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Mitteilungen Nr. 46 - Hans Henny Jahnn

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KREIS DER FREUNDE UM H A N S K AY S E R BERN<br />

MITTEILUNGEN <strong>Nr</strong>. <strong>46</strong> Mai 2001<br />

Walter Ammann Biderstrasse 31 CH-3006 BERN Telefon 031 931 12 78 PC Bern 30-12710-8<br />

Postgiroamt Frankfurt/M. 300 453 605, Bankleitzahl 50’010’060 • Euro 91-13879-4<br />

Zeichnung von <strong>Hans</strong> Kayser aus der SIGMARINGER HEIMATZEITUNG, anlässlich seines Abiturs<br />

1911, an dessen Feier u.a. auch eine seiner Kompositionen gespielt wurde:<br />

«Mit besonderer Erwartung sah man dem Streichquintett von <strong>Hans</strong> Kayser entgegen … Was das<br />

Quintett und seinen musikalischen Wert betrifft, so erübrigt sich der Versuch einer analysierenden<br />

Einzelbeurteilung, nachdem kein geringerer als Max Schillings auf Grund dieser Arbeit<br />

dem jungen Musiker zum Studium der Musik geraten hat. Das Werk ruft zweifellos tiefe Wirkung<br />

hervor, besonders der III. Satz. Die ausführenden Künstler schätzten an ihm die auffallende<br />

Selbständigkeit und die ausserordentlich erfindungsreiche und geschickte Gestaltung der<br />

einzelnen Sätze aus einer einfachen und kurzen Tonfolge und hatten sich dem Studium des Werkes<br />

mit besonderer Liebe hingegeben. Der junge Komponist ist sich selbst klar, dass er erst am<br />

Anfange eines weiten Weges steht; aber jeder wird sich mit ihm freuen, dass es ihm vergönnt<br />

war, ehe er die musikalische Hochschule bezieht, das, was er in der Stille seiner Primanerstube<br />

empfunden und niedergeschrieben hat, von diesen Künstlern zu hören und für sein Studium dies<br />

gute Vorzeichen mitzunehmen. Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Arbeit zugleich<br />

dem Lehrer <strong>Hans</strong> Kaysers in Harmonie- und Kompositionslehre, Herrn Chordirektor Hoff, alle<br />

Ehre macht.»


Inhalt Seite<br />

Symposion vom 4. November 2000 in Bern 3+4<br />

Dr. <strong>Hans</strong> Erhard Lauer: Harmonik und Anthroposophie 5+6<br />

Uni Wien 7<br />

Prof. Dr. Werner Schulze: Architektur ist gefrorene Musik 8–13<br />

Bücherbesprechungen:<br />

Werner Minnig: Reinhart Frosch, Mitteltönig ist schöner! 14<br />

Edwin Peter: Peter Michael Braun, Ein harmonikaler Zugang zur Musiktheorie 14<br />

Bestellung 16<br />

2<br />

Die Verantwortung für die einzelnen Beiträge tragen jeweils die Verfasser<br />

Liebe Freunde der Harmonik<br />

Wir können Sie auch dieses Jahr wiederum zu einem aufschlussreichen und vielseitigen Symposion<br />

einladen. Am Samstag, dem 3. November 2001, werden voraussichtlich zu uns sprechen:<br />

Herr Harald Jordan, Leiter des Instituts für transformierende Baukunst, Verfasser des Buches<br />

und zugleich Thema seines Vortrages:<br />

Räume der Kraft schaffen, Bereiche der Harmonik und der geometrischen<br />

Gesetzmässigkeiten<br />

Herr Dr. med. Josef Escher, em. Chefarzt des Spitals Brig, wird über<br />

Die Bedeutung der Kunsttherapie, im Besonderen der Musiktherapie in der<br />

modernen Medizin<br />

sprechen und<br />

Frau Margret Löwensprung vom Arbeitskreis Harmonik, München, über<br />

Das «Tonoskop» als Erzeuger von Klangfiguren mit der menschlichen Stimme<br />

in Forschung und Therapie.<br />

Wir bitten Sie höflich, diesen Tag schon jetzt in Ihre Agenda einzutragen, und verbleiben mit<br />

freundlichen Grüssen<br />

Die MITTEILUNGEN erscheinen jährlich zweimal.<br />

Richtpreis im Jahr Fr. 15.– / DM 20.–. Bitte möglichst mit Giro überweisen.<br />

Freunde in Deutschland zahlen auf Postbank NL Frankfurt, 300’453’605, Bankleitzahl<br />

50’010’060, in andern Ländern auf das Gelbe Konto international <strong>Nr</strong>. 91 13879 4 KREIS DER<br />

FREUNDE UM HANS KAYSER BERN.<br />

Wenn Sie die MITTEILUNGEN nicht mehr zu erhalten wünschen, möchten Sie diese bitte im<br />

gleichen Umschlag, damit der Absender ersichtlich ist, frankiert an uns zurückgehen lassen,<br />

wofür wir Ihnen bestens danken.


Dr. <strong>Hans</strong> Erhard Lauer<br />

Harmonik und Anthroposophie<br />

anlässlich der Neuauflage von <strong>Hans</strong> Kayser: Akróasis,<br />

Die Lehre von der Harmonik der Welt, Verlag Schwabe & Co., Basel, 1964<br />

Wenn diese Einführung in die von ihm neubegründete Wissenschaft der Harmonik, die kurz<br />

nach dem 1964 erfolgten Tode des Verfassers in neuer Auflage erschien, an dieser Stelle<br />

besprochen wird, so erwartet der Leser, angesichts der Natur der Sache, um die es sich<br />

hiebei handelt, wohl eine Stellungnahme vom Gesichtspunkt der Anthroposophie aus.<br />

Diese kann ja nun nicht anders ausfallen denn als Feststellung und Anerkennung, dass die<br />

wissenschaftlichen Bemühungen Kaysers sich, in einem weiten Sinn dieser Worte verstanden,<br />

in derselben Richtung und nach demselben Ziele hin bewegten, welche auch jene der<br />

Bestrebungen Rudolf Steiners waren. Und so findet sich in den Schriften Kaysers vieles,<br />

was harmonisch mit Auffassungen und Ergebnissen der anthroposophischen Forschung<br />

zusammenklingt. Beiden, Kayser und Steiner, ging es um echte, vollgültige wissenschaftliche<br />

Forschung, und beiden ging es zugleich um mehr als nur um diese: nämlich darum,<br />

durch solche Forschung eine umfassende Welt-Anschauung zu begründen. Beide standen<br />

in einem gewissen Gegensatz zu der heute herrschenden Art der wissenschaftlichen<br />

Forschung, obwohl sie deren Bedeutung voll und ganz würdigten. Die Bemühungen beider<br />

hatten und haben es darum auch heute noch schwer, sich Anerkennung zu erringen.<br />

Steiner suchte durchaus im Geiste moderner Wissenschaftlichkeit zur Erforschung der<br />

sinnlich-materiellen Welt, auf welche sich jene bis heute beschränkt, diejenige der übersinnlich-geistigen<br />

Bereiche hinzuzufügen durch Ausbildung von höheren Erkenntniskräften<br />

in der menschlichen Seele, als sie von der modernen Forschung bisher bestätigt werden.<br />

Kayser suchte der Welt des Seelischen, wie wir sie zunächst als unsere menschliche<br />

Innenwelt erleben, wieder die Geltung einer nicht nur menschlichen, sondern auch den<br />

ganzen aussermenschlichen Kosmos durchwaltenden und gestaltenden zu verschaffen.<br />

Insoweit ihm das gelang, stellen seine Errungenschaften eine Brücke dar, die zu den<br />

Ergebnissen der Steinerschen Geistesforschung hinzuleiten vermag.<br />

Bekanntlich wird heute vielfach C.G. Jung das Verdienst zugesprochen, die Welt der Seele<br />

als eine in sich selbst begründete wieder entdeckt zu haben. Jung verblieb mit seinem Forschen<br />

allerdings völlig innerhalb des Seelischen selbst. Kayser, der sich der Verwandtschaft<br />

seiner eigenen und der Bestrebungen Jungs wohl bewusst war, ging von andern<br />

Tatbeständen als dieser aus, – von Tatsachen, die vornehmlich die universell-kosmische<br />

Bedeutung des Seelischen sowie seinen Zusammenhang mit dem Physisch-Materiellen<br />

verbürgen; es sind die Phänomene der Tonwelt und ihrer Beziehungen zu mathematischen<br />

Verhältnissen, wie wir sie urphänomenal mit Hilfe des Monochords an den verschiedenen<br />

Tönen entsprechenden Saitenlängen bzw. Schwingungszahlen feststellen können. Wir<br />

haben hier einen einzigartigen Fall der Identität von qualitativen und quantitativ-mathematischen<br />

Gegebenheiten vor uns, die beide unserer sinnlichen Wahrnehmung (Hören und<br />

Sehen bzw. Tasten) gegeben sind. Dieses Phänomengebiet hat allerdings gerade wegen<br />

seiner einzigartigen Schwellenlage zwischen zwei Welten den menschlichen Geist im Lauf<br />

seiner Entwicklungsgeschichte nach entgegengesetzten Richtungen gezogen.<br />

Pythagoras, mit dessen Namen ja die am Monochord sich zeigende Beziehung von Zahl<br />

und Ton (von physischer Quantität und psychischer Qualität) in besonderer Weise verbunden<br />

ist, war durch sie noch zur Idee einer Sphärenharmonie d.h. einer kosmischen Musik<br />

und damit einer Weltseele geführt worden. In Kepler hatte diese Idee ihren letzten grossen<br />

Vertreter. Die neuere Zeit dagegen missdeutete seit Galilei diese Verknüpfung von Zahl und<br />

Ton in dem Sinne, dass Objektivität nur der Zahl, dem Ton aber bloss subjektive Bedeutung<br />

zukomme. Indem ihr dieses also missdeutete Verhältnis ausserdem noch zum Modell<br />

wurde, nach dem sie auch alle übrigen Sinneswahrnehmungen auffasste, versubjektivier-<br />

5


te sie sämtliche Empfindungsqualitäten und hypostasierte als deren objektive Verursachungen<br />

rein quantitativ-mathematische Tatbestände. Damit leitete sie jene Zerreissung<br />

von Mensch und Welt ein, die seither immer weiter fortgeschritten ist. Auf dieser Entmenschung<br />

der Welt beruhen letztlich alle jene die Fortexistenz der Menschheit bedrohenden<br />

Zerstörungsprozesse, in welche die moderne Zivilisation in unserm Jahrhundert ausmündete.<br />

Schon der Philosoph H. Friedmann hatte (in seinem Werk «Die Welt der Formen») vor<br />

einigen Jahrzehnten nachgewiesen, dass jene Missdeutung ihren Grund hatte in einer<br />

Überbewertung des Tastsinnes gegenüber den höheren Sinnen des Auges und des Ohres,<br />

die sich im Übergang zur neueren Zeit vollzogen hat. Er charakterisierte daher das materialistisch-physikalische<br />

Weltbild der modernen Naturwissenschaft als ein «haptisches»,<br />

d.h. ausschliesslich auf die Wahrnehmungen des Tastsins begründetes. Diesem gegenüber<br />

versuchte er, in der Nachfolge Goethes bzw. von dessen Farbenlehre, ein aufs Auge<br />

d.h. auf das Element des Lichtes begründetes Weltbild zur Geltung zu bringen. In bezug<br />

auf das Licht ist es freilich schwierig, gegenüber der heutigen physikalischen Optik die<br />

Objektivität der Sinneswahrnehmung zu erweisen.<br />

Dagegen bietet die Tonwelt, wo der Zahl kein grösseres Mass von Objektivität zukommt<br />

als dem Ton, eine unangreifbare Möglichkeit, die zerrissene Einheit von Mensch und Welt<br />

wieder herzustellen, und das heisst: dem Seelischen seine objektive Bedeutung zurückzuerobern.<br />

Zu der «Welt-Anschauung» im wahren Sinne dieses Wortes, wie sie Goethe<br />

ausgebildet hat, tritt so eine «Welt-Anhörung», eine Akróasis», hinzu. Die Entwicklung der<br />

letzteren hat zur Folge, dass das dem Ton-Element entsprechende Mathematische anstelle<br />

des rein quantitativen Charakters, den es in neuerer Zeit ausschliesslich ausgebildet hat,<br />

einen qualitativen, und das heisst: einen harmonikalen annimmt, wie es ihn in älteren<br />

Zeiten bis ins Griechentum herein noch getragen hatte. Diese Harmonik allseitig ausgearbeitet<br />

zu haben, ist das grosse Verdienst <strong>Hans</strong> Kaysers. In einer grossen Zahl von Schriften<br />

hat er die Ergebnisse seiner Lebensarbeit niedergelegt.<br />

Im ersten Drittel des hier vorliegenden Buches arbeitet er zunächst die Grundlagen der<br />

Harmonik heraus. Im zweiten Drittel weist er ihre Bedeutung für die verschiedenen Gebiete<br />

des geistigen Lebens auf: für die naturwissenschaftliche, biologische, physiologische<br />

und psychologische Forschung, für die verschiedenen Künste, und zuletzt für die Geisteswissenschaften<br />

und die Philosophie. Hierbei eröffnen sich bedeutsame Ausblicke auch auf<br />

die Probleme der Mystik, ja der Religion. Kayser entwickelt hier Gesichtspunkte z.B. zu<br />

den Ideen der göttlichen Trinität, der Reinkarnation, des Ursprungs des Bösen, die wie<br />

Projektionen von Ergebnissen der Steinerschen Geistesforschung auf die Ebene der Harmonik<br />

sich darstellen. Er sagt an einer Stelle (S. 128): «Der Sinn des Denkens ist das Regulativ<br />

für unsere anderen drei wichtigsten Sinne: Tastsinn, Auge und Ohr. Der Tastsinn hat<br />

die Witterung für materielle, körperliche Dinge; sein Zugang zum Göttlichen ist mit Eros<br />

überschrieben. Das Auge hat die Sicht für Formen und Farben; sein Zugang zum Göttlichen<br />

heisst bildende Künste. Das Ohr hört den Lärm und die «Stille» der Welt; sein Zugang<br />

zum Göttlichen heisst Sprache, Dichtung und Musik. Alle drei Sinne: Tastsinn, Auge und<br />

Ohr, reguliert der Verstand; sein Zugang zum Göttlichen heisst Vernunft.» Man könnte<br />

sagen: Für die Welt des Tastsinns und ihren Weg zum Göttlichen steht als Repräsentant<br />

die moderne Naturwissenschaft da; für die des Auges die Weltschau Goethes; für jene des<br />

Ohres die Kaysersche Harmonik, und für die des Denkens die Geistesforschung Steiners.<br />

Dem Weg, der durch die Folge dieser Gestalten bezeichnet wird, gehört so als eine seiner<br />

Etappen auch die Lebensarbeit Kaysers an. Auch sie ist eine der Leuchten, die in die<br />

Zukunft weisen.<br />

aus: Blätter für Anthroposophie / Dornach, 18. Jahrgang 1966, Oktober <strong>Nr</strong>. 10<br />

6


UNIVERSITÄT FÜR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST WIEN<br />

INSTITUT FÜR MUSIKTHEORIE UND HARMONIKALE FORSCHUNG<br />

Anton-von-Webern-Platz 1, A-1030 Wien<br />

a. Prof. Werner Schulze, Mag. Thomas Herwig Schuler<br />

Jahresbericht für das Studienjahr 1999/2000 (gekürzt)<br />

Harmonikale Forschung<br />

Dem Beitrag der Harmonik zu einem integralen Weltverständnis kommt von Jahr<br />

zu Jahr grössere Bedeutung zu. Somit ist auch das weltweit einzige Harmonik-<br />

Institut auf akademischem Boden in diese Entwicklung eingebunden, und die Mitarbeiter,<br />

Dr. Werner Schulze und Mag. Thomas Schuler, sind sich dieser Aufgabe<br />

und Verantwortung voll bewusst. Ein «Zukunftsforum Harmonik», unter Einbeziehung<br />

der neuen Medien, stellt deshalb einen zentralen Punkt der Institutsplanung<br />

dar.<br />

Am Institut gab es Arbeitsschwerpunkte sowohl «nach innen» wie «nach aussen»:<br />

Durchführung von Lehrveranstaltungen, wissenschaftliche Forschung, Erstattung<br />

von Gutachten, Edition von Publikationen, Pflege internationaler Kontakte zu verwandten<br />

Einrichtungen, u.a.:<br />

– Im April 1999 wurde in Magdeburg eine Ausstellung eröffnet, deren Laufzeit<br />

zehn Jahre betragen soll: Der Jahrtausendturm. Die in diesem Turm gezeigte<br />

Schau So wurde die Welt verändert erreichte bereits in den ersten beiden<br />

Monaten mehr als eine Million Besucher sowie grosses Medien-Echo. Werner<br />

Schulze gestaltete den Ausstellungsteil Musik und Architektur.<br />

– Beratende Funktion hatte Werner Schulze beim Bau des Harmonik-Zentrums<br />

in Limnionas/Samos (Griechenland). Der Zentralbau, ein Mehrzwecksaal für<br />

Theater, Tanz, Musik und Vorträge, soll im September 2001 fertiggestellt sein.<br />

Dieses Kunst- und Studienzentrum untermauert, genauso wie die School for<br />

Harmony in Kerala/Indien, die internationale Ausstrahlung der Harmonik.<br />

– Die Projektgruppe Harmonik (Werner Schulze mit Klaus Hammer und Lukas<br />

Wilberg) widmete sich der harmonikalen Landschaftsarchitektur. Für den<br />

neuen Campus der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien wurde<br />

eine 2800 m 2 grosse Gartenlandschaft entworfen.<br />

– International: Fortgesetzt wurden die Kooperationen mit der School for Harmony<br />

in Velur/Kerala (Indien) und mit dem Zürcher Forum (Schweiz). Neu<br />

aufgenommen wurde die Zusammenarbeit mit dem Harmonik-Zentrum<br />

Limnionas/Samos (Griechenland).<br />

7


Werner Schulze<br />

Architektur ist gefrorene Musik aus Kunstpunkt <strong>Nr</strong>. 19, Wien 2000<br />

Redaktionsbemerkung von «Kunstpunkt»<br />

Im April 1999 wurde in Magdeburg eine Ausstellung eröffnet, deren Laufzeit zehn Jahre<br />

betragen soll: Der Jahrtausendturm. Die in diesem Turm gezeigte Schau «So wurde die<br />

Welt verändert» erreichte bereits in den ersten beiden Monaten mehr als eine Million Besucher<br />

und grosses Medien-Echo.<br />

Werner Schulze, Prof. an der Universität Wien, gestaltete den Ausstellungsteil Musik und<br />

Architektur. Leitidee seiner Gestaltung war die interkulturelle Dimension harmonikaler<br />

Aspekte der Architektur.<br />

Für den Jahrtausendturm wurde das Schatzhaus der Athener von Delphi im Massstab 1:1<br />

nachgebaut. Es sollte als Umhüllung dienen, um den Gedanken von der Architektur als der<br />

im Raum erstarrten Musik darzustellen. Schulze entwarf ein Konzept, das folgende Bauwerke<br />

in ihren Klangformen zu Gehör bringt: Athena-Tempel zu Paestum (um 510 v.Chr.),<br />

Hagia Sophia (6. Jh.), Kathedrale von Chartres (um 1200), Leon Battista Alberti: San Francesco<br />

di Rimini (15. Jh.), eine Villa von Andrea Palladio (16. Jh.) und ein Wohnhaus von<br />

André Studer (20. Jh.). Die räumlichen Hauptmasse dieser Bauwerke wurden ins Klangliche<br />

übertragen und können vom Besucher gehörsmässig erlebt werden.<br />

8<br />

Jahrtausendturm, Innenansicht mit dem «Schatzhaus der Athener». Bild: Zürcher Forum


«…der ganze Tempel singt»<br />

Im Freundeskreis von Johann Wolfgang von Goethe entstand der Satz, Architektur sei<br />

gefrorene Musik. Goethe schreibt in seiner «Italienischen Reise» vom Besuch antiker Tempel<br />

und Theater, darunter der Tempel von Paestum (Aufzeichnung vom 23. März 1787).<br />

Überschwenglich preist er die antike Baukunst: «Wie sich Geist und Aug’ entzücken<br />

müssen, wenn man unter jeder Beleuchtung diese vielfachen horizontalen und tausend<br />

vertikalen Linien unterbrochen und geschmückt wie eine stumme Musik mit den Augen<br />

auffasst.» Auch im zweiten Teil seines «Faust» klingt etwas durch von der musikalischen<br />

Harmonie des griechischen Tempels:<br />

«Der Säulenschaft, auch die Triglyphe klingt,<br />

Ich glaube gar, der ganze Tempel singt.»<br />

Baugesetze der Musik: Grundlinien<br />

harmonikaler Architektur<br />

Im antik-griechischen Denken nahmen Zahlen<br />

und ihre Proportionen eine herausragende<br />

Rolle ein. Sie konnten so unterschiedliche<br />

Gebiete wie Arithmetik, Geometrie, Harmonik,<br />

Kosmologie, Astronomie, Ethik, Staatsund<br />

Seelenlehre überspannen. Dabei spielte<br />

der Begriff sym-metria (lat. commensura,<br />

«Zusammen-Mass») eine wichtige Rolle; er<br />

wurde nicht nur als mathematisch-quantitativer,<br />

sondern zugleich als psychisch-qualitativer<br />

Begriff verstanden, der sowohl an der<br />

Hörqualität musikalischer Rhythmen und<br />

Intervalle wie auch an symbolischen Zuordnungen<br />

und an der Idee der Vollkommenheit<br />

orientiert ist.<br />

Wie die Architektur sich zum Raum<br />

und zur Geometrie verhält, so die<br />

Musik zur Zeit und Arithmetik. Architektur<br />

ist die Kunst des Raumes,<br />

Musik die Kunst der Zeit. Der<br />

Komponist wird zum Architekten<br />

der Zeit, der Baukünstler zum<br />

Musiker des Raumes. Harmonikales<br />

Denken wagt die Überschau,<br />

hat die Quantität/Qualität-Spaltung<br />

hinter sich gelassen und versucht,<br />

zu allem praktischen und<br />

theoretischen, zu allem wirtschaftlichen,<br />

technischen usf. Wissen die<br />

Qualität künstlerischer Ausdrucksidentität<br />

hinzuzufügen.<br />

Werner Schulze<br />

Die Lehre von einer Übereinstimmung musikalischer<br />

Grundlagen mit kosmischen Gesetzen<br />

und ihrer Präsenz in Physis und Psyche<br />

des Menschen wurde auch in die Kunsttheorie übernommen. Damit haben die Zahlengrundlagen<br />

der Musik in Architektur und Bildender Kunst Eingang gefunden. Doch existierten<br />

keinesfalls nur exakte Proportionszumessungen, sondern ebenso geringfügige Nuancen,<br />

Bandbreiten der Proportionsnormen. Dies war nicht mangelnde Genauigkeit beim<br />

Bauen, sondern ästhetische Absicht. Harmonikale Normen sind also die eine Seite, die<br />

Belebung der Norm durch minimale Abweichung die andere.<br />

Im ersten Jahrhundert v.Chr. beschreibt der römische Architekturschriftsteller Vitruvius<br />

Pollio in seinen «Zehn Büchern über Architektur» (De architectura libri X) eine Theorie des<br />

Bauens nach harmonikaler Mass-Setzung. Die musikalischen Verhältniszahlen, die Vitruv in<br />

seinem Lehrbuch anführt, sind nur ein Ausschnitt aus der Vielfalt der tradierten Intervallproportionen,<br />

nämlich die sogenannten «feststehenden» Basis-Intervalle des Tonsystems:<br />

2:1 (Oktave), 3:2 (Quinte), 4:3 (Quarte) sowie die Oktav-überschreitenden Intervalle 4:1<br />

(Doppeloktave), 3:1 (Oktave plus Quinte) und 8:3 (Oktave plus Quarte). Die architektonischen<br />

Proportionen sind in Entsprechung zu den Proportionen des menschlichen Körpers<br />

entwickelt; es dominieren die Werte 2:1, 3:2, 4:3, 3:1, 4:1, 6:1, 8:1, 10:1. Vitruv wird<br />

nicht müde, auf die Analogie zwischen den Haupt-Massen eines räumlichen Architekton<br />

und den musikalischen Intervall-Massen hinzuweisen.<br />

9


Bei den angeführten Proportionen fällt auf, dass einige in der Art (n+1):n gebildet sind.<br />

Solche Verhältnisse spielen in der antiken Zahlenlehre und Musiktheorie eine herausragende<br />

Rolle. Intervallproportionen wie 5:4, 8:7, 9:8, 10:9, 16:15, 25:24, 28:27, 36:35 bis hin zu<br />

<strong>46</strong>:45 waren in der Musiktheorie nicht die Ausnahme, sondern die Regel.<br />

Das Helikon<br />

Ptolemaios (2. Jh.) überliefert ein harmonikales<br />

Ordnungsschema, das einen wichtigen Ansatzpunkt<br />

zur Parallelität von Massen in Mathematik<br />

und Musik liefert: das Helikon. (Der Helikon ist ein<br />

Berg in Böotien, der als Sitz der Musen gilt.) Wir<br />

verbinden in einem Quadrat die Mitte einer Seite<br />

mit einer Gegenecke und ziehen beide Quadratdiagonalen.<br />

Durch die erhaltenen Schnittpunkte<br />

fällen wir die Lote auf die Grundlinie. Dieser<br />

Spannrahmen stellt sowohl die vier Saiten eines<br />

Musikinstrumentes dar, zeigt aber auch auf einfache<br />

Weise harmonisches (8) und arithmetisches<br />

(9) Mittel zweier im Verhältnis 6:12 stehender<br />

Längen:<br />

Harmonia perfecta maxima 6 : 8 = 9 : 12*<br />

Oder gleichbedeutend: 1 : 4/3 = 3/2 : 2*<br />

Als Folge von Tönen: c – f = g - c’<br />

Aus solcher Proportionierung kann die Architektur, die auch als Abbild des Kosmos verstanden<br />

wurde, Anleihen nehmen. Denkt man daran, dass Platon im Dialog «Timaios» die<br />

soeben genannte Zahlen-Vierheit als Bestandteil des harmonikalen Baus der Weltseele<br />

begriffen hat, liegt es nahe, solche Zahlengestalten in Bauwerken nachzubilden, besonders<br />

dann, wenn die platonische Weltseele christlich als Spiritus Sanctus umgedeutet wird<br />

(Schule von Chartres).<br />

Byzantinische Baukunst<br />

Die Hagia Sophia (der Heiligen Weisheit geweihte Kirche) in Konstantinopel, 532–537,<br />

ahmt den Tempel Salomos in Jerusalem nach (1. Kön. 6,2: 60:20:30 Ellen). Sie weist einen<br />

die fundamentalen musikalischen Intervalle Oktave-Quinte-(Duodezime) darstellenden<br />

«Fundamental-Klang» auf: Länge : Breite : Höhe = 6 : 2 : 3<br />

Angesichts der Fertigstellung dieses Meisterwerkes der Weltarchitektur soll der Bauherr<br />

Justinian ausgerufen haben: «Salomo, ich habe dich übertroffen!»<br />

Als Kirche des Kaisers und des Patriarchen war sie die Hauptkirche des Reiches. Typologisch<br />

lässt sich die Sophienkirche als Durchdringungsform einer dreischiffigen Basilika und<br />

einer Kuppelkirche begreifen; ideologisch sind möglicherweise die Basilika der Funktion<br />

einer Bischofskirche, der Kuppelbau der Funktion einer Kaiserkirche zuzuordnen (Volker<br />

Hofmann).<br />

* Diese Zahlen sind hier reziprok, d.h. als Frequenzen zu verstehen.<br />

10<br />

12<br />

9<br />

Das Helikon<br />

Aus: Kayser, Lüthi, Stössel: Hesses<br />

Glasperlenspiel und die Harmonik,<br />

Bern 1990, S. 20<br />

8<br />

6


1 Pendentifs, dreieckige, konkave Segmente, die auf den von vier grossen Bögen gebildeten Ecken<br />

stehen, bilden am oberen Ende einen Kreis, der die flache Kuppel trägt.<br />

2 Ausser an der Ostseite wird das Hauptschiff an allen Seiten von Gewölbeseitenschiffen mit Emporen<br />

umgeben, die durch Marmorsäulen abgeteilt sind.<br />

3 Vier Bögen auf starken Stützpfeilern tragen den Hauptdruck der grossen Ziegelkuppel.<br />

4 Im Westen fangen zwei grosse Stützpfeiler und ihr Bogen den Druck der westlichen Halbkuppel<br />

auf.<br />

5 Die Hagia Sophia besitzt eine äussere und eine Hauptvorhalle.<br />

aus: Paul Allard, Stilkunde für Stukkateure,<br />

Rudolf Müller GmbH, Köln 1994,<br />

S. 27<br />

Grundriss der Hagia Sophia:<br />

aus: Lübke-Semrau, Die Kunst des Mittelalters,<br />

Paul Neff Verlag 1910, S. 28<br />

Säulenhalle<br />

Haupteingang<br />

Atrium<br />

11


Gotik<br />

Gegen Ende des 12. Jahrhunderts beginnt in der<br />

Architektur ein Stilwandel. Von Frankreich ausgehend<br />

breitet sich die Gotik über den Westen des<br />

christlichen Abendlandes aus. Als eine der berühmtesten<br />

französischen Kathedralbauten gilt die Kathedrale<br />

von Chartres (1194–1220).<br />

Versteht man die in der Aufrisszeichnung enthaltenen<br />

Zahlen 40 48 60 70 80 als Frequenzen von<br />

Tönen, ergibt sich die Klanggestalt c es g b* c’. Dem<br />

Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt (13. Jh.)<br />

sind Figuren beigefügt, deren eine in mehrfacher<br />

Weise harmonikale Bedeutung hat: Erstens ist sie<br />

dem bei Ptolemaios dargestellten Helikon verwandt,<br />

der die Umrissform eines Musikinstrumentes gewesen<br />

ist. Zweitens lässt sich daraus eine Darstellung<br />

herleiten, die sowohl ein geometrisches Streckenteilungsverfahren<br />

(1/2, 1/3, 1/4 … einer Streckenlänge),<br />

ein musiktheoretisches Saitenteilungsverfahren<br />

(1/2, 1/3, 1/4 … der Saitenlänge eines Monochords)<br />

wie auch zugleich einen Architektur-Kanon darstellt.<br />

Kathedrale von Chartres<br />

Aufriss mit Spitzbogen über Fünfstern<br />

Masse in Halbellen zu 36,9 cm<br />

(aus: Louis Charpentier: Die Geheimnisse der Kathedrale<br />

von Chartres, Köln 1981, S. 12)<br />

Renaissance<br />

Zu einer umfassenden Neubelebung der antiken Tradition kam es in der Renaissancezeit.<br />

Nicht nur Vitruvs Ausführungen fanden Beachtung – was sich in zahlreichen Übersetzungen<br />

und Kommentaren seines Lehrwerks niederschlug –, sondern parallel dazu lenkte<br />

Leon Battista Alberti (1404–1472) die Aufmerksamkeit auf die Wichtigkeit musikalischer<br />

Proportionen in der Architektur. In der gesamten Renaissancezeit bis hin zu Andrea Palladio<br />

(1508–1580), einem der letzten grossen Baukünstler dieser Epoche, kennt man ein<br />

Bauen nach harmonikalen Massen.<br />

Zu den berühmtesten Bauwerken Leon Battista Albertis zählt San Francesco in Rimini.<br />

Sowohl in der Seitenfront wie auch in der Fassade zeigt sich, dass harmonikale Normierung<br />

und geringfügige Norm-Abweichung erst im Zusammenwirken die Qualität künstlerischer<br />

Ausformung hervorrufen.<br />

Nicht anders liegen die Dinge bei Palladio. Betrachtet man seine Grundriss-Zeichnungen,<br />

fallen Zahlenreihen etwa folgender Art auf: 9 10 12 14 16 18 20 32. Die «Geburt der Architektur<br />

aus dem Geist der Musik» ist auch hier gegeben.<br />

Nicht unerwähnt bleiben darf die Architekturphilosophie Arthur Schopenhauers (1788–<br />

1860), der ebenfalls Architektur als gefrorene Musik bezeichnete und Transformationen<br />

von Begriffen der Musik in die Sprache der Architektur vornahm, indem er etwa die Ruine<br />

als gefrorene Kadenz oder auskadenzierte Fermate kennzeichnete.<br />

12


Geometrie, Harmonik und Architektur im Dialog<br />

(aus: <strong>Hans</strong> Kayser: Ein harmonikaler Teilungskanon,<br />

Zürich 19<strong>46</strong>, S. 36)<br />

20. Jahrhundert<br />

Im 20. Jahrhundert nahmen einige Architekten die Prinzipien<br />

einer harmonikalen Baukunst in ihren Ideen, Entwürfen<br />

und Bauvorhaben auf. Theodor Fischer (1862–<br />

1938) verwendete die Zahlen von 1 bis 6 im Bewusstsein,<br />

dass seit der Zeit des Musiktheoretikers Gioseffo<br />

Zarlino (1517–1590) der senario den Rahmen der konsonanten<br />

Intervalle bildet, die Proportionenfolge 1 : 2 :<br />

3 : 4 : 5 : 6 die ersten 6 Töne der Naturtonreihe liefert und<br />

damit auch den Dur-Dreiklang definiert. «Die durch<br />

ganze, natürliche Zahlen bestimmten Tonintervalle und<br />

die Tatsache, dass die Zahlenreihe 1–6 die Grundlage für<br />

das ganze ungeheure Gebäude unserer Musik gibt,<br />

veranlasste Fischer, auch für die Proportionierung der<br />

Architektur einfache Zahlenverhältnisse und rationale<br />

Zahlenreihen heranzuziehen, immer davon ausgehend,<br />

dass – wie bei der Kreisgeometrie – nur das Einfache<br />

wirkliche Beweiskraft habe.» (Rudolf Pfister: Theodor<br />

Fischer, München 1968, 76)<br />

Ein Bauen nach den Massen der Musik hat auch in der Gegenwart nichts von seiner Gültigkeit<br />

eingebüsst. Genannt sei der Schweizer Architekt André M. Studer, der von einem<br />

Kleinstmass (modulus), dem metrischen Fuss mit 30 cm, ausging und alle signifikanten<br />

Bauwerksabmessungen als ganzzahlige Vielfache dieses Kleinsten festlegte. Auch in<br />

Österreich gibt es Initiativen für ein harmonikales Bauen.<br />

Mag die Rede von der Architektur als gefrorener Musik vielleicht poetisch sein, bleibt doch<br />

eines in unserer die heilende und transformierende Kraft der Künste oftmals negierenden<br />

Zeit: Harmonik hat dann Sein und Sinn verloren, wenn Architektur zur erstarrten Leere<br />

geworden ist.<br />

Jedes Planen geht nicht ohne Hindernisse und Probleme vonstatten. Es muss<br />

andauernd nach Synthesen gesucht werden. Im vollendeten Entwurf spiegelt<br />

sich getreulich das Ringen um die Synthese wider. Harmonikal gesprochen: Die<br />

Grundklänge des Baus sind das Abbild dieses Ringens, sein Hörbild mit allen<br />

Spannungen und Auflösungen.<br />

André M. Studer<br />

Dr. Werner Schulze (Nachfolger von Dr. Rudolf Haase, 1967 Begründer des<br />

<strong>Hans</strong> Kayser-Instituts für harmonikale Grundlagenforschung an der Universität<br />

für Musik und darstellende Kunst in Wien), Professor und Leiter des<br />

«Lehrgangs für Harmonikale Forschung», Autor, Komponist, Ausstellungsgestalter<br />

und Organisator, ist international durch zahlreiche Publikationen,<br />

Gastvorträge und die Aufführung seiner Werke hervorgetreten. Wichtigste<br />

Themen seiner Veröffentlichungen sind: Fragen zur philosophischen Theologie,<br />

zum harmonikalen Pythagoreismus und Platonismus, zu den mathematischen<br />

Grundlagen und zur interkulturellen Dimension der Musik sowie<br />

zur Philosophie der Architektur.<br />

13


Reinhart Frosch<br />

Mitteltönig ist schöner!<br />

Studien über Stimmungen von Musikinstrumenten. Peter Lang Bern, 3. Auflage 2001<br />

Der in mensuraler Akustik sehr versierte Autor ist sich der Schwierigkeiten eines Amateurs,<br />

seinen Ausführungen zu folgen, wohl bewusst; er gibt denn auch genaue und ausführliche<br />

Anweisungen, wie mit Hilfe von Taschenrechnern in diese anspruchsvolle Materie einzudringen<br />

ist. Auch der Umgang mit Stimmgeräten wird so beschrieben, dass der Besitzer<br />

eines Synthesizers, eines Tasteninstruments mit einchöriger Besaitung oder der glückliche<br />

Organist mit Hausorgel zu eigener Stimmpraxis angeregt wird. Dagegen kann ich dem<br />

Autor nur raten, die zu knappen und daher eher gefährlichen Bemerkungen über Klavierstimmen<br />

(dreichörig!) ersatzlos zu streichen.<br />

Schon die Tatsache, dass heute leicht Musikliteratur jeder beliebigen Epoche beschafft<br />

werden kann, muss den ernsthaften Musikfreund zur Beschäftigung mit historischer<br />

Stimmpraxis animieren. Am wenigsten vermögen die spärlichen Angaben über Musikliteratur,<br />

die sich zur Ausführung in mitteltöniger Stimmung eignet, zu überzeugen. Wenn als<br />

einzig erwähnenswertes Referenzstück ein italienisches Volkslied genannt wird, spürt man<br />

doch wohl eine bedenkliche Lücke in dieser Hinsicht, die auszufüllen sich hier keine Gelegenheit<br />

bietet. Zwei Bemerkungen seien aber doch gestattet, die zeigen sollen, in welcher<br />

Richtung eine fundierte Ergänzung zu gehen hätte:<br />

In der französischen barocken Orgelliteratur kommen häufig präludienhafte Stücke mit dem<br />

Titel «Plein jeu» vor, die aufs erste betrachtet einer akkordischen Geröllhalde (mit dürftiger<br />

motivischer Arbeit) gleich sehen. Wenn man sie in mitteltöniger Stimmung spielt, wird erst<br />

ihr Sinn offenbar. Ausgehend und endend in wohlklingenden Akkorden begeben sie sich im<br />

Verlauf in die Grenzbereiche der mt. Stimmung mit sehr dissonantem Charakter. Das Ganze<br />

gleicht dann einem musikalischen Spaziergang in gefährliche Umgebung, wobei die Rückkehr<br />

in harmonische Gefilde Beruhigung und tiefe Befriedigung auslöst. Einem Johann<br />

Sebastian Bach gelingt dies auch in gleichschwebender Stimmung, indem er aus einfachen<br />

Dur- und Mollklängen in verminderte und übermässige Intervalle dank aller Arten von Septakkorden<br />

übergeht und durch das Zurückführen in einfachere Klänge einen ähnlichen Effekt<br />

erzielt.<br />

Ganz andere Sachlage ergibt ein Vergleich der Orgelkompositionen Joseph Haydns mit<br />

denjenigen W.A. Mozarts. Haydns Orgelkonzert steht nicht zufällig in C-Dur. Das lässt<br />

darauf schliessen, dass die Instrumente in Wien, Eisenstadt und Klosterneuburg, wo dieses<br />

Werk erklingen konnte, sicher mitteltönig gestimmt waren. Auch in den Flötenuhrstücken<br />

wählt er fast ausschliesslich C-Dur. Anders die Tonartwahl Mozarts: Während seine<br />

Kirchensonaten sicher für mitteltönige Instrumente in Salzburg bestimmt waren, wählt er für<br />

die grosse Fantasie für Orgelwalze f-moll, und der langsame Satz wird in As-Dur geschrieben!<br />

Zum Abschluss ein frommer Wunsch: Es möchten auch heutige Komponisten die Differenzierungsmöglichkeit<br />

mittelst verschiedener Stimmungen wieder entdecken und anwenden.<br />

Werner Minnig<br />

Peter Michael Braun<br />

Ein harmonikaler Zugang zur Musiktheorie<br />

«Nichts ist praktischer, als eine gute Theorie!» Der Autor unternimmt es verdienstvoll, die<br />

Musiktheorie, die von vielen als «absolviertes und schubladisiertes» Wissen und als not-<br />

14<br />

BÜCHERBESPRECHUNGEN


wendiges Handgepäck mitgeschleppt wird, neu und gleichsam erlebbar zu machen. Die<br />

sog. «Entsinnlichung» der Musik, die sich als Reaktion über die spätromantische Epoche<br />

der Jahrhundertwende um 1900 breitete, ist aus unserer historischen Sichtweise zu<br />

begreifen. Das Dilemma, ja, die Sackgasse der harmonischen Deutung seit Wagner<br />

blockierte die (immer!) nachhinkende und «griffig» sein wollende Musiktheorie. Harmonische<br />

Analysen gewisser Stellen bei Chopin, Liszt, Reger verliefen allzu oft in schlagwortartigen<br />

Spekulationen. Die Absolventen von Konservatorien und Hochschulen mussten ein<br />

neu erfundenes Vokabular gefolgsam und fast «lippensynchron» ins erhellte Schaufenster<br />

von Prüfungen und Abschlussexamen mitbringen! Die neue «reine» Musik propagierte eine<br />

fast schwebende Bewegungsfreiheit ohne harmonischen Ballast, ohne Bindungen an<br />

Dominanten, Subdominanten, Paralleltonarten und dgl. Die Aufhebung der Diatonik zugunsten<br />

einer Wendung zur «unparteiischen» Gleichberechtigung der zwölf Halbtöne entzog<br />

den Harmonie suchenden Analytikern den Zugriff! Die «schwebenden» atonalen Zustände<br />

vermochten offensichtlich die sog. gleichschwebende Temperierung als «Staatsraison» zu<br />

festigen. Die als altmodisch geltenden Naturtöne mit ihren physikalisch-harmonikalen und<br />

philosophischen Hintergründen gerieten ob gewissen Bestrebungen etwas in Vergessenheit.<br />

– Immerhin sagte Paul Hindemith bald einmal, diese Temperierung sei für den<br />

Moment eine Art «Waffenstillstand»; irgendeinmal müsse hier weitergedacht werden!<br />

Nun, Peter Michael Braun tut dies auf eindrückliche Weise: In seiner Schrift von 66 Seiten<br />

finden sich auffällig viele Kreisdarstellungen. Von den Naturtönen ausgehend werden die<br />

vielen Beziehungen von Quinten (Unterquarten) und Terzen sehr plausibel dargestellt. In<br />

weiteren, fast polarisierenden Kreisschemata erstehen Dur-, Moll-, verminderte und übermässige<br />

Klänge in überzeugenden, dem Harmoniker bekannten Zahlenverhältnissen. In<br />

knapper Form liegt eine Harmonielehre in Kapiteln vor. Der «strenge» Satz führt über<br />

Kadenzen, Dreiklangsumkehrungen, Nebendreiklänge, Septakkorde bis hin zu harmoniefremden<br />

Tönen. Aus z.T. diagonalen Darstellungen sind Bezüge und fast magnetische<br />

Abhängigkeiten ablesbar (z.B. im Quint-, Terz- und Septschema, oder im diagonalen Funktionsschema).<br />

Bei den Zwischendominanten und den alterierten Klängen wird es für den<br />

Berichterstatter spannend: Begriffe wie «Mischfunktionen», funktionelle «Verzahnungen»<br />

oder die «Bindekraft eines Klanges» bestätigen, was in der Einleitung als Motto zu lesen<br />

ist: «Musik hat mit allem zu tun.» Der geneigte Leser spürt trotz (oder gerade wegen?) der<br />

aus der Naturtonleiter abgeleiteten Zahlen und -Verhältnisse, dass der Autor diese Theorie<br />

nicht um der Theorie willen konzipierte. Auf Schritt und Tritt wird die Wirkung eines<br />

Klangwechsels beschrieben; «Spannung / Entspannung, Nähe / Ferne, Gefälle, Offenheit»<br />

u.a.m. In den Kapiteln «Melodie-Harmonisierung» und «Modulation» gelangen vermehrt<br />

stilistische Aspekte in die Übungsbeispiele, wodurch sich nebst «theorie-mechanischen»<br />

Dingen durchaus künstlerische Erkenntnisse und Anregungen ergeben. Warum sich in den<br />

Händen bestimmter Musiker z.B. gerade moderne Musik plausibel und sinnvoll anhört,<br />

dürfte direkt mit dem Inhalt dieses Heftes zu tun haben! Orchestermusiker und Chorsänger<br />

bedürfen oft einer Anleitung, ihre zu produzierenden Töne in einem harmonischen Konsens<br />

anzusetzen. (Klaviertasten sind oft schlechte Berater!) In den ergänzenden «Aufgaben<br />

zu Modulation» erheischt der Verfasser allerdings eine gehörige Portion an Gefolgschaft.<br />

Die z.T. kreisförmig angeordneten Ketten-Modulationen mit allen Abkürzungen und Ziffern<br />

hat der Berichterstatter selber noch nicht «geschafft». Aber, jeder interessierte Leser und<br />

Anwender wird viel profitieren, wenn er möglichst viele Anregungen dieser Publikation<br />

Klang werden lässt. Dem Autor wäre zu wünschen, dass seine Bemühungen auf Resonanz<br />

stossen möchten, zumal die Erfahrung immer wieder lehrt, dass solche Arbeiten gerne mit<br />

Schulterklopfen und «…kennen wir schon» tonlos «verhallen».<br />

Edwin Peter<br />

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