AMpENLicht Der theater- macher Heiner Goebbels (59) ist Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der JustusLiebig Universität – und einer der bedeutendsten Vertreter des modernen Musiktheaters. Der klassisch ausgebildete Musiker und diplomierte Soziologe lebt seit den frühen 70ern in Frankfurt. Er begann seine Karriere als experimenteller Musiker, komponierte schon bald für Theater und Film und schrieb Hörstücke. Seine Bühnenwerke werden weltweit aufgeführt. Goebbels ist vielfach ausgezeichnet worden. Im September erhält er für sein Lebenswerk in Oslo den Internationalen IbsenPreis, den »Nobelpreis des Theaters«. Heiner Goebbels ist auch Intendant und künstlerischer Leiter der Ruhrtriennale 2012 – 2014, ein internationales Festival der Künste. Deshalb ist das Ruhrgebiet derzeit sein zweites Zuhause. 14 streifzug 8/2012 Foto: pm
Herr Goebbels, woran arbeiten Sie gerade? HG: Ich versuche, das Arrangement eines Popsongs umzustricken. Er stammt von der Gruppe The Bird and the Bee und ist Teil des Stücks »Wenn the mountain changed its clothing«. Es hat Ende September auf der Ruhrtriennale seine Welturaufführung und geht dann auf Tournee in verschiedene europäische Städte, unter anderem Graz, Maribor, Paris, Brüssel, Luxembourg, Amsterdam und Hannover. Heute proben wir gerade mit einem Chor aus 40 Mädchen, alle zwischen zehn und 20 Jahre alt und aus Maribor in Slowenien, der europäischen Kulturhauptstadt 2012. Ich dachte, Sie sitzen an »Europeras 1 & 2«, mit der Sie die Ruhrtriennale am 17. August in Bochum eröffnen? HG: (lacht) Das war letzte Woche. Mein Leben ist zurzeit relativ kurzatmig. Wir haben jetzt zwei Wochen an »Europeras« geprobt. Vor allem die ständige Verwandlung der Bühnenbilder ist eine gigantische Herausforderung. 25 Menschen, meistens Studenten, helfen uns im Rhythmus von zwei bis drei Minuten insgesamt 30 Bühnenbilder auf- und abzubauen. Das geht zurück auf eine Idee von John Cage, von dem die Oper stammt und der das Genre Oper in alle Einzelteile zerlegt und ihnen ein Eigenleben zugesteht. Hier haben wir jetzt erst mal mit dem Eigenleben der Bühnenbilder gearbeitet, nächste Woche geht es wieder weiter mit den Sängern. Können Sie das Stück einem Laien in wenigen Sätzen erklären? HG: Cage macht das total raffiniert und radikal. Er greift auf den europäischen Opernfundus zurück, der 300 Jahre alt ist und in dem alles zusammengeschweißt wurde, was sich die europäische Kulturgeschichte auf der Bühne vorstellen konnte. Und das befreit er aus seinen Zusammenhängen. Plötzlich wird aus diesem alten Material etwas völlig Neues, eine ungehörte Musik, eine Leichtigkeit, eine große Freiheit. Es gibt viel zu entdecken. Cage mutet seinen Zuhörern viel zu, das tun Sie ja offenkundig auch. HG: Nein, ganz im Gegenteil. Ich verschaffe dem Publikum das Vergnügen, dass es immer etwas zu entdecken hat. Die Arbeiten, die wir zeigen, sind fast alle neue Arbeiten. Und vor diesen neuen Arbeiten sind wir alle gleich. Wir haben zum Beispiel eine Kinderjury, 100 Kinder im Alter »Mein Leben ist zurzeit relativ kurzatmig« von 12, 13 Jahren aus der ganzen Region. Die werden uns am Ende des Festivals sagen, was die langweiligste und was die spannendste Produktion war. Sie haben viele Gesichter, wenn man so sagen darf: Musiker, Komponist, Hörspielautor, Regisseur und Professor. Gibt es ein Standbein, mit dem Sie sich am ehesten identifizieren, gibt es ein Spielbein, das Ihnen besonders lieb ist, oder ist das alles gleichwertig? HG: Was Sie da aufzählen, findet ja nicht alles gleichzeitig statt. Das bündelt sich jetzt etwas, denn ich habe meine Lehre in Gießen wegen der Ruhrtriennale nicht aufgegeben, sondern nur reduziert auf das halbe Lehrdeputat. Ich bin auch in der nächsten Woche wieder einige Tage zur Abschlusspräsentation meines szenischen Projektes in Gießen. Mein Hauptstandbein ist tatsächlich die Musik. Aber auch da wo es nicht um Musik geht, geht es immer auch um Rhythmus, um Kontrapunkte, um Komposition im weitesten Sinne. Wenn ich mir Ihre Biografie anschaue: Sie sind nicht nur Musiker, sondern auch Soziologe. Sie haben kurz nach 68 in Frankfurt studiert. Hat Ihr künstlerisches Werk eine gesellschaftskritische Komponente? »Das Publikum muss Neues entdecken« rAMpENLicht HG: Mich interessiert nie einfach nur ein Klang oder ein Text. Mich interessiert natürlich auch immer das gesellschaftliche Drumherum. Wie kommt etwas zustande, wie sind die Arbeitsbedingungen, unter denen man versucht, etwas auf die Bühne zu stellen? Das ist ein Interesse, das sich auch in der Ästhetik wieder abbildet. Würden Sie sich als politischen Menschen bezeichnen? HG: Meine Arbeit wird vielleicht als politisch verstanden. Ich bin zwar ein leidenschaftlicher Institutionskritiker, auch bei der Arbeit. Ich bin aber nicht jemand, der politische Botschaften austeilt. Apropos Politik: Beim Namen Goebbels zuckt man unwillkürlich zusammen… HG: Eine biografische Verbindung zum Propagandaminister des Dritten Reiches gibt es nicht. Ich hatte zwar einen Onkel, der Joseph hieß. Aber der war nicht mit dem anderen Joseph verwandt. Und inzwischen gibt es ja manchmal diesen merkwürdigen Umkehrschluss. Manche glauben, der Nazi Goebbels hätte Heiner mit Vornamen geheißen. Als der Film »Der Untergang« herauskam, gab es im Internet eine News-Seite, da stand unter einem Foto von der Familie Goebbels: »Heiner Goebbels verübte mit seiner gesamten Familie Selbstmord«. Da habe ich etliche Beileid-Emails bekommen. Eines von 30 Bühnenbildern, die in »Europeras 1 & 2« zu sehen sind. Foto: 8/2012 streifzug 15