitgliedsparteien (vgl. McElroy/Benoit 2007: 19), was sich u.a. in einer höheren Quote abweichenden Stimmverhaltens niederschlägt. Wie Faas (2003: 856) für die fünfte Legislaturperiode (1999-2004) festgestellt hat, stimmten die britischen Konservativen in 50% aller namentlichen Abstimmungen, in denen es um Fragen der Beschäftigungspolitik ging, gegen die Mehrheit ihrer Fraktion. Und auch innerhalb der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) 5 herrscht mit Blick auf die Regulierung des Kapitalismus keineswegs Konsens darüber, inwieweit ein Europäisches Sozialmodell den Primat der Politik gegenüber der Ökonomie verteidigen und soziale Gleichheit auf supranationaler Ebene herstellen kann und soll (vgl. Henkel 2008: 247ff.). b.) Souveränitäts-Integrations-Dualismus Die jüngste Abspaltung der britischen Konservativen von der EVP und die von ihr initiierte Gründung einer Fraktion, die ihrem Selbstverständnis nach das Ziel einer “opposition to Eurofederalism and of fundamental reform of the European Union to make it more accountable, transparent and responsive to the needs of the people” 6 verfolgt, verweist auf eine zweite für 4 Das französische Mouvement Démocrate (MD), eine Abspaltung der Union pour la Démocratie française (UDF) und die italienische Margherita sind in der Europäischen Demokratischen Partei (EDP) organisiert, einer Sammlungsbewegung zentristischer Parteien mit christdemokratischen Wurzeln. Die meisten Parteien innerhalb der ALDE gehören jedoch der liberalen Europäischen Liberalen und Demokratische und Reformpartei (ELDR) an. 5 Seit der Aufnahme der italienischen Partito Democratico nach der Europawahl 2009 nennt sich die Fraktion Progressive Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament (S&D). 6 http://www.ecrgroup.eu/ (12.01.2010) 27

<strong>Aufsätze</strong> Stefan Thierse – Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung im Europäischen Parlament MIP 2010 16. Jahrgang<br />

EP nicht zustande kam: die Arbeitszeitrichtlinie. 3<br />

An diesem Fallbeispiel lässt sich überprüfen, inwiefern<br />

die Fraktionen im EP zu einem geschlossenen<br />

Abstimmungsverhalten und zur<br />

Strukturierung des Parteienwettbewerbs auf Basis<br />

des Links-Rechts-Konflikts in Sachfragen fähig<br />

sind, wenn sowohl zwischen den Mitgliedstaaten<br />

als auch zwischen den Parteiakteuren<br />

eklatante Unterschiede in den ordnungspolitischen<br />

Präferenzen erwartet werden können –<br />

Konfliktlinien somit quer zu parteipolitischen<br />

Lagergrenzen liegen.<br />

Auf Basis der von Hazan (2003) vorgeschlagenen<br />

kausalen Mechanismen für Abstimmungsgeschlossenheit<br />

wird in Abschnitt II. zunächst die<br />

Bedeutung zentraler Konfliktdimensionen für<br />

Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung dargestellt.<br />

Komplementär zur Rolle der ideologischen<br />

Positionierung werden in Abschnitt III. die<br />

binnenorganisatorischen Voraussetzungen und<br />

Restriktionen für Geschlossenheit und für einen<br />

strukturierten Wettbewerb der Parteiakteure erörtert.<br />

In Abschnitt IV. folgt eine Analyse der<br />

Koalitions- und Interaktionsmuster der Fraktionen<br />

am Beispiel der Revision der Arbeitszeitrichtlinie.<br />

Hierbei dient die Ermittlung der Geschlossenheit<br />

in den insgesamt 43 namentlichen<br />

Abstimmungen der Identifizierung von Variationen<br />

in Interaktions- und Wettbewerbsverhalten.<br />

Abschnitt V. schließt mit einer Bilanz der Ergebnisse.<br />

II. Parteienwettbewerb und Konfliktlagen im<br />

EP<br />

1. Das Parteiensystem im EP<br />

Bereits in der Gemeinsamen Versammlung der<br />

Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl<br />

(EGKS) organisierten sich die von den nationalen<br />

Parlamenten entsandten Delegierten ab 1953<br />

entsprechend ihrer weltanschaulichen Orientierung<br />

in Fraktionen, welche die damals in Westeuropa<br />

vorherrschenden Parteienfamilien (Sozialdemokraten,<br />

Christdemokraten und Liberale)<br />

3 Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte<br />

Aspekte der Arbeitszeitgestaltung.<br />

26<br />

abbildeten (Oudenhove 1965). Als „Vorreiter der<br />

Parteienintegration“ haben die Fraktionen in<br />

dem Maße an Bedeutung gewonnen, in dem<br />

auch die legislativen Kompetenzen des EP zugenommen<br />

haben (Oppelland 2006: 507). Die Aufwertung<br />

des EP zu einem mit dem Rat formal<br />

gleichberechtigen Gesetzgebungsorgan wirkte<br />

nicht nur katalytisch auf die Entwicklung der<br />

Fraktionen, sondern hat auch zu einer tiefgreifenden<br />

und nachhaltigen Transformation des<br />

Fraktionengefüges geführt (vgl. Judge/Earnshaw<br />

2003). Von einem Parteiensystem, verstanden als<br />

„system of interactions resulting from inter-party<br />

competition“ (Sartori 1976: 44), kann man im<br />

engeren Sinne erst ab den frühen 1990er Jahren<br />

sprechen.<br />

Besonders anschaulich lässt sich der Transformationsprozess<br />

am Beispiel der Fraktion der Europäischen<br />

Volkspartei (EVP) verdeutlichen. Sie<br />

richtete formal erst nach Inkrafttreten des Vertrags<br />

von Maastricht ein „whips office“ ein, um<br />

das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten zu<br />

überwachen und zu steuern (vgl. Kreppel 2002:<br />

198). Mit der Aufnahme der britischen und dänischen<br />

Konservativen 1993 schuf die nun als<br />

EVP-ED firmierende Fraktion die Voraussetzungen<br />

für eine Ausdehnung um nicht-christdemokratische<br />

Parteien aus dem sog. ‚bürgerlichen‘<br />

Lager und avancierte ab Ende der 1990er Jahre<br />

zur stärksten Kraft im EP (vgl. Corbett u.a.<br />

2007: 78ff.; Oppelland 2006: 503). Der Fall der<br />

EVP illustriert, dass erst die Aussicht auf die Gestaltung<br />

materieller Politikergebnisse ein Wettbewerbsmoment<br />

in Gang setzte, das die organisatorische<br />

Professionalisierung sowie die Bildung<br />

von Mehrheiten in den strategischen Fokus<br />

der Fraktionen und der sie konstituierenden nationalen<br />

Parteidelegationen rückte.<br />

2. Konfliktdimensionen und Wettbewerbsmuster<br />

a.) Links-Rechts-Dualismus<br />

Der auf nationalstaatlicher Ebene geläufige<br />

Links-Rechts-Konflikt, der sich im weitesten<br />

Sinne um die Rolle des Staates in der Gestaltung<br />

wirtschaftlicher und sozialer Beziehungen zen-

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