sTARs - Petra Lustenberger Stiftung
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10<br />
Ein afrikanisches Märchen<br />
Der betoerende Gesang<br />
des Zaubervogels<br />
In einem kleinen Dorf, das inmitten sanfter hügel lag, ließ sich eines Tages ein merkwürdiger riesiger vogel nieder.<br />
Damit wurde alles anders für die Bewohner, denn nichts war mehr sicher vor ihm. Die Weidetiere<br />
verschwanden nach und nach von den Wiesen, das Gemüse verschwand von den Feldern und die lagerhäuser<br />
leerten sich zusehends. Täglich wuchs die Armut und die Not. Der vogel war sehr schnell, so schnell, dass kaum<br />
jemals einer mehr sah als seinen schatten, geschweige denn ihn fangen konnte. Alles, was die Dorfbewohner<br />
immer wieder hörten, war ein Rauschen, wenn er sich näherte. Das verebbte, sobald er sich in der Krone der<br />
uralten steineibe niederließ.<br />
Die Verzweiflung nahm zu. „Wie sollen wir den Winter ohne Vorräte überleben?“, fragten sich die Weisen. Es<br />
wurde beschlossen, dass die älteren Männer des Dorfs mit ihren Beilen und Buschmessern gegen den riesigen<br />
vogel vorgehen sollten. Also wetzten sie die Klingen, um die Eibe zu fällen, die er sich als sicheres versteck<br />
gewählt hatte. Es tat ihnen zwar leid um den Baum, aber das Opfer musste sein, wenn sie ihre zukunft retten<br />
wollten. Doch kaum hatten sie ihre Arbeit begonnen, steckte der vogel seinen Kopf aus dem dichten laub und<br />
sang ein honigsüßes lied. Es erzählte von fernen Dingen, die nie wiederkehren würden. völlig betört ließen die<br />
älteren Männer ihre Werkzeuge fallen und lauschten dem Gesang. sehnsüchtig schauten sie zum vogel und bewunderten<br />
sein wunderschönes farbenprächtiges Gefieder. Der Vogel sang bis zum Abend. Da war auch dem<br />
letzten Mann der Wille zur Tat gebrochen. Unverrichteter Dinge gingen sie zurück ins Dorf und verkündeten:<br />
„Diesem vogel können wir kein leid antun. Er ist zu wundersam und etwas so schönes muss erhalten bleiben!“<br />
Die Weisen waren verärgert und schickten nun die jüngeren Männer los, um dem vogel beizukommen. Die wetzten<br />
ebenfalls ihre Klingen und zogen zur Eibe. Doch genau das gleiche geschah. Kaum erzitterte der Baum unter dem<br />
ersten Beilhieb, steckte der vogel seinen Kopf aus dem laub und begann zu singen. Diesmal war es ein lied über<br />
liebe, Tapferkeit und heldenhafte Taten, die weit in der zukunft lagen. Die jüngeren Männer hielten verzückt inne.<br />
„Ein solcher vogel kann doch nicht böse sein. Wir wollen ihm lieber zuhören“, beschlossen sie. Auch diesmal gelang<br />
es dem vogel, ihren Geist völlig zu entrücken. Die Männer knieten nieder und gaben ihrer verzückung nach.<br />
solange, bis die Abendsonne sie zur heimkehr bewegte. völlig verwirrt sprachen sie bei den Weisen vor: „Niemand<br />
kann sich dem Klang des vogels entziehen. seine zauberkraft ist zu groß. Wir mussten aufgeben. hättet ihr nur<br />
auch hören können ...“.<br />
Die Weisen wurden richtig wütend. „Jetzt bleiben uns nur noch die Kinder“, berieten sie sich. „Kinder hören genau<br />
und ihr Blick ist klar.“ Der Älteste beschloss, sich mit den Kindern auf den Weg zum vogel zu machen. Die Kinder<br />
bekamen die Werkzeuge von ihren Eltern und am frühen Morgen ging es los. Auf zum Baum. Wieder streckte der<br />
vogel seinen Kopf aus dem laub, als der erste hieb erfolgte. Dann zeigte er sich in seiner ganzen wunderbaren Gestalt.<br />
Dem Ältesten verschlug es die sprache, allein vom Anschauen. Der vogel begann zu singen. Und der Älteste<br />
fühlte, wie ihn die Kraft seiner hände verließ. Doch die Kinder hörten nichts, außer die rhythmischen schläge ihrer<br />
kleinen Beile und hackmesser. Der vogel sang weiter und weiter, und die Kinder hackten und hackten.<br />
Der große Baum fiel um und mit ihm der seltsame gefährliche Vogel. Unter den schweren Ästen begraben lag er<br />
und konnte keinen weiteren Raub begehen.<br />
Herbei rannten alle Dorfbewohner. Den älteren und jüngeren Männern fiel es schwer zu glauben, was sie sahen.<br />
Die kleinen dünnen Ärmchen der Kinder hatten gemeinsam die Gefahr besiegt!<br />
Abends wurde ein großes Fest gefeiert – für die Kinder, damit sie belohnt werden konnten. „Ihr seid die einzigen,<br />
die genau hören und einen klaren Blick haben. Ihr seid die Augen und Ohren unseres stamms“, sprach der Älteste<br />
zu ihnen.<br />
Aus Nelson Mandelas lieblingsmärchen, nacherzählt von Ulla Janascheck