Inhaltsverzeichnis Aufsätze - PRuF
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MIP 2010 16. Jahrgang Stefan Thierse – Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung im Europäischen Parlament <strong>Aufsätze</strong><br />
Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung<br />
im Europäischen Parlament<br />
– Das Beispiel der Arbeitszeitrichtlinie<br />
Stefan Thierse, M.A. *<br />
I. Einleitung<br />
Unter dem am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen<br />
Vertrag von Lissabon wird das Europäische<br />
Parlament (EP) in den meisten Bereichen<br />
zu einem dem Rat der Europäischen Union<br />
gleichberechtigten Legislativorgan, ohne dessen<br />
explizite Zustimmung kaum noch ein Rechtsakt<br />
zustande kommen, kein Haushalt verabschiedet<br />
und keine Kommission ins Amt gelangen kann.<br />
Die Bedingungen, unter denen das EP seinen<br />
Einfluss geltend machen kann, stehen freilich<br />
auf einem anderen Blatt. Leicht übersieht man,<br />
wenn vom „Europäischen Parlament“ die Rede<br />
ist, wie hochgradig fragmentiert dieses Organ<br />
ist. In der aktuellen Wahlperiode sind nunmehr<br />
754 Abgeordnete1 aus 27 Mitgliedstaaten und<br />
nicht weniger als 161 Parteien2 in der Straßburger<br />
Versammlung vertreten, von denen der Großteil<br />
in einer der sieben transnationalen Fraktionen<br />
organisiert ist.<br />
Für die parlamentarische Einflussnahme bedarf<br />
es in der Praxis der Bildung von Abstimmungs-<br />
* Der Verfasser ist Wissenschaftliche Hilfskraft und<br />
Doktorand am Institut für Politische Wissenschaft und<br />
Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität<br />
Bonn.<br />
1 Da zum Zeitpunkt der Neukonstituierung des EP noch<br />
der Vertrag von Nizza galt, saßen zunächst die dort ab<br />
2009 vorgesehenen 736 Abgeordneten. Unter dem Vertrag<br />
von Lissabon kommt es zu einer Neuverteilung<br />
der Mandate unter den Mitgliedstaaten. Deutschland<br />
hält künftig nur noch 96 statt der aktuell 99 Mandate,<br />
darf aber für die laufende Wahlperiode seine gewählten<br />
Mandatsträger in vollem Umfang behalten.<br />
2 Gezählt auf: http://www.europarl.europa.eu/parliament/<br />
archive/staticDisplay.do;jsessionid=27F4C-<br />
C644C02A207736DF84154E20DAF.node2?<br />
language=DE&id=212 (12.01.2010).<br />
koalitionen. Keine Fraktion verfügt allein über<br />
eine absolute Mehrheit der Stimmen, die notwendig<br />
ist, um Beschlüsse des Rates abzuändern<br />
oder abzulehnen. Hinzu kommt, dass die Vielfalt<br />
und Bandbreite möglicher Koalitionsformate<br />
durch einen wesentlichen Umstand begünstigt<br />
wird: Aus dem EP geht keine Regierung hervor.<br />
Folglich entfällt der für den Parteienwettbewerb<br />
auf nationaler Ebene so konstitutive Dualismus<br />
zwischen Regierungsmehrheit und Opposition<br />
(vgl. Kreppel/Tsebelis 1999: 936). In der Öffentlichkeit<br />
wird das Parlament deshalb kaum unter<br />
dem Aspekt parteipolitischer Unterschiede wahrgenommen.<br />
Quantitative Analysen zum Abstimmungs-<br />
und Koalitionsverhalten der Abgeordneten<br />
belegen indes, dass die Fraktionen im Parlament<br />
auf Grundlage des Links-Rechts-Konflikts<br />
erstaunlich geschlossen um politische Alternativen<br />
konkurrieren (vgl. Hix u.a. 2007; Hix u.a.<br />
2003; Kreppel/Hix 2003).<br />
Hier stellt sich die Frage, inwieweit diese Befunde<br />
auch für Sachfragen gelten, die das Potenzial<br />
zur Spaltung entlang nationaler Interessen bergen,<br />
und die sich zur öffentlichkeitswirksamen<br />
Politisierung eignen. Untersuchungen zu kontroversen<br />
Regelungsmaterien kommen diesbezüglich<br />
zu keinem eindeutigen Ergebnis. Während<br />
einige Autoren vor allem die Wirkmächtigkeit<br />
national vermittelter wohlfahrtsstaatlicher und<br />
ordnungspolitischer Prägungen als Hürde für<br />
den Zusammenhalt der transnationalen Fraktionen<br />
hervorheben (vgl. Ringe 2005;<br />
Callaghan/Höpner 2004), betonen andere, dass<br />
nationale Interessen allenfalls situativ in Loyalitätskonflikten<br />
kulminieren, welche den internen<br />
Zusammenhalt der Fraktionen gefährden (vgl.<br />
Hix u.a. 2007: 215). Darüber hinaus hat die Forschung<br />
bislang erstaunlich wenig Konsequenzen<br />
aus der quasi-bikameralen Struktur des EU-Regierungssystems<br />
für den Parteienwettbewerb gezogen<br />
(vgl. Høyland/Hagemann 2007; Tsebelis/<br />
Garrett 2000).<br />
Der vorliegende Beitrag will vor diesem Hintergrund<br />
Abstimmungsverhalten und Koalitionsmuster<br />
anhand eines Rechtsetzungsaktes analysieren,<br />
der mangels Einigung zwischen Rat und<br />
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